New Hope - Das Funkeln der Sehnsucht - Rose Bloom - E-Book

New Hope - Das Funkeln der Sehnsucht E-Book

Rose Bloom

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Herz macht, was es will … Jackson würde lieber rostige Nägel essen, als noch mal einen Fuß in seine Heimatstadt zu setzen. Er hat sich ein neues Leben fernab von New Hope aufgebaut und geht in seinem Beruf als Unfallchirurg auf. Doch dann vermacht seine schrullige Tante, bei der er aufgewachsen ist, ihm ihre kleine Pension. Fest entschlossen, die Angelegenheit schnell abzuwickeln, fährt er nach Hause. Sofort überfallen ihn Erinnerungen an seine harte Highschoolzeit, an das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören – und an seine Jugendliebe Cassie, die ihn tief verletzt hat. Aber ausgerechnet Cassie ist die einzige Maklerin weit und breit, und er braucht ihre Hilfe. Das Gefühlschaos ist vorprogrammiert …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 402

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Originalausgabe © 2022 by Rose Bloom © 2022 by MIRA Taschenbuch in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover. Covergestaltung von Zero Werbeagentur, München Coverabbildung von Sasha Buzko, tomertu, Nella, dwph, Deny Wahyudi / Shutterstock E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783745703122www.harpercollins.de

TRIGGERWARNUNG

TRIGGERWARNUNG: Dieser Roman enthält Szenen zum Thema Mobbing.

ZITAT

Im Grunde sind es doch die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben seinen Wert geben.

Wilhelm von Humboldt

KAPITEL 1

Damals

Jackson

»Hast du Jennys Hose gesehen?«

»O ja, furchtbar! Ihre Mom hat ihr wohl wieder Klamotten aus ihrem Secondhandladen in Crestview angedreht.«

»Sieht so aus.« Ich vernahm ein Seufzen. »Außerdem soll Chester wieder mit Cassie zusammen sein, kannst du das glauben?«

»Du hast doch nicht gedacht, dass du bei ihm irgendeine Chance hast, Willow?«

Leise schloss ich meinen Spind. Die beiden Mädchen hatten mich nicht bemerkt und plapperten neben mir weiter. Das war gut. Unter dem Radar zu bleiben, hieß immer, sicher zu sein, vor allem wenn man erst vor drei Wochen in diese Kleinstadt mit dem kitschig hoffnungsfrohen Namen New Hope gezogen war und sich alle an der Highschool für den Neuen zu interessieren schienen. Ich begegnete neugierigen und mitleidigen Blicken. Der Junge, der vor Kurzem seine Eltern verloren hatte und bei seiner schrulligen Tante in einer altmodischen Pension leben musste. Oh, und der Junge, der keinen geraden Satz herausbrachte. Der Stotterer. Stotter-Jackson. Im Laufe meiner letzten fünfzehn Lebensjahre hatte man mir viele Spitznamen gegeben. Und ich hasse sie alle.

Nachdem ich die Bücher für die nächste Stunde verstaut hatte, schloss ich meinen Rucksack. Die Mädchen hörten auf zu reden und schauten kurz zu mir rüber. Ich hielt inne wie ein Eichhörnchen, das beim Nüssesammeln erwischt worden war. Als sie ihre Aufmerksamkeit von mir abwandten, atmete ich leise aus. »Immer die Deckung oben halten« war der Lieblingsspruch meines Vaters gewesen. Ein dicker Kloß setzte sich in meinem Hals fest. Wenn ich an eines nicht denken wollte, dann an Dads alte Weisheiten, von denen er für jede Situation eine parat hatte. Doch er war dabei nie belehrend gewesen, es war eher ein liebenswürdiger Tick, und ich musste jedes Mal dabei lächeln. Hatte gemusst.

Shit. Ich räusperte mich ganz leise, senkte den Kopf und lief los. Die Geschichtsstunde würde in zwei Minuten beginnen, und ich hatte die Erfahrung gemacht, dass, wenn ich gleichzeitig mit dem Lehrer in die Klasse kam, es den Bullys keine Möglichkeit gab, mir eins reinzuwürgen. Auch wenn New Hope eine ruhige Kleinstadt am Rande des Yosemite-Nationalparks war, waren meine Mitschüler genauso fies wie in Chicago. Ich vermisste meinen einzigen Freund, der noch nicht mal in meinem Alter war. Mr. Harris war der Bibliothekar meiner alten Schule, und die Bücherei diente als mein bestes Versteck. Hier in New Hope hatte ich nichts. Keinen Rückzugsort, keine Ruhe, keine Eltern. Alles war fremd und neu.

Immer wieder spähte ich für den Bruchteil einer Sekunde nach oben, zog den Rucksack auf meinen Schultern enger und wappnete mich für den Weg zum nächsten Unterrichtsraum, während das Karomuster des Korridorbodens an mir vorbeiflog. Noch bevor ich den Zusammenstoß spürte, stieg mir ihr Duft in die Nase. Veilchen wie frisch von einer Wiese gepflückt. Bücher knallten auf den Gang, und ehe ich überhaupt nachdenken konnte, griff ich nach ihren Schultern und hielt sie davon ab, rückwärts zu stürzen. Langsam schaute ich nach oben und verstand in dem Moment, dass ich den größten Fehler meines Lebens begangen hatte. Ich hatte zum ersten Mal tief in ihre flaschengrünen Augen gesehen. Sie strahlten wie durchschimmerndes Glas. Sofort setzte ein Gefühl meinen gesamten Körper in Alarmbereitschaft, das ich bis dahin nicht gekannt hatte.

Cassie war ebenso geschockt wie ich. Sie rührte sich keinen Millimeter und ließ sich von mir halten. Ich wollte ihr sagen, dass es mir leidtat, dass ich sie mitten auf dem Schulflur angerempelt hatte, weil ich nur nach unten geschaut hatte. Ich wollte ihr sagen, dass sie das schönste Mädchen war, das ich jemals zuvor gesehen hatte. Ich wollte ihr sagen, dass mein Herz immer schneller schlug, wenn ich einen kurzen Blick auf sie erhaschen konnte. Aber herauskommen würde nur ein wirres Knäuel aus Worten, also schwieg ich und ließ sie langsam los.

»Sorry, ich habe nicht aufgepasst«, entschuldigte sie sich und strich sich ein wenig beschämt eine Strähne ihres blonden Haares hinters Ohr. Ich bückte mich, hob ihre Bücher auf und hielt sie ihr hin. Cassie war ein Stück größer als ich, und ich verfluchte meinen schmächtigen Körper, der mit fünfzehn nicht mal halb so weit entwickelt war wie die der meisten meiner Mitschüler. Hätte sie mich früher bemerkt, wenn ich anders ausgesehen hätte? »Danke. Jackson, richtig?«

Ich nickte. Sie lächelte, und mein Herz schien zu explodieren.

Ihre Finger berührten leicht meine, als sie mir die Bücher abnahm und sich gegen die Brust drückte. Wieder einmal fragte ich mich, was ein Mädchen wie sie mit einem Arschloch wie Chester wollte. Er war der typische Bully, der sich auf jede noch so kleine Schwäche stürzte und sie sich zunutze machte, und scheiße, ja, davon hatte ich genug.

»Du wohnst im Big Mountain Inn, oder? Mildred ist deine Tante.«

Erneut nickte ich. Es wunderte mich, dass Cassie sich mit mir unterhalten wollte. Ich hatte angenommen, sie würde gleich weiterlaufen und mir keine weitere Beachtung schenken. Doch irgendetwas sagte mir, dass ich mich vielleicht in ihr getäuscht hatte. Sie sah aus wie die typische Cheerleaderin eines jeden Highschoolfilmes, schlank und trotzdem kurvig, perfekte Haut, blonde weiche Wellen, die ihr ovales Gesicht umspielten, noch dazu war ihr Dad der Direktor dieser verdammten Schule. Ich hätte niemals eine Chance bei jemandem wie ihr gehabt, und wenn ihr Freund Chester mich erwischen würde, würde ich für immer auf seinem Radar landen und niemals mehr unbemerkt durch die Gänge laufen können. Obwohl ich all das wusste, konnte ich nicht gehen. Ich wollte all die Gründe, die dagegen sprachen zu bleiben, in Kauf nehmen. Wenn ich nur eine Sekunde länger die Aufmerksamkeit von Cassidy Williams hatte.

Ich atmete tief durch und erinnerte mich an das, was mir meine Logopädin in Chicago geraten hatte. Aber die Aufregung hatte mich fest im Griff, und es fiel mir schwer, meine Atmung und mein Zwerchfell zu kontrollieren. »Ja«, presste ich hervor und führte einen innerlichen Tanz auf, weil ich das Wort in einem Rutsch aussprechen konnte. Ihr schien es aufzufallen, wie ich mich darüber freute, und sie lächelte sanft zurück. Verdammt. Vorbei war es mit meiner Beherrschung.

»Dann willkommen in New Hope«, erwiderte sie, und am liebsten hätte ich diesen Moment so lange hinausgezögert, dass er niemals mehr verging.

Am Ende des Flurs wallte Tumult auf, lautes, gehässiges Lachen, schwere Schritte auf dem Linoleum, und ich schaute vorsichtig an Cassie vorbei. O nein.

Wie eine Wand stolzierte Chester mit seinen drei Kumpels, die allesamt aussahen wie die Mitglieder eines Rockerclubs, durch die Highschool. Sein düsterer Blick war fest nach vorn gerichtet, genau auf Cassie und mich.

Ich erkannte sofort den Moment, als Cassie sie bemerkte. Ein Funken des Bedauerns flackerte eine winzige Sekunde in ihren Augen auf. Langsam drehte sie sich herum.

»Hey, Stotterjunge!«, stieß Chester laut aus und deutete auf mich. »Was machst du mit meiner Freundin?«

»Ich bin nicht mehr deine Freundin«, erwiderte Cassie genervt.

War sie nicht? fragte ich mich überrascht.

»Verzieh dich, Chester!«, redete sie weiter.

Chester gab ein drohendes Knurren von sich, und sein Blick richtete sich erneut auf mich. Selbst wenn ich gar nichts getan hätte, er brauchte immer jemanden, an dem er sich abreagieren konnte. Also war jetzt der Moment für mich gekommen abzuhauen. Sofort.

Ich wandte mich um und eilte durch den Flur, ohne eine Ahnung oder eine Orientierung zu haben, wohin ich gehen könnte. Wenn ich nun den Unterricht verpasste, dann war es eben so, ich würde nicht stehen bleiben und warten, bis Chester mich zu seinem Opfer machte. Flucht war für mich die beste Option, ja sogar die einzige.

Die Highschool war in dieser kleinen Stadt nicht besonders groß, auch wenn Kinder und Jugendliche aus den umliegenden Orten sie ebenfalls besuchten.

Ich durchquerte einige Türen und schmale Korridore, die bereits leer waren, weil die Unterrichtsstunde vor einer Minute begonnen hatte. Gleich würde ein Lehrer durch die Gänge laufen und alle Herumlungerer in ihre Klassen schicken. Und genau dort würde Chester auf mich und seine Chance warten, wenn der Unterricht vorbei sein würde. Ich beschleunigte noch mal meine Schritte und warf immer wieder einen nervösen Blick zurück, doch Chester und seine Kumpels verfolgten mich nicht. Vielleicht hatte sie direkt ein Lehrer abgepasst und ich einmal in meinem Leben Glück. Frische eiskalte Luft wehte mir entgegen, als ich durch die letzte Tür trat und tief einatmete. Die Sonne blendete mich, und ich hob die Hand über die Augen und schaute mich um, weil ich keine Ahnung hatte, wo ich hier war. Das hier war eine Art Park am Rande der Schule. Ein Schotterweg verlief in Schlangenlinien an Büschen und einem gelben, verdorrten Rasen vorbei und endete am Anfang eines dichten, dunklen Waldes. Die hohen Berge umgaben auch hier das gesamte Gebiet und reckten ihre weißen Spitzen über die Wipfel der Tannen. Ich entdeckte einen schmalen Unterstand, vielleicht war der für Fahrräder oder die Werkzeuge des Hausmeisters? Hinter mir erklangen Stimmen, und ich zögerte nicht lange, rannte los, durchquerte die quadratisch angelegten Grasflächen und trat in von Eis bedeckte Pfützen. Mein Atem stieg als helle Wölkchen Richtung Himmel, und die winterkalte Luft ließ mich frieren, weil meine Jacke in meinem Spind hing. Ich war kein Sportass und erreichte schwer atmend mit rasendem Herzschlag den Unterstand. Schnell drückte ich mich hinter die Holzwand und senkte die Lider. Wieso musste jeder Tag hier schlimmer sein als der davor? Erneut breitete sich ein Druck auf meiner Brust aus, als befände ich mich in einem U-Boot unter Wasser, das immer tiefer und tiefer sank. Meine Kehle wurde eng, und ich schlug mit der Faust gegen die Wand hinter mir.

»Hey, alles okay?« Ruckartig öffnete ich die Augen und schaute nach rechts. Verdammt, ich hatte angenommen, ich wäre allein. Ein dunkelblonder Junge saß auf einem Holzhocker am Rande des Unterstandes. Mein Blick fiel auf das Holzstück in seiner Hand und das Messer in der anderen. Ein Messer? In der Schule? »Ja, ich weiß, mit Messern hat die Schulleitung es nicht so, deshalb sitze ich ja hier.« Er zuckte mit den Schultern und schenkte mir ein lässiges Grinsen. Er war ungefähr zwei Köpfe größer als ich und bereits so muskulös, dass er ein paar Jahre älter wirkte. »Und wenn du noch mal so laut gegen die Wand hier donnerst, werden sie uns sicherlich erwischen.« Er legte das Messer und das Holz auf den Boden, dann stand er auf. Als er mir die Hand hinhielt, starrte ich immer noch darauf, als würde er mir stattdessen die Faust ins Gesicht halten.

»Ich bin Brax, freut mich, dich kennenzulernen. Und es ist egal, wovor du davongelaufen bist, hier bist du sicher.«

Sicher? Ich ergriff seine Hand, und er schüttelte sie kräftig. Autsch. Ich verzog kurz mein Gesicht.

»Sorry, meine Eltern haben eine Obst- und Gemüsefarm, und ich muss jeden Mittag mit anpacken.« Er ließ mich los, und ich unterdrückte den Drang, meine Finger auszuschütteln. »Du sparst dir dadurch einiges an Training, falls du auch mal vorbeikommen magst.« Er sagte das ohne Verachtung oder als Anspielung auf meinen Körper. Stattdessen hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, jemand war ehrlich nett zu mir. Okay, zum zweiten, aber an meine Begegnung mit Cassie eben wollte ich nun wirklich nicht denken.

»Komm, setz dich, es wird einige Zeit dauern, bis die Lehrer drauf kommen, dass wir fehlen. Was hast du jetzt eigentlich für eine Stunde und bei wem?« Er nahm Platz und zog einen zweiten Hocker heran. Irgendetwas sagte mir, dass Brax mich nicht verurteilen würde.

Ich schob meinen Rucksack von den Schultern und lehnte ihn auf dem Boden an die Holzwand. »Ge-ge-geschichte, bei Mr. Ge-geyer«, stotterte ich und schlug mir innerlich gegen die Stirn. Doch Brax schaute mich einfach nur freundlich abwartend an, ohne meinen Satz zu vervollständigen oder mich zu korrigieren.

»Oh, Mr. Geyer ist eine furchtbar langweilige Spaßbremse, da verpasst du nicht viel. Außerdem nutzt er jedes Jahr denselben Stoff für seine Arbeiten. Mein Bruder Graham ist zwei Jahre älter, ich kann dir die Klausuren besorgen.«

Ich setzte mich, und Brax hielt mir das Messer und die Figur hin, die er halb fertig geschnitzt hatte. Es war eine Frau mit einem bodenlangen Rock, so viel konnte man bereits erkennen. »Hier, versuch es mal.«

»I-i-ich …« Tief atmete ich durch. »Ich will nichts kaputt ma-machen.«

»Kannst du nicht, ich hab Hunderte davon zu Hause und genug hier.« Er deutete in eine dunkle Ecke, und zum ersten Mal, seitdem ich hier war, musste ich leicht grinsen. Dort standen wirklich haufenweise geschnitzte Dinge. Tiere, Menschen, sogar Gebäude und Bäume.

»Du-du hast viel Zeit, oder?«

Brax lachte tief und schallend. Es war nicht schwer, ihn zu mögen. Ich nahm das Holz und das Messer entgegen. »Ich nutze jede Freistunde und packe generell lieber selbst an.« Er hob die Hände in die Höhe. »Mit diesen hier.« Seine Handflächen waren rau, an zwei Fingern klebten alte Pflaster. »Und du? Heute keine Lust auf Schule, wenn du vor ihr davonläufst?«

Ich dachte an meinen Traum. Der, der sich nach dem Tod meiner Eltern geformt hatte, tief in mich gegraben und dort verankert hatte. Seit einem Monat, genauer seit achtundzwanzig Tagen, seitdem ich die Nachricht erhalten hatte, dass meine Eltern bei einem Autounfall gestorben waren, wollte ich nur eines.

»Ne-ein. Aber leider brau-brauche ich die Sch-schule.«

»Für was?«, fragte Brax interessiert.

Ich drehte das Messer, und die Klinge reflektierte die Sonnenstrahlen, die durch die Schlitze der Holzwand hereindrangen. »Ich möchte Arzt werden«, antwortete ich fest.

Brax nickte, als wäre es überhaupt nicht abwegig für mich, dass ich jemals diesen Traum erreiche.

»Tja, dann sehen wir uns wohl nicht oft hier im Unterstand beim Schnitzen, was?«, erwiderte er grinsend, und endlich konnte ich sein Lächeln vollständig erwidern.

KAPITEL 2

Cassie

Ich rieb die Finger aneinander und steckte sie tief in die Taschen meines Wollmantels. Der eisige Wind, der durch die Innenstadt von New Hope blies, glitt schneidend über meine Wangen, die nur zur Hälfte von meinem flauschigen Schal bedeckt waren. Die Schneeschicht knirschte im Takt meiner Schritte unter meinen Stiefeln, und allmählich musste man sich damit abfinden, dass der Winter mit all seiner Macht Einzug gehalten hatte.

Ich senkte den Kopf gegen eine besonders kalte Schneewehe und lief schneller. Das Geöffnet-Schild wackelte im Wind, als ich die Glastür aufdrückte und zügig in den warmen Laden trat. Der Duft von Lebkuchen, Zimtkerzen und saftig grünen Tannen stieg mir sofort in die Nase.

»Ganz schöner Sturm da draußen, was?« Mr. Clause räumte eines seiner Regale ein und lächelte mich freundlich an. »Hallo, Cassidy.«

»Hallo, Mr. Clause«, erwiderte ich und genoss die Wärme sowie das knisternde Feuer des Kamins am Ende des Geschäfts. Die Holzeisenbahn über unseren Köpfen drehte ihre Kreise. Als Mr. Clause diese mithilfe von Brax vor einem Jahr aufgebaut hatte, hatte es einen riesigen Kinderansturm auf seinen Laden gegeben. »Ziemlich. Heute sollte man eigentlich nicht vor die Tür gehen und auf die Idee kommen, Weihnachtsgeschenke zu besorgen«, sagte ich.

Mr. Clause lachte leise und stellte die Schneekugeln ins Regal, ehe er zum Tresen ging und sich einen Teller mit Lebkuchen schnappte. »Es ist immer Zeit, Weihnachtsgeschenke zu besorgen«, erwiderte er.

Ich lief zu ihm und nahm mir ein Gebäckstück, wickelte meinen Schal ab und biss ein großes Stück von dem Lebkuchen ab. »Hm, das ist wirklich köstlich! Richten Sie Elvie einen lieben Gruß von mir aus!«

Mr. Clause’ weißer Bart wackelte unter seinem tiefen Lachen. »Das wird sie freuen zu hören.« Er stellte den Teller auf den Tresen zurück. »Also, wie kann ich dir helfen?«

»Ich suche etwas für meine Mom, vielleicht ein …«

Die Tür wurde aufgerissen. Eiskalte Luft drang ins Innere des Geschäfts und wirbelte die Klanghölzer in einer Ecke durcheinander, deren dumpfes Tanzen sofort verstummte, als Curtis die Eingangstür wieder schloss.

»O Mann, was für ein Sturm da draußen!«, sagte er und rieb die Hände aneinander. »Hi, Cassie, hallo, Mr. Clause.«

Wir erwiderten seine Begrüßung. Mr. Clause schnappte sich erneut seinen Teller mit dem Gebäck und ging auf Curtis zu. »Hm, ich weiß jetzt schon, dass ich diese Lebkuchen lieben werde«, sagte er und schloss die Augen, nachdem er abgebissen hatte. Curtis betrieb den Blumenladen mit angeschlossenem Restaurant Marcy’s nicht weit entfernt von Mr. Clauses Weihnachtsartikelladen. Er war ein geborener Koch und lebte für seinen Beruf. Es war die beste Entscheidung seines Lebens gewesen, das Blumengeschäft umzubauen und daraus etwas Eigenes zu machen. »Vielleicht will Elvie es sich ja doch einmal überlegen und den Nachtisch für unser Weihnachtsdinner backen?«

Lächelnd schüttelte Mr. Clause den Kopf. Der Zug um seine Augen wirkte immer ein wenig amüsiert, als gäbe es nichts in seinem Leben, mit dem er unzufrieden wäre. Und auch wenn man annahm, ein Laden mit Weihnachtsartikeln sei reines Saisongeschäft, hatte Mr. Clause das gesamte Jahr über viel Zulauf, weil er einzigartige wunderschöne Dinge anbot, die man so nirgendwo bekommen konnte, wie seltenen Weihnachtsbaumschmuck oder handgefertigte Geschenke aus Holz. Hin und wieder beneidete ich ihn um diese Leichtigkeit, die ihn immer zu umgeben schien. Denn auch wenn ich im Großen und Ganzen ebenfalls zufrieden war, gab es doch immer Tage, an denen man aufstand und sofort wieder zurück unter die Decke kriechen wollte. Dieses Gefühl schien Mr. Clause fremd zu sein. »Das ist nichts für Elvie, aber es freut sie sicherlich, wenn sie hört, wie gut dir ihre Lebkuchen schmecken, Curtis.«

»Wie schade, ich versuche es nächstes Jahr noch mal«, erwiderte er und zwinkerte Mr. Clause zu. Curtis zog sich seine schwarze Wollmütze vom Kopf und enthüllte zerzauste blonde Haare, durch die er sich hindurchstrich. »Ich schau mich eben ein wenig um«, meinte er und widmete sich einem Regal, auf dem gläserne Weihnachtsbaumkugeln gestapelt waren. Soweit ich wusste, war jede davon handgefertigt, und in jeder von ihnen war eine winzige Schneeflocke, die ebenfalls aus Glas war.

»Also, du suchst etwas für deine Mom?«, fragte Mr. Clause, und ich antwortete mit einem Nicken. »Und du dachtest an etwas Bestimmtes?«

»Ja, an …«

Erneut unterbrach uns das Geräusch der aufgehenden Tür. Meine Güte, war heute die gesamte Stadt unterwegs, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen? »Hallo zusammen!« Brax nickte in die Runde. An seiner Hand hüpfte seine elfjährige Tochter Ruby auf und ab, der Zipfel ihrer Mütze wippte im Takt mit.

»Hallo, Mr. Clause!«, rief sie aufgeregt, und Brax lachte leise. Er und ich waren gemeinsam auf die Highschool gegangen, und auch wenn wir mittlerweile erwachsen waren und uns höflich begegneten, war in seinen Augen immer eine gewisse Zurückhaltung, wenn er mich ansah. Dabei war nicht ich es gewesen, die seinem damaligen besten Freund Jackson gesagt hatte, dass er einfach ohne ein Wort aus New Hope verschwinden sollte. Im Gegenteil.

Ich wandte mich ab und tat so, als würde ich mir ein Krippenspiel neben dem Tresen anschauen. Die Gefühle, die diese Erinnerungen heraufbeschworen, konnte ich jetzt ganz und gar nicht gebrauchen. Oder irgendwann anders.

»Ist es da? Ist es da?«, rief Ruby und rannte zu Mr. Clause. Brax folgte ihr.

»Hi, Brax!«, rief Curtis hinter einem Regal hervor.

»Hey!«, erwiderte Brax lässig und steckte die Hände in die Jackentaschen, ehe er sich erneut an Ruby wandte. Mr. Clause umrundete die Theke und holte ein breites Holzkästchen hervor, das er über die Tischplatte nach vorn schob. Ruby wollte es berühren, doch Brax stoppte sie sanft an der Schulter. »Immer langsam, junges Fräulein.«

Ruby verdrehte die Augen und seufzte genervt. »Ich hasse es, wenn du so den Dad raushängen lässt.«

Brax und Mr. Clause lachten, und selbst ich musste ein amüsiertes Schnauben unterdrücken. »Weil ich dein Dad bin.«

Ruby äffte ihn ein wenig nach, dann griff sie erneut nach dem Kästchen, diesmal aber behutsamer. »Darf ich es öffnen?«, fragte sie ehrfürchtig, und auch ich war nun neugierig, was sich darin befand.

»Selbstverständlich«, antwortete Mr. Clause. Langsam hob Ruby den Deckel hoch, und ich reckte unauffällig den Hals.

»O wow«, hauchte sie, und auch Brax wirkte für einen Moment sprachlos. Vorsichtig holte Ruby eine dünne goldene Kette mit einem Anhänger heraus. Die runde Fassung aus Holz hielt mit filigranen verschlungenen Ästen eine winzige gläserne Kugel, ähnlich wie die der Schneekugeln. Darin war etwas, das ich nicht genau erkennen konnte, aber es funkelte und glänzte wie eine Discokugel im Schein der Deckenstrahler.

»Payton wird ausflippen«, flüsterte Ruby. »Das hast du toll gemacht, Dad.«

»Danke, aber ich habe nicht ganz so viel dazu beigetragen.«

»Ohne die Fassung und deine perfekte Arbeit wäre sie nicht so vollkommen geworden. Mein Goldschmied in Bear Valley lässt übrigens Grüße ausrichten, er sagte, so etwas Schönes durfte er schon lange nicht mehr fertigen«, meinte Mr. Clause, und Brax nickte ihm dankbar zu.

»Ich lege sie lieber wieder zurück«, meinte Ruby immer noch im Flüsterton.

Brax bedankte sich und bezahlte, verabschiedete sich reserviert von mir und mit einem deutlich freundschaftlicheren Ton von Curtis, und die beiden verließen wieder den Laden.

Curtis kam mit einem kleinen Päckchen in der Hand ebenfalls an den Tresen. »Ich glaube, ich nehme das.«

»Für Lu?«, fragte ich breit grinsend. Jeder konnte sehen, dass Curtis und Lu aufeinander standen und nicht nur Freunde waren, wie sie immer behaupteten. Trotzdem fehlte ihnen zu ihrem Glück der letzte Schritt, und auch wenn ich nicht verstand, wieso sie es nicht einfach wagten und miteinander ausgingen, hatten sie wahrscheinlich ihre Gründe. Curtis war kein Typ, der Dinge kopflos oder undurchdacht anging.

Er zuckte mit den Schultern. »Ist nur eine Kleinigkeit.«

»Und ich bin mir sicher, dass sie sich ziemlich darüber freuen wird.«

»Auch wenn sie nicht auf Geschenke steht …«

»Dann hat sie noch nie ein Geschenk von Herzen bekommen«, erwiderte Mr. Clause. »Man merkt es einem Geschenk an, ob der Überbringer es ehrlich und nur wegen der Freude anderer verschenkt hat. Sie wird es lieben.«

Curtis wirkte verlegen. »Vielleicht.«

Ich stupste ihn sanft an der Schulter, und er schenkte mir ein kleines Lächeln. »Ganz sicher.« Wir waren schon seit der Schule befreundet, seitdem ich der Clique rund um Chester den Rücken zugekehrt hatte, denn sie hatte nicht nur mir selbst nicht gutgetan, sondern auch viele andere gemobbt und verletzt. Vielleicht hatte ich zu spät die Reißleine gezogen und Brax nicht ganz unrecht, mir die Schuld dafür zu geben, dass Jackson abgehauen war. Trotzdem änderte sich nichts an dem Umstand, wie er es getan hatte, und das konnte ich ihm bis heute nicht verzeihen. Glücklicherweise machte er seit elf Jahren, obwohl seine Tante hier wohnte, einen riesigen Bogen um New Hope, und ich würde ihn nie wieder zu Gesicht bekommen.

»Sehen wir uns später bei Ginger?«, fragte Curtis und steckte das kleine Kästchen in die Innentasche seiner Jacke, ehe er sich erneut die Mütze aufsetzte.

»Ich schau nach Feierabend bei meinen Eltern vorbei«, erwiderte ich. »Sie haben mich zum Abendessen eingeladen. Vielleicht morgen Abend.«

»Alles klar, dann viel Spaß und bis morgen!« Curtis verabschiedete sich bei mir mit einer Umarmung und winkte Mr. Clause zu, ehe er mit gesenktem Kopf aus dem Laden eilte.

»So, jetzt kümmern wir uns aber endlich um das Geschenk für deine Mom«, sagte Mr. Clause.

Damals

Heute Nacht hatte es geschneit und den Bürgersteig mit einer fluffigen weißen Schicht bedeckt wie Puderzucker den Gewürzkuchen meiner Mom. Ein strahlend blauer Himmel lag über der Innenstadt von New Hope, und haufenweise Menschen waren an diesem Nachmittag unterwegs. Ich sprang über eine zugefrorene Pfütze und pfiff leise die Melodie von Last Christmas. Ich liebte den ersten Schnee. Bevor er fiel, hatte die Luft einen ganz besonderen Duft, den ich jedes Mal aufs Neue magisch fand. Und als ich gestern Abend den Kopf aus meinem Zimmerfenster gestreckt und Richtung Sternenhimmel geschaut hatte, hatte ich es zum ersten Mal in diesem Jahr gerochen.

Ich erreichte Mr. Clauses Weihnachtsladen und trat durch die Tür. Seitdem ich denken konnte, gab es Elvie’s Christmas Decorations, das nach seiner Frau benannt worden war. Sofort begrüßten mich Wärme und der Geruch von Weihnachten.

Wenn ich einen wirklich miesen Tag in der Schule gehabt hatte, war Mr. Clauses Geschäft einer meiner Anlaufpunkte. Nach einem Lebkuchen und mit dem Klang seiner Weihnachtsplaylist in Dauerschleife im Ohr konnte es mir nur besser gehen.

Ich schloss die Tür und wandte mich zu der breiten Verkaufstheke um, hinter der Mr. Clause meistens stand. Doch heute war dort nicht der ältere nette Herr mit dem schneeweißen Bart zu sehen. Jackson. Es war Jackson. Der neue Junge an unserer Schule.

Er war vor einigen Wochen hierhergezogen und hatte keinen leichten Start gehabt. Ich hatte keine Ahnung, wieso mein Dad nichts wegen Chesters fieser Aktionen gegenüber unseren Mitschülern unternahm, aber ich hoffte, dass es nicht daran lag, dass er dicke mit Chesters Vater war, der im Stadtrat saß. Denn Dad war immer sehr gerecht und gut in seinem Job als Highschooldirektor.

Jackson schrieb irgendetwas auf ein Blatt Papier, ich erkannte das aufgeschlagene Mathematikbuch neben ihm. Ich musste ein wenig lächeln, dass er Hausaufgaben machte, während er in Mr. Clauses Laden jobbte. Jeder andere in unserem Alter hätte wohl Snake auf dem Handy gespielt. Jackson kam aus Chicago, was nicht vergleichbar mit unserer winzigen Kleinstadt war, aber das war es nicht, warum er sich so von meinen Klassenkameraden unterschied. Es wirkte, als wäre er auf einer Mission, und nichts und niemand konnte ihn davon abbringen. Jeden Tag lief er mit gesenktem Kopf und einem dicken Stapel Bücher über den Flur, und ich hatte den Eindruck, dass er am liebsten unsichtbar gewesen wäre. Was er für einige von uns sicherlich auch war. Nur nicht für mich.

Sein tintenschwarzes Haar war so lang, dass er es hinter die Ohren klemmen musste, damit es ihn nicht beim Lernen störte. Lächelnd ging ich nach vorn und stellte mich vor die Theke. Als wäre Jackson so versunken in seine Aufgaben gewesen, dass er mich gar nicht bemerkt hatte, zuckte er zusammen und richtete sich auf. Er war etwa einen halben Kopf kleiner als ich, doch das waren viele Jungs in unserem Alter. Chester hatte erst im letzten Sommer einen wirklichen Wachstumsschub gehabt – und was sagte die Größe eines Menschen tatsächlich über ihn aus?

Jacksons braune Augen allerdings, die das goldene Licht der Lampen im Laden reflektierten, sprachen ihre ganz eigene Sprache.

Er presste die Lippen aufeinander, und seine Finger krampften sich um den Stift, als trüge er einen inneren Kampf mit sich aus.

»Hi«, sagte ich und hob kurz die Hand. »Was für eine Überraschung.«

Er nickte langsam, atmete tief ein und hielt die Luft an. Dann entließ er sie wieder mit einem lang gezogenen »Hallo«.

Ich wusste, dass er stotterte, und mir wurde übel, wenn ich darüber nachdachte, was Chester und seine Freunde über ihn sagten.

»Du hast einen Job bei Mr. Clause, ich beneide dich. Ich muss nach der Schule in dem Büro meines Dads Briefe sortieren.« Ich verdrehte die Augen und seufzte übertrieben theatralisch. Jacksons Schultern sackten ein wenig nach unten, als würde er sich ein klitzekleines bisschen entspannen. Seine Mundwinkel zuckten. »Wi-wieso bist du so nett zu mir?«

Ich hatte mit dieser Frage nicht gerechnet, aber ich konnte den Mut in seinen Augen lesen. »Warum sollte ich es nicht sein? Du bist neu hier, und meine Eltern haben mir beigebracht, freundlich zu sein und anderen zu helfen.«

Sein Gesicht verzog sich, als hätte ich genau das Falsche gesagt. »Ich … Ich bin kein Pro-projekt.«

»Nein, natürlich nicht«, antwortete ich schnell. »Du bist Jackson.« Ich hob ihm die Hand entgegen. »Und ich bin Cassidy Williams, schön, dich kennenzulernen.«

Er starrte auf meine Finger. »Ich weiß … wer du bist«, erwiderte er leise.

»Genau genommen kennst du nur meinen Namen. Ich bin Cassidy Elisabeth Williams und …« Ich kratzte meinen Mut zusammen. »Ich hasse Lakritz und liebe es zu malen. Niemand weiß davon, weil dieses Geheimnis nur mir gehört. Und jetzt dir.«

Er schaute nach oben, und als sein Blick meinen traf, erkannte ich in seinen Augen Überraschung und einen Funken Neugierde, der jetzt noch stärker glomm. Langsam nahm er meine Hand. Seine Haut war warm und sein Griff fest und sicher. »I-ich bin Jackson Marten, und ich werde einmal Arzt.«

Ganz leicht lächelte er, während er diese Worte aussprach, und ich lächelte zurück. Es dauerte noch zwei Atemzüge, ehe wir uns losließen. Die Stimmung zwischen uns war nun deutlich entspannter, und ich deutete mit dem Kopf auf seine Lernunterlagen. »Büffelst du deshalb so viel?«, fragte ich, woraufhin er nickte. »Das ist ambitioniert.«

Er zuckte mit den Schultern, als wäre es nichts Besonderes. Ich bemerkte, dass er es vermied zu sprechen, wenn es ging. Er sollte sich nicht für sein Stottern schämen müssen. Viele Dinge machten einen Menschen aus, und auch das gehörte dazu.

»Was tust du, wenn du einmal nicht lernst?«, wollte ich wissen.

Erneut zögerte er einen Augenblick, als wollte er erst alle Worte sammeln, ehe er sie aussprach. »Me-meiner Tante he-helfen.«

»Und wann hast du einmal Spaß?« Ein Ausdruck trat in seine Augen, der etwas zwischen traurig und resigniert war. Ich konnte ihn kaum ertragen, wie musste es dann für Jackson selbst sein? »Du hast bestimmt noch nicht so viel von New Hope gesehen. Was hast du morgen nach der Schule vor? Ich könnte dir den Park zeigen, er ist um diese Jahreszeit wunderschön.«

Jackson war anscheinend kein Typ, der spontane Entscheidungen traf. Wenn ich da an Chesters Mobbingaktionen oder an das Schicksal seiner Eltern dachte, über das alle zu sprechen schienen, konnte ich mir auch vorstellen, warum. Ich hatte keine Ahnung, wieso, aber irgendetwas drängte mich dazu, ihm dabei zu helfen, ein winziges Stückchen aus der dunklen Tiefe seiner Gedanken zu entkommen. »Wir könnten uns vorher auch ein Eis bei Antoine’s holen, er hat die abgefahrensten Kreationen in seinem Laden.«

Endlich nickte Jackson, seine Stimme war immer noch vorsichtig: »W-warum nicht?«

»Toll! Ich freue mich!« Und als ein zaghaftes Lächeln auf Jacksons Lippen erschien, wurde meines nur umso größer.

KAPITEL 3

Jackson

Die Tür fiel hinter mir ins Schloss, schluckte das wirre Durcheinander von draußen und sperrte die Hektik für einen winzigen Moment aus. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, ehe mein Kopf begann, sich um zusammenhanglose Gedanken zu drehen. Gedanken, die keinen Platz mehr in meinem Leben hatten. Denen ich keinen Platz mehr geben wollte. Deshalb war ich zu jemandem geworden, der dem Stress und dem Druck verzweifelt hinterherlief, weil sie das Einzige waren, das diese Erinnerungen im Griff hielt.

Ich durchquerte den Toilettenraum und stellte mich vor den wandbreiten Waschtisch. Der Spiegel zeigte mir einen erfolgreichen Unfallchirurgen, der sich seinen Platz in diesem Krankenhaus und dem Leben hart erkämpft hatte. Doch das war nur die äußere Schicht, das, was ich andere glauben lassen wollte, und meine Taktik war ziemlich gut aufgegangen. Bis jetzt. Das heiße Pulsieren der alten Narben war nun deutlich zu spüren, steigerte sich jeden Tag ein wenig mehr.

Ich wusch mir die Hände und lehnte mich gegen den Waschtisch, ehe ich mein Smartphone aus der Tasche meines weißen Kittels zog. Dreizehn Anrufe in Abwesenheit. Und das allein heute. Dass ich nicht drangegangen war, hatte ich auf meinen Job geschoben und darauf, dass die gesamte Woche in der Notaufnahme besonders stressig gewesen war. Ich hatte seit fast vierundzwanzig Stunden weder anständig gegessen noch mich ausgeruht, doch in diesem Moment hatte ich keine Ausrede mehr.

Als hätte Mildred es am anderen Ende des Landes gehört, leuchtete das Display auf und zeigte einen neuen Anruf an. Ich wappnete mich innerlich gegen dieses furchtbar unangenehme Gespräch, das sich nur wieder darum drehen würde, wann ich meine Tante in New Hope besuchen kam. Niemals. Niemals wieder würde ich einen Fuß in diese Stadt setzen. Auch wenn Weihnachten vor der Tür stand und sich alles in mir sträubte, sobald ich nur daran dachte, noch ein Jahr allein mit einer Flasche Rotwein und einem Dinner aus dem Feinkostladen um die Ecke zu Hause zu sitzen und nichts zu tun.

»Hallo, Millie«, sagte ich, nachdem ich endlich abgenommen hatte.

»Jackson!«, rief sie so aus, als würde sie allein mit meinem Namen all ihren Unmut darüber herauslassen können, dass ich nicht ans Handy gegangen war. Meine Tante war eine ganz spezielle Frau. Sie war meist übellaunig, mochte die meisten Menschen nicht und lebte am liebsten allein mit ihrem Leguan Eugene am Rande der Kleinstadt, was nicht sehr förderlich für das Pensionsgeschäft und neue Gäste war. Doch ich wusste, dass ich ihr tatsächlich irgendetwas bedeutet hatte. Nach dem Tod meines Dads und ihres Bruders war sie die einzige Verwandte, die ich damals mit fünfzehn noch gehabt hatte. Es tat mir leid, dass ich sie nach meinem Umzug zurück nach Chicago regelmäßig vertröstete und ihr nicht den Dank geben konnte, den sie verdient hatte, weil sie mich mitten am Tiefpunkt meines Lebens aufgenommen hatte. »Wieso gehst du nicht an dein Telefon?«

»Ich bin noch im Krankenhaus«, erwiderte ich, als würde das alles erklären.

Sie schnaubte nur. »Es ist Freitagabend! Geh aus, triff dich mit Leuten in deinem Alter! Du bist immer auf der Arbeit, Junge.« Da hatte sie recht. »Dieser Job wird dich noch ins Grab bringen.«

»Und du rufst an, weil du mir das mal wieder sagen wolltest?«, erwiderte ich genervt, irgendwie konnte ich das nicht ablegen. Diese Ablehnung, die sich auf alles, was mit New Hope zu tun hatte, bezog. Selbst meiner Tante gegenüber.

»Ja, unter anderem«, meinte sie. »Aber eigentlich wollte ich dir mitteilen, dass du deinen Hintern endlich wieder hierherbewegen solltest.«

Laut seufzte ich. »Millie, das …« Erneut wallte das alte Gefühl der Unzulänglichkeit in mir auf; das Gefühl zu versagen. Worte wirbelten durch meinen Kopf, fielen übereinander und verschluckten sich. Ich räusperte mich. »Du weißt, dass ich keine Zeit habe. Das Krankenhaus braucht mich.«

»Papperlapapp!«, fuhr sie mich an. »Du wirst nicht der einzige fähige Arzt dort sein. Auch du hast Urlaub verdient. Wahrscheinlich hast du, seitdem du dein Studium beendet hast, noch niemals richtig freigemacht!«

Ich ballte die Hand zur Faust und lockerte meine Finger wieder. Natürlich war meine Tante angefressen, weil ich sie nie besucht hatte. Es waren elf Jahre vergangen, in denen wir uns nicht mehr persönlich gesehen hatten. Elf lange Jahre. Und ich hatte keine Ahnung, wie lange ich Millie noch vertrösten konnte.

»Ich mache dir deine Entscheidung einfach: Ich verkaufe die Pension«, verkündete sie plötzlich.

»Du tust was?«, fragte ich schockiert. »Die Pension ist dein Zuhause.«

»Ja, ein Zuhause, das mich einsperrt und kaum noch Gäste hat.«

Ich hatte immer angenommen, meine Tante wohnte gern abgeschottet. Aber so, wie es sich jetzt anhörte, klang es nach etwas ganz anderem.

»Ich habe mein gesamtes Leben für diese Pension gegeben, und jetzt habe ich genug. Ich bin achtundsechzig und habe mir vorgenommen, die Welt zu bereisen.«

»Die Welt?«, fragte ich, da ich immer noch keine Ahnung hatte, ob sie sich einen Spaß mit mir erlaubte oder das ernst meinte.

»Die Welt, Junge! Eugene und ich legen nächste Woche los!«

»Nächste Woche?«

»Sag mal, sind bei dir ein paar Sicherungen durchgebrannt, oder ist der Empfang auf deiner Seite schlecht? Wieso wiederholst du alles, was ich sage? Ja, zum Teufel, nächste Woche!«

»Und du möchtest mich noch einmal sehen, ehe du abreist?«

»Sehen und den Vertrag mit meinem Anwalt aufsetzen.«

»Welchen Vertrag?« Meine Beine gaben ein winziges bisschen unter mir nach, und ich sackte noch enger gegen den Waschtisch. Ein Mann kam rein, nickte mir zu und verschwand in einer der Kabinen.

»Den zu der Übernahme natürlich. Du bist mein einziger Verwandter, und ich schenke dir das Big Mountain Inn.«

»Was soll ich denn mit dieser verdammten Pension?«, stieß ich gedämpft hervor. War Millie nun völlig übergeschnappt?

»Sie übernehmen.«

»Millie, ich habe einen Job. In Chicago! Ich kann hier nicht einfach weg und eine Pension führen.«

»Ich habe mir bereits gedacht, dass du so darüber denkst.«

»Was hast du denn erwartet?«

»Genau das. Aber Jackson, du kannst nicht ewig davonlaufen.«

»Ich muss vor nichts davonlaufen«, erwiderte ich leise. Der Mann kam aus der Kabine und ging zum Waschtisch. Ich wich ihm aus, damit er sich die Hände waschen konnte. Dabei drückte ich mir fest den Hörer gegen das Ohr. »Und ich kann deine Pension nicht übernehmen.«

»Das bist du mir schuldig!« Bingo. Volltreffer in mein schlechtes Gewissen, das sich selbst immer weiter aufrieb wie die losen Fäden eines kaputten Pullovers, den man ständig trug. »Ich bin nur hiergeblieben, weil ich die Hoffnung hatte, du kommst eines Tages zurück«, meinte sie leise. Ihre Stimme zitterte, und ich wusste, es fiel ihr nicht leicht, so ehrlich zu sein. Mildred war der stärkste und verschlossenste Mensch, den ich kannte. Sie zeigte ihre Emotionen nicht. Dass sie es in dieser Situation tat, bedeutete, dass es ihr wirklich am Herzen lag, dass ich kam.

Und trotzdem fühlte es sich an, als würde ich gegen eine unsichtbare Mauer laufen, die mich einfach nicht vorbeiließ. »Ich kann nicht, Millie.«

Ich hörte, wie sie stoßweise ausatmete, und wartete darauf, dass sie noch irgendetwas zu mir sagte, während ich an meiner Unterlippe kaute. Doch Mildred war kein Typ fürs Flehen, und schon gar nicht fiel sie vor jemandem auf die Knie, um ihn um etwas zu bitten. Sie legte einfach auf. Und als ich das gleichmäßige Freizeichen vernahm, kroch der alte Schmerz in meinem Innern aus seinem Versteck und wühlte sich kriechend durch meinen Körper. Ich ließ mein Smartphone in meine Kitteltasche fallen und stürzte zu einer der Toiletten. Mit einem Schwall übergab ich mich. Säure ätzte brennend meine Speiseröhre hinauf, aber der Schmerz blieb fest in mir stecken. Erneut musste ich würgen.

»Alles in Ordnung?«, hörte ich den Mann hinter mir und kickte die Tür zu. Ich wollte nur eines: in Ruhe gelassen werden. Von der gesamten Welt.

Damals

Ich war noch nicht lange in der Stadt, doch ich merkte jetzt bereits, wie anders New Hope im Gegensatz zu einer Großstadt war.

Während es in Chicago eine riesige Thanksgiving-Parade gab, bei der haufenweise aufwendig gestaltete Festwagen durch die Straßen fuhren und Tausende von Menschen diese am Rand beobachteten, war hier alles ein wenig … ungewohnt.

Hier tummelten sich auch einige Leute, aber alles war weniger groß, weniger pompös, weniger so, wie ich es gewohnt war.

»Hey, komm mit, das Kürbiskuchenwettessen fängt gleich an!« Brax zog mich an meinem Arm weiter. Eine große Wiese in der Nähe der Innenstadt war für die Tage rund um Thanksgiving zu einem Volksfest umgewandelt worden. Es gab Losbuden, mit denen man Dinge wie Essensgutscheine im Restaurant Wang oder einen Blumenstrauß bei der Floristin Marcy gewinnen konnte, Spiele, bei denen es Süßigkeiten und Kuscheltiere zu gewinnen gab, und einige Essensstände.

»Nein, auf keinen Fall bekommst du mich da rein!«, vernahm ich eine Stimme vom Rand.

»Moment«, flüsterte mir Brax grinsend zu und wurde langsamer. Ich kannte noch nicht jeden Einzelnen hier im Ort und war genau genommen froh, Brax an meiner Seite zu haben, falls einer aus unserer Schule auftauchen würde. Aber hier schien es ungefährlich zu sein. Mein Blick glitt zu dem Supermarktbesitzer Phil und dem Bürgermeister Archibald, die neben einem der Stände standen und sich unterhielten. Phil hatte die Arme vor der Brust verschränkt, während Archibald genervt die Augen verdrehte.

»Es ist doch nur für eine halbe Stunde!«

»Eine halbe Stunde zu viel!«, erwiderte Phil abweisend. »Ich hab dir im letzten Jahr schon gesagt, such dir jemand anderen!«

»Jetzt stell dich nicht so an!«, erwiderte Archibald und zog einen gigantischen Kopf in Form eines Truthahnes aus einer schwarzen Tasche. Ein passendes Kostüm folgte, und Brax verkniff sich schnaubend sein Lachen.

»O Gott, wenn die anderen erfahren, wer die ganzen letzten Jahre wirklich der Truthahn war«, flüsterte er.

»Komm schon, die alljährliche Truthahnsuche ist das Highlight der gesamten Stadt!«

»Und ich habe dir schon gesagt, dass ich das nicht mehr machen werde! Es ist stickig, ich schwitze und kriege keine Luft in dem Teil.«

Plötzlich ruckte ihr Blick zu uns. »Hey, habt ihr uns belauscht, ihr Bengel?«, rief der Bürgermeister und ging einen Schritt auf uns zu.

Brax packte mich fester am Arm und lachte laut los. »Los, renn!«

Wir liefen los und hörten noch die Rufe der anderen beiden hinter uns, doch es war uns egal. Ich bekam Seitenstechen, weil ich nicht rennen und gleichzeitig lachen konnte, und zum ersten Mal seit vielen Wochen, die hinter mir lagen, ging es mir annähernd so etwas wie gut.

Wir wichen Leuten aus, durchquerten schmale Gänge zwischen einzelnen Ständen, ehe wir schwer atmend hinter einer der Buden stehen blieben. Ich stützte die Hände auf die Oberschenkel und versuchte, wieder zu Atem zu gelangen.

»Das … war …«, stieß Brax keuchend hervor. »Unglaublich witzig! Ich muss das sofort Gray erzählen!«

Plötzlich erklang eine Durchsage, die mitteilte, dass das Wettessen gleich begann. Brax hatte mir erzählt, dass seine Familie riesige Kürbisse von ihrer Ost- und Gemüsefarm gespendet hatte, aus denen einige Bewohner der Stadt Kuchen für den Wettbewerb gebacken hatten. Brax durfte in diesem Jahr zum ersten Mal ebenfalls daran teilnehmen.

»O Mist, komm, es ist nicht weit!«

»I-ich ko-omme nach«, erwiderte ich und war immer noch völlig aus der Puste. Vielleicht sollte ich hin und wieder doch ein wenig Sport machen und könnte so den anderen dann endlich einmal etwas entgegensetzen.

»Okay, beeil dich, bevor es beginnt!«

Ich nickte, und Brax verschwand hinter der nächsten Ecke. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die hintere Wand eines Standes und genoss den kurzen Augenblick für mich, ehe ich mich erneut dem Getümmel der Stadt stellte.

»Hey.«

Mein Blick glitt nach links zu der Stelle, wo plötzlich Cassie auftauchte. Sofort nahm mein Herzschlag an Geschwindigkeit zu. Ich hob die Hand und versuchte mich an einem scheuen Lächeln.

»Ich hab dich vorhin schon gesehen, aber du und Brax wart auf einmal weg.«

Nachdem wir uns in Mr. Clauses Laden getroffen und verabredet hatten, drehten sich meine Gedanken um nichts anderes mehr als um Cassie. Doch mir fehlte der Mut, sie erneut um ein Treffen zu bitten. Verdammter Feigling.

»Wi-wir mussten u-uns beeilen«, erwiderte ich. »Das Kürbiswettessen.«

»Klar, Brax lässt seit Tagen jeden in der Schule wissen, wie viel er dafür trainiert hat«, erwiderte sie lächelnd, kam näher und lehnte sich neben mir an.

Fast berührte ihre Schulter meine, so nah waren wir uns. Ich wandte beschämt den Blick auf den Boden und fixierte meine Schuhspitzen, weil ich keine Ahnung hatte, was ich sagen oder tun sollte.

»Hier.« Sie hielt mir einen Knochen entgegen, und ich wusste noch weniger, was ich darauf antworten wollte. »Ein Wunschknochen. Ist zwar kein echter, auch wenn Mrs. Wang mir das an ihrem Stand weismachen wollte, aber vielleicht funktioniert er ja trotzdem.«

Ich kannte diesen Brauch, weil ich jedes Jahr an Thanksgiving mit meinem Dad den Knochen unseres Truthahnes gebrochen hatte. Wer das größere Stück hatte, durfte sich etwas wünschen. Sofort drückte mich eine schwere Last nach unten.

»Willst du ihn mit mir brechen?«

Ich schaute sie an. Normalerweise tat man dies nur mit einer Person, die man ganz besonders mochte, das zumindest hatte mir mein Vater immer gesagt.

Ich nickte und hakte den kleinen Finger in das freie Ende. Cassie schloss die Augen, und gemeinsam zogen wir den Knochen auseinander. Er brach, und für einen Moment schaute ich Cassie an, nicht auf das Ergebnis in unseren Händen.

Sie öffnete die Lider, und sofort erhellte ein Lächeln ihre Züge. »Sieh nur, du darfst dir was wünschen!«, sagte sie jubelnd.

Ich fixierte das Knochenstück in meiner Hand. Ein Wunsch. Gott, ich hatte einige, doch einer davon war ganz besonders groß. Ich wollte nur glücklich sein. Irgendwann.

KAPITEL 4

Cassie

Der frische süße Duft des Blumenstraußes auf meinem Schreibtisch hatte sich in meinem gesamten Büro verteilt. Ich liebte diesen Geruch und besorgte deshalb jede Woche einen neuen Strauß bei Curtis.

In Gedanken strich ich über die rot marmorierten Blätter der Amaryllis. Der Winter in New Hope war für mich immer mit Schmerz und Freude gleichermaßen verbunden. Ich mochte es, wenn die Sonne den Schnee glitzern ließ, oder Weihnachten mit meiner Familie und Freunden zu verbringen, und dennoch hielten schmerzvolle Erinnerungen mich in dieser Zeit gefangen. In den helleren Monaten war es einfacher, nicht über die Dinge zu grübeln, die man verloren hatte.

Ich widmete mich den letzten E-Mails des Tages. Seit einiger Zeit musste ich leider beobachten, dass das Geschäft rückläufig war und ich Mühe hatte, genug Objekte für mein Immobilienmaklerbüro zu finden. Doch ich tröstete mich damit, dass es immer eine Phase gab, in der das Leben bergab rauschte, ehe es wieder aufwärtsging. Im Frühjahr sah die Lage sicherlich ganz anders aus, und bis dahin brauchte ich nicht viel zum Leben; außer meinen Blumeneinkäufen und einem wöchentlichen Besuch in Midges Café Books & Cakes, um mir meine Ration Karottenkuchen mit Zimtlatte abzuholen.

Ich schaute auf die Uhr, denn ich musste unbedingt los, um rechtzeitig zum Abendessen bei meinen Eltern zu kommen. Meine Mom hatte mir extra heute Morgen noch eine Nachricht geschrieben, dass ich auch wirklich pünktlich zu sein hatte. Meine Güte, ich war immer pünktlich und hatte das dumpfe Bauchgefühl, dass es einen Grund gab, weshalb sie so aufgewühlt war. Ich hoffte nur, dass es nicht mit mir und einem neuen Verkupplungsversuch zu tun hatte. Vielleicht hatten meine Eltern endlich die Reise gebucht, auf die sie schon so lange ein Auge geworfen hatten, und sie war deshalb so aufgeregt. Ich wollte definitiv nicht daran denken, dass meine Mom meine Hochzeit bereits seit Jahren geplant hatte und nur auf den richtigen Moment wartete, ehe sie den dicken Ordner, der in der Kommode im Wohnzimmer lag, herausholen konnte. Ich war neunundzwanzig, betrieb ein eigenes Geschäft und hatte gute Freunde, auf die ich mich verlassen konnte. Was kümmerte es da schon, dass es schwierig war, in der Kleinstadt einen passenden Mann zu finden? Ich machte mir wirklich um andere Dinge Gedanken.

Ich schaltete meinen Computer aus, packte einige Besichtigungsunterlagen, die ich mir später noch mal ansehen wollte, in meine cremefarbene Ledermappe und steckte sie in meine Tasche. Als ich mir im Eingangsbereich meinen Mantel anzog, glitt mein Blick durch die hohe Glastür nach draußen. Es war bereits dunkel, und dicke Flocken fielen durch den sanften Schein der Straßenlaternen. Mein Büro war im unteren Stockwerk eines Wohnhauses eingerichtet. Es war vor fünf Jahren ein absoluter Glücksgriff und der Anstoß für mich gewesen, mich selbstständig zu machen, was ich bis heute nicht bereut hatte. Auch wenn das Geschäft immer schwieriger wurde anstatt einfacher, hatte ich meinen Traumjob gefunden. Ich liebte es, Menschen ein richtiges Zuhause zu suchen, das perfekt zu ihnen passte und in dem sie sich wohlfühlen und wirklich ankommen konnten.

Ich lief nach draußen und schloss meinen Laden ab, ehe ich meinen Wagen erreichte und fünfzehn Minuten später vor dem Haus meiner Eltern parkte. Es war ein hübsches kleines Gebäude mit grünen Fensterläden und einer Fassade aus hellbraunen Holzlatten. In dem Garten hinter dem Haus hatte man einen direkten Blick auf die Gebirgsketten, die den Ort umgaben. Als Kind hatte ich es geliebt, stundenlang auf dem Rücken im Gras zu liegen und in den Himmel zu starren. Mit meiner Freundin Ginger hatte ich mir die wildesten Sachen zu den Wolkenformationen einfallen lassen und den ersten Drang entwickelt, diese Eindrücke für immer auf Papier zu bannen.

Ich kramte meinen Schlüssel aus der Tasche und ging auf mein Elternhaus zu. Mein Dad hatte bereits den Weg von Schnee befreit und Salz gestreut, was mir in meinen hohen Stiefeln sehr gelegen kam. Fröstelnd betrat ich den Flur, und der warme Geruch von Kaminfeuer drang mir entgegen.

»Mom? Dad?«, rief ich, zog meinen Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe. Danach zog ich die Stiefel aus und schlüpfte in meine weichen Pantoffeln, die ich immer daheim trug. »Ich bin da!«

»Wie schön!« Meine Mom kam aus der Küche geeilt und rieb sich die Hände an einer gepunkteten Schürze ab. Darunter trug sie ein feines Etuikleid, und ihre Haare hatte sie sich aufwendig an den Seiten nach oben gesteckt. O nein.

»Wieso hast du dich so herausgeputzt? Kriegen wir noch Besuch?«, fragte ich sofort misstrauisch.

Sie lachte ein wenig ertappt. »Ich weiß nicht, was du meinst, Cassidy!«, antwortete sie schnell und bugsierte mich ins Wohnzimmer. Mein Dad saß mit einer Zeitung in der Hand auf dem Sofa und sah auf, als wir den Raum betraten. Er schob seine Brille in sein grau meliertes Haar und zog skeptisch eine Augenbraue nach oben, während meine Mom erneut angespannt murmelnd in der Küche verschwand.