New Hope - Das Gold der Sterne - Rose Bloom - E-Book
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New Hope - Das Gold der Sterne E-Book

Rose Bloom

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Beschreibung

Liebe passiert, wenn du nicht damit rechnest Lake ist das Nesthäkchen der Familie Campbell, stets gut gelaunt und ein richtiger Freigeist. Obwohl sie ihren Platz im Leben noch nicht gefunden hat, weiß sie, dass sie nirgendwo anders als in New Hope sein möchte. In der Kleinstadt inmitten der Sierra Nevada mit ihren kauzigen Bewohnern liegen ihre Wurzeln. Auf ihr Zuhause lässt sie nichts kommen! Für Lake ist es daher unbegreiflich, dass der berühmte Musiker Wyatt, der sich auf der Obst- und Gemüsefarm ihrer Eltern von negativen Schlagzeilen erholen soll, so eine Abneigung gegen New Hope hat und wie er so grummelig sein kann. Vom ersten Aufeinandertreffen an fliegen zwischen ihr und Wyatt die Fetzen – und die Funken … »New Hope zieht nicht nur den sexy Musiker Wyatt Lanter in seinen Bann, auch ich bin diesem Ort und seinen liebenswerten Bewohnern restlos verfallen und blicke sehnsüchtig Band 2 entgegen.« Ivy Andrews Der Auftakt der gefühlvollsten Romance-Reihe des Jahres – herzerwärmend, witzig, einfach fesselnd

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Seitenzahl: 459

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Originalausgabe © 2021 by Rose Bloom © 2021 by MIRA Taschenbuch in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover. Covergestaltung von Zero Werbeagentur, München Coverabbildung von Patrick Lienin, tomertu, Nella, dwph, Deny Wahyudi, Emre Tarimcioglu / Shutterstock E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783745752809

www.mira-taschenbuch.de

Widmung

Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende.

Demokrit

Kapitel 1

Lake

Ich atmete tief ein und kräftig wieder aus. Mit einer geschmeidigen Bewegung wechselte ich von der Kobra-Position in den herabschauenden Hund. Das Rauschen des Windes, der die dichten Kiefern des Waldes umspielte, begleitete meine Atmung, und die Energie floss durch meinen Körper. Ein Specht klopfte im gleichmäßigen Takt an einen Baumstamm, Sonnenstrahlen erhellten die Lichtung, wo ich auf meiner Matte so gut wie jeden Morgen meine Übungen vollführte, und Wärme durchdrang mich.

Das hier war mein Kraftort, meine Tankstelle und mein liebster Platz auf der ganzen Welt.

Ich war frei. Ich war zufrieden. Ich war stark.

Mit neuem Elan beendete ich den Sonnengruß, der fester Bestandteil meiner morgendlichen Yogaeinheit war, trank einen Schluck Wasser und packte meine Sachen zusammen, um zurück zum Haus zu gehen. Ich liebte das kitzelnde Gefühl des weichen Grases unter meinen nackten Fußsohlen, und ein Lächeln lag auf meinen Lippen, bis ich aus der Lichtung trat und mir meine flachen Sandalen anzog. Heruntergefallene Kiefernnadeln überdeckten den dichten Waldboden, und mit einem Satz sprang ich über einen umgefallenen, mit Moos bedeckten Baumstamm.

Wenn sich der gesamte Tag nur so anfühlen könnte wie der Morgen. Doch leider stand weit mehr auf meiner heutigen To-do-Liste als Yoga. Wenigstens war heute Donnerstag, und mir würde der Spott meiner beiden älteren Brüder Braxton und Graham wegen meiner neusten Kündigung erspart bleiben, der mich fast immer erwischte, wenn wir uns sonntags mit der gesamten Familie zum Abendessen trafen.

Dabei war der letzte Job in der Touristeninformation des Nationalparks wirklich nichts für mich gewesen. Zumindest fernab des Empfangs, denn mit den Besuchern kam ich ganz gut klar und hatte meine Freude daran, Ausflugstipps weiterzugeben und von der wunderschönen Gegend hier zu erzählen. Aber diese Stelle war mit Buddy Barlow bereits belegt, und ich war einfach nicht der Typ, der stundenlang auf einem Stuhl sitzen, Papierkram wälzen und den Büroalltag organisieren konnte. Das Problem war nur, dass ich schon so viele Dinge ausprobiert hatte, dass ich überhaupt nicht wusste, welcher Beruf für mich geeignet war. Sofort verdunkelten sich meine Gedanken, und ich fluchte innerlich darüber, dass ich nicht die Gelassenheit meiner Mutter besaß. Oder dass ich schon wieder fluchte. Ein Teufelskreis.

Ich überquerte eine Wiese mit gelb blühendem Frauenmantel vor dem Wald, lief durch die angelegten Apfel- und Orangenbäume an unserem Gewächshaus und den Gemüse- und Kräuterbeeten hinter unserem Haus vorbei und entdeckte meine Mom kniend vor einem davon. Während sie leise vor sich hin pfiff, zupfte sie Löwenzahnblätter von den Stängeln und legte sie in einen kleinen Korb mit bereits geernteter Petersilie. Ihre dunkelbraunen Haare, deren Farbe ich geerbt hatte, hatte sie wie so oft bei der Arbeit mit einem bunten Tuch nach oben gebunden, und in ihrem Gesicht lag ein Ausdruck absoluter Zufriedenheit, um die ich meine Mutter in diesem Moment beneidete.

Alice Campbell war die gute Seele von New Hope, der Kleinstadt im Tal des Mammoth Peaks in Kalifornien, in dem wir lebten. Ich liebte die umliegende, lebendige Natur des Yosemite-Nationalparks, die zahlreichen Seen, die dichten Kiefernwälder und die uralten Mammutbäume. Unter keinen Umständen konnte ich mir einen anderen Ort auf der Welt vorstellen, an dem ich wohnen wollte, und trotzdem hatte ich manchmal das Gefühl, nicht hierherzupassen. Keinen Beitrag zur Gemeinschaft leisten zu können, so wie es unsere Eltern meinen Brüdern und mir von klein auf gepredigt hatten.

Ich blieb neben ihr stehen. »Hey, Mom.«

»Hallo, Schatz, du bist heute früh auf und mit deiner Yogaeinheit fertig«, sagte sie und sah zu mir hoch, wobei sie mit der Hand die Augen gegen die Morgensonne abschirmte.

»Ich konnte nicht schlafen.« Ich legte die Matte, Trinkflasche und meinen Pulli ins Gras und setzte mich neben sie. Kurz überlegte ich, sie um Rat zu meinen negativen Gedanken zu fragen, ließ es dann aber bleiben.

Nachdem ich die Ärmel meines grauen Longsleeves hochgekrempelt hatte, begann ich, ihr zu helfen, die Löwenzahnblätter zu pflücken. Für einen Moment herrschte behagliches Schweigen zwischen uns, und ich bekam den Kopf wieder etwas frei, während das Zwitschern der Vögel und das sanfte Plätschern des Flusses am Ende unseres Grundstückes mich erdeten. Auch wenn ich kein Wort mit Mom wechselte, schaffte sie es, mich und die gesamte Familie allein mit ihrer Anwesenheit zu beruhigen. Irgendetwas an ihrem Duft nach den Räucherstäbchen im Haus und ihrer Gelassenheit gab ihr die Fähigkeit, jeden Zwist mit einem Lächeln schlichten zu können. Das war ihre Superkraft, die sie auch schon in unserer Kindheit eingesetzt hatte, wenn meine Brüder und ich uns wegen Kleinkram in den Haaren gelegen hatten. Vor allem Brax, der Mittlere von uns, und ich hatten bei unseren Streitereien über Dinge, wie die Bestimmung des Fernsehprogramms oder wer morgens zuerst ins Bad durfte, schon manchen Gegenstand in unserem Haus zerdeppert.

»Manchmal ist es, wie es ist. Aber es wird, was du daraus zauberst. Mach dir keine Sorgen, Vögelchen«, schenkte sie mir eine ihrer üblichen Lebensweisheiten, und ich lächelte. Sie legte ihre Hand auf meinen Oberschenkel. Weil meine Mutter sich fast nur draußen an der frischen Luft aufhielt, war ihre Haut von der Frühlingssonne schon jetzt gebräunt. »Wenn du über irgendetwas sprechen möchtest, weißt du, dass du zu mir kommen kannst, oder?«

»Ja, Mom, danke.« Ich zögerte immer noch. Ich war vierundzwanzig Jahre alt und nicht imstande, etwas ohne meine Mom zu regeln. Was sagte das über mich aus? »Aber wieso bist du so früh hier?«, lenkte ich ab und warf eine Handvoll grüner Blätter in den geflochtenen Henkelkorb, der am Ende des Beetes stand.

»Dein Dad war noch nicht wach, und ich wollte ihn mit Petersilien-Pfannkuchen überraschen. Bis ich den perfekten Löwenzahn hier entdeckt habe. Mrs. Appleworm hat immer noch Probleme mit ihrer Galle. Ich mache einen Tee daraus, das wird ihr helfen.«

Natürlich. Mom sah kein Unkraut, sie erkannte Möglichkeiten. Noch ein Punkt, den ich an ihr liebte.

»Der Apfelkuchen von gestern ist bereits ausverkauft. Heute Morgen backe ich noch einen Rhabarberkuchen für Midge und bringe ihn ihr später vorbei. Wenn du magst, halte ich danach bei Mrs. Appleworm und gebe ihr den Tee.«

»Oh, das ist sehr lieb, auch dass du Midge zur Hand gehst!«

»Ja, Josh ist seit gestern nicht da, und sie hat im Moment ganz schön zu tun.«

»Oh, ist Josh eigentlich krank?« Meine Mom sorgte sich immer um andere, aber ich konnte sie umgehend beruhigen.

»Nein, soweit ich weiß, muss er sich um seinen Dad in Carson kümmern und weiß noch nicht genau, wann er zurückkommen kann.«

»Dann hoffen wir mal, dass es ihm bald wieder gut geht. Ich bin stolz auf dich, Schatz, dass du deiner Freundin hilfst.«

Meiner Mom war es egal, welchen Job ich hatte, für sie blieb ich immer das kleine Nesthäkchen, das kaum etwas falsch machen konnte. Einerseits war dieser Umstand schön, doch es war an der Zeit, endlich meinen Weg zu finden, damit sie wirklich stolz auf mich sein konnte. Wenn dieser nur nicht aus so vielen Abzweigungen bestehen würde, sodass es mir schwerfiel, die richtige von der falschen unterscheiden zu können …

»Soll ich dir noch ein wenig helfen?«

»Nein, nein, back du ruhig den Kuchen, ich komme gleich rein!«

»Okay, bis gleich, hab dich lieb«, erwiderte ich, gab ihr einen Kuss auf die Wange und stand auf.

»Ich dich auch.«

Als ich auf unser Haus zuging, bemerkte ich mal wieder, wie schön wir es hier hatten. Wir wohnten ein Stück von der Innenstadt entfernt direkt an einem dichten Kiefernwald und waren umgeben von Wildblumenwiesen, einem rauschenden Fluss, den Blick auf umliegende schneebedeckte Wipfel und viel Ruhe. Seitdem meine Brüder ausgezogen waren und ich hier allein mit meinen Eltern lebte, war es zwar manchmal sehr still, allerdings niemals langweilig. Mit dem Grundstück, den Streuobstwiesen und den Beeten hatten wir immer etwas zu tun. Außerdem kamen Graham und Brax oft zu Besuch, und ich fuhr auch recht häufig zu ihnen. Zumindest zu Brax in seine Schreinerei Woodworker, denn Graham wohnte abgeschottet auf der anderen Seite der Stadt. Seine Waldhütte lag direkt an einem See, was ihm gefiel, da er nicht der Typ vieler Worte war und es bevorzugte, seine Ruhe zu haben. Wie ich hatte er die Liebe zur Natur von unserer Mom geerbt und konnte diese als Ranger im angrenzenden Nationalpark vollends ausleben.

Drinnen angekommen, umfing mich der orientalisch würzige Duft der Lieblingsräucherstäbchen meiner Mom, der im gesamten Haus hing. Ich schlüpfte aus meinen Sandalen, stieg die massive Holztreppe in den ersten Stock zu meinem Zimmer hoch und verstaute dort meine Yogamatte in einer Kommode. Dieses Teil mochte ich ganz besonders, denn Brax hatte es mir vor einigen Jahren aus einem Kiefernstamm gebaut und zum Geburtstag geschenkt. Mir gefiel es, dass sich mit dem Holz der Decke und der Einrichtung die warmen Töne der Natur auch hier drinnen wiederfanden. Die alten Dielen des Bodens knackten, als ich mein Zimmer durchquerte, mir etwas Frisches zum Anziehen aus dem Schrank nahm und in das angrenzende Badezimmer lief.

Unter der Dusche schloss ich die Augen, wusch die gesamte Negativität ab, die mich herunterzog, und trat erholt auf den weichen Vorleger. Nach dem Abtrocknen schlüpfte ich in einen bodenlangen Rock mit einem korallfarbenen Blumenmuster und streifte mir ein senfgelbes Shirt über, das ich mit einem Knoten ein Stück über meinem Bauch zusammenband. Meine Haare ließ ich offen an der Luft trocknen und ging anschließend hinunter in die Küche. Das Herz unseres Heims und der Ort, an dem wir, abgesehen vom Garten, die meiste Zeit verbrachten.

Der Duft von frisch gekochtem Kaffee erfüllte den Raum, während die Maschine vor sich hin gluckerte. Ich mochte den Geruch, auch wenn ich das Zeug nicht trank, aber er erinnerte mich an meinen Dad, der ohne seine morgendliche Ration nicht funktionieren konnte. Mit einer Zeitung saß er an dem ausladenden Eichentisch inmitten des Raumes und war völlig vertieft in einen Artikel.

»Guten Morgen, Dad.« Ich lief zu ihm hinüber, drückte meinem Vater einen Kuss auf die Wange und steuerte die Küchenzeile im Landhausstil an. Meine Mutter hatte zwei neue Töpfe mit Azaleen auf ein Ende der Arbeitsplatte gestellt, und bevor ich zum Kühlschrank ging, beugte ich mich nach vorn und inhalierte den Duft der rosafarbenen Blüten.

»Morgen«, brummte er, und ich musste grinsen. Graham hatte viel von ihm, vor allem morgens. Dad war – anders als Mom und ich – überhaupt kein Frühaufsteher, aber mit den Obstbäumen und den Beeten gab es immer etwas zu tun. Wir hatten nicht nur Abnehmer im ganzen Gebiet um die kalifornische Sierra Nevada, sondern belieferten auch einmal die Woche den Supermarkt in New Hope mit frischen Lebensmitteln. Selbstverständlich kamen bei uns auch nur Obst und Gemüse aus dem eigenen Anbau auf den Tisch. Dad hasste das frühe Aufstehen, doch er liebte den Job und Mom zu sehr, als dass er sich irgendwann jemals über die harte Arbeit beschwert hätte. Die beiden hatten sich auf dem College in Sacramento kennengelernt und früh geheiratet. Als meine Mutter mit Graham schwanger gewesen war, zogen sie zurück in Moms Heimatstadt, kauften das Haus und pflanzten die ersten Bäume. Ich war mir sicher, dass mein Vater keinen einzigen Tag bereut hatte, in New Hope mit seiner großen Liebe sesshaft geworden zu sein. Die beiden waren das Vorbild meiner rosafarbenen Märchenfantasie, und ich hoffte, ebenso einen Partner zu finden, der mich auch nach über dreiunddreißig Jahren Ehe noch so verliebt anschaute wie mein Dad meine Mom.

Bevor ich die Kühlschranktür aufzog, um die Zutaten für den Kuchen herauszusuchen, fiel mir auf, dass die Kaffeemaschine durchgelaufen war. Da Dads Tasse auf dem Tisch vor ihm leer war und sich kleine Flecken darauf befanden, nahm ich an, dass dies bereits seine zweite Kanne war. Er musste länger wach sein, als ich angenommen hatte.

»Trink nicht so viel davon, das Zeug fördert Bluthochdruck.«

»Sehe ich aus, als hätte ich Bluthochdruck?«, erwiderte er trocken, und ich beäugte ihn einen Moment. Er zog entspannt eine Augenbraue hoch und musste selbst grinsen.

»Ich bin keine Ärztin, aber ich würde behaupten, nein.«

»Na siehst du.« Er blätterte die Zeitung um. »Ist deine Mom noch draußen?«

»Ja, ich habe sie getroffen. Sie kommt gleich rein und macht dir Pfannkuchen, aber erzähl ihr nicht, dass du diese Info von mir hast.«

»Hm, gut, das wollte ich hören«, erwiderte er. Ich widmete mich wieder dem Innern des Kühlschranks und vernahm hinter mir das Rascheln der Zeitung. Auch wenn mein Dad und meine Brüder sich nicht unbedingt zu hundert Prozent daran hielten, ernährten meine Mom und ich uns vegetarisch. Wenn wir Milch und Eier bezogen, dann ausschließlich von der Groveland Farm in der Nähe der einzigen Pension, dem Big Mountain Inn. Für mich war das eine Möglichkeit, der Natur ein Stück zurückzugeben und auf sie zu achten. Unter keinen Umständen wollte ich, dass ein anderes Lebewesen für meinen Genuss starb. Außerdem lebten wir hier von der Landwirtschaft und dem Tourismus, und wenn beides nicht gefördert wurde, könnte die Zukunft unserer Kleinstadt New Hope ernsthaft auf dem Spiel stehen.

Ich sammelte Dinkelmehl, Milch, Zucker und Butter zusammen, bewunderte das satte Rot des Rhabarbers, dessen Ernte dieses Jahr durch diesen warmen Frühling besonders früh möglich war, und legte alles auf der Arbeitsfläche ab. Wie kaum jemand anderes stand Midge auf meinen Rhabarberkuchen und sicherte sich jedes Mal selbst ein großes Stück, bevor sie ihn in ihrem Café anbot. Ebenso musste ich zugeben, dass auch meine größte Schwäche mein Zuckerkonsum war. Auch wenn mir Backen ohnehin Spaß machte, war Midge eine meiner zwei besten Freundinnen, und ich würde sie niemals im Stich lassen – ob nun bei der Herstellung ihres Speiseangebots in ihrem Café oder bei welchen Dingen ich auch sonst gebraucht wurde. Als Inhaberin des Books & Cakes und mit einem hochbegabten Fünfjährigen war das Leben sowieso schon schwer genug. Auch wenn Josh, Midges Freund und Vater des kleinen Easton, alles tat, um sie zu unterstützen, und sich nach dem Kindergarten um ihn kümmerte.

Mal davon abgesehen, hatte ich im Moment ohnehin nichts anderes zu tun, und es würde mich ein wenig von dem Umstand ablenken, dass ich mir so schnell es ging einen neuen Job suchen musste. Hoffentlich diesmal auf Dauer.

Kapitel 2

Wyatt

Der Fahrtwind zerzauste mein Haar, während ich das Gesicht aus dem geöffneten Fenster reckte. Die Sommersonne fühlte sich warm auf meiner Haut an, und als die ersten Klänge des Countrysongs aus dem Radio drangen, erfüllte mich Glück.

»Guter Song, oder?« Ich sah hinüber zu meinem Dad auf dem Fahrersitz, der grinsend die Straße fixierte und mit der flachen Hand im Takt des Liedes auf das Lenkrad klopfte. Mir fiel auf, wie grau die Schläfen seines dunkelblonden Haares geworden waren. Lachfältchen umspielten seine Augen, in denen in letzter Zeit aufgrund seiner langen Arbeitsstunden in der Fabrik oft ein müder Ausdruck lag.

Nur in Momenten wie diesen hatte ich das Gefühl, er war wie früher. Lustig, glücklich und der beste Dad der Welt.

»Ja, Sir«, erwiderte ich, und mein Vater drehte die Lautstärke noch ein Stück höher, sang sogar ein paar Zeilen schief mit. Das Gesangstalent in der Familie wurde eindeutig an meinem Dad vorbeigereicht.

»Willie Nelson ist der King. Merk dir das, es gibt keinen Besseren«, rief er, und die Musik, die warme Luft und Zufriedenheit erfüllten den gesamten Innenraum. Ich wippte mit dem Kopf rhythmisch zum Song.

»Und Onkel Hank?«

Ausgelassen lachte mein Dad. »Hank wird einmal ein ziemlich großer Star werden. Trotzdem geht nichts über Nelson.«

Ich nickte mit einem Lächeln auf den Lippen. Dad hatte recht. Immer. Es hatte keinen Tag gegeben, an dem er gelogen oder seine Worte nicht gestimmt hatten. Unsere gesamte Familie stand schon immer auf Musik, und seitdem mein Onkel im letzten Jahr seinen ersten Nummer-eins-Hit als Countrysänger gelandet hatte, lief das Radio zu Hause ununterbrochen.

Wenn ich diesen Moment in dem Pick-up meines Dads mit den Klängen von On the Road again im Ohr rückblickend betrachtete, war er der schönste in meinem Leben. Ich war acht Jahre alt, hatte Träume, Hoffnungen und wusste nichts über die schlechten Seiten der Welt. Über falsche Freunde, Verlockungen und die Dunkelheit, die der Ruhm unaufhaltsam mit sich brachte.

Musik war alles für mich und fühlte sich an wie mein Schicksal. Ich hatte keine Ahnung, bei welcher Gabelung mein achtundzwanzigjähriges Ich diese Zuversicht verloren hatte. Ab wann es sich nicht mehr wie die Zukunft, sondern wie mein Untergang anfühlte.

Die Bilder meiner Erinnerung verwischten und versanken in den letzten Ausläufern meines Traumes. Ich versuchte, die Augen zu öffnen, aber die Lider klebten aneinander. Meine Hand wanderte zu meinem pochenden Schädel, und aus meinem Mund kam ein Keuchen, das sich eher wie der Laut eines tollwütigen Tieres anhörte.

»Na, Cinderella, ausgeschlafen?«

Diesmal schaffte ich es, meine Lider zu heben, brauchte jedoch einige Sekunden, um festzustellen, dass ich mich nicht mehr in dem Wagen meines Dads, sondern in meinem Apartment befand. Ich drehte den Kopf so langsam, wie ich konnte, von den grellen Sonnenstrahlen weg, die mich durch die breiten Fenster zu verbrennen drohten. Jede Bewegung ließ mich aufstöhnen.

Andreas Gesicht tauchte vor mir auf, und sie sah mich an wie ein ungezogenes Kind. In Zeitlupe richtete ich meinen Oberkörper auf und rieb mir mit den Handflächen über die brennenden Augen und die schwitzige Stirn. Ich schmeckte den faden Alkohol und kämpfte mit der Übelkeit, die in mir aufstieg. Konnte ich nicht einfach nur sterben?

»Hast du nicht etwas vergessen?«

Ich schaute hoch und erkannte dabei die Überreste der gestrigen Party in meinem Wohnzimmer. Leere Flaschen, ein hässlicher Fleck auf dem schweineteuren Teppich und Essensreste verteilt über den Glastisch vor der braunen Ledercouch, auf der ich nun zusammengesackt saß. Fuck. Ich hatte einen totalen Blackout.

»Was?«, brummte ich und tat so, als wäre der Anblick meines Apartments und vor allem wahrscheinlich mein eigener nicht verachtenswert. Als wäre alles in Ordnung. Wie immer.

»Das Shooting, das um elf angesetzt war?«

Aus dem Augenwinkel spähte ich auf die Uhr an der Wand meiner offenen Wohnküche, die neben zwei eingerahmten goldenen Schallplatten hing. »Sorry.«

»Oh wow, das ist alles? Du liegst um ein Uhr mittags auf deiner Couch und schläfst deinen Rausch aus, während ich versuche, dich zu erreichen. Weißt du, wie viele Menschen heute nicht bezahlt werden, weil du sie hängen lässt?«

Ich seufzte schwer darüber, dass ich Andi einen Wohnungsschlüssel für meine Abwesenheiten gegeben hatte, hievte mich hoch und richtete dabei den halb offenen Gürtel meiner Jeanshose. Andrea war mindestens zwei Köpfe kleiner als ich. Auch heute trug sie einen ihrer schwarzen Hosenanzüge, und auf ihrer cremefarbenen Seidenbluse war ein Marmeladenfleck zu sehen. Sie hatte sich schon mehrfach darüber beschwert, keine Zeit zum Frühstücken zu haben, aber in Wahrheit war sie einfach nur teuflisch ungeschickt. Plötzlich bemerkte ich die Zeitung, die sie in ihrer Hand hielt und mir nun an den nackten Oberkörper drückte.

»Ernsthaft? Eine Schlägerei in einer Bar?«

Ich blinzelte gegen das Brennen in meinen Augen an und nahm die Zeitung entgegen. Auf der Titelseite war ein verschwommenes Foto abgedruckt, das einen Typen und mich zeigte. Es war durch die hohe Glasscheibe meiner Stammbar von Weitem in genau dem Moment geschossen worden, als meine Faust in das Gesicht des Fremden krachte.

Dunkle Erinnerungsblitze vom gestrigen Abend durchdrangen mein vernebeltes Hirn, und ein Blick auf meine lädierten Fingerknöchel bestätigte das Bild, das sich formte. Genervt schmiss ich die Zeitung hinter mich auf das Sofa und schlurfte mit nackten Füßen über den kalten Marmorboden zur Küche. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so einen Durst gehabt! Zumindest fühlte es sich gerade so an. Ich stand kurz davor, meinen Pool draußen leer zu saufen.

»Du willst also nichts dazu sagen?«

»Würde es etwas ändern?« Meine Zunge klebte mir am Gaumen.

»Nein, doch ich bin deine Managerin, und die Etikette schreibt nun mal vor, dass ich eine Erklärung verlangen muss«, riss sie einen schlechten Witz.

Ich nahm eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank und lehnte mich an die weiß glänzende Küchenzeile, setzte den Flaschenhals an und stürzte den halben Inhalt in einem Zug hinunter. Das kühle Wasser löschte wenigstens ein bisschen den ätzenden Brand in meinem Innern. Während ich versuchte, auch hier das Chaos auf der Arbeitsplatte, bestehend aus haufenweise Verpackungen eines italienischen Edel-Lieferdienstes, Chipskrümeln und halb leeren Bier- und Ginflaschen, zu ignorieren, lief Andrea zu dem Barschrank im Wohnzimmer und schenkte sich einen Bourbon ein.

Auch wenn es erst kurz nach eins war, war sie keine Alkoholikerin. Genau genommen trank sie immer nur zwei winzige Schlucke, aber sie liebte den Duft davon. Torfig, rauchig, erdig, süß oder malzig. Sie konnte jeden Whiskey nur anhand seines Geruchs erkennen. Wahrscheinlich entwickelte man automatisch einen Spleen, wenn man ständig mit überheblichen Musikern zusammenhockte und Verträge in Millionenhöhe abschloss.

Sie drehte den Schwenker in ihrer Hand und roch daran. Als sie einen kleinen Schluck nahm und genüsslich die Augen schloss, wurde mir beim bloßen Anblick des Alkohols schon wieder übel.

»Hm, wenigstens kriege ich bei dir immer das gute Zeug.« Erneut nippte sie an ihrem Glas. »Pappy Van Winkle’s, zweitausendsieben, Special Edition. Scheiße, Wyatt, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, du magst mich doch, wenn du mir so eine Köstlichkeit anbietest.«

Ich bot ihr nie irgendetwas an, denn sie nahm sich ohnehin das, was sie wollte. So war sie einfach. Außerdem hatte ich noch keine Frau öfter fluchen gehört als Andrea McCollins.

Mein Blick wanderte über die dunklen Designermöbel und den glänzenden, hellen Boden nach links zu der raumhohen Fensterfront meines minimalistisch eingerichteten Luxusapartments, durch die ich eine grandiose Aussicht auf Los Angeles hatte.

Eine Stadt voller Möglichkeiten und vier Millionen Einwohner, von denen mindestens ein Viertel schon meine Konzerte besucht oder mit mir abends gefeiert hatte. Und trotzdem konnte ich nicht mal eine Handvoll davon in der gesamten verfluchten Stadt einen richtigen Freund nennen.

Um mich von diesen trübsinnigen Gedanken abzulenken, nahm ich mir eine Packung abgepackter Sandwiches und setzte mich damit an die Kücheninsel. Vielleicht beruhigte das meinen rotierenden Magen, aber etwas anderes hatte ich ohnehin nicht. Ich war kaum zu Hause, und wenn, bestellte ich mir Essen bei irgendeinem Lieferdienst in der Nähe.

Andrea kam zu mir und stellte das Glas vor sich ab. Der beißende Geruch von Whiskey und ihres herben Parfüms drang zu mir, und erneut unterdrückte ich ein Würgen.

Ich kaute in Zeitlupe, atmete konzentriert durch die Nase und ließ meinen Blick die Marmorarbeitsplatte entlanggleiten. Goldene Sprenkel zwischen schwarz-weißer Färbung. Besonders, doch ich hatte sie nicht ausgesucht, genauso wenig wie die restliche Einrichtung in diesem Apartment. Die Dinge, die mir wirklich was bedeuteten, passten nur in eine Gitarrentasche. Oder die, die mir zumindest einmal etwas bedeutet hatten.

»Vielleicht tut dir eine Pause gut«, sagte Andrea.

Verwirrt starrte ich sie an. »Was meinst du damit?«

»Du solltest dich für einige Zeit zurückziehen und Gras über all die Sachen wachsen lassen, die du dir im letzten Jahr erlaubt hast. Hast du deinen Aufenthalt im Krankenhaus vergessen? Verdammt, du kannst froh sein, dass die Presse nichts von diesem Abend erfahren hat. Nicht nur ich erkenne dich kaum wieder. Nach der Sache mit …«

Ich zog die Brauen zusammen, und Andrea verstummte, denn sie merkte meinen Stimmungsumschwung sofort. »Die Paparazzi werfen sich auf jeden noch so kleinen Skandal, merkst du nicht, dass du deinen Ruf aufs Spiel setzt?«

Ich lachte trocken auf und hatte keine Ahnung, ob das einer von Andreas bescheuerten Scherzen war. Sie war die schlechteste Witzeerzählerin der Welt und versuchte es trotzdem immer wieder. »Meinen Ruf. Das kann denen doch egal sein, Hauptsache, meine Musik ist gut.«

»Das ist es ja. Natürlich füllst du Hallen, und deine Songs werden gekauft, aber fühlst du dich dabei noch glücklich?«

»Was soll der Scheiß, Andi? Wenn du mich rauswerfen willst, mach es, und tu nicht so, als würde ich dir persönlich am Herzen liegen. Ein Haufen Manager würden sich für mich ein Bein ausreißen«, erwiderte ich laut. Wut sammelte sich in meinem Bauch und verdrängte den Kater der gestrigen Nacht. Im Grunde wollte ich keine andere Managerin. Andrea war wenigstens ehrlich, was eine Menge anderer Leute in unserer Branche nicht waren. Doch wenn sie mich jetzt wegen ein paar Partyabenden fallen lassen wollte, dann ging ich lieber freiwillig! Sie übertrieb maßlos!

»Nicht, wenn ihr Klient sich fast jede Nacht in Bars schlägt und nicht zur Arbeit kommt.«

Sie drehte das Glas in ihren Fingern und lehnte sich seitlich an die Kücheninsel. Nicht vieles brachte sie aus dem Takt, und auch jetzt wirkte sie entspannt. Keine Ahnung, woher sie diese Gelassenheit nahm, aber vielleicht hatte sie mich auch schon längst abgehakt. Wieder drängte sich das Gefühl an die Oberfläche, das ich an jedem Abend zu vergessen versuchte. Einsamkeit. »Ich schicke dich in den Urlaub.«

»Urlaub?« Ich zog die Augenbrauen zusammen und schmiss das angebissene Sandwich zurück auf den Teller. Es kam mit einem unappetitlichen Platschen auf. »Was meinst du damit?«

»Meine Schwester wohnt mit ihrer Familie in New Hope, einer Kleinstadt am Rande des Yosemite-Nationalparks, also in einer völlig ruhigen Gegend.«

»Du meinst im Nichts!«

»So kann man es auch ausdrücken.«

»Ich bin kein verdammter Teenager, den man in ein langweiliges Nest am Ende des Landes abschieben kann!«

»Wieso benimmst du dich dann so?«

Das hatte gesessen. Ich richtete mich auf. »Was ist mit den anstehenden Konzerten? Was ist mit dem Indie for Concert in Orlando? Die Veranstalter wollen mich als Hauptact!«

»Dann werden sie sich jemand anderen suchen müssen.«

»Das muss ich nicht mitspielen!« Als ich zu schnell aufsprang, verlor ich das Gleichgewicht und krallte mich mit den Händen an der Küchenplatte fest. »Raus!« Mit einer schwungvollen Bewegung deutete ich zur Tür. Mein Körper zitterte vor Zorn, und meine Kehle wurde eng. Ich hatte das Gefühl, jemand beraubte mich der Luft zum Atmen. Singen und Auftreten waren die einzigen beiden Dinge, die ich konnte. Ja, Musik war das Einzige, das ich wirklich noch hatte! Niemand besaß das Recht, sie mir wegzunehmen! Ich hatte nicht alles auf eine Karte gesetzt, um jetzt aus dem Geschäft gezogen zu werden wie ein Nichts!

»Gut, ich sehe dir nicht dabei zu, wie du dich selbst zerstörst. Viel Glück bei der Suche nach einem anderen Management.«

Sie schenkte mir ein trauriges Lächeln, und das Klackern ihrer Pumps hallte auf dem Marmorboden wider, als sie um mich herumging. Ich ballte die Hände zu Fäusten und ließ eine davon auf die Arbeitsplatte krachen. Der Schmerz lenkte mich von dem in meinem Innern ab. »Du erpresst mich.«

»Ich helfe dir«, antwortete sie und blieb stehen. »Wie mein Dad Duncan und ich deinem Onkel geholfen haben.«

Ihre Worte sickerten nur langsam in mein Hirn. »Nur leider hat das überhaupt nichts genutzt. Was ist ihm denn jetzt noch geblieben?«

Sie trat einen Schritt auf mich zu, und ich erkannte die Trauer in ihren Augen. »Weil dein Onkel sich nicht helfen lassen wollte. Denk drüber nach.« Damit wandte sie sich ab, und ich zuckte zusammen, als die Eingangstür hinter ihr ins Schloss fiel. Die Stille, die sich in meiner Wohnung ausbreitete, war furchtbar. Ich fühlte mich allein. Mit meinen Gedanken, dem Schmerz des Verlustes und der Leere in meinem Herzen, die sich immer weiter vergrößerte und mich irgendwann verschlingen würde.

Kapitel 3

Lake

Das Einzige, das mich von der gestrigen Standpauke meiner Brüder bei unserem Sonntagsessen ablenken konnte, war die wunderschöne Natur, die mich umgab. Der schmelzende Schnee vom Winter lief in schmalen Bächen die Berghänge hinab, die New Hope umsäumten. Als der kühle Wald nach einer Meile lichter wurde und nur noch vereinzelt Kiefern am Wegesrand standen, erkannte ich das blühende Meer aus Wildblumen auf den weiten Wiesen. Das satte Gelb des Hahnenfußes, das Lila der Hyazinthe, das kräftige Blau der Kornblume und noch viele Pflanzen mehr. Alle konnte ich anhand eines einzigen Blattes erkennen. Die süßen Suffolk-Schafe der Groveland Farm mit ihren schwarzen Beinen und Köpfen nickten in meine Richtung, als ich an ihrer Weide vorbeiradelte. Dahinter ragten die Wipfel des Yosemite-Nationalparks in den wolkenlosen Himmel. Ein Vogel zog seine Kreise, und ich blinzelte gegen die Sonne, während die Anzahl der Häuser mehr wurde und ich mit meinem Fahrrad die New Hope Road hinunter in die Innenstadt düste. Der Wind strich mir das Haar aus dem Gesicht, und ich war froh, dass er jetzt wärmer war als noch vor einer Woche. Ich mochte den tiefkalten Winter, die schneebedeckten Spitzen der Berge und Skiausflüge mit Braxton und seiner zehnjährigen Tochter Ruby, aber noch mehr liebte ich die erwachende Natur in dieser Jahreszeit. Der morgendliche Nebel wurde von Tag zu Tag lichter, und die immer kräftiger werdende Frühlingssonne schob sich über die gigantischen Bergketten und tauchte sie in einen goldenen Glanz. Der frische Duft von Kolorado-Tannen und Kiefern drang mir in die Nase, und ich atmete noch tiefer den Gegenwind ein.

Auch wenn ich unseren Pick-up hätte nehmen können, um mir den Berganstieg auf dem Rückweg zu ersparen, vermied ich es aus Rücksicht auf die Natur, unnötig Auto zu fahren. Außerdem hatte ich auf dem Fahrrad viel mehr das Gefühl, ein Teil der wunderschönen Gegend um uns herum zu sein. So ursprünglich und fast unangetastet war diese an immer wenigen Stellen im Land zu finden. Ich erspähte die ersten dicht beieinanderstehenden Häuser und verlangsamte mein Tempo. Da ich hier schon bereits mein gesamtes Leben wohnte, kannte ich so gut wie jeden Bewohner, jeden Stein und jede Ecke von New Hope. Ich hob die Hand, während ich an Mrs. Mills’ grasgrünem Holzhaus vorbeifuhr. Sie saß in ihrem Rollstuhl auf der Veranda, ihr alter Kater Lucifer auf dem Schoß, und winkte mir sofort zurück, als sie mich bemerkte.

Im Grunde gab es in New Hope außer eintausend Einwohnern, einer einzigen Hauptstraße, Wohnhäusern und ein paar Geschäften nicht sehr viele Dinge. Aber ehrlich gesagt brauchte ich nicht mehr, um glücklich zu sein.

Die wichtigsten Orte waren wohl der Supermarkt, die Polizeistation und gleichzeitig Feuerwehrwache, das Rathaus, Ginger’s Bar & Billard, in der es an den Wochenenden hin und wieder Live-Auftritte gab, die Highschool, Braxtons Werkstatt Woodworker, die beste Eisdiele im ganzen Staat Kalifornien und Midges Café Books & Cakes, auf das ich nun zusteuerte. Ich überquerte eine Kreuzung und hielt vor dem hohen Bürgersteig, stieg ab und hob mein Fahrrad in einen Ständer neben dem Eingang. Selbst in der Innenstadt standen mehr Bäume als Wohnhäuser, vor denen fast immer ein Geländewagen parkte. Egal, in welche Richtung man sich auf dem Canyon Boulevard drehte, sofort fiel einem einer der Berge ins Auge. Es war wundervoll.

»Ah, da ist ja der Sonnenschein des Tages! Ein wundervoller Montag, oder?«, vernahm ich die Stimme von Mr. Butler und wandte mich dem älteren Herrn zu, der mit seinem besten Freund Mr. Douglas auf einer Bank neben Midges Café saß.

»Guten Morgen, die Herren!«, begrüßte ich sie und lächelte ihnen freundlich zu. Die beiden hatten den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als hier zu sitzen und alles, was passierte, zu kommentieren. Heimlich wurden sie Waldorf und Statler genannt, wie die witzigen älteren Männer aus der Muppet Show. »Haben Sie gut geschlafen?«, fragte ich.

»Ach, Kindchen, wenn du in unser Alter kommst, ist Schlaf total überbewertet.«

»Ich schlafe abends sehr schlecht ein«, sagte Mr. Douglas.

»Kenne ich«, antwortete Mr. Butler und putzte seine Brille. »Ich zähle dann immer bis drei.«

»Und das hilft?«

»Na ja, manchmal zähle ich auch bis halb vier.« Die beiden lachten schallend los, und auch ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

»Ich würde ja gerne noch bleiben, aber leider muss ich los! Ich wünsche Ihnen beiden einen schönen Tag!«

»Solange unsere Frauen nicht vorbeikommen, werden wir den haben«, rief mir Mr. Butler hinterher.

Ich schnallte den Rhabarberkuchen, den ich bei meinem Plausch mit den beiden Herren fast vergessen hatte, vom Gepäckträger und betrat das Café. Sofort begrüßte mich der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee, Gebäck und den alten, kostbaren Büchern, die hier überall in deckenhohen Regalen thronten. Midge hatte so gut wie jeden Klassiker, und wenn ein Bewohner im Urlaub war und dort ein Buch fand, von dem er dachte, dass es gut in ihre Sammlung passte, war es eine altbekannte Stadttradition, ihr dieses mitzubringen. Aus dem Grund besaß sie allein fünf verschiedene Ausgaben von Moby Dick. Unsere Freundin Emilia, die als Journalistin bei der New Hope Post arbeitete, liebte jede einzelne davon, und auch andere Bewohner kamen regelmäßig nicht nur wegen Midges unglaublicher Backkreationen, sondern auch, um sich die vielen verschiedenen Bücher zu leihen.

Midge stand an einem Tisch und nahm eine Bestellung auf. Als sie aufsah und mich erkannte, lächelte sie und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder ihren Kunden, Mrs. und Mr. Chamber, die vor einigen Jahren hergezogen waren, um ihren Ruhestand zu genießen. In einer Kleinstadt wusste jeder über jeden Bescheid, und alles, was man je angestellt hatte, kam irgendwann durch irgendwen heraus. Dass Brax und ich als Kinder Zahnpasta unter die Klinken des Rathauses geschmiert hatten, war genau dreißig Minuten ein Geheimnis geblieben, ehe der Stadtfunk diesen Streich durch den gesamten Ort getragen hatte. Wenigstens konnten wir uns so noch vor der Standpauke verstecken. Was leider trotzdem nichts genutzt hatte.

Ich lief hinüber zur Theke und drückte mir die Nase an der Auslage platt. Josh war nun seit einigen Tagen bei seinem Dad, um sich um ihn zu kümmern, außerdem hatte ihre Aushilfe Grace zwei Wochen Urlaub. Seitdem brachte ich Midge fast täglich einen Kuchen vorbei, und jedes Mal bewunderte ich es, wie sie es schaffte, selbst noch haufenweise Köstlichkeiten zu backen. Ich erkannte neben Obsttörtchen einen Cheesecake mit Blaubeeren und Zimtrollen mit reichlich Zuckerguss. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Allein schon der Duft brachte mich um den Verstand, denn Midge war die beste Bäckerin der Welt.

»Hey!«, begrüßte sie mich.

Ich stellte den Kuchen auf die Theke, und wir umarmten uns. »Hi! Hast du mir nicht gestern am Telefon gesagt, du bist am Ende?« Ich deutete zu der Auslage, und sie zuckte mit den Schultern.

»Buddy hat aus dem Touristenbüro angerufen und mich gewarnt, dass heute Mittag eine Reisegruppe für eine Wanderung anrollt. Wenn die hier vorbeischauen, werden sie uns den Laden leer futtern!«

»Das ist doch gut, oder nicht?«

Midge umrundete die Theke, zog einen Kugelschreiber aus der Tasche ihrer Schürze und schrieb etwas auf einen Zettel, den sie daraufhin an die Kasse steckte. Sie war wie eine Schriftstellerin, die eine Idee sofort aufschreiben musste, um sie nicht zu vergessen. Sobald ihr ein tolles Rezept einfiel oder sie auf eine außergewöhnliche Zutat stieß, verewigte sie dieses auf zahlreichen Zetteln, die dann im gesamten Café herumflogen. Es war ein Wunder, dass sie diese wiederfand.

Nicht nur, dass Midge ein absolutes Arbeitstier war und ihr Tag aus vierzig Stunden zu bestehen schien, ich bewunderte auch immer wieder aufs Neue, wie perfekt sie einen Lidstrich hinbekam. Wenn ich versuchte, mich so zu schminken, sah ich aus, als wäre ich ein Pandabär oder hätte tagelang geheult. Für mehr als ein wenig Mascara und hin und wieder getönten Lipgloss hatte ich keine Geduld. Aber meine beste Freundin hatte generell ein Händchen für Mode. Die heutige Schürze um ihre Hüften hatte sie passend zu dem filigranen Band in ihren schwarzen Locken ausgewählt. Weinrot mit weißen Tupfen. Ihre Lippen waren wie immer knallrot geschminkt, und meiner Meinung nach hätte sie mit ihren Kurven und ihrer Ausstrahlung in den Fünfzigern das beste Pin-up-Girl der Welt abgegeben.

Sie wandte sich von der Kasse ab, gab exakt einen Löffel Earl Grey in ein Tee-Ei und hängte dieses in eine Tasse aus Glas, bevor sie heißes Wasser eingoss und mir das Getränk zuschob.

»Danke.«

»Gern geschehen. Wohl das Mindeste für diesen köstlichen Traum!« Sie öffnete den Deckel der Kuchenverpackung und grinste, als hätte sie einen Schatz gefunden. »Oh, ich habe gehofft, dass du heute wieder einen Rhabarberkuchen dabeihast. Du und ich, heute Nacht?«, flüsterte sie und zwinkerte dem Gebäck zu. Ich musste lachen und pustete sanft gegen das heiße Teewasser. »Lass dein Faible nicht Josh wissen, sonst wird er noch ganz neidisch.«

»Ach, der weiß, dass ich unglaublich auf deine Kuchen stehe! Übrigens, was bekommst du dafür?«

»Wieso fängst du jedes Mal wieder damit an?«

Sie grinste. »Weil das höflich ist?«, erwiderte sie augenzwinkernd.

»Du kannst dich immer auf mich verlassen. Wenn Josh noch länger bleiben muss und auch sonst helfe ich dir gerne! Auch wenn ich das Gefühl habe, dass du den Kuchen eigentlich für dich allein willst.«

»Ertappt.« Sie hob die Hände. »Wie war das Essen gestern mit deinen Brüdern?«

Ich verdrehte die Augen. »Frag besser nicht.« Ich hatte gehofft, dass mich ihre Aussagen nicht zu sehr treffen würden, aber vor allem Brax hatte kein Problem damit, meine Jobsuche zum Hauptthema des Abends zu machen. »Wo ist denn der kleine zukünftige Astronaut, den ich heute babysitten soll?«, lenkte ich unser Gespräch in eine andere Richtung. »Ich habe den ganzen Tag durchgeplant! Zuerst gehen wir rüber zu Mr. Clause und essen das Bonbonglas auf dem Verkaufstresen in seinem Weihnachtsdekoladen leer, bis er uns rausschmeißt.« Ich hob den zweiten Finger. »Dann stauben wir bei Brax ein paar Schokoladenkekse ab, die versteckt er nämlich immer in seiner Schreibtischschublade und denkt, es findet sie keiner. Und danach erschrecken wir Waldorf und Statler und besorgen uns ein neues Weltraummalbuch im Supermarkt! Ich weiß aus sicherer Quelle, dass Phil eine neue Lieferung bekommen hat.« Um meinen perfekten Plan zu unterstreichen, wackelte ich ein paarmal mit den Augenbrauen.

»Wahnsinn, jetzt wird mir klar, weshalb East so gerne mit dir abhängt.« Sie wirkte ernsthaft beeindruckt, und ich freute mich noch mehr auf den heutigen Tag.

»Ich bin eben die coolste Patentante der Welt.«

»Wirklich, ohne dich wüsste ich nicht, wo mir heute der Kopf steht. Josh ist noch weg, dann hat mir unsere Babysitterin Charly außerdem abgesagt und die Reisegruppe …« In dem Moment wurde die Tür zum Café geöffnet, und zwei weitere Gäste betraten den Innenraum. Midge lächelte ihnen freundlich zu und begrüßte sie, aber ich sah, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war. Hoffentlich war es wirklich nichts Ernstes mit Joshs Dad.

»Hey, alles gut! Easton und ich werden eine bombastische Zeit haben! So sehr, dass er nie wieder zurück nach Hause möchte«, versuchte ich sie zu beruhigen und trank einen Schluck köstlichen Tee, der mittlerweile ein wenig abgekühlt war.

»Gib ihm ab drei nichts Süßes mehr, sonst springt er die ganze Nacht auf dem Bett herum wie ein Gremlin! Da drüben sitzt er.« Sie deutete durch den Raum, und ich entdeckte den Kleinen zwischen zwei Regalen auf dem Boden sitzen. Er hatte die Knie angewinkelt und schaute sich völlig versunken ein zerlesenes Buch an, auf dessen abgewetztem Deckel ich ein Stück einer Weltkugel erkannte.

»Dann wollen wir den Spaßtag mal starten!«

»Danke«, sagte Midge und wandte sich ihren Gästen zu, die vor der Auslage standen und diese wie ich zuvor bewunderten. Ich schnappte mir meine Tasse, durchquerte das Café und hockte mich neben Easton. Er sah noch nicht einmal auf.

»Wusstest du, dass das erste Spaceshuttle der NASA Enterprise hieß? Wie das Raumschiff von Star Trek.«

»Seit wann weißt du, was Star Trek ist? Die Erstausstrahlung war in den Sechzigern, und die neuen Filme sind ganz sicher noch nichts für dich.« Ich dachte kurz an Chris Pines Bauchmuskeln in seiner Rolle als Kirk und verlor für eine winzige Sekunde den Fokus. Midge, Emilia und ich hatten den Film – kaum dass er verfügbar war – auf Midges Netflix-Account geschaut, weil sie total auf Chris abfuhr.

»Granny guckt es auf diesem langweiligen Sender, der ganz hinten eingespeichert ist.« Easton sah mich zum ersten Mal heute an, neigte den Kopf zur Seite und grinste, als hätte er gewonnen. Ich streckte ihm die Zunge raus. Jaja, sehr erwachsen … aber anders kam man gegen einen Fünfjährigen, der mehr Fakten über den Weltraum draufhatte als der NASA-Typ Jim Bridenstine, nicht an. Übrigens kannte ich diesen auch nur, weil East sich beim letzten Halloween, sehr zur Verwirrung der anderen Kinder, als sein Raumfahrer-Idol verkleidet hatte.

»Und du hast heimlich mitgeschaut? Ich bin mir sicher, du hättest da schon im Bett sein sollen …«

»Nein, ich konnte nicht schlafen, und Granny hat es mir erlaubt.«

»Ganz sicher! Wahrscheinlich hast du dabei noch ein Glas Cola zum Einschlafen bekommen.«

»Sei nicht albern, Lake.« Er machte ein ernstes Gesicht, während ich grinsen musste. In diesem Moment sah er genauso aus wie seine Mom. Angefangen von den braunen Augen bis hin zu dem Grübchen auf seiner linken Wange, das nur hervortrat, wenn er wie im Moment missbilligend die Lippen schürzte. Vor mir saß der älteste Fünfjährige auf dem Planeten, da war ich mir sicher.

»Ich bin albern, das weißt du doch.«

Diesmal schmunzelte er, und ich unterdrückte den Drang, ihm seine Haare durchzuwuscheln, weil er einfach zuckersüß war. Er würde mich bis zum Rest seines Lebens dafür hassen. »Also, bist du bereit für den ultimativen Easton-Lake-Spaßtag?«

Er zuckte mit den Schultern. »Wieso nicht.«

»Wow, bitte ein wenig mehr Begeisterung!«

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, aber zumindest schob Easton das dicke Weltraumbuch zurück in das unterste Regal, stand auf und klopfte sich den Staub von der Jeans. »Na dann, komm.«

»Klar«, erwiderte ich lässig und erhob mich ebenfalls. Midge bediente einen weiteren Tisch, und ich trank meinen Tee aus, stellte die leere Tasse auf die Theke und winkte ihr kurz zu, damit sie mitbekam, dass wir gingen. Sie eilte zu uns, drückte ihrem Sohn einen Kuss auf die Wange, der ein missbilligendes Geräusch dabei von sich gab, und schaute mir tief in die Augen. »Kein Zucker ab drei.«

»Sagt die beste Kuchenbäckerin der Welt.«

»Genau deswegen weiß ich ja, wovon ich spreche! Viel Spaß!«

»Danke, Mom«, erwiderte Easton, und wir steuerten endlich die Tür in die Freiheit an. Ich schob mich nach vorn, doch bevor wir nach draußen konnten, wurde ich unsanft zurückgedrängt und stolperte einen Schritt nach hinten.

»Was zum …« war das Einzige, was ich über die Lippen brachte, während ich überrascht ein graues Shirt mit V-Ausschnitt über einer breiten Männerbrust anstarrte. Langsam wanderte mein Blick nach oben, ich erkannte ein markantes Kinn unter einem Dreitagebart und ein abgewetztes Basecap, das tief in sein Gesicht gezogen war. Als er den Kopf hob und sein Blick mich traf, schaute ich direkt in die wildesten moosgrünen Augen der Welt. Oh, wow, sein Gesicht war absolut atemberaubend, und mein Herz veranstaltete einen Hüpfer. Der Mann war ungefähr Ende zwanzig, groß und durchtrainiert, aber nicht wie ein Bodybuilder, eher wie ein Profi-Schwimmer mit breitem Kreuz und einer austrainierten Schulterpartie. Als ich mich von seinem muskulösen Oberkörper losreißen konnte, fiel mir auf, wie abweisend seine Miene war. Fast wütend, als wäre ich extra in ihn reingelaufen und hätte ihm so den Weg abgeschnitten. Ich ging einen Schritt zurück und konnte endlich wieder atmen. Er musste ein Urlauber sein oder auf der Durchreise, denn ich hatte ihn noch nie hier gesehen, und jemand wie er wäre garantiert aufgefallen.

»Sorry, ich wollte dir nicht in die Arme laufen«, sagte ich so scherzhaft, wie ich angesichts seines Gesichtsausdrucks, der mich hochgradig irritierte, über die Lippen bekam. Seine dunklen Brauen zogen sich noch weiter zusammen, und mir fiel auf, dass eine Strähne seines dunkelbraunen Haars aus der Cap hervorlugte.

»Okay«, murmelte er grimmig, als hätte er heute bereits den miesesten Tag seines Lebens hinter sich. Er löste sich ohne Weiteres von meinem Anblick, ging um mich herum und steuerte die Theke an.

Ich drehte mich um und fing Midges Blick ein, die nur mit den Schultern zuckte und ihn dann fragte, was er haben wollte.

»Einen Kaffee. Schwarz«, brummte er ohne ein Bitte. Seine Stimme war überraschend tief und warm, doch selbst ein unhöflicher Griesgram musste gute Eigenschaften besitzen.

Ich schüttelte meine wilden Gedanken ab und lächelte Easton zu. »Nächster Versuch?«, fragte ich grinsend, und diesmal war er es, der auf die Tür zulief und sie mir wie ein Gentleman öffnete.

Während ich an ihm vorbeiging, konnte ich nicht widerstehen und verwuschelte ihm doch seine schwarzen Locken. »Jetzt schon so ein Gentleman! Deine Eltern machen einiges richtig!«

Er seufzte genervt, und ich hoffte, damit nicht meine heutigen Chancen verspielt zu haben. Nachdem die Tür hinter uns ins Schloss gefallen war, warf ich noch einen letzten Blick zurück durch die Glasscheibe. Der fremde Typ sah mich plötzlich an, als hätte er gemerkt, dass ich ihn anstarrte, und mein Puls beschleunigte sich umgehend. Schnell wandte ich mich ab und holte Easton ein, der bereits weitergelaufen war. Es kam mir sehr gelegen, so viel Abstand wie möglich zwischen das Café und mich bringen zu können, damit sich mein aufgewühlter Körper meinem Kopf anpasste und wieder beruhigen konnte. Wer auch immer er war, ich würde es hier schon früh genug herausfinden.

Kapitel 4

Wyatt

Die Stadt nervte mich jetzt schon. Jedem, der mir entgegenkam, klebte ein Lächeln im Gesicht, alle grüßten sich mit Vornamen, unterhielten sich sogar mitten auf der Straße, während ich einfach nur mit meinem Cadillac vorbeifahren und meine Ruhe wollte. Es fühlte sich an, als wäre ich in einer ekelhaft kitschigen Episode der Gilmore Girls gelandet, was meine Mom sich immer angesehen hatte. Auf die, zugegeben sehr hübsche Hippie-Version von Rory war ich bereits getroffen, eher gesagt war sie direkt in mich reingerannt. Wäre ich besser drauf gewesen und würde mich an einem anderen Ort als hier befinden, wäre ich vielleicht sogar auf ihre Blicke mit einem Flirtversuch eingegangen. Zu einer anderen Zeit. In einem anderen Leben.

Ich zog das Basecap vom Kopf und schmiss es auf den Beifahrersitz, ehe ich hupte und die beiden Grandpas endlich zum Bürgersteig krochen, um dort weiter über ihre Gehhilfe, Medikamentenrationen oder was auch immer zu quatschen. Wenigstens der Kaffee in dem Nest schmeckte gut und schenkte mir ein paar neue Lebensgeister, während ich an dem Pappbecher nippte und ihn zurück in die Halterung der Mittelkonsole steckte.

Ich hatte genau zwei Tage darüber nachgedacht, was Andi zu mir gesagt hatte, und dann beschlossen, es zu versuchen. Schnell hatte ich am Sonntag mein Zeug zusammengepackt, um heute Morgen gleich loszufahren. Ich wollte sie als Managerin nicht verlieren, weil sie mich und meine Familie schon ewig kannte. Außerdem hatte ich keine Lust, ganz bei null mit jemand Neuen anzufangen. Ein paar Tage in diesem Kaff sollten reichen, um sie zu besänftigen und wieder zurück nach Los Angeles fahren zu können, wo haufenweise Gigs und mein Leben auf mich warteten. Zumindest der Part, der auf einer Bühne stattfand. Bei allem anderen, was dieses beinhaltete, war ich mir offen gestanden nicht sicher, ob ich es noch lange ertragen würde. Doch es gab nur das eine mit dem anderen. Dem Hochgefühl nach einem Auftritt folgte der Abstieg, aber nur das Hoch hielt mich aufrecht. Es war ein verdammter, süchtig machender Teufelskreis.

Der Motor gab ein dumpfes Brummen von sich, als ich aufs Gaspedal trat und die Innenstadt fluchtartig verließ. Den Weg, der zu dem Grundstück der Campbells hinaufführte, säumten Tannen, endlose Wiesen und pure Langeweile. Und je länger ich fuhr, desto mehr bestätigte sich meine Vermutung. Hier gab es tatsächlich nichts außer ein paar Blumen, Schafen und Streifenhörnchen. Wenn ich Glück hatte, fraß mich ein Bär in den Wäldern. Das wäre sicherlich das Jahreshighlight der Stadtzeitung.

Die Straße schlängelte sich einen schmalen Bergpass hinauf, und ich musste zugeben, dass ich das Gefühl genoss, mit meinem Cadillac durch die Kurven heizen zu können. Bis der Untergrund holpriger wurde und ich laut fluchte. Ich hörte, wie Steine auf den Lack und die Windschutzscheibe knallten, und drosselte mein Tempo. Brauchte man hier eine Pferdekutsche, oder was? Fuck, wenn es so weiterging, musste ich zurück zu Hause den Wagen neu lackieren lassen.

Irgendwann wurde der Wald wieder lichter, die Sonne brach durch und blendete mich. Ich schob mir die Sonnenbrille auf die Nase und nippte am mittlerweile kalten Kaffee, während ich im Schneckentempo weiterfuhr. Eine bunte Wiese erstreckte sich vor mir, und in weiter Ferne sah ich am Ende eines schmalen Weges ein zweistöckiges Haus. Super, noch mehr Schotter. Ich setzte den Blinker und bog ab, holperte über Schlaglöcher und unebenen Waldboden. Nun wunderte ich mich nicht mehr, weshalb alle in New Hope verdammte Geländewagen fuhren. Andi hätte mich wenigstens vorwarnen können, sie war schließlich hier groß geworden. Der Kaffee schwappte aus dem Becherdeckel, und ich zog ihn ruckartig aus der Halterung, wobei sich ein Schwall über meine Jeans ergoss und ich erneut einen Fluch von mir gab. Na klar, das hatte gerade noch gefehlt. Ich blieb stehen und versuchte, die Flecke mit der Serviette, die ich in dem Café dazubekommen hatte, zu beseitigen, allerdings verschlimmerte ich die Sache bloß. Nun verzierten weiße Serviettenkrümel einen runden, hässlichen Fleck auf dem blauen Jeansstoff. Also kippte ich den Rest Kaffee hinunter und steckte den Becher zurück, bevor ich weiterfuhr und nur noch einen einzigen Grund brauchte, um wieder umzudrehen.

Für einen Moment schloss ich die Augen und atmete tief ein und aus, bis ich die Anruffunktion auf dem Lenkrad drückte und Andreas Nummer über die Freisprecheinrichtung anwählte. Es klingelte, und ich wippte ungeduldig mit meinem Oberschenkel. Nach dem fünften Mal sprang ihre Mailbox an, und ich legte auf, doch so leicht gab ich nicht auf. Nach zwei weiteren erfolglosen Versuchen, sie zu erreichen, wurde mir klar, dass sie absichtlich nicht ans Handy ging. Sie wusste ganz genau, was sie sich anhören konnte. Aber sie hatte sich geschnitten, wenn sie dachte, sie könne mich ans Ende der Welt verfrachten und mich so loswerden. »Weißt du, vielleicht wäre es tatsächlich besser, mir eine andere Managerin zu suchen«, quatschte ich wütend auf ihre Mailbox. »Kannst du mir bitte sagen, was mir ein Aufenthalt im Nirgendwo bringen soll?« Meine Stimme wurde immer lauter. »Du bist gekündigt!« Bloß eine leere Drohung. »So was von gekündigt, wenn ich wieder zu Hause bin!« Und noch eine leere Drohung. »Ruf mich an!«, schob ich nach und drückte so fest den Knopf zum Auflegen, das mein Zeigefinger knackste. Ich schickte in Gedanken ein paar ziemlich kreative Flüche nach Los Angeles in Andis Büro und fuhr weiter. Hinter dem zweistöckigen Haupthaus erkannte ich einen Teil eines Gewächshauses und noch mehr dunklen Wald. Natürlich. Was auch sonst. Bäume und Gras.

Rechts standen auf einer lichtdurchfluteten Wiese haufenweise Obstbäume, davor entdeckte ich angelegte Beete mit grünem Gestrüpp, von dem ich mit meinem Nichtwissen kein einziges Gemüse benennen konnte. Ein Mann mittleren Alters bückte sich zu etwas auf dem Boden, was ich nicht erkennen konnte, und sah auf, als er mein Auto über den Schotter fahren hörte. Wenigstens wurde der offizielle Weg zum Haus gemäht, der Rest allerdings glich eher einem wilden Durcheinander, das mich jetzt schon wahnsinnig machte. Abgesehen von chaotischen Morgen nach Partys in meinem Apartment war ich eher der minimalistische Typ, und mich überforderte diese bunte Vielfalt bereits in dieser Sekunde.

Ich wandte meinen Blick ab, und als ich dem Haus näher kam, konnte ich erkennen, dass es zur Hälfte aus grauen Steinen gebaut war, was das Farmhaus der Campbells zu einer Besonderheit machte. Der obere Teil bestand aus dunkelbraunem Holz, was eher meiner Vorstellung von den Kleinstadtgebäuden in dieser Gegend entsprach.

Eine kleinere Holzhütte stand auf der linken Seite, und ich hoffte, dass ich dort wohnen konnte, um wenigstens meine Ruhe zu haben.

Wobei, Ruhe … die gab es hier zur Genüge, da hatte meine Managerin wirklich recht behalten.

Eine dunkelgrün gestrichene Veranda zog sich um das Haupthaus, und ich bemerkte, dass eine Frau darauf mir lächelnd zuwinkte. Sie sah fast aus wie Andrea, nur hatte sie langes kastanienbraunes Haar und trug anstelle von einem Businesskostüm abgefahrene, bunte Hippie-Klamotten.

Andi hatte nichts von einer Kommune gesagt. Fuck, wo war ich hier gelandet?

Ich parkte meinen Wagen, atmete noch einmal tief durch und stieg zögernd aus. Langsam nahm ich die Sonnenbrille ab, steckte sie in den Ausschnitt meines Shirts und warf meine Autotür zu. Der Klang verhallte in den Weiten des Nichts.

»Wyatt! Wie schön, dass du es jetzt schon geschafft hast!« Die Frau kam die Veranda herunter auf mich zu. Sie grinste so breit und freundlich, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie es wirklich so meinte. »Andi hat gesagt, du wärst erst heute Abend hier!«

Sie blieb vor mir stehen, und ich hob ihr die Hand entgegen, aber sie zog mich unvermittelt in eine Umarmung und drückte mich so fest, dass es mir unangenehm wurde. Ich hatte keine Ahnung, wann ich das letzte Mal so in den Arm genommen worden war, und mein Körper spannte sich unter der ungewohnten mütterlichen Berührung an. Ein wenig beschämt löste ich mich von der zierlichen Frau und räusperte mich. »Hallo.« Mehr bekam ich nicht über die Lippen. Toller Einstieg.

»Tag.« Der Mann, der eben noch zwischen den Beeten gewesen war, ging auf mich zu. Er trug eine abgewetzte Jeans und ein hochgekrempeltes Holzfällerhemd. Auch wenn er ungefähr Ende fünfzig zu sein schien, wirkte er mit seiner gebräunten Haut, dem grauen Dreitagebart und den Lachfältchen um seine Augen jung und dynamisch. Er lief auf mich zu, und wieder streckte ich die Hand aus, lehnte mich lieber ein Stück zurück, falls alle hier auf Umarmungen standen. Aber der Mann ergriff zu meiner Erleichterung nur meine Finger und schenkte mir einen festen Händedruck. »Du bist Wyatt Lanter?«

»Jawohl«, sagte ich und ließ seine Hand los. »Andrea schickt mich«, schob ich nach, als wäre ich irgendein Bote, der etwas überbrachte. Dabei sollte ich ab sofort bei diesen Fremden wohnen. Verrückt beschrieb die Situation nicht im Mindesten.

»Das ist meine Frau Alice, und du kannst Sir zu mir sagen.«

Kurz schluckte ich, doch Alice gab ihm einen sanften Schubs. »Er macht nur blöde Witze. Das ist Harry!«

»Freut mich«, erwiderte ich, weil ich nicht ganz meine gute Kinderstube vergessen hatte. Meine Mom würde mir die Ohren lang ziehen, wenn sie sehen könnte, wie ich auf die Freundlichkeit dieser Menschen reagierte. Zum Glück hatten wir seit zwei Jahren keinen Kontakt mehr.

»Du hast sicherlich Hunger, oder?«

»Alli, er ist eben erst angekommen, lass ihn sich doch erst mal umsehen und seine Sachen in das Gästehaus bringen.« Innerlich atmete ich auf, als ich hörte, dass ich nicht direkt unter ihrem Dach schlafen musste.

»Ach, das kann er nach dem Essen machen, und Lake kann ihm nachher alles zeigen, wenn sie zurück ist.« Alice hakte sich bei mir unter und zog mich Richtung Haupthaus. Ich hatte den Eindruck, dass sie insgeheim die Chefin in dem Laden hier war. Sie erinnerte mich tatsächlich an meine Mom. Ich war froh, dass ihre Frage meine Gedanken unterbrach. »Magst du Süßkartoffelsuppe?«

»Ähm …« Ich drehte meinen Kopf zu Harry, der uns grinsend nachschaute. Anscheinend würde er mir nicht zu Hilfe eilen.

Auf der Veranda ließ Alice mich los und betrat vor mir das Haus. Ein undefinierbarer Duft strömte mir entgegen, und kurz kratzte er mir so sehr im Hals, dass ich fast husten musste. Im Augenwinkel nahm ich den hellen Qualm wahr, den eine Handvoll Räucherstäbchen auf einer Kommode im Flur verursachten. Tatsächlich waren die Wände auch hier drinnen aus grauem Stein, und das Durcheinander von draußen führte sich hier fort. Pflanzen in türkisfarbenen und gelben Töpfen auf Wandregalen, die überall im Raum verteilt waren, fielen mir sofort ins Auge. Die grünen Ausläufer hingen wie Krakenarme nahezu bis auf den Boden herab. Ich sah zahlreiche Bilder in durcheinandergewürfelten Rahmen, einen grotesken Kerzenleuchter an der Decke, und die Garderobe wurde von bunten Tüchern fast vollständig verdeckt. Oder waren das Klamotten?