Never Finished - David Goggins - E-Book

Never Finished E-Book

David Goggins

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Riva
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Dies ist kein Selbsthilfebuch. Es ist ein Weckruf. In seinem Weltbestseller »Can't Hurt Me« bewies David Goggins anhand seiner beeindruckenden Geschichte, wie viel ungenutztes Potenzial in jedem Menschen schlummert und dass man mit dem richtigen Mindset selbst das scheinbar Unmögliche erreichen kann. Doch das war erst der Anfang, denn das Streben nach immer neuen Höchstleistungen kennt keine Ziellinie. »Never Finished« ermöglicht einen tiefgehenden Einblick in die psychologischen Strategien, die Goggins in seinem steten Ringen um Selbstvervollkommnung entwickelt hat. Und mit denen er sich immer neu zum Erfolg führt. Die geschilderten Erfahrungen sind aufrüttelnde Demonstrationen des Triumphs über vermeintliche Grenzen. In schonungslos ehrlicher Weise liefert uns Goggins so eine Blaupause, um in den Kämpfen unseres eigenen Lebens den Sieg davonzutragen – und außergewöhnlich zu werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 462

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



David Goggins

Never Finished

David Goggins

Never Finished

Überwinde dich selbst und werde ausser-gewöhnlich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

1. Auflage 2024

© 2024 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2022 bei Lioncrest Publishing unter dem Titel Never Finished. © 2022 Goggins Built Not Born, LLC. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Übersetzung: Peter Peschke, Mark Bergmann

Redaktion: Rainer Weber

Umschlaggestaltung: Erin Tyler

Umschlagabbildung: cvdr/wearecasey

Satz: Daniel Förster

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-7423-2659-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1784-8

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1785-5

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter: www.m-vg.de

Für meinen ganz persönlichen Polarstern,der mir selbst in den dunkelsten Nächten stets geleuchtet hat.

Inhalt

Einleitung

1 Minimales Potenzial maximieren

Evolution #1

2 Merry Fucking Christmas

Evolution #2

3 Labor des Geistes

Evolution #3

4 Wiedergeburt eines Wilden

Evolution #4

5 LEHRMEISTER DISZIPLIN

Evolution #5

6 DIE KUNST, AUFS MAUL ZU KRIEGEN

Evolution #6

7 DIE ABRECHNUNG

Evolution #7

8 SPIELEN BIS ZUM ABPFIFF

Evolution #8

9 DIE SEELE Auswringen

Danksagung

Über den Autor

WARNING ORDER

EINSATZZEIT: 24/7

EINSATZART: EINZELMISSION

1. Situation: Ihr Horizont wird von sozialen und selbst auferlegten Barrieren beschränkt.

2. Mission: Kämpfen Sie sich durch Widerstände. Suchen Sie unbekanntes Terrain. Definieren Sie das Mögliche neu.

3. Durchführung:

a) Lesen Sie dieses Buch von Anfang bis Ende. Verinnerlichen Sie die hier vorgestellte Geisteshaltung. Überprüfen Sie alle Thesen nach bestem Vermögen. Repeat. Die Wiederholung wird neue Fertigkeiten festigen und Ihre Entwicklung fördern.

b) Das hier ist kein Kinderspiel. Um Erfolg zu haben, werden Sie sich unangenehmen Wahrheiten stellen und Herausforderungen bewältigen müssen, die Ihnen mehr abverlangen als jemals zuvor. Bei diesem Auftrag geht es darum, die Lektionen jeder einzelnen Evolution anzunehmen und zu verinnerlichen, um herauszufinden, wer Sie wirklich sind und sein können.

c) Sich selbst zu meistern ist ein nie endender Prozess. Ihre Arbeit daran ist NIEMALS ERLEDIGT.

4. Einstufung: Die eigentliche Arbeit findet im Verborgenen statt. Ihre Leistung zählt insbesondere dann, wenn Ihnen niemand zusieht.

Auf Befehl von: David Goggins

Unterschrift:

Rang und Diensteinheit: Chief, U.S. Navy SEALs, retired

Einleitung

Sie halten kein Selbsthilfebuch in Händen. Niemand braucht eine weitere Predigt darüber, wie er sich in zehn Schritten, sieben Etappen oder mit nur sechzehn Stunden Einsatz pro Woche aus seinem festgefahrenen oder abgefuckten Leben befreien kann. Gehen Sie in den nächstbesten Buchladen oder schauen Sie sich bei Amazon um und Sie werden feststellen, dass der Selbsthilfe-Hype ein Fass ohne Boden ist. Die Lektüre solcher Bücher scheint bei den Lesern gute Gefühle auszulösen, denn der Absatz ist riesig.

Schade nur, dass die meisten der dort vorgestellten Konzepte nicht wirklich etwas taugen. Sie bringen keinen dauerhaften Nutzen. Vielleicht können sie in gewissen Bereichen eine kleine Stütze sein, aber wenn man kaputt ist, so wie ich es früher war, wenn man sich immer nur auf flacher Strecke weiterkämpft und sein wahres Potenzial verkümmern lässt, dann werden Bücher allein nicht die Rettung sein.

Selbsthilfe ist ein Modebegriff für Selbstoptimierung. Doch auch wenn wir stets bemüht sein sollten, uns zu verbessern, reicht das allein oft nicht aus. Es gibt Phasen im Leben, in denen wir uns so sehr von uns selbst entfernen, dass wir eine gründliche Bestandsaufnahme vornehmen müssen, um die gekappten Verbindungen in Herz, Kopf und Seele neu zu verknüpfen. Denn nur so können wir den Glauben neu entdecken und entfachen – jener Funken in der Dunkelheit, der über die Kraft verfügt, das Feuer unserer persönlichen Evolution zu entfachen. Der Glaube ist eine raue, mächtige Urkraft. In den 1950er-Jahren konnte ein Verhaltensforscher namens Dr. Curt Richter dies nachweisen, indem er Dutzende Ratten in 75 Zentimeter hohe, mit Wasser gefüllte Glaszylinder warf. Die erste Ratte strampelte für einen kurzen Moment an der Oberfläche, bevor sie auf den Grund schwamm, um dort nach einem Ausweg zu suchen. Das Tier starb innerhalb von zwei Minuten. Mehrere Artgenossen versuchten es auf die gleiche Weise. Einige überdauerten bis zu 15 Minuten, aber alle gaben schließlich auf. Richter war davon überrascht, weil Ratten wirklich gute Schwimmer sind; bei seinem Laborversuch jedoch ertranken sie, ohne wirklich um ihr Leben zu kämpfen. Deshalb nahm er ein paar Anpassungen vor.

Richter und seine Assistenten setzten einen neuen Schwung Ratten in die Behälter und beobachteten ihr Verhalten. Als die Tiere dem Anschein nach kurz davor waren, aufzugeben, holten die Wissenschaftler die Ratten aus den Gläsern, um sie abzutrocknen und so lange zu halten, bis sich Herzschlag und Atem wieder normalisiert hatten. Lange genug also, dass die Tiere auf physiologischer Ebene registrieren konnten, dass man sie gerettet hatte. Diesen Vorgang wiederholte man einige Male, bevor Richter eine Testgruppe von Ratten wieder zurück in die bösen Zylinder steckte, um zu sehen, wie lange die Tiere diesmal ohne Hilfe überleben würden. Nun gaben die Ratten nicht auf. Sie strampelten sich den Hintern ab … im Durchschnitt 60 Stunden lang, ohne Nahrung und Schlaf. Eine Ratte hielt sich 81 Stunden lang über Wasser.

In seinem Bericht formulierte Richter die Annahme, dass die ersten Versuchstiere aufgegeben hatten, weil sie ohne Hoffnung waren, während die zweite Gruppe deshalb so lange durchhielt, weil die Ratten nun wussten, dass die Möglichkeit bestand, dass jemand kommen und ihnen den Hintern retten würde. Die heute gängige Annahme ist, dass Richters Eingreifen im Hirn der Ratten einen Schalter umlegte, wodurch für uns alle sichtbar wurde, welche Kraft die Hoffnung hat.

Ich liebe dieses Experiment, aber es war nicht Hoffnung, die in diese Ratten gefahren ist. Wie lange hält die Hoffnung tatsächlich an? Zunächst mag sie etwas in den Tieren ausgelöst haben, aber kein Lebewesen wird 60 Stunden am Stück um sein Leben schwimmen, ohne Nahrung, angetrieben von nichts als der Hoffnung. Es brauchte etwas viel Stärkeres, um die Ratten weiter atmen, strampeln und kämpfen zu lassen.

Wenn Bergsteiger die höchsten Gipfel und steilsten Bergwände erklimmen, sichern sie sich dabei für gewöhnlich mit einem Seil ab, das an Halterungen im Eis oder Fels befestigt ist, damit sie, wenn sie abrutschen, nicht in den Tod stürzen. Sie fallen vielleicht 3 bis 4 Meter, rappeln sich wieder auf, klopfen sich den Schmutz von der Montur und wagen den nächsten Versuch. Das Leben ist ein Berg, den jeder von uns erklimmt, aber die Hoffnung ist keine Halterung im Fels. Dafür ist sie zu weich, zu flauschig und zu flüchtig. Der Hoffnung mangelt es an Substanz. Sie ist kein Muskel, den man trainieren kann, und ihre Wurzeln reichen nicht tief genug. Sie ist eine Emotion, ein Gefühl, das kommt und geht.

Richters Experiment hatte in den Ratten etwas berührt, das nahezu unkaputtbar ist. Er hat vielleicht nicht realisiert, dass sie sich den Herausforderungen ihres Kampfes auf Leben und Tod anpassten, aber ganz offenbar hatten sie eine effizientere Technik gefunden, um Kraft und Energie zu sparen. Mit jeder Minute wurden sie widerstandsfähiger, bis sie anfingen zu glauben, dass sie überleben würden. Ihre Zuversicht wurde mit dem Verstreichen der Stunden nicht weniger; tatsächlich nahm sie sogar zu. Sie hofften nicht etwa auf Rettung. Sie weigerten sich zu sterben! Meiner Ansicht nach ist es der Glaube gewesen, der diese gewöhnlichen Laborratten zu Meeressäugern werden ließ.

Es gibt zwei Ebenen des Glaubens. Es gibt die oberflächliche Ebene, die unsere Trainer, Lehrer, Therapeuten und Eltern gerne predigen. »Glaube an dich selbst«, heißt es immer, als ob es der Gedanke allein wäre, der uns über Wasser halten kann, wenn das Leben sich gegen uns zu wenden scheint. Aber sobald die Erschöpfung einsetzt, penetrieren Zweifel und Unsicherheit diesen fadenscheinigen Glauben und drohen ihn auszulöschen.

Und dann ist da noch der Glaube, der aus der Resilienz erwächst. Er entsteht, wenn man sich durch Schichten von Schmerz, Erschöpfung und Vernunft hindurcharbeitet und der allgegenwärtigen Versuchung widersteht, aufzugeben – so lange, bis man schließlich auf eine Energiequelle stößt, von der man nicht einmal wusste, dass sie existiert. Eine Energiequelle, die uns alle Zweifel vergessen lässt und uns unserer Stärke versichert. Eine Energiequelle, die uns wissen lässt, dass wir letztendlich siegreich sein werden – solange wir nur in Bewegung bleiben. Das ist jene Ebene des Glaubens, die den Erwartungen der Wissenschaftler zuwiderlaufen und alles verändern kann. Es ist kein Gefühl, das man teilen kann, kein intellektuelles Konzept. Es ist nichts, was andere uns vermitteln können. Es muss von innen heraus in uns aufsteigen.

Wenn wir auf hoher See verloren gehen und keine Rettung in Sicht ist, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder legt man sich ins Zeug und schwimmt, um irgendwie durchzuhalten, so lange es eben nötig ist, oder man wird zwangsläufig ertrinken. Ich wurde mit Löchern in meinem Herzen und einer Sichelzellenanämie geboren; ich durchlebte eine Kindheit, die von toxischem Stress und Lernschwierigkeiten geprägt war. Ich hatte kaum Potenzial, und mit 24 Jahren war mir klar, dass ich Gefahr lief, mein Leben zu vergeuden.

Viele Leute sitzen einem Denkfehler auf, indem sie annehmen, dass meine Errungenschaften in direktem Zusammenhang mit meinem Potenzial stehen. Meine Leistungen entsprechen nicht meinem Potenzial. Das kleine bisschen Potenzial, das ich hatte, war so tief in mir vergraben, dass die meisten Menschen es niemals entdeckt hätten. Ich habe es nicht nur entdeckt, sondern auch gelernt, es zu maximieren.

Mir war klar, dass meine Geschichte aus so viel mehr bestehen könnte als nur aus den Trümmern, die mich umgaben. Mir war klar, dass nur ich die Entscheidung treffen konnte, mit all meiner Kraft und Ausdauer darum zu kämpfen, ein selbstbestimmtes Leben zu leben. Ich kämpfte gegen Zweifel und Unsicherheiten. Es gab keinen Tag, an dem ich nicht hätte aufgeben wollen, aber irgendwann spürte ich den Glauben in mir. Ich glaubte daran, dass ich mich weiterentwickeln könnte, und eben dieser Glaube hat mir in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Kraft und den Fokus verliehen, alle Herausforderungen zu bestehen, mit denen ich konfrontiert war. Meistens ging es mir darum, herauszufinden, wie weit ich es bringen und wie viele Kapitel ich meiner Story noch hinzufügen könnte. Und auch heute noch bin ich stets auf der Suche nach neuem Terrain; noch immer will ich wissen, wie lange es mir gelingen wird, mich über Wasser zu halten.

Viele Menschen haben das Gefühl, dass ihnen im Leben etwas fehlt – etwas, das man mit Geld nicht kaufen kann –, und das macht sie unglücklich. Sie versuchen, die Lücke mit materiellen Dingen auszufüllen, mit Dingen, die sie sehen, fühlen und berühren können. Aber dadurch wird das Gefühl der Leere nicht verschwinden. Es lässt etwas nach – so lange, bis die Stille zurückkehrt. Und dann spüren sie wieder, dass etwas an ihren Eingeweiden nagt; etwas, das sie daran erinnert, dass das Leben, das sie führen, nicht in vollem Umfang zum Ausdruck bringt, wer sie sind oder sein könnten.

Leider ist die daraus resultierende Verzweiflung bei den meisten von uns nicht groß genug, um etwas dagegen zu unternehmen. Wenn widersprüchliche Gefühle in uns kämpfen und wir uns von den Meinungen anderer Menschen leiten lassen, ist es unmöglich, den Glauben an sich selbst anzuzapfen. Der Drang, sich weiterzuentwickeln, gerät in den Hintergrund. Es mag Sie noch so sehr reizen, etwas Neues zu erleben, Ihre vertraute Umgebung hinter sich zu lassen und ein neuer Mensch zu werden: Wenn nur der geringste Widerstand aufkommt und Sie zögern lässt, dann werden Sie wieder zu der unzufriedenen Person, die Sie zuvor schon waren. Noch immer spüren Sie diesen Reiz in sich, dieses dringende Verlangen, jemand anderes zu sein, aber Sie sitzen weiterhin fest – in Ihrem alten Leben, das Sie nicht zufriedenstellt. Und Sie sind bei Weitem nicht der Einzige, dem es so geht.

Dieser Virus der Unzufriedenheit wurde durch die sozialen Medien weiter verschärft und verbreitet; die Welt von heute ist eine Welt voller versehrter Menschen, die inhaltsleere Befriedigung konsumieren, auf der Suche nach einem schnellen, aber substanzlosen Dopaminausstoß. Statt sich darauf zu fokussieren, an ihren Herausforderungen zu wachsen, haben sich Millionen von Menschen mit ihren Mängeln arrangiert und fühlen sich dadurch nur noch minderwertiger. Ihr interner Dialog wird immer vergifteter, während sich diese Gruppe schwächlicher, selbstgerechter Alltagsopfer ständig vermehrt.

Schon komisch, wie wir so vieles in unserem Leben hinterfragen. Wir fragen uns, wie es wäre, wenn wir anders aussehen würden, wenn wir einen besseren Start ins Leben oder mehr Unterstützung von außen gehabt hätten. Nur sehr wenige Menschen hinterfragen ihre eigene verzerrte Wahrnehmung. Stattdessen sammeln sie Schmähungen, Dramen und Probleme; sie horten sie, bis sie regelrecht aufgebläht sind, von schalen Zweifeln und Neid, von schlechten Gefühlen, die ihnen den Weg versperren beim Versuch, ihr wahrstes und fähigstes Selbst zu werden.

Überall auf der Welt entscheiden sich Hunderte Millionen Menschen für diese Art von Leben. Aber es gibt ein anderes Mindset, eine andere Art, zu sein. Das hat mir geholfen, die Kontrolle über mein Leben wiederzugewinnen. Dadurch konnte ich alle Hindernisse aus dem Weg räumen, sodass mein Wachstumspotenzial nahezu grenzenlos wurde. Ich bin noch immer ein Getriebener, ein Heimgesuchter, aber ich habe meine Dämonen gegen knallharte Engel eingetauscht, und jetzt ist es eine gute Form der Heimsuchung. Ich werde von Zielen heimgesucht, die in meiner Zukunft liegen, nicht von den Misserfolgen meiner Vergangenheit. Ich werde von dem heimgesucht, was ich noch werden könnte. Ich werde von meinem eigenen andauernden Durst nach Weiterentwicklung heimgesucht.

Oft ist die Arbeit so elend und undankbar wie eh und je, und obwohl ich Techniken und Skills entwickelt habe, die mir den Weg erleichtern können, gibt es in diesem Prozess keine fixen Grundsätze, keine festgelegte Menge von Stunden oder Schritten, die es zu investieren gilt. Es geht um fortgesetzte Anstrengung, um Anpassung und ständiges Lernen – und das erfordert unerschütterliche Disziplin und unerschütterlichen Glauben. Was von außen betrachtet aussehen kann wie Verzweiflung. Aber ich bin nun mal die Laborratte, die sich zu sterben weigerte! Und ich bin hier, um Ihnen zu zeigen, wie Sie es unversehrt durch diese Hölle schaffen.

Die meisten Theorien, die sich damit befassen, was leistbar und möglich ist, entstehen in der kontrollierten Umgebung eines sterilen Labors und werden von dort in den Hörsälen der Universitäten verbreitet. Aber ich bin kein Theoretiker. Ich bin ein Praktiker. Ähnlich wie der große Stephen Hawking zu seinen Lebzeiten die dunkle Materie des Universums erforschte, so erforsche ich mit großer Leidenschaft die dunkle Materie des Geistes – all unsere ungenutzte Energie, Kapazität und Kraft. Meine Philosophie wurde in meinem eigenen Mentallabor getestet und bewiesen, durch unzählige »Fuck you!«-Momente, Misserfolge und Meisterleistungen, die mein Leben in der realen Welt geprägt haben.

Nach jedem Kapitel finden Sie eine sogenannte Evolution. Beim Militär versteht man darunter Drills, Aufgaben oder Übungseinsätze, die dazu dienen, die eigenen Fähigkeiten zu verbessern. In diesem Buch handelt es sich bei den Evolutionen um unbequeme Wahrheiten, denen wir alle uns stellen sollten, und um Philosophien und Strategien, mit denen Sie alles überwinden können, was Ihnen im Weg steht, damit Sie es in Ihrem Leben zu herausragenden Leistungen bringen können.

Wie gesagt, dies ist definitiv kein Selbsthilfebuch. Never Finished ist ein Bootcamp für Ihr Gehirn. Es ist ein »Was zum Teufel machst du mit deinem Leben?«-Buch. Es ist der Weckruf, den Sie nicht hören wollen und von dem Sie wahrscheinlich nicht einmal wussten, dass Sie ihn brauchen.

Also, hoch mit den Ärschen, Leute!

Machen wir uns an die Arbeit!

Kapitel 1

Minimales Potenzial maximieren

Unter Tausenden von Veteranen saß ich für den Nationalkongress der Veterans of Foreign Wars (VFW) 2018 im überfüllten Kansas City Convention Center. Ich war nicht nur ein aktives Mitglied; ich war ihr Gast. Ich war eingeflogen worden, um den prestigeträchtigen Americanism Award der VFW entgegenzunehmen – eine jährliche Auszeichnung für diejenigen, die sich in besonderem Maße für den Militärdienst, für Patriotismus, für die Verbesserung der amerikanischen Gesellschaft und für die Unterstützung anderer Veteranen einsetzen. Zu den früheren Empfängern zählte US-Senator John McCain, einer meiner persönlichen Helden. Er hatte fünfeinhalb Jahre als Kriegsgefangener im Vietnamkrieg überlebt. Ich habe immer bewundert, welchen Mut er damals an den Tag gelegt hatte, und während seines gesamten Lebens, das sich in weiten Teilen unter den Blicken der Öffentlichkeit abspielte, war sein Verhalten prägend dafür, wie sich Männer in schwierigen Zeiten meiner Ansicht nach verhalten sollten. Und nun würde neben seinem Namen auch mein eigener mit dieser Auszeichnung in Verbindung stehen.

Ich würde an diesem Tag die bisher größte Ehre meines Lebens erhalten. Ich hätte höllisch stolz sein sollen – stattdessen war ich verdammt verwirrt. Über eine Stunde lang saß ich im Publikum, zwischen meiner Mutter Jackie und meinem Onkel John Gardner. Das ist viel Zeit, um sich die Bedeutung des Augenblicks bewusst zu machen, aber alles, woran ich denken konnte, waren Gründe, weshalb ich nicht dort hätte sein sollen. Niemandem, so dachte ich, sollte der Name David Goggins ein Begriff sein, und erst recht sollte man mich nicht in einem Atemzug mit Senator McCain nennen. Nicht etwa, weil ich meinen Platz hier nicht verdient hätte, sondern weil mein Leben mich niemals hierher hätte führen dürfen – nicht mit dem Blatt, das mir ausgehändigt worden war.

Gewiss, heute bin ich ein Siegertyp, aber ich war als Verlierer zur Welt gekommen. Es gibt viele geborene Verlierer da draußen. Jeden verdammten Tag werden Babys in Armut und in zerrüttete Familien hinein geboren, so wie ich. Manche verlieren ihre Eltern durch einen Unfall. Andere werden misshandelt und vernachlässigt. Viele von uns tragen von Geburt an Behinderungen mit sich, manchmal körperlich, manchmal geistig oder seelisch.

Es ist, als würde jedem Menschen seine ganz persönliche Wundertüte geschenkt, kaum dass er es lebend aus dem Mutterleib geschafft hat. Niemand weiß, was in dieser Wundertüte steckt, aber was auch immer es ist, es wird prägend für das sein, was uns erwartet. Manche Menschen reißen das Ding auf und finden darin nichts als köstliche Süßigkeiten. Das sind diejenigen, die es im Leben relativ leicht haben werden – anfangs zumindest. Bei anderen ist die Tüte gänzlich leer. Und wieder andere trifft es noch schlimmer: Deren Wundertüten sind voller Albträume, und kaum, dass diese Menschen ihren ersten Atemzug gemacht haben, geht der Spuk auch schon los. Ich war einer von diesen Menschen. Ich wurde in ein Haus des Schreckens hineingeboren.

Während die Redner nacheinander ans Mikro traten, befand ich mich gedanklich tief in meiner eigenen dunklen Höhle und erlebte noch einmal die unzähligen blutigen Prügel, mit denen mein Vater meine Mutter, meinen Bruder und mich überzogen hatte. Ich erinnerte mich daran, wie wir nach Brazil, Indiana, geflohen waren, nur um uns dort in gerade einmal 15 Kilometer Entfernung von einer aktiven Gruppe des Ku-Klux-Klans niederzulassen. Und raten Sie mal, wer mit den Kindern dieser Wichser gemeinsam auf eine Schule ging? Ich erinnerte mich an die ständigen rassistischen Drohungen einiger meiner Klassenkameraden; ich erinnerte mich daran, wie ich mich durch die Schulzeit gemogelt hatte, ohne dabei irgendetwas zu lernen.

Ich dachte an den Verlobten meiner Mutter, Wilmoth, der so etwas wie ein Ersatzvater für mich hätte werden sollen, aber ermordet wurde, bevor er meine Mutter heiraten konnte. Ich erinnerte mich an meine wiederholten Versuche, den Armed Services Vocational Aptitude Battery (ASVAB) zu bestehen – ein standardisierter Eignungstest, der für alle Militärrekruten erforderlich ist und den ich absolvieren musste, um mir meinen Traum zu erfüllen, Rettungsfallschirmspringer zu werden. Nachdem ich die gefürchtete Prüfung endlich bestanden und die Ausbildung zum Pararescue angetreten hatte, gab ich jedoch auf, als die water evolutions – also das Training im Wasser – zu hart wurde. Diese brillante Entscheidung führte schließlich dazu, dass ich als Kammerjäger im Nachtdienst bei der Firma Ecolab arbeitete und mit 24 Jahren rund 1000 Dollar im Monat verdiente.

Zu diesem Zeitpunkt war ich nur noch der Schatten eines Mannes, ohne Selbstbewusstsein oder Selbstachtung. Ich wurde immer noch von denselben alten Dämonen heimgesucht, die mich seit meiner Geburt verfolgt hatten, und die bittere Realität war, dass es mir an allem fehlte, was es brauchte, um mich der Mann werden zu lassen, der ich sein wollte.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Über all das habe ich nicht etwa nachgedacht, um mich selbst zu kasteien. Ich durchforstete im Geiste meine Akte und suchte nach einem Auslöser, nach jenem Moment, der das Feuer in mir neu entfacht und eine Art Urkraft zum Vorschein gebracht hatte. Ich musste mir genau in Erinnerung rufen, wie und wann ich es geschafft hatte, mein Leben umzukrempeln, um zu einem ehrenhaften Menschen zu werden, zu jemandem, der anderen diente, doch es gelang mir einfach nicht. Ich war so tief in Gedanken versunken, dass ich nicht einmal hörte, wie sie mich auf die Bühne riefen. Ich hätte überhaupt nicht reagiert, wenn meine Mutter mich nicht angestupst hätte. Bis heute kann ich mich nicht daran erinnern, mit ihr die kleine Treppe zur Bühne hinaufgegangen zu sein, so sehr trieb ich gedanklich zwischen meiner Vergangenheit und meiner verwirrenden Gegenwart.

Ich hörte sie meinen Werdegang vortragen, wie viel Geld ich für Veteranenzwecke gesammelt hatte und welche Ziele ich im Laufe meiner Karriere erreicht hatte. Ehe ich mich versah, hatten sie mir eine Medaille um den Hals gelegt und das Publikum gab mir Standing Ovations. Das war das bisher deutlichste Zeichen dafür, dass dieser geborene Verlierer irgendwo auf seinem Weg eine Art Wiedergeburt erlebt hatte. Dass es einen Moment gegeben hatte, der meine Metamorphose auslöste.

Als ich schließlich selbst ans Mikrofon trat, blickte ich in all die unbekannten Gesichter. Mitglieder einer Bruder- und Schwesternschaft, der ich auf ewig angehören werde. Die Tatsache, dass sie mir diese Anerkennung zuteilwerden ließen, war für mich die größtmögliche Ehre, aber ich wusste nicht, wie ich ihnen dafür danken konnte. Ich war damals ein gefragter Redner, der sich vor großen wie kleinen Menschenmengen sicher fühlte. Wenn man meine Arbeit als Recruiter für das Militär berücksichtigt, hatte ich mich seit mehr als zehn Jahren als professioneller Redner bewährt. Ich hatte kaum je Lampenfieber, aber an jenem Sommertag in Kansas City war ich höllisch nervös und mein Verstand war immer noch wie benebelt. Ich versuchte all das abzuschütteln und bedankte mich zunächst bei meinem Großvater, Sergeant Jack.

»Er wäre der stolzeste Mensch der Welt, wenn er mich jetzt hier oben sehen könnte«, sagte ich. Meine Stimme versagte; ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen, und setzte erneut an: »Ich möchte meiner Mutter danken, die …« Ich wandte mich an meine Mutter, und als sich unsere Blicke trafen, wurde mir schließlich schlagartig bewusst, welcher Moment es gewesen war, der mein Leben für immer verändert hatte. Die Kraft dieser Erkenntnis war überwältigend. »Ich möchte meiner Mutter danken, die …«

Mit einem Gefühl der Überwältigung verstand ich plötzlich, was es mich gekostet hatte, es bis hierhin zu schaffen.

Meine Stimme versagte erneut. Ich konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Ich schloss meine Augen und schluchzte. Wie ein Traum, der nur Sekunden dauert, sich aber wie Stunden anfühlt, dehnte sich die Zeit, und Bilder jenes endgültigen Wendepunkts in meinem Leben schossen mir in den Kopf – Bilder von der allerletzten Begegnung mit meinem Vater. Hätte ich diese Reise nicht unternommen, dann hätten Sie nie von mir gehört.

***

Ich war vierundzwanzig Jahre alt, als mir bewusst wurde, dass ich innerlich gebrochen war. Etwas in meiner Seele war abgestumpft, und diese Stumpfheit, dieser Mangel an tiefem Gefühl, war bestimmend für das, was aus meinem Leben geworden war. Es war der Grund, weshalb ich immer dann, wenn es schwierig wurde, aufhörte, meine Ziele, meine größten Träume zu verfolgen. Aufzugeben war nichts weiter als ein Umweg von vielen. Es hat mich nie sonderlich gestört, denn wenn man abgestumpft ist, kann man nicht verarbeiten, was mit oder in einem geschieht. Ich wusste noch nichts von der Kraft des Geistes, und deshalb hatte ich mich zu einem fetten Mistkerl aufgebläht und einen Job angenommen, bei dem ich in Restaurants gegen Kakerlaken in den Kampf zog.

Natürlich war ich um Ausreden nicht verlegen. Meine Stumpfheit war ein Überlebensmechanismus. Sie war mir von meinem Vater eingeprügelt worden. Bereits mit sieben Jahren hatte ich eine Kriegsgefangenenmentalität entwickelt. Dank meiner abgestumpften Haltung konnte ich die Prügel ertragen und ein gewisses Maß an Selbstachtung wahren. Selbst nachdem meine Mutter und ich die Flucht ergriffen hatten, wurde ich weiterhin von Tragödien und Misserfolgen heimgesucht, und stumpfsinnig ertrug ich die Tatsache, dass ich nur verlieren konnte.

Als geborener Verlierer hat man das Ziel zu überleben – und nicht etwa wirklich zu leben. Man lernt zu lügen und zu betrügen, zu tun, was nötig ist, um sich anzupassen. Man mag vielleicht ein Überlebender sein, aber es ist eine erbärmliche Art, zu existieren. Genau wie die Kakerlaken, die zu töten mein Job war, stiebt man aus den Schatten hervor, um sich das Nötigste zu schnappen, während man sein wahres Ich tunlichst im Dunkel versteckt hält. Geborene Verlierer sind die wahren Kakerlaken. Wir tun, was wir tun müssen, und diese Einstellung zeitigt oft ziemlich schwerwiegende Charakterfehler.

Auf mich traf das zweifellos zu. Ich war ein Drückeberger, ein Lügner, ein fetter, fauler Mistkerl, und ich war zutiefst depressiv. Ich konnte spüren, wie ich mich nach und nach auflöste. Ich hatte die Schnauze voll und war frustriert, verbittert und wütend, ich konnte mein jämmerliches Leben nicht viel länger ertragen. Ich wusste: Wenn ich mich nicht ändern würde – und zwar schleunigst –, dann würde ich als Verlierer sterben oder einen noch schlimmeren Weg einschlagen. Womöglich würde ich wie mein Vater enden – ein Gangster, dessen Gewaltausbrüche schon von kleinsten Kleinigkeiten provoziert werden konnten. Ich versank förmlich in meinem Elend und suchte nach einer mentalen Stütze, etwas, das mich davon abhalten würde, endgültig aufzugeben. Das Einzige, das mir einfiel, war, in die Paradise Road zurückzukehren, zu dem Haus meiner Kindheit, das mich immer noch heimsuchte. Ich musste nach Buffalo, New York, reisen und meinem Vater in die Augen schauen. Denn wenn man in der Hölle lebt, besteht die einzige Möglichkeit, einen Ausweg zu finden, darin, sich dem Teufel in Person zu stellen.

Ich hatte gehofft, ein paar Antworten zu finden, die mir helfen würden, mein Leben zu ändern. Zumindest hatte ich mir das als Erklärung zurechtgelegt, als ich von Indiana kommend nach Ohio und von dort Richtung Nordosten fuhr. Ich hatte meinen alten Herrn seit zwölf Jahren nicht gesehen. Es war meine Entscheidung gewesen, ihn nicht mehr zu besuchen. Damals erlaubte das Rechtssystem Kindern, eine solche Entscheidungen zu treffen, sofern sie zwölf Jahre oder älter waren. Ich hatte mich hauptsächlich aus Respekt und Loyalität gegenüber meiner Mutter dazu entschlossen. Seine Prügel hatten aufgehört, nachdem wir Buffalo verlassen hatten, aber was ich bei aller Abgestumpftheit nie vergessen hatte, war, was meine Mutter durch seine Hände hatte erleiden müssen. Dennoch hatte ich meine Entscheidung im Laufe der Jahre hinterfragt. Und ich hatte mich selbst gefragt, ob meine Erinnerungen – die Geschichten, die ich mir selbst erzählte – der Wahrheit entsprachen.

Auf der langen Fahrt habe ich keine Musik gehört. Alles, was ich hörte, waren die Stimmen in meinem Kopf, die gegeneinander anredeten. Die erste Stimme akzeptierte mich so, wie ich war.

Es ist nicht deine Schuld, David. Nichts von alledem ist deine Schuld. Du gibst dein Bestes, mit dem, was man dir zugeteilt hat.

Das war die Stimme, auf die ich Zeit meines Lebens gehört hatte. Es ist nicht meine Schuld – das war mein liebstes Mantra. Es war Erklärung und Rechtfertigung für das mir zuteilgewordene Schicksal und für die vor mir liegende Sackgasse, und ich hörte es ohne Unterbrechung. Doch zum ersten Mal mischte sich eine andere Stimme ein. Vielleicht war es auch das erste Mal, dass ich nicht nur der Stimme mein Gehör schenkte, der ich zuhören wollte.

Verstanden. Es ist nicht deine verdammte Schuld, dass das Leben dir ein schlechtes Blatt auf die Hand gegeben hat, aber … du trägst jetzt die Verantwortung. Wie lange willst du dich von deiner Vergangenheit zurückhalten lassen, bevor du endlich die Kontrolle über deine Zukunft übernimmst?

Im Vergleich zur ersten, fürsorglicheren Stimme in meinem Kopf war diese zweite eiskalt und ich tat mein Möglichstes, sie auszublenden.

Je näher ich Buffalo kam, desto jünger und hilfloser fühlte ich mich. Als ich noch knapp 250 Kilometer entfernt war, hatte ich das Gefühl, wieder 16 zu sein. Als ich von der Autobahn abbog und durch die Straßen von Buffalo fuhr, fühlte ich mich wie ein Achtjähriger – genauso alt wie damals, als wir unseren ganzen Mist in Müllsäcke gepackt und uns aus dem Staub gemacht hatten. Als ich das Haus betrat, war es wieder August 1983. Die Farbe der Wände, der Böden, der Geräte und der Möbel, alles war noch wie damals. Obwohl es viel kleiner und altmodischer wirkte, war es immer noch das Spukhaus aus meiner Erinnerung. Die dunkle Kraft jahrelangen Grauens war förmlich spürbar.

Mein Vater jedoch war herzlicher und liebevoller, als ich ihn in Erinnerung hatte. Trunnis hatte schon immer gewusst, wie er die Menschen für sich einnehmen konnte, und dem Anschein nach war er aufrichtig erfreut, mich zu sehen. Wir unterhielten uns, um einander grob auf den neuesten Stand zu bringen, und dabei stellte ich fest, wie ich über seine Witze lachte – ein wenig verwirrt von dem Mann, der da vor mir saß. Nach einer Weile schaute er auf die Uhr und schnappte sich seinen Mantel. Er hielt seiner Frau Sue und mir die Tür auf, als wir das Haus Richtung Auto verließen.

»Wohin fahren wir?«, fragte ich.

»Du erinnerst dich doch noch«, sagte er. »Es ist Zeit, den Laden aufzumachen.«

Was mir von außen zuerst am »Skateland« auffiel, war die Tatsache, dass es einen neuen Anstrich brauchte. Innen waren der Boden und die Wände abgesplittert und fleckig, und im ganzen Haus roch es unangenehm. Auch das Büro wirkte heruntergekommen. Das Sofa, auf dem wir als Kinder geschlafen haben und auf dem meine Mutter ihn mehr als einmal beim Fremdgehen erwischt hat, stand immer noch an seinem Platz. Es war furchtbar versifft, und nach der großen Tour setzte ich mich darauf, während mein Vater nach oben ging, um im Vermillion Room Hip-Hop-Platten aufzulegen.

Mir war schwindlig und ich fühlte mich desorientiert. Es war seltsam, wie sehr der alte Mann seine Standards hatte schleifen lassen. Er war nicht die starke, penible und fordernde Person aus meiner Erinnerung. Er war alt, schwach und träge, ein bisschen dicklich um die Mitte. Er schien gar nicht mehr so fies zu sein. Das war überhaupt nicht der Leibhaftige. Es war ein Mensch. Hatte mich die Erinnerung seit jeher getäuscht? Als ich in diesem Büro hockte und über die Vergangenheit nachgrübelte, fragte ich mich, worin ich mich sonst noch getäuscht hatte.

Dann, gegen 22:00 Uhr, wummerte von oben der Bass und man konnte die Decke beben spüren. Innerhalb weniger Sekunden hörte ich Gebrüll, Gelächter und ein beständiges rhythmisches Stampfen. So wie ein Lied uns in eine bestimmte Zeit und an einen anderen Ort zurückversetzen kann, so ließ dieser dröhnende Bass mich zu meinen dunkelsten Tagen zurückkehren. Er schleuderte mich zurück in den Albtraum meiner Kindheitstage.

Ich schloss die Augen und sah mich selbst als Erstklässler, der sich auf genau dieser Couch hin- und hergewälzt hatte und vergeblich versuchte, einzuschlafen, nachdem er den ganzen Abend lang gearbeitet hatte. Ich konnte auch meine Mutter sehen, wie sie versuchte, uns von unserem Elend abzulenken, mit selbst gemachtem Essen, das sie in dem engen Büro auf elektrischen Kochplatten zubereitete. Ich sah die Angst und die Hilflosigkeit in ihren Augen, und all der Stress, der Schmerz, die Frustration und die Niedergeschlagenheit, die damit einhergingen, kehrten zurück. Diese Erinnerungen waren echt! Das war nicht zu leugnen!

Es widerte mich an, auf dieser Couch zu sitzen. Mir wurde übel beim Gedanken daran, meine Deckung aufgegeben und die Gesellschaft meines Vaters genossen zu haben, und wenn auch nur ein paar Minuten lang. Ich hatte das Gefühl, meiner Mutter in den Rücken zu fallen, und je länger ich dort saß und zusah, wie die Decke wackelte, desto mehr stieg die Wut in mir auf, bis ich mit einem Mal aufstand und eine Hintertreppe hinauf in den Vermillion Room stürzte, wo mein Dämon ein Glas Whisky schlürfte – jenes rauchige Elixier, das ihm seine Kraft verlieh.

Als Kind hatte ich den Raum kaum je gesehen, wenn es darin gerade hoch herging, und obwohl er den größten Teil seines Glanzes verloren hatte, herrschte wie damals gute Stimmung. Was einst ein schillernder Nachtklub gewesen war, in dem ein gut gekleidetes Publikum als Musikrichtung Funk serviert bekam, war nun eine knüppelvolle Hip-Hop-Kneipe. Trunnis befand sich in der DJ-Kabine und sorgte für die richtige Energie; er legte Platten auf und kippte bis zum Ladenschluss einen Scotch nach dem nächsten runter. Ich sah ihm beim Arbeiten, Trinken und Flirten zu, und je betrunkener er wurde, desto mehr deckte sich meine Erinnerung mit der Realität. Nachdem wir abgeschlossen hatten, fuhr ich uns alle für ein nächtliches Frühstück zu »Denny’s«, wie in alten Zeiten. Mehr als fünfzehn Jahre waren vergangen, doch das Ritual war dasselbe wie immer.

Trunnis wirkte zu diesem Zeitpunkt schon so richtig abgewrackt, und er merkte, dass es mir unangenehm war, was ihn verärgerte. Während wir auf unser Essen warteten, warf er mir finstere Blicke zu, während er meine Großeltern verunglimpfte und behauptete, sie seien für das Auseinanderbrechen seiner Familie verantwortlich. Alkohol brachte immer seine hässlichste Seite zum Vorschein, und ich hatte diese Behauptung schon so oft gehört, dass ich mich kaum daran störte. Als er aber anfing, über meine Mutter herzuziehen, ließ ich das nicht auf ihr sitzen.

»Fang nicht wieder damit an«, sagte ich leise. Aber es war ihm egal. Er schimpfte darüber, wie sich alle gegen ihn gewandt hätten und wie schwach und traurig wir alle seien. Der Geifer troff ihm aus dem Mund. Die Ader auf seiner Schläfe pochte.

»Bitte, Trunnis, hör auf«, sagte Sue. Da war etwas in ihrem Ton, eine Mischung aus Angst und Furcht, die mir vertraut war. Sie setzte sich nicht zur Wehr, indem sie aussprach, was sie fühlte. Sie flehte ihn an. Das erinnerte mich so sehr an meine Mutter – daran, wie ohnmächtig sie sich gefühlt hatte, wenn Trunnis nicht aufhörte, sich in Rage zu reden. Er war der Typ Mann, der sich um 15:55 Uhr eine Frau ins Haus rief, obwohl er wusste, dass meine Mutter um 16:00 Uhr heimkommen würde. Er wollte auf frischer Tat von ihr ertappt werden, um zu zeigen, dass er allein das Sagen hatte und zu jeder Tag- und Nachtzeit tun würde, worauf er verdammt noch mal Lust hatte. Genau das war auch der Grund dafür, warum er mich vor ihren und sie vor meinen Augen verprügelt hatte.

Als wir abhauten, war Sue noch am selben Tag bei ihm eingezogen; und doch erzählte er ihr und jedem, der ihm zuhörte, oft, wie schön und klug meine Mutter sei, als trauere er dieser Liebe noch immer hinterher. Er brauchte Sue, um auf sie herabblicken zu können, so als sei sie nicht gut genug für ihn und könne es auch niemals sein.

Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Mitgefühl mit Sue und erkannte, dass Trunnis’ Spezialität darin bestand, Geringschätzung als Waffe einzusetzen. Es war eine Taktik, mit der er seine Frauen und Kinder drangsalierte, damit sie sich ihm unterwarfen. Er musste die Scheißer einfach nur mental ersticken, damit sie jede Gegenwehr und Selbstachtung aufgaben, und dadurch würde es ihm leichter fallen, sie zu manipulieren und zu dominieren. Das war ihm völlig klar. Darauf hatte er es abgesehen. Es ging ihm nicht um Liebe. Er wollte andere dominieren; sie sollten sich ihm unterwerfen. Für ihn war das wie Sauerstoff. Mit Gewalt und Wut raubte er anderen die Seele. Er wollte, dass sich die Menschen, die ihm am nächsten standen, beschädigt und leer fühlten. Auch heute noch, Jahrzehnte später, hat meine Mutter mit ihrem Selbstwertgefühl zu kämpfen; Entscheidungen fallen ihr schwer und es mangelt ihr an Zuversicht.

Trunnis’ Gesicht war rot vom Alkohol. Er mahlte angespannt mit den Zähnen, während er weiter Müll redete. Fraglos war er genau der Bully und Tyrann, der in meinen Erinnerungen lebte; aber nicht etwa, weil er meine Mutter oder Sue, meinen Bruder oder mich gehasst hätte, sondern weil er ein kranker, verkommener alter Mann war, der sich für komplett wertlos hielt und sich selbst nicht helfen konnte oder wollte.

Jahre später sollte ich erfahren, dass er als Kind misshandelt worden war. Sein Vater ließ ihn in einem dunklen Zimmer vor einem glühend heißen Kohleofen stehen und erschien erst nach quälend langer Wartezeit mit einem Gürtel in der Hand. Mit der Schnalle voran peitschte er Trunnis dann aus. Wollte dieser dem Gürtel ausweichen, verbrannte er sich am Ofen, also musste er die Hiebe seines Vaters hinnehmen und dabei möglichst reglos bleiben. Mit diesem Trauma hatte er sich nie auseinandergesetzt; wie ein Dämon hatte sich die Erinnerung bei ihm eingenistet, und ohne dass er es realisiert hätte, war aus dem Opfer ein Täter geworden.

Wann immer er betrunken war und die Party ihrem Ende entgegenging, verschaffte er sich Genugtuung, indem er auf Leuten herumhackte, die schwächer waren als er. Er verprügelte sie. Er machte sie runter. Manchmal drohte er, sie umzubringen. Aber sobald dieser konkrete Fall von Misshandlung vorüber war, löschte er ihn aus seiner Erinnerung. Die Schläge, mit denen er uns überzogen hatte, hatte er niemals ausgeteilt. Er sah sich gern als großen Mann, übernahm aber nie die Verantwortung für seine Fehler, was ihn als Mann eigentlich ganz und gar disqualifizierte. Ich vermute, der Grund, warum ich mit ihm an diesem Tisch im »Denny’s« saß, war, dass ein Teil von mir sich erhoffte, Trunnis würde sich entschuldigen, aber er war nicht der Ansicht, dass ihm irgendetwas leidtun müsste. Er hatte sich komplett von der Realität verabschiedet, und seine Wahnvorstellungen zogen uns alle nach unten. Noch dazu wirkten sie ansteckend.

Jahrelang hatte er mich bluten und an mir selbst zweifeln lassen. Er hatte seine Dämonen in mich hineingeprügelt, mit seinem Ledergürtel und der offenen Hand, und so wie er hatte auch ich gelernt, mich durch Realitätsflucht zu schützen. Aus mir war zwar kein bösartiger Soziopath geworden, aber genau wie er hatte ich nie die Verantwortung für meine eigenen Unzulänglichkeiten oder mein Versagen übernommen.

Dort zu sitzen und seinem Gezeter zuzuhören brachte mein Blut zum Kochen. Schweißperlen liefen mir über die Stirn, und alles, woran ich denken konnte, war, es ihm heimzuzahlen. Nun war er an der Reihe, durch meine Hand zu leiden. Ich wollte ihn bluten lassen für die Schmerzen, die er mir zugefügt hatte. Ich wollte so richtig auf diesen Scheißkerl einprügeln, direkt dort im »Denny’s«. Um ein Haar hätte ich zugelassen, dass aus mir genau das wurde, was mein Vater in meiner Erinnerung war: ein gewalttätiger Verrückter!

Er erkannte das Lodern in meinem Blick und es erschreckte ihn zu Tode. Es war, als würde er in einen Spiegel blicken. An unserem Tisch herrschte nun ein anderes Klima. Er hörte mitten im Satz auf zu zetern. Sein Blick wurde glasig und seine Augen weiteten sich, und im Licht der Leuchtstoffröhren wirkte er klein und schwach. Ich nickte, als mir in eben diesem Moment klar wurde, dass ich mich mit meiner Reise nach Buffalo selbst belogen hatte.

Dass ich den weiten Weg von Indianapolis auf mich genommen hatte, war nicht etwa der erste Schritt auf meinem Weg, ein besserer Mensch zu werden. Nein, ich war auf der Suche nach einem Freifahrtschein. Ich war gekommen, um weitere Beweise dafür zu sammeln, dass all meine vielen Misserfolge und Enttäuschungen auf dieselbe Ursache zurückzuführen waren: auf meinen Vater, Trunnis Goggins. Ich hatte gehofft, dass all das, woran ich die ganzen Jahre über geglaubt hatte, wahr sei. Denn wenn Trunnis tatsächlich die Bestie in Menschengestalt war, dann wäre da jemand, dem ich die Schuld hätte geben können, und ich war auf der Suche nach einem solchen Ausweg. Ich brauchte Trunnis als Übel meines Seins, um die lebenslange Garantie für meine »Du kommst aus dem Gefängnis frei«-Karte einfordern zu können.

Trunnis’ Makel waren nicht zu übersehen. Einmal mehr führte er sie mir überdeutlich vor Augen. Aber er war nicht mein Makel. Die zweite Stimme hatte recht. Wenn ich nicht die Verantwortung für meine Dämonen übernehmen würde, die Dämonen, die er mir aufgezwungen hatte, dann würde aus mir niemals etwas anderes als ein ewiger Verlierer werden – oder ein erbärmlicher Gangster, wie er selbst es war.

Als das Essen kam, stopfte Trunnis sich umgehend voll, während ich darüber nachdachte, wie viel Macht ich ihm im Laufe der Jahre über mich zugestanden hatte. Es war nicht seine Schuld, dass ich Rassismus ausgesetzt war und nur eben so meinen Schulabschluss geschafft habe. Ja, er hat mich und meinen Bruder verprügelt, und er hat meine Mutter gefoltert. Er war ein mieser, kaputter Mann, aber ich hatte seit meinem achten Lebensjahr nicht mehr unter seinem Dach gelebt. Wann also würde ich mir meine Seele von ihm zurückholen? Wann würde ich die Verantwortung für meine eigenen Entscheidungen, meine Fehler und meine Zukunft übernehmen? Wann würde ich mein Leben selbst in die Hand nehmen, handeln, einen Schlussstrich ziehen und einen Neuanfang wagen?

Niemand sprach ein Wort, während ich uns zurück zur Paradise Road fuhr. Während ich in die Küche ging, um mir meinen Autoschlüssel zu schnappen und geradewegs wieder zur Haustür hinauszugehen, beobachtete Trunnis mich mit einem traurig-betrunkenen Blick, in dem Verlust und Wut lagen. Eigentlich hatte ich geplant, das Wochenende bei ihm zu verbringen, aber ich konnte es nicht ertragen, auch nur eine Minute länger in seiner Gegenwart zu sein. Und obwohl niemand es aussprach, glaube ich, dass wir beide wussten, dass wir einander nicht noch einmal wiedersehen würden.

Seltsamerweise konnte ich Trunnis nun nicht einmal mehr hassen, da ich ihn endlich verstand. Auf der Heimfahrt blendete ich die fürsorgliche Stimme in meinem Kopf gänzlich aus und schaltete stattdessen auf Realität. Statt weiterhin Ausreden zu suchen, war es nun an der Zeit, dass ich mich zu mir selbst bekannte – in all meiner Hässlichkeit –, und das bedeutete, anzuerkennen, dass meine Dünnhäutigkeit definitiv Teil des Problems war.

Wir alle sind im Laufe unseres Lebens mit Umständen konfrontiert, die wir nicht beeinflussen können. Manchmal ist das schmerzhaft; gelegentlich sind diese Umstände tragisch oder unmenschlich. Mein »Rechenschaftsspiegel« – ein Spiegel, der über und über mit Notizzetteln beklebt war, auf die ich Klartext-Botschaften, tägliche Aufgaben und ein paar größere Ziele geschrieben hatte – hatte mich zwar bis zu einem gewissen Punkt weitergebracht, aber bisher hatte ich mich bei der Instandsetzung meines Lebens nur an der Fassade abgearbeitet. Ich hatte mich nie ans Fundament gewagt, und deshalb knickte ich ein, wann immer das Leben mir abverlangte, tiefer zu graben und beharrlich zu bleiben, um etwas zu erreichen, das zu nachhaltigem Erfolg führen könnte.

Zeit meines Lebens war ich übervorsichtig durch seichte Gewässer gewatet und hatte darauf gehofft, dass sich die Dinge zu meinen Gunsten wenden würden, dass all meine Träume einfach in Erfüllung gehen würden. In jener Nacht, als ich mich auf der Rückfahrt nach Indiana befand, akzeptierte ich die harte Realität: Zu wünschen und zu hoffen, das ist, als würde man so lange am Spielautomaten hängen, bis der Kasten irgendwann klingelt. Wenn ich aber ein besserer Mensch sein wollte, dann müsste ich sofort damit anfangen, jeden Tag mit einem Gefühl der Dringlichkeit zu leben. Denn nur so kann man seine Chancen verbessern.

Die Realität kann einem Angst machen, wenn man sich nicht länger hinter Ausreden verstecken kann und in seiner Wahrhaftigkeit vor aller Augen bloßgestellt ist. Aber die Wahrheit kann uns auch befreien. In jener Nacht nahm ich die Wahrheit über mich selbst an. Nun, da ich die Wirklichkeit endlich hinuntergeschluckt hatte, war meine Zukunft ungewiss. Alles war möglich, wenn ich nur mein Denken neu ausrichtete. Ich musste zu jemandem werden, der sich weigerte, aufzugeben, der ganz einfach einen Weg findet, egal was passiert. Ich musste kugelsicher werden, ein lebendes Exempel für Resilienz.

Stellen Sie sich eine Handvoll Samen vor, die in einem Garten ausgestreut wurden. Manche Samen bekommen mehr Sonnenlicht und Wasser ab und man hat sie in fruchtbaren Boden gesetzt. Und weil das so ist, kann aus dem Samen ein Keim sprießen und aus dem Keim kann irgendwann ein üppiger Baum wachsen. Aus Samen, die zu wenig Sonne oder Wasser kriegen, wird vielleicht nie etwas sprießen, es sei denn, jemand setzt sie um und rettet sie, bevor es zu spät ist.

Und dann gibt es noch jene zarten Pflänzchen, die selbstständig nach dem Licht suchen. Sie strecken sich aus dem Schatten heraus in die Sonne, ohne dass jemand sie umgesetzt hätte. Niemand muss sie aus der Erde heben und ins Licht setzen. Sie finden Kraft, wo keine ist.

Das ist Resilienz.

Kaum dass wir geboren sind, suchen wir instinktiv nach Möglichkeiten, zu wachsen und zu gedeihen. Aber nicht jedem gelingt das, und manchmal gibt es einen verdammt guten Grund dafür. Ich bin in Dunkelheit aufgewachsen. Es war mir kaum möglich, meine dünnen Wurzeln in den steinharten Boden unter mir zu schlagen. Bei mir waren Geist, Seele und entschlossenes Vorwärtsstreben nicht vom Licht genährt worden, aber auf der Fahrt nach Hause wurde mir klar, dass es allein in meiner Macht stand, meine Zukunft zu bestimmen. Ich musste eine Entscheidung treffen. Ich konnte weiterhin bequem im Hafen der niedrigen Erwartungshaltung dümpeln, im festen Glauben, dass mein Leben nicht meine Schuld oder Verantwortlichkeit war, dass meine Träume eben auch nur genau das waren: Fantasien, die nie Wirklichkeit werden würden, weil es mir an Zeit und Gelegenheit mangelte, sie jetzt oder irgendwann wahr werden zu lassen. Oder ich könnte das alles hinter mir lassen und mich einer Welt voller Möglichkeiten stellen – einer Welt voller Schmerzen, voll unvorstellbar harter Arbeit und ohne jegliche Erfolgsgarantien. Ich könnte mich für die Resilienz entscheiden.

Ich war nun 24 Jahre alt, und in mir hatte sich eine mächtige Kraft gesammelt, die nur darauf wartete, entfesselt zu werden. Bald schon würde ich sie abrufen, um gleich zweimal die sogenannte »Hell Week«, die »Höllenwoche« (das knallharte Aufnahmetraining der U.S. Navy SEALs), und im Anschluss noch die Army Ranger School zu absolvieren. Ich würde an Ultrarennen teilnehmen und einen neuen Weltrekord in Klimmzügen aufstellen. Dank jenes Abends in Buffalo, New York, als ich mein Schicksal annahm und mich dazu entschloss, mir meine Resilienz zunutze zu machen, um aus mir den zähesten Mistkerl aller Zeiten zu machen. Jemanden, der Licht fand, wo keines war.

Anders als John McCain und unzählige andere war ich nie in Kriegsgefangenschaft geraten, doch die ersten 24 Jahre meines Daseins hatte ich als Gefangener meines eigenen Verstands gelebt. Nachdem ich mich befreit und meine persönliche Entwicklung begonnen hatte, lernte ich, dass es eine besondere Art von Kampfgeist braucht, um in eine Hölle hineingeboren zu werden, allen Widerständen bereitwillig zu trotzen und sich aus freien Stücken und in unbeirrbarer Beharrlichkeit jedem neuen Tag zu stellen, als sei er ein Bootcamp der Resilienz. Wer das vermag, dem ist gut nicht gut genug. Der gibt sich nicht damit zufrieden, einfach nur seine Leistung zu verbessern. Denn das sind die Menschen, deren Entwicklung niemals abgeschlossen ist, die auf immer und ewig darum bemüht sind, die bestmögliche Version ihrer selbst zu sein. Und ich hatte mich ihnen angeschlossen. Weshalb man mich nun auf der VFW Convention dafür auszeichnete.

***

»Ich möchte meiner Mutter danken, die …« Erneuter Applaus brandete auf, während ich mein Schluchzen unter Kontrolle brachte und mich wieder ins Hier und Jetzt holte. »… die mich niemals nach oben gezogen hat, wenn ich hingefallen bin. Wenn ich umgeworfen wurde, hat sie mir immer die Möglichkeit gegeben, allein wieder auf die Füße zu kommen.«

Als ich meine Ansprache beendet hatte, war ich emotional erschöpft, aber mit mir im Reinen. Ich fühlte mich geehrt und verspürte Demut dafür, mit dieser Auszeichnung bedacht worden zu sein, die für die meisten Menschen der krönende Abschluss ihrer Karriere gewesen wäre. Von der Bühne herab ging ich ins Ungewisse. »Ein Messer wetzt das andere«, heißt es, doch ich hatte das Militär hinter mir gelassen und es gab niemanden mehr, der mich in meinem Alltag antreiben würde. Scheißegal! Ich war schon immer dazu bestimmt gewesen, dieser eine Krieger zu sein. Ich war der Mistkerl, der sein Schwert im Alleingang schliff, und das konnte mir nur recht sein.

Evolution #1

Ich habe – mit Unterbrechungen – 15 Jahre lang im Rettungsdienst gearbeitet. Wenn ein Krankenwagen am Ort eines schweren Unfalls eintrifft, werden wir Rettungssanitäter umgehend in die sogenannte »goldene Stunde« katapultiert. In den allermeisten Fällen stehen uns nämlich nicht mehr als 60 Minuten zur Verfügung, um ein schwer verletztes Opfer zu retten. Die Zeit läuft ab dem Moment, in dem sich der Unfall ereignet hat, und das Ticken der Uhr dröhnt so lange, bis wir in der Notaufnahme angelangt sind. Wenn wir am Unfallort ankommen, sind wir also bereits im Verzug, daher ist es unbedingt notwendig, dass wir den Zustand eines jeden Patienten augenblicklich und präzise erfassen.

Manche Opfer werden als »Load and Go« bezeichnet – rein in den Wagen und ab ins Krankenhaus –, weil sie spezifische, zeitkritische Eingriffe benötigen, die wir selbst nicht durchführen können. Andere werden als »Stay and Play« bezeichnet. Deren Zustand mag kritisch sein, aber unsere Ausbildung befähigt uns, sich ihrer Bedürfnisse anzunehmen, um sie in einen Zustand zu versetzen, der stabil genug ist, um sie sicher ins Krankenhaus zu bringen. Die drei wichtigsten Dinge, die wir abchecken, sobald wir einen Patienten vor uns haben: Sind die Atemwege frei? Atmet er? Wie steht es um den Blutkreislauf? Wir müssen sicherstellen, dass er atmen kann, dass die Luft auch tatsächlich in die Lungen gelangt, und wir müssen prüfen, wie schwerwiegend die Blutungen sind. Für gewöhnlich lassen diese Dinge sich auf den ersten Blick klären, aber hin und wieder ist die Situation komplizierter.

Man stelle sich zum Beispiel ein zerschmettertes Bein vor, das, grotesk verdreht, über den Kopf des Opfers ragt. Wenn Sie eine Körperextemität sehen, wo sie nicht hingehört, fällt es oft schwer, sich überhaupt noch auf etwas anderes zu konzentrieren. Der Anblick ist so grauenhaft, dass man sich instinktiv zuerst mit diesem Problem befassen und alles andere ausblenden möchte. Ich habe häufig erlebt, wie Rettungssanitäter in dieses Muster verfallen sind. Aber auch ein kompliziert gebrochenes und ausgerenktes Bein bringt für gewöhnlich niemanden um; allerdings kann es uns übersehen lassen, dass die Atemwege des Patienten blockiert sind, dass die Lunge sich mit Flüssigkeit gefüllt hat oder Lebensgefahr aufgrund innerer Blutungen besteht. Alles, was das medizinische Personal dazu verleitet, sich vom üblichen Prozedere abbringen zu lassen, kann im Sinne unseres Jobs als ablenkende Verletzung gewertet werden. Und weil vor Ablenkungen dieser Art niemand gefeit ist, sind wir darauf trainiert, aufmerksam zu bleiben, denn bei unserer Arbeit geht es wirklich um Leben und Tod.

Das Gleiche gilt für die »ablenkenden Verletzungen«, die mich plagten. Im Alter von 24 Jahren war ich so fokussiert auf die Misshandlung und Vernachlässigung und die rassistischen Schmähungen, die ich als Kind erlitten hatte, dass ich keinen Blick mehr hatte für all die verdammten Dinge in meinem Leben, auf die ich direkten Einfluss hätte nehmen können. Keine der Verletzungen, die man mir zugefügt hatte, wäre für sich gravierend genug gewesen, um mich umzubringen, und doch verbrachte ich so viel Zeit damit, mich in meiner Einsamkeit zu suhlen und um all das zu sorgen, was mein Vater uns angetan hatte, dass ich mich geradezu weigerte, zu leben. Aber wer sein ganzes Leben damit zubringt, das Gewesene zu bedauern und sich ständig zu fragen: »Warum ist mir das passiert?«, der wird irgendwann das Zeitliche segnen, ohne überhaupt je etwas erreicht zu haben.

Die Reise nach Buffalo war reine Ablenkung gewesen. Ich war nicht bereit, die nötige Arbeit zu investieren, um mein Leben zu verändern, also hatte ich mich auf eine Mission begeben, um mir selbst zu beweisen, dass nicht ich es war, der mein Leben verpfuscht hatte. Als ich beschloss, ein Navy SEAL zu werden, war es für mich schon fast zu spät. Hätte ich damals nur ein paar Pfund mehr auf die Waage gebracht, wäre es mir nicht mehr möglich gewesen, in der Zeit, die mir zur Verfügung stand, ausreichend Gewicht zu verlieren. Ich musste zu extremen Mitteln greifen – so trainierte ich beispielsweise zehn Wochen lang sechs bis acht Stunden am Tag und nahm dabei nur zwei kleine Mahlzeiten zu mir –, doch als die Pfunde endlich purzelten und mein Blick auf die Dinge sich änderte, wurde mir klar, dass ich nie so allein gewesen war, wie ich immer angenommen hatte. Ich hatte mir stets eingeredet, dass niemand mich oder meine Nöte verstehen könne. Aber als ich mich nun umsah, fiel mir auf, dass es um mich herum jede Menge Typen mit ablenkenden Verletzungen gab, die Gefangene ihrer Vergangenheit waren. Oft melden sie sich bei mir, um von ihrem Leben zu berichten.

Manche von ihnen hatten als Kind Misshandlung erlebt oder schon früh einen Elternteil verloren. Andere wuchsen mit dem Gefühl auf, hässlich oder dumm zu sein. Sie wurden gemobbt und verprügelt oder sie hatten in der Schule keinen einzigen Freund. Und nicht immer ist es das Minenfeld unserer Kindheit, das uns das Leben zur Hölle macht. Auch im Erwachsenenalter mangelt es nicht an psychischen und emotionalen Stolperfallen. Insolvenz, Zwangsvollstreckung, Scheidung und schwerste Verletzungen können jedem zu jeder Zeit widerfahren. Menschen werden betrogen oder beklaut von Menschen, deren Liebe sie sich sicher wähnten. Sie werden Opfer sexuellen Missbrauchs. Sie verlieren ihr Hab und Gut bei einem Brand oder einer Überschwemmung. Ihre Kinder kommen ums Leben.

Es ist so leicht, sich in den Nebeln des Daseins zu verlieren. Jeder von uns erleidet irgendwann Schreckliches, und wenn wir es zulassen, dann wird jedes leidvolle Ereignis länger in uns nachklingen, als es das sollte. Denn unsere traurigen Erlebnisse verleiten uns dazu, uns selbst gegenüber Milde walten zu lassen. Sie bieten uns den Spielraum und die Rechtfertigung, faule, willensschwache Säcke zu bleiben, und je länger wir brauchen, um unseren Schmerz zu verarbeiten, desto schwerer fällt es uns, wieder die Kontrolle über unser Leben an uns zu reißen.

Manchmal wurzeln Schwäche und Faulheit in Hass und Wut, und wir werden so lange in dieser Scheiße waten, bis wir erhalten, was uns unserer Ansicht nach zusteht – ein Zugeständnis, eine Entschuldigung oder eine Entschädigung. Das ist eine Art selbstgerechte Rebellion gegen unsere Peiniger oder gar gegen das Leben im Allgemeinen. Einige von uns haben das Gefühl, dass ihnen das zusteht. Wir glauben, dass unser Schmerz uns zu Selbstmitleid berechtigt oder dass wir einen Anspruch darauf haben, glücklich zu sein, weil wir durch die Hölle gegangen sind. Aber natürlich bedeutet eine solche Anspruchshaltung nicht, dass uns tatsächlich zusteht, was wir uns ersehnen. Sie müssen begreifen, dass die Zeit niemals stillsteht und dass Ihre »goldene Stunde« irgendwann zu Ende geht, wenn Sie nicht selbst aktiv werden.