Nicht ein Wort zu viel - Andreas Winkelmann - E-Book
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Andreas Winkelmann

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Beschreibung

Wenn jedes Wort über Leben und Tod entscheiden kann - der neue Thriller von Nr.-1-Bestsellerautor Andreas Winkelmann.  «Erzähl mir eine spannende Geschichte. Sie darf fünf Wörter haben. Sonst muss dein Freund sterben.» Was wie ein schlechter Scherz klingt, wird grausame Wirklichkeit. Buchbloggerin Faja traut ihren Augen nicht, als sie ihren Kollegen Claas vor sich auf dem Bildschirm sieht: geknebelt, gefesselt, in Todesangst. Die Botschaft ist an sie persönlich gerichtet. Faja hat keine Ahnung, warum. Oder wer dieses perfide Spiel mit ihr treibt. Doch Claas und sie bleiben nicht die einzigen Opfer …  Steckt ein ausgeklügelter Plan hinter der «Challenge» oder purer Wahnsinn?

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Andreas Winkelmann

Nicht ein Wort zu viel

Thriller

 

 

 

Über dieses Buch

«Erzähl mir eine spannende Geschichte. Sie darf fünf Wörter haben. Sonst muss dein Freund sterben.»

 

Was wie ein schlechter Scherz klingt, wird grausame Wirklichkeit. Buchbloggerin Faja traut ihren Augen nicht, als sie ihren Kollegen Claas vor sich auf dem Bildschirm sieht: geknebelt, gefesselt, in Todesangst. Die Botschaft ist an sie persönlich gerichtet. Faja hat keine Ahnung, warum. Oder wer dieses perfide Spiel mit ihr treibt. Doch Claas und sie bleiben nicht die einzigen Opfer … Steckt ein ausgeklügelter Plan hinter dieser «Challenge» oder purer Wahnsinn?

Vita

Andreas Winkelmann, geboren im Dezember 1968 in Niedersachsen, war Bäcker, Soldat, Sportlehrer, Taxifahrer, Versicherungsfachmann und arbeitete in einer Honigfabrik, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er lebt in einem über vierhundert Jahre alten Haus am Waldesrand nahe Bremen. Wenn er nicht gerade in menschliche Abgründe abtaucht, überquert er zu Fuß die Alpen oder wandert am Polarkreis, fischt und jagt mit Pfeil und Bogen in der Wildnis Kanadas oder fährt mit dem Fahrrad durch Skandinavien. «Grenzerfahrungen erweitern den Horizont», findet er.

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Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Zitat aus Songtext von The Sound of Silence © Paul Simon Music, Sony/atv Songs. Llc

Songwriter: Paul Simon

Zitate aus Reinhard Haller, Die Macht der Kränkung, Wals 2015, S. 12 und 120

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01143-4

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für all diejenigen, denen ihre innere Dunkelheit Angst macht.

Wort 1

Wahrheit

1

Sind das Blutspritzer an der Wand?

Es gab noch einige andere Details, die wichtig sein sollten für Claas Rehagen – dass er an einen Stuhl gefesselt war zum Beispiel oder, ganz grundsätzlich, nicht wusste, wo er sich befand und wie er hierhergekommen war –, aber, gottverdammt, woher stammten die Blutspritzer?

Oder waren es gar keine?

Gehörten die roten Flecke vielleicht zu einem Muster, aus dem Licht und Sonne im Laufe der Jahre die Farbe herausgepresst hatten? Aber auf dem einheitlich sandfarbenen Untergrund leuchteten sie so grell, als wären sie erst vor Kurzem entstanden, und sie waren auch nicht gleichmäßig genug verteilt für ein Muster.

Claas’ auf Verbrechen geschulter Verstand wusste: In der Kriminaltechnik kannte man verschiedene Muster von Blutspritzern, die einen Rückschluss darauf zuließen, wie die Person, von der das Blut stammte, getötet worden war. Durch ein Projektil, durch die Klinge eines Messers oder den heftigen Schlag eines Hammers auf die Schädeldecke zum Beispiel. Diese Muster ließen auch Rückschlüsse darauf zu, ob der Täter mit der rechten oder linken Hand getötet hatte, mit welcher Wucht und wo im Raum er sich dabei befunden hatte. Schon immer hatte Claas sich für diese Art von Details begeistert, nun aber jagten sie ihm furchtbare Angst ein.

Denn jetzt ging es um ihn.

Um sein Leben.

Und die Realität.

Nicht den Plot eines Buches oder die Szene eines Films, nein, um die gnadenlose Realität.

Diese Angst war gänzlich anders als alles, was Claas bislang gespürt hatte. Sie schien ihren Ursprung hoch oben an der Wirbelsäule zu haben, an jener empfindlichen Stelle zwischen den Schulterblättern, das Einfallstor, durch das diese Angst seinen Körper nun mit Adrenalin flutete und ihn dazu aufforderte, aktiv zu werden, entweder zu kämpfen oder zu flüchten, doch nichts davon war ihm möglich, und so musste er die Angst aushalten, sie mit allen Sinnen empfinden, ohne sich ablenken zu können.

Gegen die Fesseln hatte er schon gekämpft. Anfangs mit berechtigter Hoffnung, war es doch kein Seil, sondern Frischhaltefolie, die ihn am Stuhl hielt. Mehrfach war sie, Lage um Lage, um seine Oberschenkel und die Sitzfläche des Stuhls geschlungen sowie vom Bauch aufwärts um den Oberkörper und die Lehne bis zum Hals. Er war nackt, nur die Unterhose hatte man ihm gelassen. Die Folie war dick gewickelt, und diese multiplen Schichten waren erstaunlich strapazierfähig. Zwar gaben sie ein wenig nach, aber nicht genug, um entkommen zu können.

Erneut spannte Claas seine Muskeln in den Armen und Schultern an, atmete dabei tief ein, presste mit allem, was er hatte. Lockerte sich die Folie? Bekam er mehr Spielraum? Er wiederholte den Vorgang mehrfach, bevor er erkannte, wie trügerisch die Hoffnung war. Nein, es hatte keinen Sinn. Die Folie hielt ihn gnadenlos fest. Schwitzend, die Atmung ein angstgetriebenes Stakkato, versuchte er hektisch, den Kopf nach rechts und links zu drehen.

Aber die Folie saß bis zum Hals so fest, dass er nur das sehen konnte, was vor ihm war. Der Raum war quadratisch, die Decke vielleicht zwei Meter hoch, ein Fenster gab es nicht. Mattes Licht fiel durch eine vergilbte Kunststoffhaube schräg oben vor ihm in der Decke in den Raum. Der metallene Aufsteller, mit dem sich die Haube öffnen ließ, war an der Schachtseite mehrfach verschraubt. Die verstaubten Spinnweben zeugten davon, dass lange niemand mehr versucht hatte, die Haube zu öffnen. Sie bewegten sich, so als gäbe es dort oben einen leichten Luftzug.

Der Fußboden des Raumes war von Holzsplittern übersät, die von den rohen Dielenbrettern aus billigem Nadelholz stammten. Links, ein Stück vor seinem Stuhl, klaffte ein großes Loch im Boden, und es wirkte, als sei es von riesigen Klauen brutal hineingerissen worden. In dem Loch, so viel konnte Claas erkennen, lauerte Dunkelheit. Lag darunter ein Keller? Ein Verlies? Lebte etwas oder jemand darin?

In den Ecken rotteten sich graue Wollmäuse zusammen. Claas’ Augen waren so gut, wie sie es mit achtundzwanzig sein sollten, und jetzt erkannte er, dass die ihm am nächsten liegende Wollmaus zu einem Teil aus blonden Haaren bestand.

Frauenhaare?

Blutspritzer an der Wand.

In diesem Raum war bereits getötet worden.

Würde er der Nächste sein?

Die Angst blockierte sein Denken, aber einige Synapsen leisteten Widerstand, warfen die Frage auf, ob sich hier jemand einen Scherz mit ihm erlaubte. Gewiss ein Scherz, der den üblichen Rahmen sprengte, aber eben nicht mehr als das. Morbider Humor war unter den Menschen, mit denen er sich umgab, nicht ungewöhnlich, und wenn diese sich ein Ziel dafür aussuchen dürften, wäre ihnen Claas sicher willkommen.

Er sagte, was er dachte, und das war anderen schon immer ein Dorn im Auge und machte ihn zum Ziel für Neid, Spott und Gewalt. Erst neulich hatte er bei Insta einen Kommentar lesen müssen, in dem ihm jemand wünschte, er möge doch bitte an seinen eigenen Worten qualvoll ersticken. Doch Todesdrohungen waren selten, meist ging es nur darum, ihn einen kleinen miesen Wichser zu nennen, der selbst nichts auf die Kette bekam und darum andere kritisieren musste. Diese Leute verstanden natürlich nicht, worum es ihm wirklich ging, nämlich um Ehrlichkeit, und wer auf einem solch niedrigen Niveau kommunizierte, war für Diskussionen nicht erreichbar, deshalb führte Claas sie erst gar nicht. Was ihm wiederum als Arroganz ausgelegt wurde.

War dies die Rache dafür?

Woher das Geräusch plötzlich kam, konnte Claas nicht bestimmen. Es war ein Dröhnen, das von überall zu kommen schien. Herzschlag und Puls wollten sich einfach nicht beruhigen, jagten sein Blut mit Hochgeschwindigkeit durch den Körper. Eine winzig kleine Wunde, und er wäre binnen Minuten verblutet. Zudem schwitzte er stark unter der Folie.

Irgendwo hinter ihm öffnete sich eine Tür. Ein kühler Luftzug erfasste seinen schwitzenden Körper. Am Boden begannen die Wollmäuse einen Tanz. Claas glaubte, einen besonderen Geruch wahrzunehmen, den er nicht einordnen konnte. In dieser Situation jemanden in seinem Rücken zu spüren, ihn oder sie aber nicht sehen zu können, brachte ihn beinahe um den Verstand. In seinem Nacken stellten sich die feinen Härchen auf – war es die Zugluft, die sich dort verfing, oder der Atem der fremden Person? Seine Haut zog sich unangenehm zusammen, als wolle sie einen Panzer bilden gegen was auch immer.

Unerwartet legte sich ein Tuch über seine Augen und wurde blitzschnell und geschickt an seinem Hinterkopf verknotet. Claas schrie, flehte, ihn zu verschonen, ihn gehen zu lassen. Das tat er, bis er einen Knebel in den Mund gesteckt bekam, der ihm die Zunge gegen den Gaumen drückte und ihn glauben ließ, ersticken zu müssen. Claas wehrte sich heftig, der Stuhl, an den er foliert war, hüpfte auf und ab, schabte lautstark über die Dielen und drohte umzukippen. Erst ein Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht ließ ihn innehalten. Seine Wange brannte vom Ohr bis zur Lippe.

Die Person, die ihm das antat, sagte nichts. Sie bewegte sich im Raum hin und her, hantierte mit Gegenständen, die metallisch klapperten. Dann glaubte Claas zu hören, wie die Beine eines Stativs ausgefahren und fixiert wurden. Da er als Instagrammer und Youtuber ständig Stative benutzte, kannte er dieses Geräusch gut. Ein schnelles Ratschen, gefolgt von einem Klicken. Schließlich bekam Claas etwas um den Hals gehängt. Eine Kette, die sich kühl auf seinen verschwitzten Nacken legte.

Sein Peiniger entfernte die Augenbinde.

Claas blinzelte sich die Sicht frei.

Das schwarzblaue Auge einer Videokamera glotzte ihn an. Gleich daneben signalisierte eine winzige rote Lampe, dass die Aufnahme lief. Claas senkte das Kinn, um zu sehen, was um seinen Hals hing. Er sah ein großes Stück Papier auf seiner Brust liegen, mehr aber nicht. Das Papier wirkte alt oder als sei es selbst geschöpft worden.

Wenn er sich nicht täuschte, stand irgendetwas darauf. Buchstaben, Text, eine Botschaft.

Vielleicht die Lösegeldsumme, die sein Peiniger für seine Freilassung forderte.

2

Besonders intensiv hat sich mir die Macht der Kränkung in meiner Tätigkeit als Kriminalpsychiater und Gerichtsgutachter gezeigt. Bei zahlreichen Mördern, Räubern oder Attentätern war kein anderes Motiv als tiefe Gekränktheit zu finden.

In der Dunkelheit des Wagens lauschte Jaroslav Schrader dem Hörbuch «Die Macht der Kränkung» von Reinhard Haller. Eigentlich zog er das gedruckte Buch vor, aber während einer Observation war es kontraproduktiv, die Nase zwischen Buchdeckel zu stecken. Es galt, die Umgebung im Blick zu behalten.

Viele große Verbrecher erweisen sich im Grunde als gekränkte Genies. Kränkungen sind oft die Wurzel kriminellen Verhaltens, von impulsiven Stehlhandlungen und Brandstiftungen bis zu Beziehungsdelikten und Familientragödien reichend. In neuerer Zeit bilden Kränkungen und Demütigungen die Basis des modernen Terrors.

Jemand näherte sich dem Haus, das Jaro beobachtete. Er hatte den dunklen Dienstwagen auf dem Parkplatz einer Spielhalle abgestellt, die um diese Zeit noch geöffnet war. Licht gab es hier hinten keines, die bunte Leuchtreklame ging nach vorn zur Straße raus, sein Wagen als einer von rund einem Dutzend stand hier gut geschützt. Vor zwei Stunden war die Sonne untergegangen, hatte ihren täglichen Kampf gegen die Dunkelheit eingestellt, ruhte sich aus, um morgen voller Tatendrang wieder anzugreifen. Richtig dunkel war es in der Stadt aber nie, Licht aus Hunderten unterschiedlichen Quellen kumulierte zu einer urbanen Aura, die die Stadt umschloss wie die Stratosphäre die Erdkugel.

Jaroslav würgte den Sprecher ab, rutschte tiefer in den Sitz und beobachtete. Die Person kam von rechts und hielt sich dicht an der Hauswand. Schlaksig war sie, und schlaksig bewegte sie sich. Die Arme schlenkerten an den Seiten, der Kopf wog hin und her. Was wohl als coole Attitüde gedacht war, wirkte nach außen einfach nur albern. Jaro musste grinsen.

«Guten Abend, mein Freund», sagte er leise, dann gab er an seine Kollegen durch, was er sah.

«Männliche Person. Größe und Figur passen. Macht euch bereit», flüsterte er ins Mikro.

«Ist er es?»

«Er ist es.»

«Sollen wir zugreifen?»

Jaro dachte nach und entschied sich dagegen.

«Nein, wir warten noch einen Moment. Wenn er drin ist, sitzt er in der Falle. Für hier draußen ist mir der Junge zu schnell.»

«Du bist doch auch schnell.»

«Vielleicht, aber ich bin zwölf Jahre älter.»

Johannes Jorgensen war zweiundzwanzig und topfit. Seine Kraft und Ausdauer nutzte er schon mal, um nach Raubüberfällen schnell zu verschwinden oder um jemanden krankenhausreif zu schlagen, der sich ihm in den Weg stellte. Jaro hatte keine Angst vor dem Mann, wusste dessen Fähigkeiten aber einzuschätzen. Brutal, schnell, zielstrebig, aber nicht besonders schlau. Keine Schulbildung, keine Ausbildung, eine Verbrecherkarriere wie aus dem Bilderbuch.

Jaro zog den Zündschlüssel ab und bereitete sich darauf vor auszusteigen. Eine, vielleicht zwei Minuten noch, dann würde er dem Mann folgen, hinauf in die Wohnung, in der seine Freundin auf ihn wartete.

«Sollen wir nicht langsam mal loslegen?», kam die drängende Frage seiner Kollegen über Funk.

«Jetzt macht mal halblang und gönnt dem armen Kerl für ein paar Minuten seinen Spaß, bevor er die nächsten zehn Jahre hinter Gittern verbringt», erwiderte Jaro.

«Halte ich für einen Fehler. Aber du hast ja die Einsatzleitung.»

Das war Harald. Der dienstältere, aber im Rang unter ihm stehende Harald Mertens, dem es viel zu oft gefiel, an Jaros Führung herumzukritteln. Immer häufiger tat er es sogar vor Kolleginnen oder Kollegen. Nicht mehr lange, dann würde Jaro dem Einhalt gebieten müssen. Ein Team war nicht so gut wie sein schwächstes Glied, sondern so schlecht wie sein stärkstes Ego. Wenn Männern eines im Weg stand, dann ihr Ego – und davon hatte Harald zu viel.

Vorerst aber schluckte Jaro jede Bemerkung hinunter. Es gab jetzt Wichtigeres.

Johannes Jorgensen, ein Däne, der die europäische Freizügigkeit nutzte, um nicht in Dänemark, sondern in Deutschland sein Unwesen zu treiben, drückte die unverschlossene Haustür auf. Bevor er das Gebäude betrat, drehte er sich um, betrachtete die Straße, und sein Blick ging genau in Jaros Richtung zum Parkplatz der Spielhalle hinüber.

Konnte er ihn auf diese Entfernung sehen? Und wenn ja, zog er die richtigen Schlussfolgerungen? Jorgensen musste jederzeit damit rechnen, festgenommen zu werden. Jemand, der so lebte, war ständig auf der Hut. Andererseits war der Däne bisher immer davongekommen, wahrscheinlich hatte eine gewisse Hybris längst Besitz von ihm ergriffen. Wenn Typen wie er glaubten, niemand könne ihnen ans Bein pinkeln, standen sie schon bis zum Hals in der Jauche.

Jorgensen sollte ruhig erst mal nach oben gehen, in die Wohnung seiner Freundin. Der richtige Moment für den Zugriff war gekommen, wenn die beiden zur Sache kamen. Wem die Unterhose um die Fußknöchel schlackerte, der lief nicht besonders schnell. Hier draußen war die Gefahr zu groß, dass sie die Verfolgungsjagd verlieren würden.

Der Däne schien beruhigt zu sein. Er betrat das Gebäude, die Tür fiel zu.

Jaro stieg aus, dehnte und streckte sich und ließ Knochen knacken. Für seine knapp zwei Meter Körpergröße waren die langen Stunden im engen Dienstwagen Gift. Er überprüfte seine Dienstwaffe und wartete, bis seine Kollegen zu ihm kamen. Vier männliche Beamte, zwei Anfänger und zwei altgediente Kollegen. Man kannte sich, hatte schon das eine oder andere Mal zusammen gejagt.

«Ich verstehe nicht, warum wir nicht sofort zugegriffen haben», blaffte Harald Mertens sofort.

«Weil wir ihn oben in der dritten Etage in einer wehrlosen Situation überraschen, während er hier draußen auf der Hut ist und gleich mehrere Fluchtwege hat. Oder willst du ihm vielleicht hinterherrennen?»

Weil er das Du besonders betonte, war es eine Anspielung auf Haralds Übergewicht, die jeder hier verstand. Aber Harald hatte auch selbst Schuld. Was sollte die Diskussion zu diesem Zeitpunkt? Sie mussten sich auf die Festnahme fokussieren, interne Rangeleien lenkten nur ab. Denn ganz gleich, wie viele Zugriffe sie schon hinter sich gebracht hatten, man wusste nie, wie es ablief, was passieren würde.

«Okay», begann Jaro, um von Mertens’ Einwand abzulenken. «Ihr habt die Akte gelesen, wisst, was euch erwartet. Wir müssen schnell und konsequent sein. Jorgensen ist nicht der schlimmste Finger an der Hand, aber ich schätze, er möchte nicht in den Knast wandern und wird alles daransetzen, das zu verhindern. Alles klar? Können wir?»

Die Männer nickten, außer Harald. Der schaute demonstrativ in die andere Richtung. Versteinerte Gesichter, keine zur Schau gestellte Langeweile darin, sondern Konzentration. Ein bisschen Angst auch. Das war gute Angst, die wach hielt.

Jaro ging voran. Die Eingangstür wechselte vollkommen geräuschlos von einer Hand in die andere. Auch auf der Treppe waren die fünf Männer kaum zu hören. Sie mussten in die dritte Etage, hoch genug, um davon ausgehen zu können, dass niemand durchs Fenster flüchtete.

Vor der Tür der Wohnung warteten sie, bis ihre Atmung sich beruhigt hatte. Erhöhte Atemfrequenz bedeutete niedrigere Konzentration. Es gab kein Namensschild, aber Jaro wusste, hier lebte Mandy Stein, eine drogenabhängige junge Frau, die sich aus welchem Grund auch immer mit Jorgensen eingelassen hatte. Der Tipp kam von Holunder, einem Informanten aus der Szene, dem Jaro vertraute. Er hatte einen ordentlichen Namen, aber alle nannten ihn Holunder, weil er den Saft der Beeren zu Sirup verarbeitete und mit Amphetaminen anreicherte. Jaro hatte mal davon probiert. Schmeckte gar nicht schlecht, war aber nicht wirklich gesund. Außerdem färbte er die Zähne blau. Holunder verkaufte auch Marihuana, aber nie die richtig fiesen Sachen.

«Ich will, dass ihr alle nach diesem Einsatz zu euren Frauen unter die Decke kriecht», flüsterte Jaro. «Wehe, einer entscheidet sich für eine Krankenschwester.»

Niemand lächelte.

Sie hielten ihre Dienstwaffen in den Händen. Die Anspannung war an ihrem Höhepunkt angekommen.

Wenn jemand Jaro nach seinem Job fragte und er antwortete, er sei Zielfahnder, dann stellten die Leute sich genau solche hoch spannenden, nervenaufreibenden Situationen vor, doch oft war das Gegenteil der Fall. Warten. Beobachten. Fragen stellen. Akten wälzen. Videomaterial auswerten. Wieder beobachten. Nächtelang. Tagelang.

Jaro klingelte und trat von der Tür weg. Niemand wusste, ob Jorgensen eine Schusswaffe besaß. Nach dem ersten Mal tat sich noch nichts, also klingelte er noch einmal.

«Ja?», kam es zaghaft aus der Wohnung. Eine Frauenstimme.

«Polizei, öffnen Sie die Tür.»

Hektische Schritte auf Laminatboden. Getuschel, leise, aber aufgeregt.

Jaro wiederholte seine Aufforderung, doch niemand wollte ihr nachkommen. Ein kurzer Anlauf reichte für die dünne Tür. Er brachte seine einhundertzwei Kilo in Bewegung, rammte die rechte Schulter gegen das Türblatt, hörte Holz brechen, wiederholte den Ansturm, und die Tür flog auf.

Ohrenbetäubende Frauenschreie. Hoch und schrill.

Jorgensen zog sich rückwärts in den Wohnraum zurück. Seine linke Hand lag auf Mandys Stirn und presste ihren Kopf gegen seinen Brustkorb. Die rechte Hand hielt ein Küchenmesser, die Schneide an Mandys Kehle. Er drückte so fest zu, dass bereits ein wenig Blut aus der oberflächlichen Wunde trat.

«Verschwindet, oder ich stech das Miststück ab!», schrie er. Entgegen seinem schlaksigen Äußeren hatte er den tiefen Bariton eines kräftigeren Mannes. Tatsächlich trug er nur noch seine Unterhose und offenbarte einen trainierten Körper, dem die Drogen bisher nichts hatten anhaben können. Seine Brust war dicht bedeckt von Tattoos, an jedem der acht Finger trug er goldene Ringe, auf seinem vorderen rechten Oberschenkel leuchtete die Narbe einer nicht lang zurückliegenden Verletzung. Wahrscheinlich war sie der Grund, warum Jaro den Mann in den letzten Monaten nicht hatte finden können. Er hatte sich nicht bewegt, hatte in irgendeiner Höhle gelegen wie ein wildes Tier und seine Wunden geleckt.

Jaro steckte die Waffe weg, hob die leeren Hände und folgte den beiden in den Wohnraum.

«Komm schon, mach keinen Scheiß. Heute hast du verloren, das nächste Mal gewinnst du wieder. Aber wenn du das hier durchziehst, gibt es für dich kein nächstes Mal.»

Erst jetzt bemerkte Jaro, dass der junge Mann unter Drogeneinfluss stand. Seine Augen verrieten es. Weit aufgerissen, gerötet, die Pupillen vergrößert, zudem schwitzte er stark, obwohl er nur seine Unterhose trug.

«Ich schwöre, ich schneide ihr den Hals auf», drohte Jorgensen.

«Dann sitzt du im Knast, bis du fünfzig bist, vielleicht sogar länger, und ich muss dir ja nicht sagen, was man im Knast von Männern hält, die wehrlose Frauen töten, oder? Komm schon, das muss doch nicht so enden. Lass Mandy da raus, die kann nichts dafür.»

«Das Dreckstück hat mich verpfiffen.»

Jaro schüttelte den Kopf. «Das musste sie gar nicht. Ich klebe dir seit Monaten an den Hacken.»

Jaro hoffte, dass seine Stimme fest, entschlossen, gleichzeitig aber empathisch genug klang. In seinem Inneren sah es nämlich ganz anders aus. Sein eigenes Leben zu gefährden war eine Sache. Das gehörte zum Job dazu. Aber nicht das der jungen Frau, sosehr am Rande der Gesellschaft dieses Leben auch spielte. Jaro war der Letzte, der sich ein Urteil darüber erlauben durfte, welches Leben wertvoll war und welches nicht. Niemand durfte das. Und ohne jeden Zweifel war Mandys Leben ein zu hoher Preis, um Jorgensen in den Knast zu bringen.

Anderer Tag, anderer Ort, schoss es Jaro durch den Kopf.

Jorgensens Hand zitterte. Er hatte sich nicht unter Kontrolle, wusste nicht, was er tun sollte. Die Situation kippte. Jaro musste den Druck rausnehmen.

«Okay, okay», sagte er und machte einen Schritt rückwärts. «Wir ziehen uns zurück. Aber tu ihr nichts, ja?»

«Ihr sollt abhauen! Wenn ich euch vor dem Haus sehe, schmeiße ich sie aus dem Fenster.»

«Kein Problem, Mann, wir hauen ab. Machen Feierabend. Ist eh schon viel zu spät.»

Jaro bewegte sich rückwärts aus der Wohnung, seine Kollegen taten es ihm gleich.

«Tür zu!», brüllte Jorgensen, als sie im Treppenhaus standen.

Jaro lehnte die Tür an, schließen ließ sie sich nicht mehr.

«Scheiße!», sagte Harald Mertens hinter ihm. «Wir hätten ihn draußen hopsnehmen sollen.»

«Wir schnappen ihn ein andermal», sagte Jaro. «Rückzug, komplett.»

«Spinnst du?», versetzte Harald. «Der Typ steht unter Drogen, wir können den nicht mit der Frau dadrinnen allein lassen.»

«Hast du einen besseren Vorschlag?», fuhr Jaro ihn heftiger an, als es nötig war. Er hatte das Gefühl, die Situation nicht mehr unter Kontrolle zu haben, und das hasste er.

Harald wollte etwas sagen, ließ es dann aber doch. Genauso gut wie Jaro wusste er, die Wohnung zu belagern brachte wenig, Jorgensen zum Aufgeben zu überreden ebenso.

Und da war sie auch schon, die Stimme.

Ihre Stimme!

Jaro hatte damit gerechnet. Früher oder später hörte er sie in Stresssituationen immer. Sie war nur in seinem Kopf, für niemanden sonst hörbar, ein Echo der Erinnerung in seinen Synapsen. Leise, sanft, beinahe zärtlich. Sie wollte ihm nichts Böses, sorgte aber dafür, dass seine Konzentration vollends verloren ging.

Sei vorsichtig.

«Raus hier!», schrie Jaro und scheuchte seine Männer die Treppe hinunter. Bewegung half. Schreien half. Dann verstummte die Stimme. Zumindest vorübergehend. Die aufgerüttelte Erinnerung blieb jedoch noch eine Weile präsent, so wie die Schaumkrone auf einem frisch eingeschenkten Bier.

Seine Männer gehorchten, polterten die Treppen hinunter.

Unten angekommen, traten sie auf den nächtlich beleuchteten Bürgersteig hinaus. Die Straße war menschenleer. Die Stille passte nicht zur Situation und Jaros tosendem Inneren, und sie wurde beinahe sofort unterbrochen.

Ein kurzer, gellender Schrei, der abrupt endete, als Mandys halb nackter Körper auf dem Asphalt aufschlug.

Jorgensen hatte Wort gehalten.

3

«… und als endlich kein Leben mehr in ihr war, erhob er sich von dem Leichnam, legte den Kopf in den Nacken, sah zum Vollmond hinauf, dessen Licht er schon immer dem der Sonne vorgezogen hatte, und flüsterte: ‹Hello darkness, my old friend. I’ve come to talk with you again.›»

 

Die Stille war beängstigend tief, ließ Atem und Herzschlag der Menschen stocken. Von der Dramatik der Szene gepackt, starrte Faja Bartels den Mann an, der vorn auf der Bühne saß und leise den Beginn des Kultsongs von Simon and Garfunkel zitierte. Die kleine Lampe auf dem Tisch neben ihm schuf eine Insel aus Licht, es war seine Insel, seine Bühne, die Aufmerksamkeit galt allein ihm. Ganz langsam, so als sei die Zeit eine zähe, schwere Masse, schlug er das Buch zu, hob den Kopf, nahm die schwarze Brille ab und ließ seinen Blick über die Zuhörerinnen und Zuhörer gleiten. Er lächelte nicht, zeigte keine Gefühlsregung, dabei hatte er soeben einen grausamen Mord in einer so perfekten Intonation vorgelesen, als sei er selbst der Täter.

David Sanford war ein Meister seines Faches, und er schlug Faja Bartels ebenso in den Bann wie alle anderen. Deshalb verpasste sie ihren Einsatz, den sie ohnehin gern vermieden hätte. Sie war in der Buchhandlung nur angestellt, aber ihre Chefin hatte starke Rückenschmerzen, und so war es an Faja, den Abend zu gestalten. Immerhin hatte die Chefin ihren Sohn Dirk abgestellt, der nach der Lesung beim Aufräumen helfen würde.

Einer der Gäste hustete, andere fielen mit ein, der Geräuschpegel hob an und riss Faja Bartels aus ihrer Starre.

Sie stand auf, begann zu applaudieren, und das Publikum fiel ein. David Sanford erhob sich aus dem grünen Sessel, legte das Buch beiseite und verbeugte sich dankend. Der Mann war mit seinem Erstlingswerk richtig durchgestartet, entsprechend lange hatte es gedauert, ihn für eine Lesung buchen zu können. Sein Honorar fraß die Eintrittsgelder und noch mehr, aber die Presse war da, gleich zwei Zeitungen, und die Berichterstattung als Marketing eben unbezahlbar.

Noch während der Applaus anhielt, meldete Fajas Handy den Eingang einer Nachricht bei WhatsApp. Sie warf einen schnellen Blick auf das Display, sah, dass die Nachricht von Claas Rehagen stammte, der zu ihrer Insta-Gruppe, den Bücherjunkies, gehörte. Bestimmt wollte er wissen, wie die Lesung war. Claas hielt nichts von Sanford, hatte das Buch in seiner Rezension verrissen und dem Schriftsteller vorgeworfen, dem Mainstream nach dem Mund zu schreiben. Und selbst wenn er nicht zweihundert Kilometer weit entfernt gewohnt hätte, wäre er nicht zu der Veranstaltung gekommen. Claas hatte das so oft wiederholt, dass Faja zu der Überzeugung gelangt war, er hätte sehr wohl gern daran teilgenommen, es nur nicht zugeben wollen. Jetzt musste er eben so lange schmoren, bis Faja Zeit für ihn hatte. Sie steckte das Handy weg.

Sie musste nach vorn auf die Bühne. Sich bedanken, lobende Worte finden. So etwas lag ihr nicht, und sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen schoss. Selbst mit zweiunddreißig litt sie noch unter Minderwertigkeitskomplexen und hatte die Hoffnung aufgegeben, dass sie je verschwinden würden. Sie nahm den Blumenstrauß und trat vor. Die meiste Zeit ihres Lebens dachte Faja nicht daran, aber in Situationen wie dieser zog sich die geschädigte Haut auf ihrer rechten Gesichtshälfte schmerzhaft zusammen und rief ihr ins Gedächtnis, dass sie nicht aussah wie alle anderen.

Der Blumenstrauß hinterließ eine Tropfspur von der Vase bis zur Bühne. Nervös trat Faja die zwei Stufen hinauf und quetschte das letzte Wasser aus den Stängeln. Leider hielt der Applaus noch an. Sie musste warten. Dort oben, neben ihm, quasi im Scheinwerferlicht, alle Augen auf sie gerichtet, und Faja fragte sich zum hundertsten Mal, ob sie richtig angezogen war. Sie trug ein knielanges schwarzes Kleid, das einzige, das sie besaß, kam sich darin aber verkleidet vor.

Endlich ebbte der Applaus ab. Faja räusperte sich, fand ihre Stimme irgendwo tief in ihrem Bauch, zog sie mühsam herauf und stolperte durch die ersten Worte.

Sie bedankte sich bei Sanford, und als sie ihm den Blumenstrauß entgegenhielt, zog er die rechte Augenbraue hoch. Seinen spöttischen Gesichtsausdruck untermalte er mit den Worten, da habe er heute Abend wenigstens noch etwas zu tun, wenn er versuchen würde, die Blumen irgendwie in den Koffer zu bekommen.

Die Hitze in Faja nahm zu, die Haut spannte noch mehr.

Sie wäre gern im Erdboden versunken und war dankbar, als die erste Welle Fans gegen die Bühne brandete, um sich ihre Bücher signieren zu lassen. Faja zog sich in den Hintergrund zurück und schoss mit ihrem Handy ein paar Fotos für Social Media. Der Pressefotograf mit seiner professionellen Kamera ging vor David Sanford auf die Knie, und der Schriftsteller setzte für ihn einen sympathischen Blick auf. Er sah irgendwie künstlich aus, fand Faja. Zwar fit für einen Mann an die fünfzig, die Haut aber zu braun, das volle Haar dunkel getönt.

Um sich abzulenken, öffnete sie WhatsApp, um zu sehen, was Claas wollte, kam aber nicht dazu, seine Nachricht zu öffnen. Eine Kundin trat auf sie zu. Faja kannte sie, sie kam regelmäßig in den Laden.

«Ein wirklich großartiger Abend! Vielen, vielen Dank!»

Sie strahlte und hielt ihr signiertes Exemplar von Dunkelheit, mein Freund in die Höhe. Das Buch hatte in den letzten Wochen die Bestsellerlisten gestürmt, stand auf Platz eins und würde dort wohl noch eine Weile bleiben.

«Das freut mich», entgegnete sie.

«Wie kann ein so sympathischer Mensch so gruselige Bücher schreiben?», fragte die Kundin.

«Vielleicht, weil er gar nicht sympathisch ist», wollte Faja antworten, beließ es aber bei einem zustimmenden Lächeln.

Die Kundin ging fort, und Faja nahm das Handy erneut hoch. Sie wollte ein Foto auf Instagram bei den Bücherjunkies posten, ihren Freundinnen und Freunden zeigen, wie gut sie den Abend meisterte. Allerdings stolperte sie über das Standbild des Videos, das Claas Rehagen ihr geschickt hatte.

Um Gottes willen!

Was sollte das?

4

Nein, tu das bitte nicht. Er ist es nicht wert.

Ein Teil von Jaroslav Schrader wollte auf die Stimme in seinem Inneren hören, aber dieser Teil war klein und wurde mühelos überspült von einer gigantischen Welle der Wut, die wie ein Tsunami in den sicheren Hafen brandete, in dem er einst zusammen mit der Stimme gelebt hatte.

Blutspritzer klebten auf seiner Kleidung und warm in seinem Gesicht.

«Einen Notarzt!», rief Harald Mertens und beugte sich über Mandy Stein. Doch den brauchte sie nicht mehr. Mit dem Kopf voran war sie aus dem dritten Obergeschoss auf dem Gehsteig aufgeschlagen, die Wirbelsäule gebrochen, ihre toten Augen fingen das Licht der Straßenlaternen. Diese Spiegelung verzerrte Jaroslavs Weltbild, schmolz es auf Wut und Rache zusammen. Diese Reaktion war ihm nicht unbekannt, aber er hatte geglaubt, sie beherrschen zu können. Was für ein Irrtum.

Er fuhr auf den Fersen herum und lief ins Haus zurück.

«In den Innenhof!», schrie er seine Männer an, dann stürmte er die Treppe wieder hinauf, hörte Schritte hinter sich, bemerkte Mertens, der aber nicht schnell genug war, um mithalten zu können.

Nein, tu das bitte nicht. Er ist es nicht wert.

Er konnte nicht auf die Stimme hören. Sie hatte nicht gesehen, was er gesehen hatte, spürte nicht die Blutspritzer auf seinen Wangen antrocknen, wusste nicht um all die sinnlose Gewalt, der er jeden Tag ausgesetzt war. Jeder Mensch hatte seine Grenzen, auch Polizeibeamte, und Jaro spürte, dass er seinen Point of no Return überschritt, als er den Treppenabsatz in der dritten Etage erreichte.

Ohne Zögern stürmte er in die Wohnung.

Jorgensen war nicht zu sehen, aber der starke Luftzug im Flur ließ Jaro erahnen, wo er ihn finden würde. Er ignorierte, was er in seiner Ausbildung gelernt hatte, lief an zwei Türen vorbei, ohne die dahinterliegenden Räume zu sichern, erreichte das Wohnzimmer und sah das weit geöffnete Fenster, das auf den Innenhof des Gebäudes hinausging.

Jorgensens rechtes Bein lag bereits auf dem Fenstersims, das linke stand noch im Wohnzimmer. Er war dabei hinauszuklettern.

«Lass es», rief Jaro.

Jorgensen warf ihm einen furchterregenden Blick zu. Er war panisch, hatte gänzlich die Kontrolle über sein Handeln verloren, die längst die Drogen übernommen hatten. Für das, was er Mandy gerade angetan hatte, würde er nicht mit der Härte bestraft werden, die er verdiente. Er würde wieder einmal davonkommen.

Jorgensen zögerte, blieb rittlings auf dem Sims sitzen, die Finger an den Fensterrahmen geklammert.

«Mach keinen Scheiß», sagte Jaro leiser als zuvor und trat einen Schritt auf den Mann zu.

«Bleib weg von mir!», rief Jorgensen. «Du sollst wegbleiben, oder ich springe.»

Jaro schüttelte den Kopf.

«Warum?», fragte er. «Du hättest Mandy nicht töten müssen. Das war vollkommen sinnlos.»

«Die Schlampe hat mich verpfiffen.» Jorgensens Stimme klang weinerlich.

«Ich hab’s dir schon gesagt: Sie war das nicht. Holunder hat dich verpfiffen.»

«Ich glaub dir kein Wort, Scheißbulle. Und jetzt hau ab, sonst hast du noch jemanden auf dem Gewissen.»

Jaros Gedanken rasten. Heute hatte er bereits einen unverzeihlichen Fehler gemacht, der Mandy das Leben gekostet hatte, einen zweiten konnte und wollte er sich nicht leisten. Die Frage war aber, was er als weiteren Fehler wertete. Nicht seine Kollegen, nicht die Medien, nicht seine Chefin, nein, nur er selbst. Was würde er beim nächsten Blick in den Spiegel sehen? Einen Mann, der sich treu geblieben war, oder einen Feigling?

Jaro warf einen schnellen Blick zur Tür. Jeden Moment würde Mertens auftauchen.

Er wandte sich erneut Jorgensen zu.

«Lass uns reden …», sagte er und tat den nächsten Schritt.

5

Da sie nicht glauben konnte, was sie sah, zog Faja Bartels das Bild mit zwei Fingern größer. Aber es stimmte. Claas saß auf einem Stuhl. In seinem Mund steckte ein Knebel, seine Augen waren weit aufgerissen, sein Körper war mit Frischhaltefolie umwickelt. Augenscheinlich war er damit an den Stuhl gefesselt.

Sie hätte das Video gern gestartet, um zu schauen, was für einen Mist Claas sich wieder ausgedacht hatte, damit er nicht zugeben musste, neidisch auf ihren Abend zu sein, traute sich aber nicht. Es waren noch zu viele Menschen im Buchladen, ein Bienenstock, in dem es summte und surrte. In den engen Gängen kam es zu Kollisionen, Sektgläser klirrten, das Stimmengewirr nahm noch zu, jetzt, da sich die Anspannung legte.

Hundertunddrei Gäste waren gekommen, zumeist Frauen, und bis auf ein paar wenige ließen sich alle ihr Buch signieren. Erfahrungsgemäß dauerte es eine Stunde, bis auch die letzten Gäste den Laden verlassen hatten. Faja hatte jetzt keine Zeit für Claas’ morbiden Humor, auch wenn sie ihn sonst mochte. Sollte jemand ihrer Chefin erzählen, dass sie ins Handy gestarrt hatte, statt sich um die Gäste zu kümmern, hing eine Woche der Ladensegen schief.

Also schlüpfte sie in ihre Rolle als Gastgeberin, von der sie selbst wusste, dass sie ihr nicht stand. Sie bekam es hin, und vielleicht merkten die Gäste nicht, wie schwer ihr die nötige Extrovertiertheit fiel, sie aber spürte es. In jeder Faser ihres Körpers und jeder Synapse ihres Hirns. Morgen früh würde sie mit einem Kater erwachen, für den sich andere betrinken mussten. So war das eben, wenn man über seinen Möglichkeiten handelte.

In den ersten Minuten dachte sie noch an Claas und sein verrücktes Video, dann vergaß sie es. Der Laden leerte sich, am Ende blieben nur noch Sanford und sie zurück. Irgendwo lungerte noch Dirk herum und wartete darauf, die Stühle rauszutragen.

Sanford sah sie an. Seine Augen fast schwarz, sein Blick fest, tief und einschüchternd. Die Brille hatte er sofort nach der Lesung weggesteckt. Vielleicht tat sie seiner Eitelkeit nicht gut.

«Ich danke Ihnen für die Einladung. Das war ein sehr interessanter Abend», sagte er mit so tiefer wie weicher Stimme.

«Unsere Kunden lieben Ihr Buch.»

«Ich würde mich gern revanchieren», überging Sanford das Kompliment. «Mit einer Einladung meinerseits. Wie sieht es aus, wollen wir noch gemeinsam etwas trinken?»

Während er sprach, machte er einen Schritt auf Faja zu und kam ihr damit viel zu nahe. Es lag noch ein Meter Abstand zwischen ihnen, aber irgendwas in seinen Augen negierte diesen Meter. Anzüglichkeit und Überlegenheit, gepaart mit Gier.

Faja begann zu schwitzen.

«Tut mir leid … ich … ich muss noch aufräumen … morgen … der Laden öffnet um neun, dann muss hier …»

Sie machte eine Handbewegung über die Stuhlreihen hinweg. Hundertdrei Stühle, zwar aus Plastik und leicht, dennoch würde es eine Weile dauern.

«Schade», sagte Sanford. «Ich finde Sie interessant genug für ein Gespräch. Das kommt nicht so häufig vor bei mir.»

Faja wusste nicht, ob das ein Kompliment war. Ihr Lächeln fiel schief aus.

«Woher stammt das?», fragte Sanford und deutete mit dem Kinn auf Faja. Er musste nicht präzisieren, was er meinte.

Als sei sie fremdgesteuert, berührte Faja sich dort, wo ihre Haut hart, uneben und gespannt war. Die Stelle ihres Körpers, an der sie nichts fühlte.

«Ach das … ist lange her.»

Sanford hob die Hand, als wolle er sie ebenfalls berühren. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, wie sie sich aus der Situation befreien konnte.

In diesem Moment betrat Sanfords Assistentin Nora Goldmann den Raum. Sie hatte die Lesung verlassen, als Sanford losgelegt hatte. Angeblich, um irgendwo eine Kleinigkeit essen zu gehen. Faja hatte eher das Gefühl gehabt, sie wolle ihm nicht zuhören. Wahrscheinlich kannte sie den Text mittlerweile in- und auswendig. Seit wann war sie wieder da? Sicher schon eine Weile, damit ihr Boss nicht bemerkte, dass sie überhaupt fort gewesen war.

«Können wir, David?», fragte sie, blieb aber in der Tür stehen.

Sanford ließ die Hand sinken, sein Gesicht veränderte sich. War es eben noch von Mitgefühl und Interesse geprägt, kehrte nun die Arroganz zurück.

«Ich bin hier fertig», antwortete er mit Blick auf Faja, dann nahm er seine Tasche und verschwand.

Nora Goldmann trat auf Faja zu und hielt ihr einen Umschlag hin.

«Die Honorarrechnung», sagte sie. Ihr Blick war fest auf Faja gerichtet. «Alles in Ordnung? War David unhöflich? Wenn ja, möchte ich mich entschuldigen. Es liegt an der Anspannung. Er macht das ja noch nicht so lange.»

«Nein, nein, alles in Ordnung», antwortete Faja und nahm die Rechnung entgegen. Sie ärgerte sich ein wenig über sich selbst, weil sie es nicht schaffte, die Wahrheit zu sagen.

«Sie haben ihm doch nicht gesagt, dass ich kurz fort war, oder? Es wäre wirklich toll, wenn das unser kleines Geheimnis bleiben könnte. Ich war halb verhungert, aber David will vor einer Lesung nie etwas essen. Die Aufregung, Sie verstehen.»

Faja nickte. Das kannte sie nur zu gut. Sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen. «Ich hab nichts gesagt», antwortete sie.

«Das ist wirklich lieb. Und vielen Dank auch für die Blumen», sagte die Assistentin und deutete auf den Strauß, den Sanford achtlos liegen gelassen hatte. «David macht sich nichts aus Blumen, aber mir gefallen sie.»

Sie nahm den Strauß und folgte ihrem Boss.

Und dann war es plötzlich still im Laden.

Diese Stille hatte Faja sich herbeigewünscht, konnte sie aber nicht genießen. Sie kam zu plötzlich, zu unvorbereitet, zu massiv. Wohin jetzt mit ihrer Aufregung, dem Adrenalin, der Freude, es allein geschafft zu haben? Hilflos sich selbst überlassen, stand sie in dem leeren Buchladen, in dem es noch nach den Ausdünstungen der Menschenmenge roch, suchte nach einem Halt, um nicht in das Loch zu fallen, das sich in solchen Momenten oft auftat.

«Kann ich loslegen? Hab noch was vor heute.»

Das war Dirk, der sich aus einer dunklen Ecke schälte und Faja erschrak. Sie mochte den Dreiundzwanzigjährigen nicht. Er hatte ihr vor einiger Zeit ein paar unangemessene Nachrichten bei WhatsApp geschickt, die ziemlich eindeutig gewesen waren, doch Faja hatte nicht darauf reagiert. Dirk stand unter der Fuchtel seiner Mutter, studierte auf ihre Kosten, benahm sich aber, als hätte er bereits ein Vermögen verdient, trug dauernd neue Sneaker aus Sondereditionen.

«Klar, fang schon mal an», sagte Faja.

Sie wollte schnell noch ein Foto von dem großen Schriftsteller-Star in ihre Gruppe schicken, dazu war sie vorhin nicht gekommen. Ihre Bücherjunkies warteten sicher schon darauf.

Sie holte das Handy hervor und öffnete die Messenger-App. Ach ja, da war ja auch noch das Video von Claas. Warum schickte er es eigentlich nur ihr und nicht den Bücherjunkies, zu denen auch er gehörte? Das Standbild dieses blöden Videos war gruselig, sie wollte es eigentlich nicht anschauen, tat Claas aber den Gefallen. Er freute sich immer so herrlich kindisch, wenn man auf seine Scherze hereinfiel. Mit seinen achtundzwanzig Jahren benahm er sich oft wie ein kleiner Junge. Manchmal war das sympathisch, oft aber auch einfach nur peinlich.

Das Video startete.

War Claas wirklich nackt?

Faja sah genauer hin.

Fast, er trug eine Unterhose. An dieser Stelle verriet sich Claas. Wenn er wirklich das Opfer einer Entführung wäre, wäre es dem Täter sicher egal gewesen, ob man etwas sehen konnte oder nicht.

Claas bekam es beängstigend gut hin, Angst und Panik zu spielen. Entweder hatte er sich mit Wasser besprüht, oder er schwitzte wirklich. Sein magerer Körper wirkte durch die Frischhaltefolie zusammengepresst wie eine Wurst in ihrer Pelle. Der Raum, in dem er saß, war beängstigend gut gestaltet. Die Sets vieler billiger Horrorfilme kamen da nicht heran. Er saß vor der Ecke eines Zimmers, die Wände waren sandfarben, und jemand hatte mit roter Farbe mehrfach burn daraufgeschrieben.

Viel mehr als das interessierte Faja aber ein anderes Detail.

Um Claas’ Hals hing ein Stück Papier.

Es hatte die Größe eines DIN-A4-Blattes, war aber nicht weiß, sondern grünlich und von grober Struktur. Da es sich unten ein wenig einrollte, wirkte es wie von einer alten Papyrusrolle abgeschnitten. Gehalten wurde das Blatt Papier von zwei Metallklammern an einer silbernen Kette, wie man sie für Vorhänge verwendete.

Auf dem Papier stand etwas, und es war groß genug geschrieben, um es lesen zu können, ohne das Bild größer ziehen zu müssen.

Erzähl mir eine spannende Geschichte. Sie darf fünf Wörter haben. Nicht ein Wort zu viel. Sonst muss dein Freund sterben. Seine Zeit läuft bald ab.

Faja schüttelte den Kopf.

Das war so typisch Claas.

Er liebte es, andere in Dingen herauszufordern, in denen er selbst zu gut war, als dass man gegen ihn gewinnen könnte. Wenn er mehr Disziplin hätte, könnte aus ihm ein guter Schriftsteller werden, aber es reichte nur für kurze Texte. Doch darin war er wirklich gut. Allerdings eine Geschichte in fünf Wörtern zu erzählen, also eine Story mit Anfang, Mittelteil und Ende, einem Spannungsbogen und der nötigen Dramatik, das dürfte selbst Claas nicht hinbekommen.

Faja dachte nach, dabei fiel ihr Blick auf Dirk, der die Stühle hinaustrug. Sie musste ihm langsam mal helfen, wollte Claas’ Aufforderung aber nicht ignorieren, bei all der Mühe, die er sich mit diesem Video gab.

Also schrieb sie, was ihr gerade in den Sinn kam.

Sterben muss er sowieso irgendwann.

Das war zwar keine Geschichte, und spannend war es auch nicht, aber es hatte fünf Wörter. Faja fand es schlagfertig und dieser albernen Sache angemessen. Sie schickte es ab, steckte das Handy weg und machte sich an die Arbeit.

Dirk und sie mussten die Stühle unter der Überdachung hinter dem Gebäude stapeln, wo Dirk sie morgen mit dem Transporter abholen würde. Irgendwo am Stadtrand hatte die Chefin eine kleine Halle angemietet für solche Zwecke.

Es dauerte eine Stunde, bis der Verkaufsraum leer war. Jetzt galt es noch, die verschiebbaren Regale wieder in ihre Stellung zu bringen und die leeren Gläser und Sektflaschen in die Teeküche. Abspülen würde sie die morgen, wenn Frau Eberitzsch da war und sich um die Kunden kümmerte.

«Ich hau dann ab», verkündete Dirk und war verschwunden, bevor Faja etwas erwidern konnte.

Es war Mitternacht, als Faja schließlich erschöpft und verschwitzt auf die Straße trat. Die kühle Nachtluft legte sich wie ein Tuch auf ihr Gesicht. Das tat gut. Sie blieb stehen, schloss die Augen, atmete tief ein und aus und genoss den Augenblick. Als sie die Augen öffnete, fiel ihr Blick auf einen Mülleimer an einer Straßenlaterne. Darin steckte ein Blumenstrauß, die Stängel schauten oben aus dem Loch heraus.

Ihr Blumenstrauß?

Ein Geräusch alarmierte Faja.

Das Schaben von Schuhsohlen auf Beton.

Irgendwo hinter ihr in der Dunkelheit.

Faja fuhr herum. Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, wie allein und schutzlos sie hier draußen war. Dies war ihre Stadt, eine Kleinstadt, in der nie etwas Aufregendes passierte, die sie kannte, seit sie lebte, in der sie sich so sicher fühlte wie nirgends sonst auf der Welt, aber gerade jetzt hatte sie Angst.

6

Claas Rehagen hatte keine Ahnung, wie lange er bereits an den Stuhl gefesselt war, es fühlte sich an, als seien es Tage. Seine Haut unter der Frischhaltefolie fühlte sich irgendwie mürbe und teigig an, so als löse sie sich unter dem Schwitzwasser langsam von seinem Fleisch. Das tat nicht weh, war aber ein unangenehmes Gefühl, zudem stank er. Nach Schweiß und Urin, denn er nicht länger hatte einhalten können. Seine Schreie waren ungehört geblieben, niemand war gekommen, ihn auf die Toilette zu lassen. Seitdem die Person, die sich mit ihm im Raum befunden hatte, verschwunden war, hatte sich weiter nichts getan. Vielleicht war er zwischendurch vor Erschöpfung eingeschlafen, vielleicht auch nicht. Jedenfalls stand die Videokamera noch vor ihm, das Objektiv auf ihn gerichtet, doch das Aufnahmelämpchen leuchtete nicht.

Sein Entführer hatte nicht ein einziges Wort gesprochen, weder zu ihm noch in die Kamera. Wenn es ihm darum ging, eine Botschaft irgendwohin zu senden, so musste sie auf dem Stück Papier stehen, das noch um Claas’ Hals ging. Leider war es ihm nicht möglich, sie zu lesen.

Was mochte dort stehen?

Eine Lösegeldforderung?

Das wäre absurd. Claas hatte kaum Geld, seine Eltern waren grundsolide Menschen mit einem Eigenheim und vielleicht zwanzigtausend Euro auf der hohen Kante. Niemand würde auf die Idee kommen, so jemanden zu erpressen. Auch in seinem erweiterten Umfeld gab es niemanden mit Geld, keine Oma, keinen Opa, keinen reichen Erbonkel in Amerika. Rein logisch betrachtet, fiel die Möglichkeit, dass er gegen Zahlung einer Geldsumme freigelassen würde, aus. Es musste um etwas anderes gehen. Eine Rachegeschichte vielleicht. Oder einfach nur um Freude an Gewalt, daran, andere zu quälen, zu demütigen, zu töten.

Claas hatte genug Thriller und Krimis gelesen, er kannte sich aus in der Welt der Verbrechen. Vor allem aber in den Köpfen derer, die solche Geschichten verfassten. Kranke Geister, die sich tagein, tagaus mit Mord und Totschlag beschäftigten und sich im harten Konkurrenzkampf darin überboten, neue Tötungsmethoden zu finden.

War er von so einem entführt worden?

Wollte jemand an ihm etwas ausprobieren? Ein Exempel statuieren?

Er wollte nicht sterben. Nicht jetzt, nicht hier, überhaupt nicht. Er wollte alt werden, ein Leben haben, mit allem, was dazugehörte. Eine Frau, Kinder, Erfolg, Glück. Dinge, die ihm bisher verwehrt geblieben waren. Immer hatte er gedacht, morgen würde es passieren, würde jemand in sein Leben treten, der alles veränderte. In letzter Zeit hatte er dabei an Faja gedacht, in die er ein bisschen verliebt war.

Tränen rannen seine erhitzten Wangen hinab.

Wenn sich doch endlich etwas ändern würde! Diese Ungewissheit machte ihn fertig. Warum kam denn niemand, um ihm zu sagen, wie es weiterging?

Um nicht in Panik zu verfallen, versuchte Claas, in der Zeit zurückzugehen. Er fragte sich, was passiert war, wie er hierhergekommen war. Seine Erinnerung war diffus. Er war auf der Arbeit gewesen, wie immer. Hatte an einem komplizierten Gebiss gearbeitet, das ihn schon seit zwei Tagen beschäftigte. Claas liebte seine Arbeit als Zahntechniker nicht gerade, aber wer hatte schon das Glück, einem Job nachgehen zu können, den man liebte? Künstler vielleicht. Schriftsteller. Wenn man sich damit abfinden konnte, ständig am Hungertuch zu nagen.

Auf der Arbeit war alles normal gewesen, daran erinnerte er sich genau. Die Fahrt nach Hause, ein kleiner Einkauf im Supermarkt für das Abendessen. Er hatte ein Chili machen wollen. Auch da keine besonderen Vorkommnisse. Gesprochen hatte er mit niemandem.

Auf der Fahrt hatte er an die Lesung denken müssen, zu der Faja ihn eingeladen hatte. Claas hatte mit der Begründung abgelehnt, der Weg sei ihm zu weit. Doch das war vorgeschoben. Die Wahrheit war, dass Sanford ein verdammt guter Schriftsteller war, an dem es kaum etwas auszusetzen gab, und darauf war Claas abgrundtief neidisch. Er wollte nicht im bewundernden Publikum sitzen und sich die ganze Zeit darüber ärgern müssen, dass der Typ da vorn mehr Erfolg hatte als er selbst.

Zu Hause angekommen, war er gleich in die Wohnung hinaufgegangen. Von den Nachbarn war niemand zu sehen gewesen. Mit den Einkäufen an der Hand und seinem Rucksack für die Arbeit über dem Arm hatte die Wohnungstür aufgeschlossen und …

Hier wurde der Nebel dichter.

Claas strengte sich an. Er sah seine Dachgeschosswohnung, die Bücher rechts und links, alles wie immer und doch irgendwie nicht.

Was hatte es mit dem Stuhl auf sich?

Den hatte er doch nicht mitten in den Raum gestellt, oder?

Und warum war es so dunkel? Hatte er wirklich die Verdunkelungsrollos an den Dachschrägenfenstern runtergezogen? Das kam schon vor, wenn er abends einen Film schaute, gerade jetzt im Sommer, wenn die Sonne bis weit in den Abend hinein schien.

Das hatte ihn gewundert, ja, aber nicht argwöhnisch werden lassen, also hatte er seine Wohnung betreten, Einkäufe und Rucksack abgestellt und war auf den Stuhl zugegangen.

Irgendwas war merkwürdig daran.

Ein matter Glanz, den er sich nicht erklären konnte.

Und es roch auch nicht so wie sonst in seiner Wohnung.

Der Stuhl … Nebel … keine klare Sicht auf seine Erinnerungen, aber irgendwas war da gewesen, etwas …

Das Bild huschte vorbei, und Claas erschrak, als könne er die Szene direkt vor sich sehen.

Fuck! Das konnte doch nicht sein!

So etwas gab es nicht im wirklichen Leben, nur in Krimis und Thrillern, die Claas als Bücher oder Filme konsumierte, so viel er konnte.

Auf dem Stuhl … das war …

Claas schloss die Augen und flüchtete aus seiner Erinnerung. Er wollte nicht sehen, was ihm selbst bevorstand.

7

In dem quadratischen Innenhof des Gebäudekomplexes hatten die Anwohner einen kleinen Garten angelegt, in dem sie Gemüse zogen. Gurken, Tomaten, Salat, Zucchini und Kletterbohnen. Als Klettergerüst für die Bohnen dienten Metallstangen, wie sie beim Betonbau verwendet wurden. Gedrehte, rostige Stangen mit spitzen Enden. Auf einer dieser Stangen steckte jetzt Jorgensen.

Die Fallhöhe aus dem dritten Stock hatte ausgereicht, die Stange im Bauchraum durch seinen Körper zu treiben und ihn dennoch auf dem Boden aufschlagen zu lassen. Dort zerdrückte der Leichnam die Bohnenpflanzen. Sein rechter Arm lag ausgestreckt da, die Fingerspitzen nur wenige Zentimeter entfernt von einer Erdbeerpflanze, an der dicke rote Früchte hingen. Es sah so aus, als wolle er sie pflücken.

Die Kollegen hatten Scheinwerfer aufgestellt, die notwendigen Generatoren brummten, ihr Geräusch und die Stimmen der zwei Dutzend Menschen wurden zwischen den Hauswänden hin und her geworfen. Trotz der hektischen Betriebsamkeit lag eine nächtliche Ruhe über allem. Eine stille Konzentration und Entspanntheit, die es unter diesen Umständen tagsüber nicht gegeben hätte. Sie passte nicht zu den dramatischen Ereignissen, die hier stattgefunden hatten, aber Jaroslav Schrader hieß sie willkommen. Für sein Seelenleben war sie in diesem Moment Balsam.

Er saß auf einem höllisch unbequemen Gartenstuhl unter dem Dach eines Pavillons, an dem eine Lichterkette warmweißes Licht verstreute. Ringsherum standen kleine Einmachgläser mit Teelichten darin, manche mit buntem Papier ausgekleidet. Schön hatten sie es sich hier gemacht, die Bewohner. Ein kleines Paradies inmitten der Hölle. Verdrängung und Ignoranz waren die Schutzschilde der Menschen. Oft vermochten erst die richtig großen Katastrophen sie zu durchbrechen.

Jaro betrachtete das vertraute, zielgerichtete Treiben und wartete auf seine Chefin. Er hätte gern geraucht.

Mit vierzehn hatte er damit angefangen, sich schnell gesteigert, bald zwei Schachteln am Tag gebraucht und mit fünfundzwanzig wieder aufgehört, als er gespürt hatte, wie es seine Fitness beeinträchtigte. Beim Laufen hatte es sich angefühlt, als steckte ein Pfropfen in seiner Lunge. Seither waren mehr als zehn Jahre vergangen, in denen er so gut wie nie den Wunsch verspürt hatte, wieder damit zu beginnen, doch jetzt war er plötzlich da, stark genug, der Kollegin ein Zeichen zu geben, die in der Nähe stand.

Sie kam auf ihn zu.

«Hast du eine Zigarette?», fragte Jaro.

Sie griff in die Beintasche ihrer Uniformhose, zog eine Schachtel hervor und warf sie vor ihn auf den runden Gartentisch.

«Feuerzeug steckt drin», sagte sie.

Jaro bedankte sich und zündete sich eine Zigarette an. Der erste Zug schmeckte wie Gift. Er wusste sofort, dass er das Nikotin nicht mehr brauchte, aber diese eine würde er rauchen.

«Ist er gesprungen?», fragte die Kollegin und deutete mit dem Kinn zu dem Leichnam hinüber.

«Klar», sagte Jaro. Der Qualm brannte in seinen Augen, rief Tränen hervor. «Hab noch versucht, ihn davon abzubringen. Warum? Hast du was anderes gehört?»

«Dass du ihn geschubst hast.»

«Wer sagt das?»

«Mertens.»

Jaro nickte. «Dachte ich mir.»

Er nahm einen tiefen Zug und sah zu dem Fenster hinauf, an dem Techniker gerade Fingerabdrücke extrahierten.

Unruhe kam auf. Eine Frau betrat den Innenhof. Die Kollegin schnappte ihre Zigaretten und zog sich zurück. Jaro steckte die halb aufgerauchte Zigarette in den weichen Boden zwischen die Radieschen.

Annegret Möhlenbeck trat auf ihn zu. Seine Chefin war klein und kräftig und hatte die Energiereserven von zehn Männern. Jaro schätzte sie als integre, mutige und gerechte Führungskraft, die sich vor ihre Leute stellte, ihnen aber auch einen Tritt in den Hintern verpasste, wenn es sein musste.

Gegen Letzteres wappnete er sich jetzt.

«Wie geht es Ihnen?», fragte die Möhlenbeck.

«Ging schon besser», antwortete Jaro wahrheitsgemäß.

Seine Chefin setzte sich zu ihm an den Gartentisch. In der Dunkelheit schienen ihre Augen zu glühen, und obwohl es mitten in der Nacht war, strahlte die Möhlenbeck Tatkraft aus. Sie war hellwach. Anders als Jaro, dem in der vergangenen halben Stunde das Adrenalin verloren gegangen war. Er fühlte sich matt und abgeschlagen.

«Ich will ohne Umschweife zur Sache kommen», begann die Möhlenbeck. «Mertens sagt, er habe Sie am Fenster gesehen, ganz nah bei Jorgensen.»

«Mertens hat sehr gute Augen, nehme ich an», entgegnete Jaro. Mertens konnte ihn, wenn überhaupt, nur gesehen haben, als er Jorgensen beim Fallen hinterhergeschaut hatte, nicht aber in der Sekunde davor. Der entscheidenden Sekunde.

«Ich brauche klare Antworten.»

«Und ich klare Fragen.»

Sie funkelte ihn an. «Haben Sie Jorgensen gestoßen?»

«Nein, er ist gesprungen … oder gefallen, kann ich nicht genau sagen … er war total zugedröhnt … Ich habe noch versucht, ihn zu packen, aber es war zu spät.»

«Kann das Packen unbeabsichtigt ein Stoßen gewesen sein?»

«Mein Griff ging ins Leere. Also nein.»

«Ein solches Gerücht macht schon die Runde.»

«Das kann dann ja nur Mertens gestreut haben.»

«Mertens hat auch gesagt, Sie hätten Jorgensen bereits auf der Straße festsetzen können. Ihn hinauf in die Wohnung gehen lassen, sei ein unnötiges Risiko gewesen.»

«Wenn Mertens das sagt.»

«Hat er recht oder nicht?»

«Im Nachhinein betrachtet, ja. Ich gehe aber nach wie vor davon aus, dass Jorgensen entkommen wäre, hätten wir versucht, ihn auf der Straße zu schnappen.»

«Dann würde die Frau noch leben.»

Jaro nickte. «Ja, dann würde Mandy Stein noch leben. Das ist der Fehler, den ich mir vorwerfen muss.»

«Ihnen ist klar, dass es eine Untersuchung geben wird.»

«Klar. Ich kenne das Prozedere.»

«Gut, dann wissen Sie ja auch, dass ich Sie für die Dauer der Untersuchung freistellen muss.»

Jaro erstarrte. Es war nicht so, dass er diese Maßnahme nicht in Erwägung gezogen hatte, doch er war davon ausgegangen, dass die Möhlenbeck auf seiner Seite stand.

«Müssen Sie nicht, soweit ich weiß», sagte er.

Sie nickte. «Doch, muss ich und werde ich. Schon allein um Sie zu schützen.»

«Ich kann gut selbst auf mich aufpassen.»

«Ich möchte auch, dass Sie unsere Psychologin aufsuchen.»

«Warum denn das?»

«Die Frage ist überflüssig. Sie haben einen Einsatz geleitet, bei dem zwei Menschen ums Leben gekommen sind. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie Hilfe brauchen.»

Jaro sah zu Boden und schüttelte den Kopf. Er musste seine Hände zu Fäusten ballen, um seine Wut zu unterdrücken.

«Ich komme damit zurecht», presste er zwischen den Zähnen hervor.

«Das glauben Sie jetzt. Aber warten Sie erst einmal die nächsten Tage ab. So etwas geht an niemandem spurlos vorbei.»

«Kann es sein, dass ich gerade bestraft werde, weil ich meinen Job gemacht habe?»

Jaro hielt dem stechenden Blick seiner Chefin stand.

«Gibt es denn etwas, für das Sie bestraft werden müssten?»

«Dünnes Eis», sagte Jaro.

«Drohen Sie mir?»

«Nein, aber ich glaube, ich kann erwarten, dass Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, Jorgensen ist gefallen.»

Seine Chefin ließ sich Zeit mit einer Antwort, und Jaro fand es unangenehm, wie sie ihn in diesen Sekunden fixierte.

«Wir zwei haben schon einmal darüber gesprochen, dass Ihnen Ihre Vehemenz und mangelnde Impulskontrolle irgendwann im Weg stehen werden. Sie erinnern sich?»

«Beides habe ich unter Kontrolle.»

Die Möhlenbeck machte mit dem Kinn eine Bewegung zu Jorgensen hin.

«Warum sieht das für mich gerade anders aus?»

«Weil Sie nicht dabei waren und nur auf Mertens’ Gerede hören.»

Wieder schwieg sie und fixierte ihn auf diese unangenehme Art und Weise. Dann kam ihre nächste Frage.

«Warum haben Sie eigentlich solche Angst vor einem Gespräch mit unserer Therapeutin?»

«Was? Wieso? Ich habe doch keine Angst.»

Er würde niemals zugeben, dass er tatsächlich Angst davor hatte, aber aus anderen Gründen, als die Möhlenbeck glaubte. Er hatte Angst davor, dass die Therapeutin die Stimme in seinem Kopf entdeckte, seinen ganz persönlichen Schutzengel, der ihm Ratschläge erteilte und seine Konzentration störte. Dann würde man ihn nicht nur zeitweise, sondern für immer aus dem Dienst entfernen. Ein Zielfahnder mit einer Stimme im Kopf und einer Waffe in der Hand. Das war nicht tragbar. Außenstehende würden sogar sagen, es sei gefährlich, aber das stimmte nicht. Die Stimme war nicht gefährlich, ganz im Gegenteil. Sie machte Jaro zu dem, was er war, war ein Teil von ihm. Ohne sie wollte er nicht leben.

«Ich habe keine Angst», wiederholte er.

«Dann beweisen Sie es.»

Wort 2

Funkelt

1

Faja Bartels wusste stets im Moment des Erwachens, ob es ein guter Tag werden würde oder nicht. Wachte sie mit leichtem Druck im Kopf und einem Ziehen in der rechten Gesichtshälfte auf, würde der Tag schlecht werden. Heute spürte sie nichts von beidem.

Der schmale Spalt zwischen den Vorhängen ließ ein wenig Sonnenlicht in ihr kleines Schlafzimmer. Sie rekelte sich unter der Decke und genoss das Gefühl, nicht sofort aufspringen zu müssen. Der Wecker zeigte halb sieben an, und da sie erst um zehn im Laden sein musste, hatte sie genug Zeit für ein paar Brückenminuten. Minuten zwischen der Friedfertigkeit der Nacht und den Anforderungen des Tages, die ihr oft zu viel waren. Minuten, in denen alle Gefühle in der Mitte ihres Körpers ruhten und die Gedanken träge ihre Umlaufbahnen zogen.

Sie liebte diese Zeit.

Alsbald gesellten sich Erinnerungen dazu. An den gestrigen Abend, die Lesung, das Gefühl, erfolgreich gewesen zu sein … und die Angst. Später, auf der Straße, als sie das Gefühl gehabt hatte, beobachtet zu werden. Sie hatte niemanden gesehen, und die Geräusche von Schuhen auf Asphalt hatten sich