Nicholas' Geheimnis - Nora Roberts - E-Book

Nicholas' Geheimnis E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Mondnacht in Griechenland: Melanie ist bei einer Freundin zu Besuch auf Lesbos. Bei einem Bad im Meer begegnet Melanie einem geheimnisvollen Fremden, der sie heiß küsst. Sie ist überzeugt, dass sie ihn mit dem Strandbesuch bei etwas Gefährlichem gestört hat - ist er etwa einer der Rauschgiftschmuggler, die die Gegend unsicher machen? Wenig später stellt man ihr auf einer Party den äußerst charmanten Unternehmer Nicholas Gregoras vor. Melanie erkennt ihn sofort wieder ...

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Nora Roberts

Nicholas’ Geheimnis

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Rita Langner

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

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Die Originalausgabe The Right Pathist bei Silhouette Books, Toronto, erschienen.
Die deutsche Erstausgabe ist im MIRA Taschenbuch erschienen.
Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Fotos von shutterstock/A. BerkutSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-12109-9V003
www.penguinrandomhouse.de/nora-roberts

1. KAPITEL

Der Himmel war wolkenlos und blau wie auf einer Ansichtspostkarte. Vor der fernen Silhouette der Berge hing ein leichter Dunstschleier. Ein sanfter Wind strich raschelnd durch das Laub der Bäume und Sträucher und trug den Duft von Rosen, feuchtem Gras und Meerestang heran. Melanie seufzte glücklich. Sie beugte sich noch weiter über das Balkongitter und musste immer nur schauen.

Hatte sie wirklich erst gestern noch aus ihrem Fenster auf die Stahl- und Betonwüste New Yorks hinausgeblickt? War sie durch den kühlen Aprilregen die Straße entlanggerannt, um ein Taxi zum Flughafen zu erwischen? Nur einen einzigen Tag war das her. Es konnte doch nicht möglich sein, dass zwischen zwei Welten nur ein einziger Tag lag.

Dennoch war es so. Melanie stand auf dem Balkon einer Villa auf der Insel Lesbos. Hier gab es keinen grauen Himmel, keinen Nieselregen, keinen Lärm, nur Sonne und Meer und lichtdurchflutete Stille unter dem leuchtenden Himmel Griechenlands.

Es klopfte. »Herein!« rief Melanie, atmete noch einmal tief durch und drehte sich um.

»Oh, du bist ja schon aufgestanden und angezogen?« Liz schwebte in den Raum, eine goldhaarige Elfe, gefolgt von einem Mädchen mit einem beladenen Tablett.

»Das nenne ich Zimmerservice«, lächelte Melanie, als das Mädchen das Tablett auf einem Glastischchen abstellte. Das Frühstück duftete verführerisch. »Leistest du mir Gesellschaft, Liz?«

»Nur auf einen Kaffee.« Liz setzte sich in einen Sessel, strich ihr Negligee aus Seide und Spitze glatt und musterte Melanie nachdenklich.

Ihr Blick glitt über das leuchtend blonde, auf die Schultern herabfallende Haar und verweilte auf dem zarten Gesicht mit der kleinen geraden Nase, den hohen Wangenknochen und den großen meerblauen Augen. Manches Fotomodell hätte alles für ein solches Engelsgesicht gegeben.

»Oh Melanie, du bist schöner denn je! Ich freue mich so, dass du endlich hier bist.«

Melanie blickte auf die Landschaft hinaus. »Und da ich endlich hier bin, verstehe ich nicht, wie ich es so lange hinauszögern konnte.«

Das Dienstmädchen schenkte den Kaffee ein.

»Efcharistó«, bedankte sich Melanie.

»Unglaublich!« schimpfte Liz gespielt ärgerlich. »Weißt du, wie lange ich gebraucht habe, bis ich endlich ›guten Tag, wie geht es Ihnen?‹ auf Griechisch sagen konnte?« Als Melanie etwas erwidern wollte, winkte sie lächelnd ab, Brillanten und Saphire ihres Eherings blitzten in der Sonne auf. »Lass nur! Nach drei Jahren mit Alex und einem ebenso langen Leben in Athen und auf Lesbos stolpere ich noch immer über diese Sprache. Danke, Zena«, fügte sie hinzu und entließ das Mädchen mit einem Lächeln.

»Weil du dich weigerst, sie zu lernen.« Melanie biss in ein Stück Toast. Erst jetzt merkte sie, wie hungrig sie war. »Wenn du dich einer fremden Sprache nicht verschließt, nimmst du sie ganz von selbst auf.«

»Du hast gut reden.« Liz schaute Melanie vorwurfsvoll an. »Du sprichst mindestens ein Dutzend Sprachen.«

»Fünf.«

»Vier mehr, als ein normaler Mensch braucht.«

»Das gilt aber nicht für eine Dolmetscherin.« Melanie machte sich über das Rührei her. »Spräche ich nicht Griechisch, hätte ich Alex nicht kennen gelernt, und du wärst jetzt nicht Elizabeth Theocharis. Schicksal«, fuhr sie fort, »ist ein seltsames und wunderbares Phänomen.«

»Philosophie beim Frühstück«, sagte Liz in ihre Kaffeetasse hinein. »Manchmal frage ich mich, wie es mir heute ginge, wenn ich nicht zufällig zwischen zwei Flügen zu Hause gewesen wäre, als Alex aufkreuzte. Du hättest uns nicht miteinander bekannt gemacht.« Sie nahm sich eine Scheibe Toast und gab einen Klecks Pflaumengelee darauf.

»Alles ist vorbestimmt, Liz«, sagte Melanie. »Das Schicksal hat euch zusammengeführt, nicht ich. Bei euch beiden war es Liebe auf den ersten Blick – nur ist das nicht mein Verdienst.« Sie lächelte zu der kühlen blonden Schönheit hinüber. »Kaum hattet ihr euch kennen gelernt, hattet ihr auch schon geheiratet und flogt davon, und ich saß allein in dem leeren Apartment.«

»Wir hatten beschlossen, erst zu heiraten und uns danach kennen zu lernen.« Liz lachte leise in sich hinein. »Und so geschah es dann auch.«

»Wo ist Alex eigentlich?«

»Unten in seinem Arbeitszimmer.« Liz legte ihren Toast auf den Teller zurück. »Er baut wieder mal ein Schiff.«

Melanie musste lachen. »Du sagst das, als wäre er mit seiner Spielzeugeisenbahn beschäftigt. Du solltest dich entschieden snobistischer ausdrücken. Das erwartet man von Frauen, die einen Millionär geheiratet haben – noch dazu einen ausländischen.«

»Ja? Na, mal sehen, was ich tun kann.« Liz trank einen Schluck Kaffee. »Alex wird wahrscheinlich in den kommenden Wochen furchtbar beschäftigt sein. Schon deshalb freue ich mich so, dass du hier bist.«

»Du brauchst einen Partner zum Cribbage – stimmt’s?«

»Unsinn!« Liz lachte. »Du bist der miserabelste Cribbage-Partner, den ich kenne, aber mach dir nichts draus, es geht mir nicht ums Kartenspielen. Ich finde es herrlich, meine beste Freundin, eine waschechte Amerikanerin, um mich zu haben!«

»Spassiba.«

»Bitte englisch, ja?« tadelte Liz. »Außerdem … denk nicht, ich hätte nicht gemerkt, dass das kein Griechisch, sondern Russisch war. Merk dir, dass du für die nächsten vier Wochen keinen politischen Unsinn bei den Vereinten Nationen dolmetschst, sondern dich ganz normal mit Freunden unterhältst.«

Liz beugte sich etwas vor und schaute ihre Freundin nachdenklich an. »Ganz ehrlich, Melanie, hast du nicht manchmal Angst, du könntest etwas falsch übersetzen und damit den Dritten Weltkrieg auslösen?«

»Wer – ich?« Melanie machte große Augen. »Keine Angst! Der Trick besteht darin, in der Sprache zu denken, die man übersetzt. Ganz einfach.«

»Oh natürlich, ganz einfach.« Liz lehnte sich wieder zurück. »Aber jetzt hast du Urlaub und brauchst nicht in fremden Sprachen zu denken. Es sei denn, du willst dich mit meinem Koch streiten.«

»Nichts liegt mir ferner«, versicherte Melanie und schob ihren Teller zurück.

»Wie geht es eigentlich deinem Vater?«

»Großartig wie immer.« Melanie schenkte sich Kaffee nach. Wann hatte sie sich zum letzten Mal morgens Zeit für eine zweite Tasse Kaffee genommen? Ferien, hatte Liz gesagt, und das bedeutete, sie war frei wie ein Vogel in der Luft. »Er lässt dich grüßen und hat mir aufgetragen, ein paar Flaschen Ouzo nach New York zu schmuggeln.«

»Ich habe nicht vor, dich nach New York zurückkehren zu lassen.« Liz stand auf und ging auf dem Balkon hin und her. Der spitzenbesetzte Saum ihres Morgenmantels glitt über die Fliesen. »Ich werde mich nach einem passenden Mann für dich umsehen und dich hier in Griechenland etablieren.«

»Du ahnst gar nicht, wie dankbar ich dir dafür wäre«, gab Melanie trocken zurück.

»Keine Ursache. Wozu sind Freunde schließlich da?« Liz nahm Melanies Spott nicht zur Kenntnis. »Dorian wird dir gefallen, da bin ich sicher. Ein toller Mann! Einer von Alex’ Top-Mitarbeitern, ungeheuer attraktiv. Blond, männlich … ein Typ wie Robert Redford. Du wirst ihn morgen kennen lernen.«

»Ich werde heute noch meinen Vater veranlassen, die Mitgift zusammenzustellen.«

»Ich scherze nicht!« Liz blickte Melanie vorwurfsvoll an. »Du kommst hier nur über meine Leiche wieder weg. Wir werden herrliche Tage am Strand verbringen, und du wirst die fantastischsten Männer kennen lernen und vergessen, dass es New York und die UNO überhaupt gibt.«

»Das habe ich schon vergessen.« Melanie warf die Haare über die Schultern zurück. »Also See, Sonne und Männer, ja? Ich bin dir leider ausgeliefert. Und jetzt schleppst du mich wohl gleich an den Strand und gibst erst Ruhe, wenn ich bronzebraun bin, wie?«

»Richtig!« Liz nickte nachdrücklich. »Zieh dich um. Bis gleich.«

Eine halbe Stunde später hatte Melanie schon nichts mehr gegen Liz’ Behandlungsmethoden. Weißer Sand, blaues Meer … Sie ließ sich von den sanften Wellen wiegen.

Warf ihr Vater ihr nicht auch immer vor, sie sei besessen von der Arbeit? Melanie drehte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Nach dem beruflichen Stress und der Katastrophe mit Jack war sie nirgends besser aufgehoben als auf dieser friedlichen Insel. Hier würde sie endlich zur Ruhe kommen.

Jack gehörte der Vergangenheit an. Es war keine leidenschaftliche Liebe gewesen, eher Gewohnheit, gestand Melanie sich ein. Sie hatte einen intelligenten männlichen Partner gebraucht und Jack eine attraktive Frau, deren Image seiner politischen Karriere förderlich sein konnte.

Hätte ich ihn je geliebt, überlegte Melanie, könnte ich das jetzt nicht so sachlich beurteilen. Das Ende hatte für sie weder Schmerz noch Einsamkeit bedeutet, sondern eher Erleichterung. Erleichterung und eine seltsame Leere … Das bedrückende Gefühl, im luftleeren Raum zu schweben, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Liz’ Einladung war gerade zur rechten Zeit gekommen. Diese Insel war eine Oase der Ruhe und des Friedens – ein Paradies. Melanie öffnete die Augen. Leuchtend blauer Himmel, Sonne, der Sand, Felsen und überall Spuren, die Erinnerungen an die Götter der Antike weckten. Und jenseits des Golfs von Edremit die Türkei mit ihren geheimnisumwobenen goldenen Palästen … Melanie schloss die Augen wieder und wäre fast eingeschlafen, hätte Liz sie nicht gerufen.

»Melanie! Der Mensch muss in regelmäßigen Abständen etwas zu sich nehmen.«

»Du denkst immer nur ans Essen.«

»Und an deinen Teint«, erwiderte Liz vom Strand her. »Du bist schon viel zu lange in der prallen Sonne. Das Mittagessen kann man verschmerzen, einen Sonnenbrand nicht.«

Seufzend schwamm Melanie zum Strand zurück, richtete sich auf und schüttelte sich wie ein nasser Hund.

»Nun komm schon!« drängte Liz. »Alex reißt sich spätestens zum Lunch von seinen Schiffen los.«

Essen auf der Terrasse, daran könnte ich mich gewöhnen, dachte Melanie, als sie bei Eiskaffee und Früchten angelangt waren. Sie merkte deutlich, dass Alexander Theocharis von seiner kleinen goldblonden Frau noch genauso begeistert war wie damals in New York.

Obwohl Melanie es Liz gegenüber nicht zugeben wollte, war sie stolz darauf, die beiden zusammengebracht zu haben. Ein ideales Paar, dachte sie. Alex war nicht nur charmant, er sah blendend aus. Das markante, sonnengebräunte Gesicht wirkte durch die Narbe über der Augenbraue verwegen männlich. Er war groß und schlank – eine aristokratische Erscheinung. Alles in allem war er das ideale Gegenstück zu Liz’ zarter blonder Schönheit.

»Ich verstehe nicht, wie du dich von hier losreißen kannst«, sagte Melanie zu ihm. »Wenn mir das alles gehörte, brächten mich keine zehn Pferde von hier fort.«

Alex folgte ihrem Blick über das Meer und die Berge. »Jedes Mal, wenn ich zurückkomme, erscheint mir alles noch schöner«, sagte er. »Wie eine Frau«, er hob Liz’ Hand an die Lippen und küsste sie, »muss auch das Paradies immer wieder aufs Neue bewundert werden.«

»Meine Bewunderung ist unabänderlich, und so wird es bleiben«, sagte Melanie leise.

»Ich habe sie bald soweit, Alex.« Liz schob ihre Hand in die ihres Mannes. »Ich werde eine Namensliste sämtlicher in Frage kommender Männer im Umkreis von hundert Meilen anfertigen.«

»Du hast nicht zufällig einen Bruder, Alex?« erkundigte sich Melanie lächelnd.

»Tut mir Leid, Melanie – nur Schwestern.«

»Dann vergiss deine Liste, Liz.«

»Wenn wir dich nicht unter die Haube bringen können, wird Alex dir einen Job in seinem Athener Büro anbieten.«

»Ich würde keinen Augenblick zögern, sie der UNO wegzuschnappen.« Alex zuckte mit den Schultern. »Das habe ich schon vor drei Jahren vergeblich versucht.«

»Diesmal haben wir einen Monat Zeit, ihr Vernunft beizubringen.« Liz warf ihrem Mann einen warnenden Blick zu. »Hast du Zeit, uns morgen mit der Yacht hinauszufahren?«

»Natürlich«, stimmte Alex sofort zu. »Wir werden den Tag auf See verbringen – was meinst du, Melanie?«

»Na ja, eigentlich kreuze ich ständig auf einer Yacht in der nördlichen Ägäis herum, wie ihr wisst«, scherzte Melanie. »Aber wenn Liz es unbedingt möchte, will ich kein Spielverderber sein.«

»Das ist der Sportsgeist in ihr«, vertraute Liz ihrem Mann an.

Mitternacht war gerade vorüber, als Melanie allein an den Strand zurückkehrte. Sie hatte nicht schlafen können, was sie aber nicht bedauerte, denn das lieferte ihr einen guten Grund für einen nächtlichen Spaziergang in der warmen Frühlingsluft.

Das kalte, unwirkliche Licht des Mondes ließ die hohen Zypressen, die den Steilpfad zum Strand hinunter säumten, scharf aus den Schatten der Nacht hervortreten. In der Ferne hörte Melanie gedämpftes Motorengeräusch. Ein Fischer bei seiner nächtlichen Arbeit, dachte sie. Es musste schon ein Erlebnis sein, bei Mondschein aufs Meer hinauszufahren.

Der Strand verlief in einem weiten Bogen unterhalb des Felsenkliffs. Rasch streifte Melanie ihr Strandkleid ab und lief ins Wasser. Es fühlte sich so wundervoll kühl und weich auf ihrer Haut an, dass sie einen Moment mit dem Gedanken spielte, ihren Bikini abzulegen. Lieber nicht, entschied sie dann und lachte leise. Es wäre vermessen, die Geister der alten Götter herauszufordern.

Obwohl das Abenteuer Melanie reizte, schwamm sie nicht zu den Höhlen jenseits des Kliffs hinüber, um sie zu erkunden. Das konnte sie bei Tageslicht tun. Langsam schwamm sie ein Stück hinaus, wohin die sanfte Dünung sie trug.

Die Zeit schien still zu stehen, während sie schwerelos durch das silbrig glitzernde Wasser dahinglitt. Es war so still, so friedlich. Seltsam, erst nachdem Melanie diese Stille entdeckt hatte, wusste sie, dass sie sich danach gesehnt hatte.

New York schien nicht nur auf einem anderen Kontinent, sondern auf einem anderen Stern zu liegen, und im Augenblick war Melanie das nur allzu recht. Hier konnte sie sich ihren Fantasien über alte Götter, strahlende Helden und wilde Piraten hingeben. Könnte ich wählen, würde ich mich wohl für die Piraten entscheiden, dachte sie. Götter sind zu blutrünstig, Helden zu ritterlich, aber ein Pirat …

Melanie schüttelte den Kopf über ihre eigenen abwegigen Gedankengänge. Daran war einzig und allein Liz schuld. Sie selbst wollte weder einen Piraten noch sonst einen Mann. Sie wollte nur Ruhe und Frieden.

Melanie schwamm an den Strand zurück und richtete sich auf. Sie ließ das Wasser aus ihren Haaren und an ihrem Körper hinuntertropfen. Ihr war kalt, aber es war kein unangenehmes Gefühl. Sie setzte sich auf das Strandkleid, zog einen Kamm aus der Tasche und strich sich damit durchs Haar. Mond, Sand und Meer – was wünschte man sich mehr? Sie fühlte sich mit sich selbst und der Natur völlig im Einklang.

Das kalte Grauen packte Melanie, als sich eine Hand hart auf ihren Mund presste. Sie wehrte sich verzweifelt, aber ein starker Arm umklammerte ihre Taille, rauer Stoff schrammte gegen ihre nackte Haut. Jemand riss sie von den Klippen, ein muskulöser Männerkörper presste sich an ihren Rücken.

Panik ergriff Melanie. Wild schlug sie um sich, konnte aber nicht verhindern, dass sie in ein Gebüsch geschleppt wurde.

»Nicht schreien – keinen Laut!« Der Befehl wurde in schnellem, hartem Griechisch ausgesprochen. Melanie wollte gerade wieder zu einem neuen Schlag ausholen, als sie erstarrte. Ein Messer blitzte im Mondlicht auf, und im selben Augenblick wurde sie zu Boden gedrückt. Der Mann warf sich über sie.

»Wildkatze!« zischte er. »Bleiben Sie ruhig, dann geschieht Ihnen nichts. Verstanden?«

Benommen vor Entsetzen nickte Melanie. Unverwandt starrte sie auf das Messer und lag stocksteif da. Jetzt kann ich nichts gegen ihn machen, dachte sie ergrimmt, aber ich werde herausbekommen, wer er ist, und dann gnade ihm Gott!

Der erste Anflug von Panik war vorüber, aber Melanie zitterte am ganzen Körper. Scheinbar eine Ewigkeit lag sie da und wartete, aber der Mann bewegte sich nicht und gab keinen Laut von sich. Es war so still, dass Melanie die kleinen Wellen auf den Sand plätschern hören konnte.

Es ist ein Albtraum, dachte sie. Es kann nicht wahr sein. Aber als sie sich vorsichtig unter dem Mann bewegte, zeigte ihr der Druck seines Körpers, dass sie nicht träumte.

Die Hand über ihrem Mund drückte so fest zu, dass Melanie zu ersticken glaubte. Ihr wurde übel, feurige Kreise wirbelten vor ihren Augen. Sie versuchte die herannahende Ohnmacht niederzuringen. Dann hörte sie den Mann mit einem unsichtbaren Gefährten reden.

»Hörst du etwas?«

»Noch nicht«, antwortete eine raue Stimme. »Wer, zum Teufel, ist sie?«

»Spielt keine Rolle. Ich werde allein mit ihr fertig.«

In ihrem Zustand hatte Melanie Mühe, das Griechisch zu verstehen. Was hat er mit mir vor? fragte sie sich benommen vor Angst und Atemnot.

»Halt du die Augen offen!« fuhr der Mann fort, der Melanie gefangen hielt. »Ich übernehme das Mädchen.«

»Da – jetzt!«

Melanie merkte, dass der Mann über ihr die Muskeln anspannte. Sie wandte den Blick nicht von dem Messer, das er nun noch fester umklammert hielt.

Schritte hallten von den Felsstufen am Strand her. Aus Panik und Hoffnung schöpfte Melanie neue Kraft. Sie begann wieder um sich zu schlagen, aber der Mann stieß einen leisen Fluch aus und legte sich noch schwerer über sie.

Er roch schwach nach Salz und Meer.

Als er die Haltung veränderte, erhaschte Melanie einen kurzen Blick auf sein vom Mondlicht erhelltes Gesicht. Dunkle, kantige Züge, ein strenger Mund, schmale schwarze Augen. Kalte, harte unerbittliche Augen … Das Gesicht eines Mannes, der vor nichts zurückschreckte.

Warum? dachte Melanie verzweifelt. Ich kenne ihn doch nicht einmal.

»Du folgst ihm!« befahl der Mann seinem Gefährten. »Um das Mädchen werde ich mich kümmern.«

Melanie starrte das Messer an. Plötzlich hatte sie einen bitteren, metallischen Geschmack im Mund. Die Welt schien sich wie rasend um sie zu drehen, und dann löste sie sich in nichts auf.

Die Sterne standen am Himmel, Silber auf schwarzem Samt. Das Meer flüsterte. Der Sand unter dem Rücken war rau. Melanie richtete sich auf und versuchte klar zu denken. Eine Ohnmacht? War sie tatsächlich ohnmächtig gewesen, oder hatte sie geschlafen und alles war nur ein Traum? Sie rieb sich die Schläfen und glaubte schon, ihre Fantasien über wilde Piraten hatten ihr diese Halluzination eingebrockt.

Ein leises Geräusch brachte sie schnell auf die Beine. Nein, sie hatte nicht geträumt. Der Mann kehrte zurück. Melanie sprang den herannahenden Schatten an. Vorhin hatte sie dem unausweichlichen Tod ohne Gegenwehr ins Auge gesehen. Diesmal würde sie kämpfen bis zum letzten Atemzug.

Der Schatten sprang vor, als sie zuschlug, und dann war Melanie wieder unter ihm am Boden gefangen.

»Verdammt, hören Sie auf!« fuhr er Melanie an, als sie ihm mit den Fingernägeln ins Gesicht fahren wollte.

»Den Teufel werde ich tun!« fauchte Melanie ebenso wütend. Sie kämpfte mit vollem Einsatz, bis der Mann sie endgültig unter sich begrub. Atemlos und furchtlos in ihrem Zorn starrte sie zu ihm hoch.

Der Mann musterte finster ihr Gesicht. »Sie sind nicht von hier«, stellte er verblüfft fest, was Melanie so überraschte, dass sie ihren Kampf einstellte. »Wer sind Sie?«

»Das geht Sie nichts an.« Vergeblich versuchte sie, ihre Handgelenke aus seinem Griff zu befreien.

»Sie sollen stillhalten!« wiederholte er und packte fester zu, als ihm bewusst war. Irgendetwas stimmte hier nicht, so viel stand fest, da sie offenbar keine Einheimische war, die sich zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielt. Sein Beruf hatte ihn gelehrt, wie man Antworten erzwang, wenn sich Komplikationen ergaben.

»Was haben Sie mitten in der Nacht am Strand zu suchen?« fragte er kurz angebunden.

»Das Meer«, lautete Melanies zornige Antwort. »Ich wollte schwimmen. Das hätte jeder Idiot erraten.«

Der Mann zog die Brauen zusammen, als dächte er angestrengt nach. »Schwimmen«, wiederholte er. Tatsächlich hatte er sie aus dem Wasser kommen sehen. Vielleicht steckte doch nichts dahinter. »Amerikanerin …«, überlegte er laut. Erwarteten Alexander und Liz Theocharis nicht eine Amerikanerin? Ausgerechnet jetzt!

Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Ein amerikanischer Gast des Hauses Theocharis bei einem Bad im Mondschein … Wenn er die Sache nicht vorsichtig handhabte, konnte er sich auf etwas gefasst machen.

Völlig überraschend lächelte er auf Melanie hinunter. »Sie haben mich hereingelegt. Ich dachte, Sie hätten mich verstanden.«

»Ich habe Sie sehr gut verstanden«, gab Melanie zurück. »Und da Sie im Augenblick Ihr Messer nicht griffbereit haben, dürfte es Ihnen schwer fallen, mich zu vergewaltigen.«

»Vergewaltigen?« Der Mann sah sie verdutzt an. Sein Lachen kam ebenso plötzlich wie eben das Lächeln. »Daran habe ich keinen Augenblick gedacht! Aber wie dem auch sei, schöne Nixe, das Messer war nicht für Sie gedacht.«

»Und warum schleppen Sie mich dann durch die Gegend und terrorisieren mich mit diesem … diesem grässlichen Schnappmesser?« Mut war wesentlich angenehmer als Furcht, stellte Melanie fest. »Lassen Sie mich gefälligst los!« Sie versetzte ihm einen heftigen Stoß, aber er rührte sich nicht von der Stelle.

»Einen Moment!« sagte er leise. Das Mondlicht fiel auf ihr Gesicht. Sie war schön, wunderschön … Sicher war sie männliche Bewunderung gewöhnt. Ein bisschen Charme könnte die Situation entschärfen.

»Was ich getan habe, geschah zu Ihrem Schutz«, sagte er schließlich vorsichtig.

»Schutz!« schnaubte Melanie und versuchte erneut, ihre Arme zu befreien.

»Für Formalitäten blieb mir keine Zeit, Lady. Tut mir Leid, wenn meine … Technik ein wenig ungeschliffen wirkte.« Sein Ton deutete an, dass er sich Melanies Verständnis sicher war. »Würden Sie mir jetzt erzählen, weshalb Sie mutterseelenallein wie die Lorelei auf dem Felsen saßen und Ihr Haar kämmten?«

»Das geht Sie nichts an«, antwortete Melanie zum zweiten Mal.

Die Stimme des Mannes hatte sich verändert und klang jetzt leise und weich. Die dunklen Augen blickten nicht mehr so hart. Melanie wollte fast glauben, sie hätte sich die finstere Rücksichtslosigkeit in diesem Gesicht vorhin nur eingebildet. Aber immerhin spürte sie den Schmerz an den Stellen, wo sich seine Finger in ihren Arm gruben. »Wenn Sie mich nicht sofort loslassen, schreie ich.«

Je länger er Melanies Körper berührte und bewunderte, desto mehr geriet er in Versuchung. Dennoch stand er unvermittelt auf. Es gab noch etwas zu erledigen heute Nacht. »Entschuldigen Sie den Zwischenfall, Lady.«

»Einfach so, ja?« Melanie erhob sich mühsam und schüttelte sich den Sand ab. »Sie zerren mich ins Gebüsch, bedrohen mich mit einem Messer, erwürgen mich halb, und dann entschuldigen Sie sich, als hätten Sie mir versehentlich auf den Fuß getreten. Sie haben Nerven!« Plötzlich fror Melanie. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. »Wer sind Sie, und was soll das alles?«

»Hier.« Der Mann bückte sich und hob Melanies Strandkleid auf. »Ich wollte es Ihnen gerade bringen, als Sie plötzlich auf mich losgingen.«

Er lächelte, als Melanie hastig in das Kleid schlüpfte. Eigentlich jammerschade, diesen schlanken, schönen Körper zu verhüllen, dachte er. »Wer ich bin, ist im Augenblick unwichtig. Und was diesen bedauerlichen Vorfall betrifft – tut es mir Leid. Mehr kann ich leider nicht dazu sagen.«

»Nein?« Melanie nickte kurz und wandte sich dann zur Strandtreppe. »Dann wollen wir mal sehen, was die Polizei dazu meint.«

»Die würde ich an Ihrer Stelle nicht fragen.«

Der Mann hatte leise und freundlich gesprochen, dennoch klang es nicht wie ein Rat, sondern eher wie ein Befehl. Melanie blieb am Fuß des Kliffs stehen. Sie hatte zwar nicht den Eindruck, dass er ihr drohte, aber sie spürte seine Autorität.

Melanie erinnerte sich an die Berührung mit dem harten, muskulösen Körper. Jetzt stand der Mann ganz locker da, hatte die Hände in die Taschen seiner Jeans geschoben und lächelte. All das konnte jedoch nicht verbergen, dass er sich hier als Herr der Lage fühlte und es auch war.

Verdammte Piraten, schoss es Melanie durch den Kopf. Wie kann man die nur interessant finden! Trotzig hob sie das Kinn. »Und warum nicht? Haben Sie etwas zu verbergen?«

»Nein«, antwortete er sanft. »Aber ich lege keinen Wert auf Komplikationen und wollte Sie vorsichtshalber warnen.« Er betrachtete Melanies Gesicht. »Sie kennen die hiesige Polizei nicht, Lady. Fragen, Formulare, Zeitverschwendung durch Bürokratie. Und falls Sie wirklich meinen Namen angeben könnten«, er zuckte mit den Schultern und lächelte Melanie unbekümmert an, »würde Ihnen niemand Glauben schenken. Niemand, Aphrodite.«

Melanie missfiel sowohl dieses Lächeln als auch die anzügliche Art, wie er sie mit dem Namen der Liebesgöttin anredete. Dass sich ihr Blut plötzlich erhitzte, missfiel ihr ebenfalls. »Sie sind Ihrer Sache sehr sicher, wie?« begehrte sie auf, aber schon unterbrach er sie und trat an sie heran.

»Ich habe Sie nicht vergewaltigt, oder?« Langsam ließ er die Hände durch ihr Haar gleiten und packte sie bei den Schultern, sanft und behutsam im Gegensatz zu vorhin. Nixenaugen, dachte er, das Gesicht einer Göttin … Viel Zeit blieb ihm nicht, aber der Moment durfte nicht ungenutzt verstreichen. »Ich habe nicht einmal getan, was ich längst hätte tun sollen.«

Im nächsten Moment presste er den Mund auf den ihren. Sein Kuss war ungestüm und dennoch zärtlich. So etwas hatte Melanie nicht erwartet. Sie stemmte die Hände gegen seine Brust, aber es war nichts weiter als ein kraftloser Reflex. Der Fremde war ein Mann, der die Schwäche einer Frau kannte. Ohne Gewalt anzuwenden, zog er Melanie dichter zu sich heran.

Der Duft des Meeres hüllte Melanie ein, und diese Hitze … sie schien von innen und von außen gleichzeitig zu kommen. Fast spielerisch drang die Zunge des Mannes zwischen ihre Lippen und erforschte ihren Mund, bis Melanies Herz wild zu hämmern begann. Er schob die Hände in die weiten Ärmel ihres Strandumhangs und streichelte ihre Arme und Schultern.

Als Melanie sich nicht mehr wehrte, riss er sie an sich und küsste sie wild. Melanies Herz begann zu hämmern, das Blut brauste in ihren Ohren. Einen Augenblick fürchtete sie, zum zweiten Mal in seinen Armen ohnmächtig zu werden.

»Ein Kuss ist kein strafwürdiges Verbrechen«, flüsterte er in ihr Haar. Sie ist aufregender, als ich glaubte, dachte er, und viel gefährlicher. »Und mit einem zweiten ginge ich auch kein größeres Risiko ein.«

»Nein!« Melanie konnte plötzlich wieder klar denken. Sie stieß den Mann von sich fort. »Sie sind verrückt, wenn Sie glauben, damit ließe ich Sie davonkommen. Ich werde …« Sie unterbrach sich und tastete nervös mit der Hand nach ihrem Hals. Ihre Kette war fort. Melanie schaute den Fremden zornsprühend an. »Was haben Sie mit meinem Medaillon gemacht? Geben Sie es mir sofort zurück!«

»Tut mir Leid, aber ich habe es nicht, Aphrodite.«

»Ich will es wiederhaben.« Diesmal war Melanies energisches Auftreten nicht gespielt. Sie trat dicht an den Mann heran. »Es ist nicht wertvoll. Sie bekommen dafür nicht mehr als ein paar lumpige Drachmen.«

Die Augen des Fremden wurden schmal. »Ich habe Ihr Medaillon nicht. Ich bin kein Dieb.« Seine Stimme klang kalt und mühsam beherrscht. »Wenn ich Ihnen etwas hätte rauben wollen, dann hätte ich mir etwas Interessanteres genommen als Ihre Kette.«

Melanie sah rot. Sie holte zum Schlag aus, aber er fing ihre Hand ab. Zu ihrer Wut kam jetzt noch das Gefühl der Machtlosigkeit.

»Das Medaillon scheint Ihnen viel zu bedeuten«, sagte er ruhig, aber sein Griff war alles andere als sanft. »Ein Andenken an einen Mann?«

»Ein Geschenk von einem geliebten Menschen«, korrigierte Melanie zornig. »Ich erwarte nicht, dass ein Mann wie Sie seinen Wert für mich verstehen kann.« Mit einem Ruck befreite sie ihr Handgelenk. »Ich werde Sie nicht vergessen«, versicherte sie, drehte sich dann um und rannte den Pfad zum Haus hinauf.

Der Mann schaute ihr nach, bis sie in der Dunkelheit verschwand. Dann wandte er sich wieder der Küste zu.

2. KAPITEL

Die Sonne war ein weißer, gleißender Lichtball, der das Meer wie Millionen Diamanten funkeln ließ. Die sanften Bewegungen der Yacht hatten Melanie in eine Art Halbschlaf gewiegt.

Waren der mondbeschienene Strand und der dunkle Mann nicht doch nur eine Ausgeburt der Fantasie gewesen? Blitzende Messer, raue Hände und verzehrende Küsse eines Fremden gehörten nicht in die wirkliche Welt, sondern in die seltsamen verschwommenen Träume, in die Melanie sich geflüchtet hatte, um beruflichen Stress und die Hektik der Großstadt zu vergessen. Sie hatte diese Träume als Sicherheitsventil betrachtet und niemandem etwas davon erzählt.

Das verschwundene Medaillon und die dunklen Male auf ihren Armen waren jedoch reale Tatsachen.

Melanie konnte die Geschichte also nicht ihrer Einbildungskraft zuschreiben.

Sie seufzte leise, drehte den Rücken der Sonne zu und legte den Kopf auf die verschränkten Arme. Wenn sie Liz und Alex ihr Erlebnis berichtete, wären die beiden sicher zu Tode entsetzt. Alex würde sie für den Rest ihres Aufenthaltes auf Lesbos bestimmt unter bewaffneten Schutz stellen und auf eine gründliche Untersuchung bestehen, die viel Zeit kosten und nichts einbringen würde. In diesem Punkt hatte der Fremde mit Sicherheit Recht. Melanie hasste ihn dafür.

Und überhaupt – was hätte sie der Polizei zu Protokoll geben sollen? Dass ein Fremder sie in die Büsche gezerrt, dort ohne erkennbaren Grund festgehalten und dann unversehrt wieder freigelassen hatte? Kein griechischer Polizist würde ein Kuss für ein Verbrechen halten.

Beraubt worden war sie auch nicht. Jedenfalls hätte sie das nicht beweisen können. Im Übrigen mochte sie dem Fremden zwar alle möglichen finsteren Absichten unterstellen, aber in die Rolle eines kleinen Diebes passte er nicht. Vermutlich ist er auf gar keinem Gebiet klein, dachte Melanie verdrossen. Kleinigkeiten waren sicherlich nicht sein Stil.

Und falls man diesen Mann tatsächlich finden und festnehmen würde, stünde sein Wort gegen ihres. Melanie hatte den dumpfen Verdacht, dass sein Wort dann mehr Gewicht hatte.

Also was soll’s, dachte sie. Kein Wort zu Liz und Alex. Nichts als eine dumme Sache um Mitternacht. Eine von vielen seltsamen Begebenheiten im Leben von Miss Melanie James. Ordentlich ablegen und dann vergessen.

Alex kam die Stufen zum Sonnendeck herauf. Melanie stützte ihr Kinn auf die zusammengelegten Arme und lächelte ihm entgegen. Auf der Liege neben ihr bewegte sich Liz und schlief weiter.

»Die Sonne macht sie immer müde.« Alex setzte sich neben seine Frau auf einen Stuhl.

»Ich bin selbst fast eingeschlafen.« Melanie reckte sich, klappte einen Teil der Liege als Rückenlehne hoch und richtete sich auf. »Aber ich wollte nichts verpassen.« Sie schaute über das Wasser zu der Insel hinüber, die wie ein bläulicher Nebel in der Luft zu schweben schien.

»Das ist Chios.« Alex war Melanies Blickrichtung gefolgt. »Und dort«, er deutete nach Osten, »die türkische Küste.«

»So nahe, als ob man hinüberschwimmen könnte.«

»Auf See täuscht man sich leicht in der Entfernung.« Alex zündete sich eine seiner schwarzen Zigaretten an. Der Rauch duftete süßlich und exotisch. »Für diese Strecke müsste man schon ein Meisterschwimmer sein. Mit dem Boot ist es eine Kleinigkeit. Die Schmuggler nutzen das natürlich zu ihren Gunsten aus.« Alex musste über Melanies entgeistertes Gesicht lachen. »Schmuggel ist hier zu Lande seit Generationen üblich, obwohl die Strafen hart sind.«

»Und wieso gelingt es den Schmugglern zu entkommen?«

»Die Nähe der Küste«, erklärte Alex mit einer ausholenden Handbewegung. »Die vielen Buchten, Inseln, Halbinseln und Grotten machen es einfach, ungesehen ins Land zu kommen.«

Melanie nickte. Ein schmutziges Geschäft, bei dem es sich nicht nur um ein paar zollfreie Zigaretten oder Schnaps handelte. »Opium?«

»Unter anderem.«

»Aber Alex!« Seine Gelassenheit irritierte Melanie. »Macht dir das gar keine Sorgen?«

»Sorgen?« wiederholte er und nahm einen langen Zug von seiner eleganten Zigarette. »Weshalb?«

Die Frage verblüffte Melanie noch mehr. »Macht es dir nichts aus, dass sich so etwas Schreckliches in deiner unmittelbaren Nähe abspielt?«

»Ach, Melanie …« Schicksalsergeben breitete Alex die Hände aus. Der dicke Goldring auf seinem linken kleinen Finger blitzte im Sonnenlicht. »Mit meiner Sorge könnte ich nicht aufhalten, was hier seit Jahrhunderten läuft.«

»Aber trotzdem. Direkt vor deiner Haustür …« Melanie unterbrach sich. Sie musste an die Straßen von Manhattan denken. Wer im Glashaus sitzt, hielt sie sich vor, darf nicht mit Steinen werfen. »Ich dachte nur, es müsste dich stören«, schloss sie unsicher.

Alex schaute sie erheitert an und zuckte dann mit den Schultern. »Sorgen und Ärger überlasse ich der Küstenwache und Polizei. Nun erzähle mir lieber, ob dir dein Aufenthalt auf Lesbos bisher gefallen hat.«

Melanie wollte noch etwas zum Thema Schmuggel sagen, ließ es aber. »Wundervoll ist es hier, Alex. Ich verstehe, warum Liz hier so glücklich ist.«

Alex lächelte und zog dann wieder an seiner starken Zigarette. »Du weißt, dass sie dich gern hier behalten möchte. Sie hat dich vermisst. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, weil wir so selten nach Amerika kommen, um dich zu besuchen.«

»Du brauchst dich nicht schuldig zu fühlen, Alex.« Melanie setzte die Sonnenbrille auf und entspannte sich. Das Schmuggelgeschäft hatte schließlich nichts mit ihr zu tun. »Liz ist glücklich.«

»Und du hängst immer noch bei der UNO fest?« Alex’ Ton hatte sich nur unmerklich verändert, aber Melanie merkte, dass das Gespräch jetzt geschäftlich wurde.

»Es ist ein interessanter Job. Die Arbeit macht mir Spaß, ich brauche die Herausforderung.«

»Ich bin nicht kleinlich, Melanie, besonders, wenn es sich um Menschen mit deinen Fähigkeiten handelt.« Alex zog an seiner Zigarette und betrachtete Melanie durch die Rauchwolke hindurch. »Vor drei Jahren habe ich dir einen Job in meinem Unternehmen angeboten. Wäre ich nicht abgelenkt gewesen«, fuhr er dann lächelnd mit einem Blick auf seine schlafende Frau fort, »hätte ich die Sache damals schon perfekt gemacht.«

»Abgelenkt?« Liz schob ihre Sonnenbrille hoch und blinzelte ihren Mann an.

»Du hast gelauscht«, bemerkte Melanie strafend. Ein uniformierter Steward servierte geeiste Drinks. Melanie trank Liz lächelnd zu. »Du solltest dich schämen, Liz.«

»Du hast ein paar Wochen Zeit, es dir zu überlegen, Melanie.« Beharrlichkeit war zweifellos eine von Alex’ erfolgreichen Geschäftstaktiken. »Vorausgesetzt, Liz macht mir keinen Strich durch die Rechnung.« Er nahm sich ebenfalls ein Glas. »Und ich muss ihr beipflichten. Eine Frau braucht einen Mann und Sicherheit.«

»Typisch griechisch!« bemerkte Melanie trocken.

Alex lächelte unbeirrt. »Leider ist Dorian heute verhindert und kann erst morgen kommen. Er bringt meine Cousine Iona mit.«

»Leider Gottes!« bemerkte Liz spöttisch. Alex warf ihr einen scharfen Blick zu.

»Liz ist nicht begeistert von Iona, aber sie gehört zur Familie.« Alex’ Blick sagte Melanie, dass dieses Thema zwischen ihm und Liz schon öfter debattiert worden war. »Ich fühle mich für sie verantwortlich.«

Liz griff seufzend nach ihrem Glas. Dabei berührte sie kurz Alex’ Hand. »Wir fühlen uns für sie verantwortlich«, berichtigte sie ihn. »Iona ist willkommen.«

Alex’ düsteres Gesicht erhellte sich sofort. Er schaute seine Frau so liebevoll an, dass Melanie aufstöhnte.

»Sagt mal, streitet ihr euch eigentlich nie? Wie haltet ihr es nur aus, so friedlich und ausgeglichen zu sein?«

Liz lächelte sie über den Rand ihres Glases hinweg an. »Oh, wir haben auch unsere Momente. Letzte Woche beispielsweise war ich wütend auf Alex, und zwar mindestens … na, eine Viertelstunde lang.«