Never Doubt - Emma Scott - E-Book

Never Doubt E-Book

Emma Scott

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Manchmal braucht man die Worte eines anderen, um seine eigene Geschichte zu erzählen ...

Für das, was vor einem Jahr geschah, hat Willow keine Worte. Erst als sie die Rolle der Ophelia am städtischen Theater bekommt, sieht sie eine Chance, ihren Schmerz mit den Zeilen Shakespeares in die Welt zu schreien. Ihr Hamlet ist Isaac Pearce, der Bad Boy der Stadt. Instinktiv versteht Isaac ihren Hilferuf, und mit jeder Konfrontation der tragischen Liebenden auf der Bühne kommen Willow und Isaac sich näher. Doch um wieder wirklich zu leben, muss Willow ihre eigene Stimme finden ...

"Es gibt einfach nicht genug Worte, um auszudrücken, wie wunderbar Emma Scotts Bücher sind." TOTALLY BOOKED BLOG

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 573

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Playlist

Erster Akt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

Zweiter Akt

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Dritter Akt

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

Epilog

Danksagungen

Anmerkung der Autorin

Die Autorin

Die Romane von Emma Scott bei LYX

Impressum

Emma Scott

Never Doubt

Roman

Ins Deutsche übertragen von Inka Marter

Zu diesem Buch

Vor einem Jahr wurde Willows inneres Licht fast ausgelöscht. Unfähig, darüber zu sprechen, zog die junge Frau sich immer mehr in sich selbst zurück. Aber als ihr Vater in das idyllische Städtchen Harmony versetzt wird, bewirbt sich Willow aus einer Laune heraus für die Rolle der Ophelia am Theater. Zu ihrer Überraschung wird sie sofort genommen. Ihr Hamlet ist das Ausnahmetalent Isaac Pearce, der Bad Boy der Stadt, der mit seinem alkoholkranken Vater in einem heruntergekommenen Trailer wohnt. Doch auf der Bühne verwandelt sich der wortkarge und grimmige junge Mann ganz und gar in die Charaktere, die er spielt – nur hier kann er seinem hoffnungslosen Alltag entkommen und seine Gefühle mit den Worten eines anderen zum Ausdruck bringen. Und auch für Willow wird Ophelia zum Sprachrohr. Instinktiv versteht Isaac den Hilferuf, den sie nicht äußern kann, spürt den Schmerz hinter den Worten, die nicht ihre eigenen sind. Immer mehr scheint die Geschichte Shakespeares ihrer beider Leben widerzuspiegeln, mit jeder Konfrontation auf der Bühne kommen Willow und Isaac sich näher, jedes Wortgefecht der tragischen Liebenden bricht den Schutzpanzer ihrer Herzen mehr auf. Doch um wieder wirklich zu leben, muss Willow die Kraft finden, ihre eigene Geschichte zu erzählen …

Für jede Frau, die die Worte me too geflüstert, gebrüllt oder geschrien hat. Und für jede Frau, die die Worte noch nicht laut gesagt hat, es aber eines Tages tun und gehört werden wird. Dieses Buch ist für euch.

Für Suanne, für alles. Lass uns immer wir bleiben.

Playlist

Violet, Hole

Best Friend, Sofi Tukker

Legendary, Welshly Arms

I Feel Like I’m Drowning, Two Feet

Til It Happens to You, Lady Gaga

Imagination, Shawn Mendes

World Gone Mad, Bastille

Ophelia, Tori Amos

&Burn, Billie Eilish

Feeling Good, Nina Simone

ERSTER AKT

»Worte, Worte, Worte.«

Hamlet

PROLOG

»Erzähl mir eine Geschichte.«

Grandma lächelte ihr faltiges Lächeln und strich mir eine Locke meines blonden Haars aus der Stirn. »Noch eine? Drei Bücher waren nicht genug?«

»Kein Buch. Eine von deinen Geschichten.«

»Es ist spät …«

Unten wurden die Stimmen meiner Eltern lauter, als sie sich wegen Daddys Job stritten. Schon wieder. Grandma setzte sich zurück auf die Bettkante. Den Quilt hatte sie selbst genäht, mit Blumen in Rosa und Rot. Meinen Lieblingsfarben.

»Wie kann ich da Nein sagen?« Sie berührte das Grübchen in meiner linken Wange. »Aber nur eine kurze.«

Ich strahlte und legte mich wieder hin.

»Es war einmal eine kleine Flamme. Sie war auf dem Docht einer hohen weißen Kerze geboren worden und lebte zwischen tausend anderen Lichtern. Ihre Welt war erfüllt von Gold und Wärme und guten Dingen. Die Flamme tanzte und flackerte, übte, in die Höhe zu wachsen. Und sie war glücklich …«

»Bis?«

In Grandmas Geschichten gab es immer ein »bis«. Das Problem, das alles zerstörte, aber den Figuren zeigte, was sie am dringendsten brauchten oder wollten.

»Bis«, sagte Grandma, »ein steifer Wind aufkam und all die anderen Kerzen auspustete. Ganz allein im Dunkeln hielt die kleine Flamme sich an ihrem Docht fest und überlebte.«

»Ich weiß nicht, ob ich die Geschichte mag«, sagte ich und zog mir die Decke bis zum Kinn hoch. »Ich bin nicht gern allein im Dunkeln.«

»Die kleine Flamme hatte auch Angst. Aber sie lernte, zu wachsen und zu leuchten.«

»Allein? Sie war für immer allein im Dunkeln?«

»Nicht für immer. Aber lange genug.«

»Lange genug wofür?«

»Um zu entdecken, dass sie vielleicht eine Flamme unter vielen gewesen war, aber ihr eigenes Feuer hatte.«

»Ich verstehe das nicht. Sie war glücklicher mit den anderen Lichtern.«

»Ja. Aber neben den anderen Lichtern konnte sie sich nicht sehen und wusste nicht, wie hell sie leuchtete. Erst allein in der Dunkelheit sah sie ihren eigenen Glanz.«

Ich runzelte die Stirn, nur ein winziger Hauch von Erkenntnis berührte mein achtjähriges Bewusstsein.

Grandma legte die Hand an meine Wange. Ihre Hand war kräftig. Sie war noch nicht welk geworden durch den Krebs, der sie ein Jahr später holen würde.

»Eines Tages, Willow, wirst auch du dich vielleicht in der Dunkelheit wiederfinden. Ich hoffe, dieser Tag kommt nie. Aber wenn doch, wird es zuerst beängstigend sein. Aber du wirst dein eigenes Licht sehen. Deine eigene Kraft. Und du wirst leuchten.«

Ich bat Grandma oft um die Geschichte von der kleinen Flamme. Sie meinte, es sei ein Märchen aus ihrer Kindheit in Irland. Jahre später wollte ich es in der Bibliothek nachschlagen. Ich durchforstete Bücher über Bücher mit keltischen Märchen und Sagen, aber die Geschichte von der kleinen Flamme konnte ich nirgends finden.

Stattdessen fand mich die Dunkelheit.

Zwei Wochen nach meinem siebzehnten Geburtstag.

Ein Handyfoto, das ich nie hätte verschicken dürfen. Eine Party bei mir zu Hause. Ein Tanz mit einem Jungen. Ein Getränk, in das etwas hineingemischt worden war.

Die Dunkelheit war undurchdringlich, als der Junge, Xavier Wilkinson, aus meinem eigenen Bett ein Gefängnis machte. Ein Mund presste sich unerbittlich auf meinen und nahm mir die Luft zum Atmen. Eine Hand lag um meinen Hals. Sein Körper erdrückte mich. Erstickte mich. Blies mich aus.

Ganz allein im Dunkeln hielt die kleine Flamme sich an ihrem Docht fest und überlebte.

Auch ich hielt mich fest. Am nächsten Morgen erinnerte ich mich nur an Bruchstücke, aber meine Seele wusste alles. Ich öffnete die Augen, und trotz der hellen brennenden Sonne war ich im Dunkeln. Wie wenn man sich in einem vollen Raum allein fühlt. Eine Fremde in einer neuen Stadt. Für immer isoliert und abgetrennt von allem, was ich war, allem, was ich gehofft hatte zu sein.

Ich sah kein Licht. Auch nicht am nächsten Tag. Oder in der nächsten Woche. Nicht in den Wochen, die sich zu Monaten aufhäuften.

Vielleicht nie wieder.

»Wir ziehen um«, verkündete mein Vater über dem blutigen Rostbraten. Sein Kartoffelbrei war rosa gefärbt.

»Wir ziehen um?«, fragte ich und schob meinen Teller weg.

»Ja, nach Indiana«, sagte meine Mutter.

Die angestaute Wut in ihrer Stimme sagte mir, dass es ihr absolut gegen den Strich ging, New York City zu verlassen. Ich hätte auch sauer sein müssen. Jedes normale Mädchen wäre aufgebracht gewesen. Man zieht nicht im Dezember des letzten Highschool-Jahrs um. Weg von den Freunden, die man in zwölf Jahren gewonnen hat, und allem, was man kennt.

Ich war nicht normal.

»Warum Indiana?«, fragte ich. Warum nicht Indien oder Timbuktu oder der dämliche Mond? Für mich war es ein und dasselbe.

Meine Eltern tauschten einen Blick, bevor meine Mutter sagte: »Dein Vater wurde versetzt.«

»Mr Wilkinson möchte, dass ich Wexx im Mittleren Westen leite. Sie brauchen mich, um mit ein paar der säumigeren Franchisebetreiber fertigzuwerden. Neu organisieren und verjüngen. Es ist eine sehr lukrative Beförderung …«

Ich hörte nicht mehr zu, nachdem der Name mich wie ein Phantomschmerz voll in den Bauch getroffen hatte. Die Worte – mehr als ich im ganzen letzten Monat von mir gegeben hatte – strömten auf einer Welle irrationalen Zorns aus mir heraus.

»Ach wirklich? Mr Wilkinson hat beschlossen, dass du wegziehst? Einfach so? Kurz vor Weihnachten?«

Meine Mutter legte sich eine beringte Hand über die Augen. »Willow …«

»Und du hast natürlich Ja gesagt«, sagte ich. »Ohne Fragen zu stellen.« Ich salutierte. »Ja, Sir, Mr Wilkinson, Sir.«

»Er ist mein Chef«, sagte Dad und seine Stimme wurde härter – das erste Anzeichen dafür, dass sein dünner Geduldsfaden bald reißen würde. »Dank ihm hast du zu essen und ein Dach über dem Kopf. Es sollte nicht wichtig sein, wo dieses Dach sich befindet.« Er sah meine Mutter an. »Du solltest dankbar sein.«

»Dankbar«, spottete ich.

»Seit wann hast du etwas gegen Mr Wilkinson?«, fragte Dad. »Was hat er dir jemals getan?«

Er nichts, dachte ich. Sein Sohn.

»Zum Beispiel ist es ihm egal, dass ich mitten im letzten Jahr einfach die Schule wechseln soll«, sagte ich.

»Hat das irgendeine Bedeutung?«, fragte meine Mutter und wedelte mit dem Löffel, als hoffte sie, dadurch eine Antwort beschwören zu können. »Seit letztem August bist du wie ausgewechselt. Du redest nicht mehr mit deinen Freundinnen. Du schminkst dich nicht mehr. Dir ist egal, wie deine Haare aussehen oder was du anziehst …«

Ich verdrehte die Augen, aber innerlich wand ich mich. Um Make-up aufzulegen oder sein Aussehen wichtig zu nehmen, musste man in den Spiegel sehen, was ich in letzter Zeit nicht mehr oft tat. Und mein blondes Haar war wahrscheinlich zu lang – es ging mir fast bis zur Taille –, aber es war nützlich, um Blickkontakt zu vermeiden. Wie jetzt.

Ich wandte mich ab und ließ das Haar runterhängen, eine Mauer zwischen meiner Mutter und mir.

Sie stöhnte auf ihre typische dramatisierende Art. »Was ist bloß mit dir los? Ich habe es so satt, diese Frage zu stellen und keine Antwort zu bekommen. Du warst eine Einserschülerin. Du wolltest an einem Ivy-League-College studieren, und jetzt kommt es mir vor, als wäre dir alles egal.«

Ich ignorierte sie. »Wo in Indiana?«, fragte ich meinen Vater.

»Indianapolis«, sagte Dad. »Ich werde in der Stadt arbeiten, aber es gibt eine kleine Gemeinde namens Harmony, ein paar Kilometer südlich. Deine Mutter hat recht. Du hast dich verändert, und wir können daraus nur schließen, dass du schlechten Umgang hast. Aus Manhattan in eine Kleinstadt umzuziehen scheint uns das Beste, weshalb ich das Angebot von Mr Wilkinson angenommen habe.«

Totaler Quatsch.

Wir zogen um, weil Mr Wilkinson meinem Dad gesagt hatte, dass er umziehen musste. Mit mir hatte das überhaupt nichts zu tun. Meine Eltern liebten mich, wie man ein Kunstwerk liebt: einen Gegenstand, den man im Haus aufstellt und bewundert und von dem man hofft, dass er eines Tages etwas wert sein wird. Und seit jener Party – einer Party, die ich ohne ihr Wissen gegeben hatte – war ich ein unschöner Anblick für sie geworden.

In Wahrheit wäre mein Vater ohne diesen Job am Ende gewesen. Er war seit dreißig Jahren bei Wexx Öl & Gas. Viel zu lange, um noch in einer anderen Firma anzufangen. Zu Hause war mein Vater streng und ließ es an uns aus, dass er im Job so wenig zu sagen hatte. Denn wenn Ross Wilkinson bei Wexx sagte: »Spring!«, dann sprang mein Vater. Diesmal bis nach Indiana.

»Und du, Willow Anne Holloway«, sagte Dad und fuchtelte mit seiner Gabel herum wie ein tyrannischer König mit seinem Zepter, »wirst dir ein paar außerschulische Aktivitäten suchen. Das ist nicht verhandelbar. Deine College-Bewerbungen sind eine Schande.«

Ich antwortete nicht. Er hatte recht, aber es war mir so was von egal.

»Es wird schön«, erklärte er. »Anstatt in diesem Stadthaus werden wir in einem großen Haus mit Garten wohnen. Mit sehr viel Platz. Mehr, als du dir überhaupt vorstellen kannst. Und frische Landluft anstatt des Smogs hier …«

Er redete weiter, aber ich hörte nicht mehr zu. Worte waren für mich bedeutungslos geworden. Die wichtigsten musste ich hinter meinen Lippen verschließen. Die Zeit, in der ich hätte erzählen können, was mit Xavier Wilkinson passiert war, war längst vorbei. Sobald ich mein Bettzeug gewaschen und meine Kleider verbrannt hatte, war es zu spät gewesen. Wenn ich jetzt die Wahrheit enthüllte, würde ich von einem gewaltigen Sturm erfasst werden, der die Karriere meines Vaters dem Erdboden gleichmachen und den Lebensstil meiner Mutter gleich mitreißen würde.

Wenn sie mir überhaupt glaubten.

»Ziehen die Wilkinsons auch nach Indiana?«, fragte ich.

»Natürlich nicht«, sagte Dad. »Der Hauptsitz der Firma ist immer noch hier. Ich werde die Niederlassung im Mittleren Westen leiten. Und da Xavier noch in Amherst ist …«

»Kann ich aufstehen?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm ich den Teller mit dem kaum angerührten Essen und trug ihn in die Küche. Ich stellte ihn in die Spüle, dann floh ich durchs Wohnzimmer. Es war für Weihnachten dekoriert, inklusive eines glitzernden, elegant geschmückten, komplett künstlichen Baums. Als meine Großmutter noch lebte, hatte sie auf einem echten Baum bestanden, um den Raum mit Wärme und grünen Düften zu füllen. Wir hatten ihn mit Popcorngirlanden und Baumschmuck aus Ton behängt, den ich in der Schule gebastelt hatte. Aber sie war nicht mehr da, und unser Haus sah nicht aus wie ein Zuhause, sondern wie ein Kaufhaus, das man für die Feiertage dekoriert hatte.

Ich rannte nach oben, der Name Xavier Wilkinson rannte mir hinterher.

Ich versuchte, nicht an ihn zu denken. Meiner Ansicht nach hatte er nicht einmal einen Namen. Er verdiente keinen. Namen sind für Menschen.

X. Das war er. Ein X. Ein X markiert eine Stelle. Wenn ich mich selbst gezeichnet hätte, wäre er noch auf mir gewesen: ein Meter dreiundsechzig mit langem, vollem, lockigem blonden Haar, blauen Augen, einem Grübchen in der linken Wange, das meine Grandma geliebt hatte, und darüber gemalt ein großes, schwarzes X. Das X markiert die Stelle. Auf mir, auf der Matratze, wie bei einer Piratenschatzkarte. Was geplündert worden war. Geraubt. Ver…

(Wir denken dieses Wort nicht einmal.)

Ich schloss die Tür ab und zog die Bettdecke runter auf den Boden. Seit der Party hatte ich nicht mehr in meinem Bett geschlafen. Auch darauf war ein schwarzes X. Aber auch auf dem Boden schlief ich nicht viel. Schreckliche Albträume verfolgten mich, und ich wachte wie gelähmt auf und bekam keine Luft. Der geisterhafte Druck eines Mundes auf meinem, Hände um meine Kehle, und ein Körper, der mich niederdrückte und zerquetschte, bis ich das Gefühl hatte, lebendig begraben zu sein.

In eine schlichte graue Wolldecke gewickelt – den wunderschönen Quilt meiner Großmutter hatte X ruiniert – lag ich auf dem Hartholzboden auf der Seite und betrachtete die Bücher, die sich auf dem Boden, den Regalen, der Fensterbank stapelten. Wenn ich fliehen musste, versteckte ich mich zwischen ihren Seiten. In den Büchern konnte ich für eine Weile jemand anders sein. Ein anderes Leben leben als dieses.

Vielleicht ist dieser Umzug gar nicht so schlecht, dachte ich und fuhr mit dem Finger über die Buchrücken. Eine neue Geschichte.

Mein Ärmel rutschte ein Stück nach oben, als ich die Bücher berührte. Ich zog ihn weiter hoch und untersuchte die kleinen schwarzen X, die in einer krummen Linie von meinem Handgelenk zu meiner Armbeuge wanderten. Wie Insekten. Ich nahm den schwarzen Edding, den ich unter dem Kissen aufbewahrte, und malte ein paar dazu.

X markiert die Stelle.

Meine Hoffnung, dass Harmony mir etwas Besseres geben könnte, starb. Solange ich die Hauptfigur war, würde sich auch meine schreckliche Geschichte nicht ändern.

Bis.

1. KAPITEL

Isaac

Zitternd wachte ich auf, fest in die Decke gewickelt, die nicht einmal ansatzweise dick genug war. Eisiges Licht fiel auf mein Bett, ohne Wärme zu bieten.

Scheißtrailer. Als würde man in einer kaputten Eierschale wohnen.

Ich warf die Decke zur Seite und stapfte in den Wohnbereich. Paps lag auf der Couch anstatt in seinem Zimmer hinter der Küche. Eine Flasche Old Crow ragte zwischen den Bierdosen auf dem klapprigen, fleckigen Couchtisch auf. Der überfüllte Aschenbecher qualmte noch.

Eines Tages würde mir warm genug werden, und zwar wenn eine von Paps’ nicht richtig ausgedrückten Zigaretten einen Brand verursachte.

Sein Schnarchen erfüllte den Trailer, als ich zur Heizung rüberging. Wir mussten mit dem Thermostat vorsichtig sein – ich achtete darauf, dass er auf 18 °C stand –, aber der Trailer war schlecht isoliert und hatte keine Sockelverkleidung. Ich hielt die Hand vor die Lüftungsschlitze. Die Heizung lief und verpulverte unser Geld, ohne groß zu nützen. Unter uns pfiff ein kalter Januarwind, den ich durch den Boden spürte.

Durch das vordere Fenster sah ich den Schrottplatz, der unter einer weißen Decke lag. Dahinter befand sich unsere Wexx-Tankstelle. Sie war heute geschlossen. Nicht dass wir je irgendwelche Kunden hatten. Es war still dort draußen. Die rostigen alten Autos waren weiße Hügel, rein und makellos über dem verbogenen Metall. Ein Friedhof.

Ganz Harmony kam mir wie ein Friedhof vor, ein Ort, der einen begrub. Nur Touristen liebten es. Im Sommer kamen sie von überallher, um die Gegenwart zu verlassen und die USA um 1950 zu besuchen. Das Zentrum bestand aus sechs quadratisch angelegten Häuserblöcken mit viktorianischer Architektur, bunten Ladenfronten, einem Eis- und Burgerladen mit Jukebox und Postern von Elvis und Jerry Lee Lewis an den Wänden. Die einzige Ampel hing über der Main Street, und wir hatten einen Billigladen, der Souvenirs aus der Zeit des Sezessionskriegs verkaufte. In den grünen Hügeln zwischen Harmony und Braxton, dem nächstgelegenen Außenposten der Zivilisation, war eine wichtige Schlacht geschlagen worden. Die Touristen kamen wegen der Geschichte und eines Milchshakes und verschwanden dann wieder. Entflohen.

Ich sah zu Paps. Er war dreiundfünfzig Jahre alt und vielleicht zweimal aus Harmony rausgekommen. Einmal ins Krankenhaus in Indianapolis, als ich geboren wurde, dann noch einmal in dasselbe Krankenhaus, als meine Mutter vor elf Jahren gestorben war.

Er war wie die Autos, die wir verschrotteten, und die Tankstelle, die er manchmal aufmachte – vorzeitig gealtert, kaputt und nach seinem Lieblingskraftstoff stinkend. Er würde nicht mehr aus Harmony rauskommen, aber ich schon, und zwar todsicher.

Irgendwann.

Ich legte die Hand an die kalte Fensterscheibe. Eisige Windtentakel fuhren durch Risse in der Fensterbank. Ich hatte den ganzen Sommer auf bessere Fenster gespart – hatte für Martin Ford im Harmony-Community-Theater gearbeitet, wenn ich nicht hinterm Schalter der Tankstelle saß. Im Oktober hatte Paps versprochen, im Baumarkt neue Scheiben zu kaufen. Aber ich hatte ihm das Geld gegeben, und er war damit auf Sauftour gegangen.

Das passierte, wenn man jemandem vertraute.

Paps rührte sich, schnaubte und blinzelte, als er aufwachte. »Isaac?«

»Jepp. Willst du Frühstück?« Ich blies gegen meine kalten Finger und ging in die kleine Küche.

»Würstchen«, sagte er und zündete eine halb gerauchte Winston an.

»Es gibt keine Würstchen«, sagte ich und machte uns zwei Schüsseln mit Cornflakes. »Ich fahre nach der Schule einkaufen. Vor der Vorstellung heute Abend.«

»Und ob du das wirst!«

Grunzend wuchtete er sich von der Couch hoch und trampelte zu dem Klapptisch, der uns als Esstisch diente. Ich setzte mich ihm gegenüber und versuchte nicht darauf zu achten, wie er schlürfend und zwischen Zügen an seiner Zigarette seine Cornflakes aß.

Paps beugte sich über die Schüssel, das Gewicht seines Lebens zog ihn runter. Auf ihm lasteten die Jahre voller Mühen und Armut, die harten Winter, der Kummer und der Alkohol. Er war unrasiert, die Wangen hingen wie die Tränensäcke unter seinen feuchten Augen. Ich senkte den Blick, entschlossen, so schnell wie möglich aufzuessen und von hier zu verschwinden.

»Was ist heute Abend? Eine Vorstellung?«, fragte Paps.

»Jepp.«

»Was ist es diesmal?«

»König Ödipus«, sagte ich, als würde es nicht schon seit zwei Wochen laufen, ganz abgesehen von den vier Wochen Proben davor.

Er grunzte. »Griechische Tragödie. Ich bin nicht ganz blöd.«

»Das weiß ich«, antwortete ich gereizt. Bis jetzt hatte er nichts getrunken, und seine Gemeinheit schlummerte noch. Sein Mr Hyde erwachte meistens abends, und ich versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, bis er so betrunken war, dass er wegdöste.

»Und welche Rolle hast du?«

Ich seufzte. »Ich bin Ödipus, Paps.«

Er schnaubte, schaufelte sich einen Löffel Cornflakes in den Mund, und Milch bekleckerte sein unrasiertes Kinn. »Dieser Martin Ford hat einen richtigen Narren an dir gefressen.« Er zeigte mit dem Löffel auf mich. »Pass bloß auf. Der macht dich zu ’ner Schwuchtel, wenn du mit diesem Schauspielerblödsinn weitermachst. Wenn es nicht schon zu spät ist.«

Ich biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten, aber ich schwieg. Er unterstellte nicht zum ersten Mal, dass Martin – der Leiter des Harmony-Community-Theaters – mich nicht aufgrund meines Talents, sondern aus anderen Gründen bevorzugte. In Wahrheit waren Martin und seine Frau Brenda mehr wie Eltern zu mir gewesen, als Paps es sich je hätte vorstellen können.

Aber das sagte ich ihm nicht. Man erwartet nicht, ein richtiges Gespräch zu führen, wenn man mit einem herumschreienden Idioten redet.

»Morgen Abend ist die letzte Vorstellung.« Ich wagte aufzusehen. Ich war nicht so dumm, ihn zu fragen, ob er kommen würde, aber der Teil von mir, der noch glauben wollte, dass er ein richtiger Vater war, gab nicht so leicht auf.

»Ach ja?«, sagte Paps. »Und was kommt danach? Du machst diese Scheiße seit Jahren. Das macht dich nur weich. Ich hinterlasse mein Geschäft keinem Homo.«

Die Worte glitten an mir ab. Ich hatte die Nummern von einem Dutzend Frauen in meinem Handy gespeichert, mit denen ich mich abwechselnd traf, und die Vorstellung, dass er mir die Pearce-Altautoverwertung oder die Wexx-Tankstelle hinterließ, war einfach lächerlich. Beides lief nicht mehr, abgesehen von den gelegentlich vorbeikommenden Reisenden, die zu blöd waren, zehn Kilometer weiter zu den glänzenden Tankstellen mit den großen Namen in Braxton zu fahren. Wir lebten von Paps’ Erwerbsminderung und meinem Lohn im Theater. Oder sagen wir, er lebte, ich existierte. Ich lebte nur, wenn ich auf der Bühne stand.

Mit seinen Worten konnte ich umgehen. Es waren seine Fäuste, auf die ich aufpassen musste.

Mehr als einmal nach einem von Paps’ Wutanfällen, nach denen wir meist beide bluteten, war ich in meinen alten blauen Dodge-Pick-up gestiegen, hatte ihn so schnell wie möglich durch die gewundenen Straßen aus Harmony hinaus gesteuert, um Indiana endlich hinter mir zu lassen. Dann stellte ich mir vor, wie Paps allein hier saß und zum Frühstück, Mittag- und Abendessen kalte Cornflakes aß, bis er sich in einem schlimmen Winter eine Lungenentzündung einfing. Oder sich vielleicht an einem Bucket mit gebratenen Hähnchenteilen überfraß und einen Herzinfarkt bekam. Und tot auf der alten Couch vermoderte, weil wochen- oder gar monatelang niemand vorbeischaute.

Ich hatte den verdammten Pick-up jedes Mal gewendet.

So etwas tat man für die Familie. Selbst wenn die Familie ein Scheißalkoholiker war, der sich einen Dreck für einen interessierte.

»Gib mir noch was«, sagte Paps, als ich aufstand und meine Schüssel in die Spüle stellte.

Ich machte ihm eine zweite Portion Cornflakes, dann zog ich mich für die Schule an.

In meinem kleinen Zimmer – Bett, Kommode, Schrank von der Größe eines Sargs – zog ich meine besten Jeans an, Stiefel, ein Flanellhemd und meine schwarze Lederjacke. Ich zog die Wollmütze und die fingerlosen Handschuhe, die Brenda Ford für mich gestrickt hatte, unter einem Stapel von Skripten hervor und steckte ein Päckchen meiner eigenen Winston in die Innentasche. Ich hatte einen heimlichen Vorrat, von dem Paps nichts wusste, sonst hätte er ihn geplündert.

Paps starrte mit trüben Augen auf den Wandkalender – ein Vertreter hatte ihn nach einem vergeblichen Versuch dagelassen, uns eine Wohnungseigentümerversicherung anzudrehen. »Heute ist der Achte?«

»Ja«, sagte ich und schulterte im selben Moment meinen Rucksack.

Er drehte sich zu mir um, ein Anflug von Reue und Schmerz lagen in den geröteten Tiefen seiner tränenden Augen.

»Du bist jetzt neunzehn?«

»Ja«, sagte ich.

»Isaac?«

Ich erstarrte, die Hand auf dem Türgriff. Die Sekunden dehnten sich.

Herzlichen Glückwunsch, mein Sohn.

»Denk an die Würstchen.«

Ich schloss die Augen. »Mach ich.«

Dann ging ich.

Mein blauer 71er-Dodge, der neben dem Trailer parkte, war vereist. Ich schaffte es, den Motor anzulassen, und ließ ihn warm laufen, während ich das Eis von der Windschutzscheibe kratzte. Die Uhr auf dem Armaturenbrett verriet, dass ich zu spät kommen würde. Ich fluchte, und mein Atem bildete Wölkchen vor meinem Mund. In einen schon vollen Klassenraum zu kommen gehörte nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.

Ich fuhr so schnell, wie ich wagte, über die vereisten Straßen am Stadtrand, dann über die Hauptstraße durchs Zentrum bis zur George Mason Highschool. Ich parkte, dann rannte ich ins Gebäude und hauchte mir in die Hände. Die Wärme drinnen ließ meinen Ärger ein wenig verrauchen. Wenn ich endlich hier rauskäme, würde ich irgendwo hinziehen, wo es niemals schneite. Hollywood war okay, aber ich hätte lieber auf einer Bühne gestanden als beim Film gearbeitet. Vielleicht würde ich ja auch in New York groß herauskommen, und dann könnte es so oft schneien, wie es wollte. Ich würde immer die Heizung anlassen und keinen Gedanken daran verschwenden, was es kostete.

Ich ging durch die leeren Gänge zu Mr Paulsons Englischstunde. Zum Glück war Mr Paulson ein bisschen zerstreut – er war noch dabei, seine Sachen auf dem Schreibtisch zu sortieren. Ich blickte geradeaus, ignorierte den Rest der Klasse und ging zu dem Pult in der dritten Reihe, wo ich immer saß.

Ein Mädchen saß auf meinem Platz.

Ein atemberaubend schönes Mädchen in einer teuren Jacke mit unglaublich langen blonden Locken, die ihr über den Rücken fielen, saß auf meinem verdammten Platz.

Ich blieb vor ihr stehen und starrte sie an. Das genügte in der Regel, damit die Leute mir aus dem Weg gingen, aber dieses Mädchen …

Sie sah zu mir hoch. Ihre Augen waren wie blassblauer Topas, und sie grinste herausfordernd, was nicht zu der traurigen Schwere passte, die über ihr hing. Sie warf einen schnellen Blick auf das leere Pult neben sich und hob eine Augenbraue.

»Alles in Ordnung, Mr Pearce?«, rief Mr Paulson von vorn.

Ich starrte das Mädchen an. Sie starrte zurück.

Dann setzte ich mich schnaubend auf den leeren Platz links von ihr und streckte die Beine in den Gang. Doug Keely, der Kapitän der Football-Mannschaft, der zwei Plätze weiter saß, zischte, um Justin Bakers Aufmerksamkeit zu erregen. Justin, ein Baseballspieler, drehte sich um. Doug zeigte mit dem Kinn auf die Neue, hob die Augenbrauen und formte mit dem Mund das Wort heiß.

Justin antwortete stumm: Superheiß.

»Guten Morgen.« Mr Paulson stand vorn im Raum. Es war erst kurz nach acht, und er hatte schon Kreidestaub auf seiner gebügelten Hose. »Ich hoffe, Sie hatten alle entspannte Feiertage. Wir haben eine neue Schülerin auf der George Mason. Bitte heißen Sie Willow Holloway herzlich willkommen. Sie kommt aus New York City zu uns.«

New York.

Es raschelte im Klassenraum, als ein paar der Schüler und Schülerinnen sich umdrehten und Willow musterten. Manche hoben grüßend die Hand. Hier und dort erklang ein gemurmeltes »Hi«. Nur Angie McKenzie – Herausgeberin des Jahrbuchs und Königin der Geeks – schenkte ihr ein echtes Lächeln, das Willow nicht erwiderte.

Sie brachte ein heiseres »Hi« heraus, das mir einen Schauder über den Rücken laufen ließ. Willow Holloway sah aus wie die Weide, von der sie ihren Namen hatte: hübsch, zart und trauernd. Nicht von außen, sondern von innen. Martin Ford hatte mir beigebracht, darauf zu achten, wie Menschen in ihren Körpern wohnten, und nicht, was sie sagten oder taten. Dieses Mädchen war tiefgründig. Ihre Augen hatten sie verraten, als unsere Blicke sich begegnet waren.

Natürlich ist sie traurig, dachte ich. Sie musste New York gegen das beschissene Harmony in Indiana tauschen.

»Glühend heiß«, flüsterte Doug Justin Baker zu und betonte genüsslich jede Silbe. Justin grinste.

Idioten.

Aber sie hatten nicht unrecht. Während der ganzen Stunde musste ich ständig zu Willow Holloway sehen, und mir war extrem bewusst, wie gegensätzlich wir waren. Sie war nicht super ordentlich oder makellos – eher leicht zerzaust mit dem vollen langen Haar, das ein bisschen wild aussah. Aber ihre Stiefel und die Jeans bedeuteten Geld. Ihr ovales Gesicht war glatt wie Porzellan, als wäre sie nicht einen Tag im Leben Sonne oder Wind ausgesetzt gewesen. Und konkret an diesem Morgen war sie wahrscheinlich gut zwei Jahre jünger als ich.

Zu jung, dachte ich, auch wenn mein Blick an der Rundung ihrer Brüste unter dem Kaschmirpulli hängen blieb, und an dieser Mähne, die aussah, als wäre sie gerade aus dem Bett aufgestanden, und die ich berühren wollte.

Wer ist jetzt der Idiot?

Ich rutschte auf meinem Stuhl herum und ermahnte mich, dass ich mehr volljährige Frauen kannte, als ich verkraften konnte. Ich musste sie nur anrufen oder ihnen schreiben. Trotzdem. Für den Rest der Stunde war meinem Körper die Nähe von Willow extrem bewusst. Als es klingelte, blieb ich sitzen, um sie aufstehen zu sehen. Sie nahm ihre Bücher mit desinteressierter Sicherheit, als wäre sie seit Jahren auf der George Mason, nicht erst seit ein paar Minuten.

Mit einem nüchternen Lächeln drehte sie sich zu mir um. »Morgen kannst du deinen Platz zurückhaben.«

Ich sah ihr fest und schweigend in die Augen.

Sie zuckte mit den Achseln und ging, warf sich diese unglaubliche Masse weichen Haars über die Schulter. Es schwang zur einen Seite, dann zur anderen und beruhigte sich dann wie eine Gardine, die ihr fast bis zur Taille reichte.

Vergiss es, sagte ich mir. Zu jung, zu reich, zu … alles, was du nicht bist.

Ich war mein ganzes Leben lang arm gewesen. An den meisten Tagen war das okay. An anderen Tagen, wie heute Morgen, war es wie ein Schlag ins Gesicht.

2. KAPITEL

Willow

»Bitte heißen Sie Willow Holloway herzlich willkommen. Sie kommt aus New York City zu uns.«

Ich lächelte meine neue Klasse höflich an. Die Sportler in den Collegejacken hatten trotz ihres freundlichen Lächelns klare Hintergedanken. Das Mädchen mit den dunklen Locken und den Sommersprossen im blassen Gesicht würde sich zweifellos sofort nach dem Pausenklingeln auf mich stürzen. Dieser harte, rebellisch wirkende Typ, auf dessen Platz ich mich gesetzt hatte …

Ich konnte alle leicht ignorieren, nur ihn nicht.

Mein Gott, ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie einen so umwerfenden Typen gesehen. Fast eins neunzig mit breiten Schultern, schlanken Muskeln und Filmstargesicht. Hohe Wangenknochen, gemeißeltes unrasiertes Kinn, dichte Augenbrauen, volle Lippen. Seine Augen waren graugrün wie die See vor Nantucket im Winter.

Alles an ihm war stürmisch und kalt, mit einer gefährlichen Strömung in der Tiefe. Seine schwarze Lederjacke roch leicht nach Zigarettenrauch, und es hätte mich nicht überrascht, wenn er in seinem Stiefel ein Klappmesser aufbewahrte. Es fühlte sich sogar gefährlich an, wie er mich ansah. Mein Körper reagierte sofort und überall, als würde sein forschender Blick mir unter die Haut gehen. Er sah mich an, als könnte er mich sehen.

Du überreagierst, Mädchen. Aber so was von.

Ich konzentrierte mich auf das Fenster und die trostlose Landschaft aus grauem Himmel und schmutzigem Schnee. Einfach alles war falsch. Der erste Schultag gehörte ans Ende des Sommers, wenn die Hitze dem kühlen Herbstwind noch nicht ganz gewichen war. Nicht mitten in den Winter mit Schneedecke auf der Erde und nur wenigen Monaten bis zum Abschluss.

Hätte es mir noch etwas ausgemacht, ob ich Freunde fand oder nicht, wäre das ätzend gewesen. Aber ich war in meinem eigenen ewigen Winter gefangen. Versiegelt in gefühllosem Eis, wie diese Mumien, die im Discovery Channel gezeigt wurden. Sie sahen fast lebendig aus, aber im Inneren … nichts.

Ich war immer gern zur Schule gegangen. Ich hatte mich auf die Schule gefreut. Meine Freundinnen waren manchmal mies drauf oder dramatisch, aber sie waren meine Freundinnen. Die Schulaufgaben waren entweder zu viel oder todlangweilig, aber ich war stolz auf meine Noten. Ich hatte es schrecklich gefunden, dass mein Durchschnitt in den Monaten nach der Party immer schlechter geworden war und mit ihm meine Aussichten auf ein gutes College. Ich hatte es schrecklich gefunden, meinen Eltern Sorgen zu bereiten, auch wenn sie sich nur am Rande für mich interessierten.

Ich sah mich aus der Sicherheit meines Eissargs im Klassenraum um. Ich wollte ja freundlich sein. Aber Freundlichkeit führte zu Freundinnen. Und Freundinnen führten zu Telefonaten und Nachrichten und nächtlichen Gesprächen unter der Bettdecke. Warme, gefährliche Umstände, bei denen die Eiswände schmelzen könnten und die schrecklichen Geheimnisse schließlich herauskämen, während sich ein unendlicher Strom von Tränen ergoss.

Vergiss es. Diese Leute hier konnten mich mögen oder hassen oder – meine bevorzugte Variante – ignorieren, und ich würde den Unterschied nicht bemerken. Nicht mal bei dem James Dean neben mir. Er konnte seinen blöden Platz morgen zurückkriegen. Ich konnte ihn und seine stürmischen grauen Augen, die bis unter meine Haut zu blicken schienen, nicht gebrauchen.

Mit dem dunkelhaarigen Mädchen hatte ich recht gehabt. Nach der Englischstunde ging ich ihr aus dem Weg, aber sie erwischte mich später am Morgen, als ich aus Wirtschaftswissenschaften kam. Sie ging plötzlich neben mir her, voller Selbstvertrauen in Stiefeln, Leggins und einem schwarzen Schlabberpulli, auf dem stand: Mein Kopf sagt SPORT, aber mein Körper sagt TACOS.

»Hi. Angie McKenzie, Jahrbuchredaktion«, sagte sie. Fast erwartete ich, dass sie mir eine Visitenkarte überreichte oder wie FBI-Agenten im Fernsehen einen Ausweis hochhielt. »Du kommst aus New York? Was hat dich hierher verschlagen?«

»Der Job meines Vaters«, sagte ich.

»Wow. Blödes Timing, oder? Mitten im letzten Jahr?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Ich werd’s überleben.«

Sie grinste durchtrieben. »Sieh mal einer an. Engelsgesicht und das Haar einer Disney-Prinzessin, und alles nur Fassade für ’ne ganz harte Braut!«

Trotz meiner Bemühungen schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. Angie war eines dieser skurrilen Mädchen, die man sofort mögen musste, verdammt. Meine beste Freundin Michaela (ehemals beste Freundin, dachte ich) war auch so.

Ich bekam das Lächeln unter Kontrolle. »Genau«, sagte ich. »Das Haar ist nur Tarnung.«

»Tarnung wie aus der Shampoo-Werbung«, sagte Angie. »Ich bin echt neidisch. Nash, mein Freund seit, na ja, schon immer … jedenfalls nervt er ständig, ich soll mir die Haare wachsen lassen, aber es würde niemals so aussehen wie bei dir.« Sie griff in ihre dunklen Locken und schüttelte sie. »Könnt ihr Frizz sagen, Kinder? Ich wusste, ihr schafft das!«

Ich musste lachen. »Du bist echt schräg. Ich meine auf ’ne gute Art«, fügte ich hinzu. Ich befand mich vielleicht in selbst auferlegter Kryostase, aber deshalb war mir noch lange nicht egal, ob ich ihre Gefühle verletzte.

Angie lachte mit und ihre pinkfarbenen Kreolen hüpften auf und ab. »Ha. Schräg ist mein Lebensinhalt.«

Wir waren vor meinem Schließfach am Ende des Gangs im zweiten Stock angekommen. Glastüren führten zu einer kleinen Außentreppe mit gemauerten Wänden und Metallgeländer. Der umwerfende Typ aus der Englischstunde stand da mit einer Strickmütze und fingerlosen Handschuhen, die beide nicht aussahen, als wären sie warm genug. Er lehnte superlässig am Geländer und rauchte eine Zigarette. Der Rauch verdichtete sein Atemwölkchen, dann wurde beides vom Wind fortgerissen.

»Wer ist das?«, fragte ich.

»Isaac Pearce«, sagte Angie. »Er ist superscharf, oder? Aber vergiss es. Er datet nur ältere Mädchen. Und mit ›datet‹ meine ich, er hat wahnsinnigen gefühllosen Sex mit ihnen. Glaub ich zumindest.«

Eine Phantomhitze durchströmte mich, wie das Jucken, das ein Amputierter an dem Bein fühlen konnte, das nicht mehr da war. Ich lehnte mich an die Schließfächer, fummelte an meiner Tasche, meinem Haar, dann wieder an der Tasche herum.

»Echt? Er steht auf Ältere?«

Angie nickte. »Obwohl man sich nur schwer vorstellen kann, dass er eine anruft und fragt, ob sie sich mit ihm trifft. Am Telefon, meine ich. Mit Worten.«

»Wie meinst du das?«

»Er spricht nicht«, sagte sie.

Ich blinzelte. »Er ist stumm?«

Sie verdrehte die Augen. »Na ja, er kann sprechen. Er tut es nur nicht oft. Es sei denn, er steht auf einer Bühne und spielt …«

Sie verstummte, und ich sah zu Isaac Pearce, der hinter den Glastüren am Geländer lehnte, der Kälte trotzte und für jeden sichtbar eine Zigarette rauchte, ohne sich darum zu kümmern, ob ein Lehrer ihn erwischte.

»Er ist Schauspieler? Er sieht …« Ich verstummte, meine Worte waren absolut ungenügend. Heiß. Harter Typ. Herzensbrecher. Verschleißt Frauen. Jede Nacht eine andere …

»… tough aus«, schloss ich.

»Muss er auch sein. Sein Vater prügelt ihn windelweich.«

Schnell blickte ich wieder zu Isaac. Ich wollte wissen, ob die Spuren der Misshandlung auf ihm zu sehen waren oder ob seine schlimmsten Narben wie meine im Inneren verborgen blieben.

»Sein Vater schlägt ihn?«

»Sagen die Leute. Aber gerade hat man seinen Vater eine ganze Weile nicht gesehen, das aktuelle Gerücht ist also, dass Isaac ihn umgebracht und die Leiche auf ihrem Schrottplatz versteckt hat.«

Ich verzog das Gesicht. »Was? Komm schon …«

Angie zuckte mit den Achseln und zog die sommersprossige Nase kraus. »Es ist nur ein dummes Gerücht, aber ich könnte es ihm nicht verdenken. Sie wohnen am Stadtrand in einem alten Trailer, sonst ist da nur der Autofriedhof.« Ihr schauderte.

Jetzt suchte ich nach Anzeichen für Isaacs Armut und fand sie sofort: die abgewetzten Schuhe und die ausgeblichenen Jeans. Arm, aber stolz. Nichts an ihm bettelte um Mitleid.

»Okay, aber er hat nicht seinen Dad umgebracht«, sagte ich.

Angie winkte ab. »Irgendwann taucht Charles Pearce in der Stadt auf. Dann verstummen die Gerüchte für ein paar Wochen, bis sie von Neuem losgehen. Das ist so, seit vor etwa zehn Jahren Isaacs Mom gestorben ist. Damals kam er ständig mit blauen Flecken zur Schule. Jetzt nicht mehr. Ich meine, sieh ihn dir an. Inzwischen ist er stark genug, um sich zu wehren. Warum sollte er es nicht tun?«

Ich hatte darauf keine Antwort. Ich wollte nicht darüber nachdenken, wie schrecklich es wäre, nicht nur vom eigenen Vater geschlagen zu werden, sondern auch noch zurückschlagen zu müssen. Sich wehren zu müssen.

»Auf der Bühne ist Isaac völlig anders«, sagte Angie. »Übermenschlich sexy und unglaublich genial. Er spielt immer die emotionalen Rollen – schreit und weint auf der Bühne. Vor ein paar Jahren haben sie im Community-Theater Angels in America aufgeführt, und er und ein anderer Typ haben sich geküsst. Man sollte denken, das wäre sein Todesurteil gewesen, aber nein. Er ist unantastbar.«

Unantastbar.

Das Wort klang für mich wie ein Wiegenlied. In den vier Silben lag alles, was Schutz bedeutete. Alles, was ich sein wollte und nicht war.

Isaac ist es auch nicht, dachte ich. Für seinen Dad ist er nicht unantastbar.

»Du solltest dir heute oder morgen das aktuelle Stück ansehen«, sagte Angie. »Schau dir Isaac auf der Bühne an.«

»Ist er gut?«

Sie schnaubte. »Gut? Es ist eine Erfahrung, die dich völlig verändert. Ich steh gar nicht so auf Theater, aber Isaac Pearce auf der Bühne zu sehen …« Sie warf mir einen listigen Blick zu. »Ich sage nur, bring dir eine Ersatzunterhose mit.«

»Mach ich vielleicht«, sagte ich. »Hingehen, meine ich.«

»Lass uns heute Abend gehen«, sagte sie fröhlich. »Es läuft König Ödipus. Ich weiß, ich weiß, griechische Tragödien sind todlangweilig, aber mit Isaac in der Hauptrolle …« Sie ließ ihre Schultern erzittern. »Ich habe es schon zweimal gesehen. Morgen ist die letzte Vorstellung, aber für dich quetsche ich noch ein drittes Mal rein.« Sie stupste mich gegen den Arm. »Bin ich nicht das allerbeste Empfangskomitee für jemanden, der neu in der Stadt ist?«

»Keine Ahnung, du bist die Erste, die ich treffe.«

Angie angelte einen Kuli aus ihrem Rucksack, schnappte sich meine Hand und schrieb mir ihre Telefonnummer auf die Handfläche. Ich wand mich; ihr Stift war nur Zentimeter von den verborgenen schwarzen X auf meinem Handgelenk entfernt.

»Heute um acht«, sagte sie. »Schreib mir, wenn du das Okay von deinen Eltern hast. Ich warte vor dem Theater auf dich.«

Ich blinzelte angesichts der Verabredung, die mir so plötzlich aufgedrängt worden war. Meine Freitagabendpläne drehten sich in der Regel um Lesen, Teetrinken oder Binge-Watching von Black Mirror auf Netflix. Ein ruhiger Abend im Eispalast.

»Ja, okay, ich schreib dir«, hörte ich mich sagen.

»Cool.« Angie strahlte. »Und setz dich beim Mittagessen zu mir und meinen Freunden. Du kannst den Die-Neue-isst-allein-Quatsch einfach überspringen.«

»Danke.«

»Empfangskomitee Royal!«

Es klingelte. Sie warf mir eine Kusshand zu und lief zum Unterricht. Ich ließ mir Zeit und blickte über die offene Tür meines Schließfachs zu Isaac. Er sah auf.

Eine Sekunde lang trafen sich unsere Blicke durch die beschlagenen Glastüren. Wieder haute die gefährliche Schönheit dieses Typen mich um. Er war wie ein Dolch. Durchbohrte dich mit einem Blick, wenn du nicht wusstest, wie du ihm begegnen solltest.

Und ich hatte ihm in Englisch den Platz weggenommen.

Vielleicht sollte ich das in Zukunft lieber lassen …

Isaac hob das Kinn, dann drückte er die Zigarette aus und schlenderte ins Gebäude zurück. Er ging an mir vorbei und roch nach Rauch, der Kälte des Winters und einem Hauch von Pfefferminz. Er redete mit niemandem, und niemand redete mit ihm. Aber die anderen Schüler starrten ihn alle an. Wie ich. Wirklich alle. Völlig gebannt.

In New York hatte ich nie Autofahren gelernt. Es war einfach nicht nötig gewesen. Ich hatte nicht mal einen Übungsführerschein. Also fuhr ich mit dem Schulbus nach Hause. Er rumpelte und schlingerte durch Harmonys Osten, wo die Straße in Kurven über ein paar Hügel führte. Die Häuser auf dieser Seite der Stadt waren riesig, mit großen ausgedehnten Gärten. Auf mehr als einem Grundstück prangten Pferdekoppeln und Scheunen. Ich hätte nie gedacht, jemals so viel Platz ums Haus herum zu haben. Vorgärten, Hintergärten, Seitengärten. Und überall Bäume. Jetzt im Winter waren sie kahl, aber es war leicht, sie sich grün und belaubt im Sommer vorzustellen oder knallorange und rot im Herbst. Einfach und erfreulich. Ich ertappte mich dabei, mich darauf zu freuen.

Meine Mutter war nicht ganz so begeistert.

»Ich hoffe, unsere Hausratversicherung deckt auch Indianerüberfälle ab«, hatte sie zu Dad gesagt, als wir angekommen waren. »Und Heuschreckenplagen.«

Er hatte so getan, als würde sie einen Witz machen, aber ich wusste, dass Mom es todernst meinte. Das Landleben würde ihr nicht gefallen. Sie war in der Gesellschaft Connecticuts aufgewachsen, hatte in Wellesley studiert und war ein fester Bestandteil der Upper West Side gewesen. Ich gab ihr sechs Monate in Harmony, bevor sie meinen Dad vor ein Ultimatum stellte: zurück nach New York oder gleich eine neue Wohnung in Scheidungshausen.

Als ich an diesem ersten Tag in meiner Straße aus dem Schulbus stieg, sog ich die klare, kalte Luft tief in meine Lungen. Es war eine völlig andere Kälte als in New York. Sie war sauberer. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich hatte das Gefühl, leichter atmen zu können.

Unser altes Haus war für Manhattan geräumig gewesen, aber das neue war riesig. Keine Scheune oder Koppel für Regina Holloway – sie hatte darauf bestanden, ein komplett umgestaltetes Haus zu kaufen. Wie Winona Ryders Stiefmutter in Beetlejuice wollte sie den ländlichen Charme aus dem Haus herausreißen und durch kalte Eleganz ersetzen. Ich hätte ein altes Landhaus mit vergilbten Blümchentapeten und warmen Holzgeländern an der Treppe geliebt. Je gegensätzlicher zu unserem alten Haus, desto besser. Keine unbewussten Erinnerungen oder Rückblicke auf meine heimliche Party und das, was in jener Nacht in meinem Zimmer passiert war.

Ich schloss die Haustür auf und trat ins Warme. Wir hatten eine große Eingangshalle mit einem Kronleuchter, der eigentlich in einen Ballsaal gehört hätte. Ich zog die schneeverkrusteten Stiefel aus und ging über den beigegrauen Hartholzboden durch das Labyrinth aus Sofas und Sesseln und aufgerollten Teppichen – alles noch in Plastikfolie verpackt.

Das Haus war leer und still. Unsere New Yorker Möbel genügten nicht, um all den Raum zu füllen, und Mom war in Indianapolis, um mehr zu kaufen. Dad war bei der Arbeit – wo sonst? – und schuftete für Mr Wilkinson, um Moms Ausgaben stemmen zu können.

Die Küche war größtenteils ausgepackt. Ich machte mir Erdbeertee und nahm ihn mit in mein Zimmer. Mein neues Bett sollte heute geliefert werden. Es war das Einzige, worum ich vor dem Umzug gebeten hatte. Mein Argument war, dass wir jetzt genügend Platz hatten, und Dad – wahnsinnig froh, dass ich nicht wegen Indiana meckerte – kam meinem Wunsch gerne nach.

Ich steckte den Kopf in den Raum und atmete aus.

Yay.

Mein altes Bett und die mit einem X markierte Matratze waren weg. Auf dem Müll oder beim Recycling. An seinem Platz stand ein ein Meter fünfzig breites Himmelbett mit hauchdünnen Vorhängen.

In diesem Bett werde ich schlafen, schwor ich. Wie ein normales Mädchen.

Ich stellte den Tee auf den Tisch daneben und legte mich auf die in Plastik verpackte Matratze. Ich faltete die Hände auf meinem Bauch und schloss die Augen.

»Unantastbar«, flüsterte ich.

Nach den zahllosen Nächten, die ich schlecht geschlafen hatte, packte mich die Müdigkeit schnell mit ihren Klauen und zog mich nach unten. Tief in die schwarze Dunkelheit. Gedämpfte, pulsierende Musik kam durch die Wände und den Boden. Ein warmer, nach Bier und Erdnüssen riechender Mund auf meinem. Hände um meinen Hals. Und dieses Gewicht. Xaviers erdrückendes, erstickendes, zerstörendes Gewicht …

Ich fuhr senkrecht hoch, ein Schrei blieb mir in der engen keuchenden Brust stecken. Ich blinzelte, bis ich das neue Zimmer in unserem neuen Haus sah. Das Nachmittagslicht war verschwunden. Der Radiowecker zeigte 18:18. Stockend atmete ich ein, wischte mir die Tränen von den Wangen und rutschte auf den Fußboden.

Kein Bett war mehr sicher.

Ich saß da, die Beine ausgestreckt wie die einer Puppe, und dachte an den Song »Living Dead Girl«. Ich überlegte, mich in die Bettdecke und die Wolldecke zu wickeln und so auf den nächsten Morgen zu warten. Dann fiel mir Angies Einladung zu Isaacs Vorstellung ein.

Der Albtraum haftete noch an mir, und es kam mir unmöglich vor, mich aus dem Haus zu wagen und unter Leute zu gehen. Aber ein Theaterstück anzusehen war vielleicht ein bisschen wie ein Buch zu lesen – man konnte darin eintauchen und fliehen. Ich könnte mich im alten Griechenland verlieren und ein wenig Abstand zu meiner eigenen lächerlichen Tragödie gewinnen.

Ich zog den Arm unter der Decke hervor und starrte auf die Telefonnummer auf meiner Handfläche.

Wollte ich wirklich zu dem Stück gehen? Warum?

Um mich mit Angie anzufreunden.

Um dieses angebliche Schauspielwunder, Isaac Pearce, zu sehen.

Um rauszukommen.

Um normal zu sein.

Ich schob den Ärmel hoch und verglich Angies geschwungene, mit blauem Kuli gemalte Ziffern mit meinen hässlichen schwarzen X.

Dann nahm ich mein Telefon und schrieb Angie eine Nachricht.

Ich bin’s, Willow. Ich komme mit. Sehen wir uns 19:45?

Die Antwort kam fast sofort. Mach 19 Uhr draus, dann ist Zeit für Burger und Milchshakes im Scoop. Wie kommst du hin?

Ich hatte keine Ahnung, wie ich da hinkommen würde, und in Harmony gab es wahrscheinlich nicht so viele Taxis wie in New York.

Keine Ahnung. Kannst du mich abholen?

Ja, Eure Majestät. <3

Ich schickte ihr meine Adresse, dann schrieb ich meinen Eltern.

Gehe mit Freunden essen, dann ins Theater. Bin gegen 23 Uhr zu Hause.

Meine Mutter wollte wissen, mit wem ich ausging – sie hatte sich bereits die Meinung gebildet, dass ganz Harmony von Bauerntölpeln und Hinterwäldlern bevölkert war. Dad bestand darauf, dass ich um »23 Uhr und keine Minute später« zu Hause war.

Ich ignorierte ihre Nachrichten, als ich mich fertig machte. Es ging Mom nichts an, und ich hatte Dad nicht um Erlaubnis gefragt.

3. KAPITEL

Willow

Angie stand zehn vor sieben in der Einfahrt und hupte. Ich ging raus, warm eingepackt in meiner weißen Winterjacke und mit der rosa Strickmütze. Angie reckte den Hals aus dem Fenster ihres grünen Toyota Camry und betrachtete das Haus.

Sie ließ einen Pfiff hören, als ich in den Wagen stieg. »Sähr elegonte chez Holloway«, sagte sie mit einem fürchterlichen französischen Akzent und küsste ihre Fingerspitzen. »Dein Dad ist im Ölgeschäft?«

»Gut geraten«, sagte ich. »Er ist leitender Angestellter bei Wexx.«

»Ah, hier gibt’s überall diese Tankstellen. Sogar Isaacs Versagerdad betreibt eine neben seinem Schrottplatz. Und was gibt’s hier für euch zu holen?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Sein Boss will, dass er das Geschäft im Mittleren Westen auf Vordermann bringt. Und das macht er.«

»Du klingst, als wäre es total okay für dich.« Angie fuhr vorsichtig, aber nicht ängstlich auf der gewundenen verschneiten Emerson Road, die mein Viertel mit dem Zentrum verband. Schnee türmte sich zu beiden Seiten der Straße. »Ich würde durchdrehen, wenn ich im letzten Jahr umziehen müsste.«

»Ich hatte keine Wahl. Hast du immer hier gewohnt?«

»Mein ganzes Leben«, sagte Angie. »Aber ich bleibe nicht. Ich habe mich in Stanford, an der UCLA, Berkeley – praktisch jeder Uni in Kalifornien – beworben, die mich nehmen würde. Ich will Sonne und Strand.« Sie schürzte die Lippen, als ich schwieg. »Und du? Wo hast du dich beworben?«

»Nirgends«, sagte ich.

Angie wurde vor einem Stoppschild langsamer. »Wirklich? Du willst nicht aufs College?«

»Nein.« Ich rutschte auf dem Sitz herum. »Ich meine, ich habe mich noch nirgends beworben. Aber das mache ich. Bald.«

»Hey, du musst dich ranhalten. Die Zeit läuft.«

»Ich weiß«, sagte ich und biss die Zähne zusammen.

Das war das Gemeine am Leben: Es ging einfach weiter, auch wenn es dringend langsamer werden und einen Moment stehen bleiben sollte, während man versuchte, sich wieder zusammenzusetzen.

»Du willst bestimmt nach Yale. Oder Brown?«, fragte Angie, als wir am Ende der Kurve ankamen und die Lichter des Zentrums von Harmony vor uns auftauchten. »Ich stelle mir für dich etwas Vornehmes, Neuengland-Mäßiges vor.«

»Vielleicht.«

»Hey, alles okay?« Angie sah mich von der Seite an. »Mir ist klar, dass ich dich nicht sehr gut kenne – Hashtag Untertreibung –, aber du scheinst mir ein bisschen … IDK, fertig. Mehr als heute Vormittag.«

»Ich hab nur ein Nickerchen gemacht und war danach ein bisschen verschlafen«, sagte ich. »Und hast du gerade IDK gesagt? Ich meine gesagt?«

»Ich bin ein Kind des technologischen Zeitalters.«

»Und so was willst du beruflich machen?«, fragte ich. Ich wollte vor allem die Aufmerksamkeit von mir ablenken, war aber auch neugierig. »Etwas Technisches?«

»Tatsächlich«, sagte Angie. »Mein Ding ist Robotik. Ich will Gliedmaßenprothesen für Amputierte bauen. Mein Traum ist, in einem Team zu arbeiten, das solche Teile baut wie die Hand von Luke Skywalker. Von außen realistisch, von innen Terminator.«

»Guckst du viele Filme?«

»Geek. Zu hundert Prozent.«

Ich lächelte leicht, aber es schwand schnell, als ich über Angie und ihre Träume nachdachte. Sie war großzügig und freundlich und wollte nach Stanford gehen und etwas Gutes bewirken. Ich sehnte mich nach so einem Funken. Einem Feuer, das mich vorantrieb, in eine Zukunft mit einer Karriere und Zielen und Absichten. Einem Ziel, das größer war als das Überleben einer weiteren schlaflosen Nacht.

Du bist aus dem Haus gegangen, sagte eine Stimme, die ein bisschen wie die meiner Grandma klang. Du tust dein Bestes. Das ist etwas.

Das tröstete mich ein bisschen, und ich wurde mit der Postkartenansicht des Zentrums von Harmony belohnt. Leuchtende Weihnachtsgirlanden hingen noch an den viktorianischen Gebäuden, die meisten der breiten Fassaden beherbergten mehrere Geschäfte. Wir kamen an einem Waschsalon vorbei, dem Billigkaufhaus, Daisy’s Coffeehouse und einem Kosmetikstudio. Das Neonschild von Bills Eisenwarenladen leuchtete grellrot neben der Leuchtschrift des Einsaalkinos. Der Schnee war auf ordentliche Haufen geschippt, und ein paar Leute waren auf dem Bürgersteig unterwegs.

»Es ist wunderschön«, murmelte ich.

»Ja?« Angie verdrehte den Hals, als wir darauf warteten, dass die einzige Ampel im Ort auf Grün sprang. »Ja, wahrscheinlich schon. Hast du viel von Harmony gesehen? Ich weiß, es ist alles unter dem Schnee begraben, aber dafür, dass wir nur ein Fleck auf der Landkarte sind, gibt es ein paar wirklich coole Sachen.«

»Zum Beispiel?«

»Es gibt ein richtig tolles Heckenlabyrinth, genau nördlich von uns.«

»Ein Heckenlabyrinth?«

»Die Hecken sind nicht hoch, und es ist nicht so kompliziert, dass sich Touristen darin verirren, aber in der Mitte ist eine gemütliche kleine Hütte mit einer Windmühle. Rein dekorativ.«

Oder romantisch, flüsterte ein Gedanke.

»Im Westen der Stadt gibt es einen wirklich coolen Friedhof, der bis zum Sezessionskrieg zurückgeht. Und wir haben ein Amphitheater, wo es Festivals gibt und Veranstaltungen der Stadt. Wenn man Fast Food braucht oder Outlet Stores, dann fährt man zehn Minuten Richtung Norden nach Braxton. Und wenn man eine richtige Stadt will, dann gibt es Indy, zwanzig Minuten hinter Braxton.«

Sie parkte vor einem Gebäude mit dem Schild The Scoop.

»Und hier haben wir unseren typischen Oberstufentreff, wie aus einem Film von John Hughes«, sagte Angie und machte den Motor aus. »Aber sei gewarnt: Es gibt Burger, Pommes und Eis. Falls du eher der Salat- und Sprossentyp bist. Ich nicht, falls du es noch nicht bemerkt hast.« Lachend klopfte sie sich auf die rundlichen Hüften.

Ich folgte ihr in das Lokal. Es war gerammelt voll mit Schülern der George Mason und ein paar Familien mit kleinen Kindern.

»Und schau, unsere Cliquen haben ihre übliche Stellung bezogen.« Mit dem Kinn deutete Angie auf mehrere Gruppen, die sich um Tische oder in Sitznischen drängten. »Das da sind meine Freunde«, sagte Angie. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich ihnen Bescheid gesagt habe.«

»Nein, kein Problem«, sagte ich und versuchte mich an die Namen der Leute zu erinnern, die Angie mir heute beim Mittagessen vorgestellt hatte. Ihr Freund, Nash Argawal – ein niedlich aussehender Typ indischer Abstammung. Caroline West, ein zierliches Mädchen mit braunen Haaren. Und Jocelyn James, eine riesenhafte Blondine, Kapitänin der Basketballmannschaft.

»Wenn ich uns einordnen müsste wie in Girls Club, dann sind wir die großartigsten Leute, die du je kennenlernen wirst«, sagte Angie. »Schräge, diverse Wissenschaftsgeeks und Leute mit noch ungeklärter sexueller Orientierung.« Sie beugte sich zu mir, als wir uns der Nische näherten. »Auf dem Papier sind wir alle Heteros, aber Caroline hat Jocelyn mal auf einer Party geküsst, und, um die unsterblichen Worte von Katy Perry zu zitieren, ›they liked it‹.«

Ich hatte Angies Freundeskreis schon als absolut sympathisch eingeordnet, als Nett mit großem N. Leute, die man wirklich leicht kennenlernen konnte. Leute, die einen nicht als Schlampe brandmarkten oder einen fragten, warum um alles in der Welt man ein Oben-ohne-Bild an einen älteren Typen geschickt hatte, falls man ihnen hässliche Geheimnisse erzählte. Oder warum man ebendiesen Typ in sein Schlafzimmer gelassen hatte. Sie wären sogar entsetzt, wenn sie erführen, dass man sich nicht daran erinnern konnte, ihn überhaupt reingelassen zu haben.

»Hey Leute, ihr erinnert euch an Willow«, sagte Angie, als sie sich neben Nash auf die Bank setzte. Caroline rutschte dichter an Jocelyn heran, um Platz für mich zu machen. »Ich dachte, ich schnappe sie mir, bevor die Cheerleaderinnen Ansprüche anmelden.« Sie sah mich unsicher an. »Oder willst du Cheerleaderin werden?«

Sie deutete mit dem Kinn zu einem Tisch, wo sich ein paar hübsche Mädchen mit langen Haaren und glitzerndem Lipgloss unterhielten und dabei auf ihre Handys guckten. Am Tisch daneben saßen Typen in Collegejacken und sahen sich das Spiel an, das plärrend auf einem Fernseher in der Ecke lief.

»Nein, will ich nicht«, sagte ich.

Nicht mehr.

In meinem alten Leben war ich nicht nur Cheerleaderin gewesen, sondern auch zweite Vorsitzende des Abschlussballkomitees, Kassenwartin meiner Klasse und Mitglied des Debattierclubs. Ein Haufen Aktivitäten, die jetzt die blassen Erinnerungen einer anderen Person zu sein schienen.

»Es wäre auch okay«, sagte Angie. »Unsere Plastics sind gar nicht so plastikmäßig.«

»Eigentlich sind alle ziemlich nett«, sagte Jocelyn und winkte einem Mädchen auf der anderen Seite des Lokals. »Wenn man seit dem Kindergarten mit denselben Leuten aufwächst, ist es ziemlich schwierig, zickig zu sein.«

Nash lächelte mich an. »Wenn man weiß, dass die Ballkönigin früher Brei gegessen hat, kann man sie nicht so ernst nehmen.«

»Trotzdem könnten sie versuchen, dich uns wegzuschnappen«, sagte Angie. »Du bist so neu und glänzend.«

»Mich wem wegschnappen?«, fragte ich.

Angie wechselte einen Blick mit Nash. »Ich hatte vielleicht Hintergedanken, als ich die Gang zusammengetrommelt habe. Gedanken, die nichts mit griechischer Tragödie zu tun haben.«

»Sie will dich für unser Jahrbuchteam«, sagte Nash und verzog das Gesicht, als Angie ihn in die Rippen stieß.

»Ich wollte das besser verkaufen«, sagte sie.

»Dafür ist nicht genug Zeit«, sagte Nash. »Das Stück fängt in einer Dreiviertelstunde an.«

Angie verdrehte die Augen und wühlte in ihrer Tasche. »Na gut.« Sie holte das letzte Jahrbuch heraus und schob es mir zu. »Wie wir vorhin besprochen haben, stehen jetzt College-Bewerbungen an, und du brauchst außerschulische Aktivitäten, oder?«

Ich nickte und schlug das glänzende Fotobuch auf. »Mein Dad hat es befohlen – und so soll es sein.«

»Und?« Angie klatschte in die Hände. »Sind wir nicht perfekt dafür geeignet?«

»Vielleicht«, sagte ich und blätterte durch die Seiten.

Ich hatte nicht das geringste Interesse daran, zum Jahrbuchteam zu gehören. Oder wieder Cheerleaderin zu werden. Oder den Anordnungen meines Vaters überhaupt zu folgen. Ich sah mir die Gesichter auf den Fotos an – Schüler, die zusammen lachten, an Projekten arbeiteten, in Talentshows sangen und Preise für Wissenschaftsprojekte gewannen. Das ganze Buch war normalen Leuten gewidmet, die normale Sachen machten. Ich wusste, dass viele von ihnen – wahrscheinlich mehr, als ich ahnte – ihren eigenen Scheiß aushalten mussten, aber es sah aus, als würden sie viel besser darüber hinwegkommen als ich.

Ich kam über gar nichts hinweg.

Eine Kellnerin nahm unsere Bestellung auf, und während die anderen sich unterhielten, blätterte ich weiter durch das Jahrbuch. Ich kam auf eine Seite mit städtischen Aktivitäten. Und da war Isaac Pearce auf der Bühne. Festgehalten in einem dramatischen Schwarz-Weiß-Foto. Ich beugte mich vor.

»Oh, Miss Holloway«, sagte Angie. »Wir sind wirklich neugierig auf Mr Pearce, nicht wahr?«

Ich ignorierte sie und betrachtete die Fotos von Isaac mit den Bildunterschriften: Angels in America, Vergrabenes Kind, Alle meine Söhne.

»Macht er das schon lange?«, fragte ich.

»Seit der Grundschule«, sagte Angie.

»Verstehe«, sagte Nash und verdrehte die Augen. »Es geht heute gar nicht darum, die Schauspielkunst zu würdigen, sondern ein neues Mitglied für den Isaac-Pearce-Fanklub anzuwerben.« Er sah seine Freundin an. »Ich hoffe, du hast der Neuen gesagt, dass sie auf dem Holzweg ist.«

»Ich bin auf gar keinem Weg«, sagte ich und spürte einen tiefen Schmerz in mir. Der Gedanke, je wieder mit jemandem zusammen zu sein, war abstoßend. Die Vorstellung, dass ein Junge dicht neben mir stand. Dass ich bei einem Date in der Enge seines Autos saß. Geküsst wurde. Oder berührt. Dass der Körper eines Jungen sich an mich presste, ohne dass ich seine Absichten kannte. Oder seine Kraft.

Ich klappte das Jahrbuch zu, und weg waren die Bilder von Isaac und auch die Gedanken, die mich in eine ausgewachsene Panikattacke steuerten.

»Er ist hübsch anzusehen«, sagte Jocelyn, »aber er vögelt Studentinnen in Serie. Uns Kinder sieht er nicht mal an.«

»Kinder?«, fragte ich. »Er ist in unserem Alter.«

Alle schüttelten den Kopf.

»Nein?«

»Nein. Seine Mom ist gestorben, als er acht war«, sagte Angie. »Er hat etwa sechs Monate lang kein Wort gesagt und musste ein Jahr aussetzen.«

Ich runzelte die Stirn. »Er hat sechs ganze Monate nicht geredet?«

Angie nickte. »Vielleicht länger. Er war in der dritten Klasse. Irgendwann ist er nicht mehr in die Schule gekommen, aber davor … es war total schräg, dieser kleine Junge, der kein Wort gesagt hat.« Sie schüttelte den Kopf. »Der Arme.«

In meiner Vorstellung sah ich einen blonden Jungen mit rauchgrünen Augen, dem das Unglück die Worte direkt herausgeprügelt hatte. »Wie kam es, dass er wieder angefangen hat zu reden?«

»Miss Grant, die Lehrerin in der Vierten, hat ein kleines Stück aufgeführt und ihn überredet, mitzuwirken.« Angie hob die Hände. »Der Rest ist bekannt.«

Ich nickte langsam. Sie hatte ihm die Worte von jemand anderem gegeben.

»Aber er hat in der Schule ein Jahr verloren«, sagte Nash.

Caroline nickte. »Er ist achtzehn. Nein, wartet …« Sie zählte an ihren Fingern ab. »Wahrscheinlich ist er jetzt neunzehn, oder?«

»Das muss hart sein«, sagte ich.

Jocelyn zuckte mit den Achseln und tauchte eine Pommes in den Ketchup. »Es hat sich gelohnt. Er wird ein berühmter Schauspieler werden.«

»Apropos«, sagte Nash und sah auf die Uhr. »Wir sollten gehen. Ödipus wird sich nicht allein die Augen ausstechen.«

Angie schlug ihn auf den Arm. »Hallo? Spoilerwarnung!«

»Ich kenne die Geschichte«, sagte ich und musste einfach lächeln. Und ich musste Angie einfach mögen, die sich bei mir einhakte, als wir den Fußweg entlanggingen. Zuerst erschrak ich ein bisschen; ich war kein Fan davon, berührt zu werden, aber Angie war Wärme auf meinem Eis, und ich ließ sie, als unser Atem in der glitzernden winterlichen Straße Wölkchen erzeugte.

»Und? Was hältst du von meinem Angebot?«, fragte sie. »Das Jahrbuch kommt in die entscheidende Phase, und ich könnte die Hilfe wirklich gebrauchen.«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich glaube, es ist nicht so mein Ding.«

Sie zog eine Grimasse. »Bist du sicher? Weil –«

»Ja, ich bin sicher«, sagte ich mit harter Stimme. Ich zwang mich, wieder weicher zu klingen. »Sorry. Wir sind vor neun Tagen umgezogen. Ich bin noch dabei, mich zu orientieren.«

»OMG, natürlich«, sagte Angie mit einem breiten Lächeln. »Ich bin total aufdringlich …«

»Glaubst du?«, murmelte Nash.