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Und da behaupten alle, Nudeln machen glücklich! Niki liebt Marco, den Erben einer schwerreichen italienischen Nudeldynastie. Und Marco liebt Niki, das Mädchen aus Deutschland. Das Problem: Seine Mama liebt ihn auch, deshalb will sie ihn unbedingt mit einer italienischen Contessa verheiraten. Und dann ist da auch noch Nikis attraktive Mutter Julia. Marco, obschon ziemlich bissfest, ist auch nur ein Mann … »Nicht schon wieder al dente« – eine deutsch-italienische Liebesgeschichte der ganz besonderen Art, köstlich, raffiniert und wundervoll pikant. Gaby Hauptmann beweist: Nudeln muss man nicht abschrecken, Männer manchmal schon!
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Für Julia-Verena und ihre Abenteuerlust
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
4. Auflage 2011
ISBN 978-3-492-95665-9
© Piper Verlag GmbH, München, 2007 Umschlagkonzept: semper smile, München Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München Umschlagfoto: Michael Jostmeier / mauritius images
DER WIND PFIFF UM DIE ECKEN und trieb alte Zeitungen und benutzte Pappbecher vor sich her durch den Straßen. Niki stemmte sich gegen die Böen und suchte Schutz hinter einem breiten Mann, der mit seinem Regenschirm kämpfte. Ein Blick zum Himmel zeigte ihr, warum er ihn öffnen wollte, denn die Wolken hatten sich schwarz und bedrohlich so tief über Toronto gelegt, als wollten sie jede einzelne Straße ausfegen. Blitze zuckten, und Niki schaute sich schnell um. Ein Hotel auf der anderen Straßenseite versprach Schutz. Sie konnte durch die Fenster des Hotelcafés Menschen sehen, die neugierig hinausspähten.
Niki überlegte. Viel Geld hatte sie nicht mehr, aber für einen Kaffee würde es reichen. Und wenn sie nicht klatschnass werden wollte, blieb ihr kaum eine Wahl. Niki rannte über die Straße und flüchtete sich vor dem Sturm in die Hotellobby.
Ein geräuschvolles Sprachengewirr empfing sie, und verschiedene Düfte alter Stoffe und teurer Parfums umfingen sie. Niki blieb stehen. Sie liebte das. Es erinnerte sie ein bisschen an ihre Mutter, die in Wiesbaden ein kleines italienisches Restaurant betrieb, und augenblicklich verspürte sie so etwas wie Heimweh. Das gab es doch gar nicht, sie war selbst erstaunt, aber es war da.
Niki ließ ihren Blick über die Rezeption gleiten, vor der eine Schlange neu angekommener Reisender wartete, und suchte noch den Eingang zum Hotelcafé, als sie neben sich eine ratlose Stimme und eine vertraute Sprache hörte. Sie schaute sich unwillkürlich um. Eine ältere Dame, die wohl zu der Reisegruppe gehörte, versuchte sich auf Englisch verständlich zu machen. Sie hielt ein Handy fest an ihr Ohr gepresst und hatte offensichtlich Mühe, nicht die Fassung zu verlieren.
»Das gibt’s doch nicht«, sagte sie schließlich zu sich selbst, »jetzt kann der Bub nicht mal Deutsch!«
»Kann ich helfen?«, fragte Niki und war froh, ihre Sprachkenntnisse endlich einmal sinnvoll einsetzen zu können.
Die Dame betrachtete sie kurz mit wachen Augen, dann streckte sie ihr wortlos das Handy entgegen.
»Und was wollen Sie wissen?«, fragte Niki.
»Ob und wann mich meine Tochter hier abholt – unser Flug aus Frankfurt hatte Verspätung. Aber jetzt ist mein Enkel dran und versteht mich nicht!«
Niki unterdrückte ein Lächeln und klärte den Fall rasch. »Ihre Tochter wartet das Gewitter ab und fährt dann los, sagt ihr Enkel«, gab sie die Information weiter. »Sie sollen einfach im Hotelcafé warten!«
»Und das?«, fragte die Dame und zeigte auf einen großen schwarzen Koffer, der neben ihr stand.
»Wenn Sie nicht hier im Hotel wohnen, nehmen Sie ihn am besten mit!« Und als sie den zweifelnden Blick der Dame sah, setzte sie hinzu: »Ich helfe Ihnen natürlich gern!«
Sie suchten sich einen Fensterplatz, und Niki erzählte, dass sie nach ihrem Abitur einen Intensivsprachkurs machen wollte und deshalb für drei Monate nach Toronto gekommen sei.
»Wie alt sind Sie?«, wollte ihre Gesprächspartnerin wissen, und als Niki die Frage mit »zwanzig« beantwortete, seufzte sie: »Noch so jung! Und da lassen Ihre Eltern sie allein gehen?«
Niki musste lachen. Ihre Mutter fand Sprachenschulen gut, hatte aber tatsächlich auch Angst um sie, und ihr Vater hatte eine neue Familie und schickte Geld.
Die Dame stellte sich als Barbara Halm vor, gab ihr Alter mit »vierundsiebzig Jahre jung« an und lud Niki spontan zum Kaffee ein.
Noch bevor der Kellner mit ihren Getränken kam, brach am Himmel ein Unwetter los, das jedes Gespräch im Raum ersterben ließ. Mit fasziniert-erschrockenen Mienen starrten alle hinaus und hielten den Atem an, um gleich darauf laute Schreie auszustoßen: Papier, Abfall und große Äste wirbelten die Straße herauf, ein riesiges Plakat flog von Autodach zu Autodach, Passanten hielten sich an Laternenpfählen fest. Niki beobachtete die halbrunde Markise über dem Hoteleingang, die jeden Moment aus ihrer Verankerung gerissen werden würde. Und auch die großen Schaufensterscheiben des Cafés erzitterten und wurden von dem Sturm nach innen gewölbt.
Der Kellner blieb an ihrem Tisch stehen.
»Ist das hier normal?«, wollte Barbara von ihm wissen.
Er schaute hinaus und zuckte die Achseln. »Der Winter ist in diesem Jahr spät dran«, sagte er. »Da sind die Herbststürme offensichtlich heftiger!«
»Also Klimaveränderung«, sagte Niki.
»Das Klima verändert sich seit viereinhalb Milliarden Jahren.« Er grinste. »Es wird sich weiter verändern!«
»Sind Sie Klimaforscher?«, fragte Niki keck. Er passte wirklich nicht hierher, dachte sie, zwischen die rot gepolsterten Barockstühle und Plastikblumen auf den Kirschholztischen.
»Ich jobbe hier«, erklärte er, nickte ihr zu und ging zum nächsten Tisch.
»Ich mache mir trotzdem Sorgen«, warf Barbara ein. »Viereinhalb Milliarden Jahre hin oder her!«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ihr Enkel sagte doch, dass Ihre Tochter erst losfährt, wenn der Sturm vorüber ist!«, Niki machte eine kleine Kopfbewegung nach draußen, dann piepste ihr Handy.
»Entschuldigung«, sagte sie kurz und las die Nachricht. Marco fragte, wann und wo sie sich am Abend treffen könnten. Ihr Herz schlug schneller. Marco war auch in ihrem Sprachkurs, der überhaupt sehr international besetzt war. Es gab nur drei Deutsche, aber jede Menge Franzosen, Italiener, Japaner, Spanier und Griechen.
»Eine nette Nachricht?«, fragte Barbara und strich ihre grau melierten kurzen Haare mit einer lässigen Geste nach hinten.
Ihre Bewegungen wirken so elegant, fand Niki. Und überhaupt sah sie für ihr hohes Alter noch unglaublich frisch aus. Und das hatte wahrscheinlich nichts mit Facelifting zu tun.
Als Antwort auf Barbaras Frage nickte Niki.
»Sie sind ja verliebt«, stellte Barbara lächelnd fest.
Niki nickte wieder. Stimmt. Das war sie. Und nicht zu knapp. Aber sie hatte keine Ahnung, wie das nach ihrem Aufenthalt hier weitergehen sollte. Er in Mailand, sie in Wiesbaden – da lagen Welten dazwischen. Da waren viereinhalb Milliarden Jahre ein Klacks dagegen.
Sie schauten beide hinaus.
»Verliebt zu sein ist überhaupt das Schönste, was es gibt!«, stellte Barbara melancholisch fest.
Darüber hatte Niki noch nie nachgedacht, sie war schon einige Male heftig verliebt gewesen. Sie fand das ganz normal. Für sie wäre das Schönste, einen coolen Job zu finden, ordentlich Geld zu verdienen, sich tolle Urlaube, eine schicke Wohnung und ein Auto leisten zu können. Aber vielleicht sah man das mit vierundsiebzig ja anders.
Sie tranken ihren Kaffee, und irgendwann ließ der Sturm nach. Niki schaute auf ihre Armbanduhr.
»Ich muss los«, sagte sie. »Ihre Tochter kommt bestimmt auch bald!«
Barbara nickte. »Vielen Dank für Ihre Fürsorge«, sagte sie, »das war ganz rührend von Ihnen!«
»Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite«, entgegnete Niki und kannte sich selbst nicht mehr. Das musste sie in einem alten Film gehört haben.
Bevor Niki ging, streckte ihr Barbara noch ein Visitenkärtchen zu. »Man kann ja nie wissen, das Leben ist manchmal seltsam«, sagte sie dazu.
Der Regen hatte alles, was vorher noch fröhlich durch die Luft gewirbelt war, zu Boden gedrückt. Niki schaute von draußen noch einmal zu dem Café und winkte Barbara Halm zu. Komisch, sie hatte das Gefühl, als verließe sie gerade ihre eigene Oma. Vielleicht, weil sie nie eine gehabt hatte. Niki schlug den Kragen ihres Mantels hoch und hielt ihn am Halsausschnitt fest. Es war kühl geworden. Der Regen hatte die letzte spätherbstliche Wärme verjagt, und jetzt kroch die feuchte Kälte die Hosenbeine hoch und ließ sie schaudern. Nur gut, dass es zur Busstation nicht mehr weit war. Sie wohnte etwas außerhalb bei einem Ehepaar, das eine Tochter in ihrem Alter hatte, die aber gerade selbst zum Sprachstudium in Italien war. Das war natürlich klasse, denn sie stillten das Heimweh nach ihrer Tochter an ihr – es ging ihr bestens. Fast schon zu gut, vor allem was das Essen anging. Sie konnte gar nicht so oft nein sagen, wie etwas Essbares auf den Tisch kam oder vor ihrem Zimmer stand. Mit weniger Selbstdisziplin hätte sie sicherlich schon zehn Kilo zugelegt. So waren es nur vier.
Natürlich brachte sie auch Leben ins Haus. Einige ihrer Kurskameraden hatten sie schon besucht, Marco allerdings noch nie, mit ihm hatte sie sich bisher immer in der Stadt getroffen. Aber nun, da die drei Monate zu Ende gingen, hatte sie nicht nur wegen Marco ein komisches Gefühl im Bauch. Heidi und Eric waren so etwas wie ihre Familie geworden, auch wenn sie sie vorher überhaupt nicht gekannt und noch während des Fluges keine Ahnung gehabt hatte, wo sie eigentlich landen würde. Aber sie hatte tierisch Glück. Marco auch, der sogar bei einer adligen Familie wohnte, die aber unangemeldete Besuche nicht besonders schätzte.
Und überhaupt Marco. Julia seufzte und strich sich über die Arme. Sie hatte sich in seine italienische Unbekümmertheit verliebt. In sein lockeres »Das wird schon«. In seine zuversichtliche Art, seine positive Einstellung. Er konnte über alles lachen – sogar über sich selbst. So etwas hatte Niki noch an keinem Jungen erlebt. Und er sah gut aus. Typisch italienisch, nicht allzu groß, gebräunte Haut und leicht gelocktes dunkles Haar. Ein Bilderbuchitaliener, sie musste selber lachen. Es passte auch, dass er schon vierundzwanzig Jahre alt war. »Gebummelt«, hatte er zur zielstrebigen Niki gesagt. »Wozu soll ich es eilig haben? Das Leben ist noch lang!«
Niki konnte sich dagegen keine Verzögerung leisten, sie wollte gleich loslegen, um möglichst bald selbstständig zu sein. Und vor allem wollte sie ihrer Mutter nicht mehr auf der Tasche liegen. Die tat alles, um sie zu unterstützen, aber Niki sah sehr wohl, was das bedeutete. Sie registrierte die langen Nächte und die dunklen Ringe unter den Augen ihrer Mutter, die mit fünfundvierzig Jahren eigentlich selbst noch gelegentlich Spaß haben sollte. Aber ihre Mutter hatte sich nach der Trennung dieses kleine Restaurant aufgebaut, und sie führte es mit möglichst wenig Personal, da halfen auch Nikis Einwände nicht: Sonst bleibt gar nichts übrig, sagte ihre Mutter dann, und überhaupt habe sie so alles am besten im Griff und müsse sich über niemanden ärgern. Dabei sah sie noch gut aus. Und wenn sie sich zurechtmachte, überlegte Niki manchmal, ob sie nicht sogar noch attraktiver war als sie selbst.
Niki wich zurück. Der Bus kam herangefahren und hielt in der größten Pfütze. Klar, dachte Niki und versuchte mit einem großen Schritt irgendwie in den Einstieg zu kommen. »Der hat auch keinen Bock mehr und will nach Hause.«
Nach Hause. Der Gedanke war seltsam. Als sie vor drei Monaten hierher gekommen war, war alles fremd und bestaunenswert. Die City Hall, der CN Tower und das Rogers Centre. Am Anfang konnte sie immer nur staunen, die Skyline war gigantisch, der Ontariosee mit seinen vier Inseln idyllisch und das vierstöckige Toronto Eaton Centre mit den achthundert Läden verführerisch. Sie war damit beschäftigt gewesen, alles zu besichtigen und sich nebenbei auch noch zurechtzufinden. Ihre Gasteltern wollten sie kaum alleine losgehen lassen, weil sie befürchteten, sie könne mit dem Netzwerk aus Buslinien, Streetcars und Subways überfordert sein und sich verirren. Toronto war immerhin eine Millionenstadt. Zweieinhalb Millionen Menschen im Vergleich zu knapp dreihunderttausend in Wiesbaden waren ein Wort. Aber auch eine Herausforderung – und Niki hatte Spaß daran.
Sie hatte einen freien Platz am Fenster ergattert und schaute hinaus. Der Bus fuhr die Yonge Street entlang. Das hatte sie die ersten Tage am meisten fasziniert. Eine fast zwei Kilometer lange Straße, das war gigantisch. Und alles, was wirtschaftlich und kulturell bedeutend war, fand man an dieser Straße. Man brauchte nur im Bus zu sitzen und zu schauen. Aber heute hatte Niki keinen Sinn für neue Erkundigungen. Bald würde alles hinter ihr liegen, und auch Toronto wäre dann nur noch eine Erinnerung.
Sie betrachtete sich im Spiegelbild des Fensters. Ihr Gesicht war etwas rundlicher geworden, aber es war hübsch, hatte eine besondere Note, und darauf war sie auch stolz. Sie wollte keine 08/15-Maus sein, die einer Paris Hilton oder einer Britney Spears nacheiferte. Sie wollte immer unverwechselbar bleiben, sie selbst eben. Sie hatte früh damit begonnen, nach ihrem eigenen Stil zu suchen. In ihrer Teenagerphase war sie mit diesem Anspruch sicherlich superanstrengend gewesen, dachte Niki und lächelte ihrem Spiegelbild zu. Kleider suchte sie grundsätzlich selbst aus, was mitgebracht wurde – und war es noch so gut gemeint – war schon mal nichts für sie gewesen. Wenn alle zerschlissene Jeans trugen, setzte sie auf Schottenrock. Und als der Schottenrock modern wurde, trug sie dunkelblaue Röhrenjeans. Sie stöberte Ballerinas auf, als sich alle mit High Heels abquälten, und stopfte ihre enge Hose in die Stiefel, als ausgestellte Hosen noch der letzte Schrei waren. Selbst wenn sie es nie gewesen war: Sie hatte sich stets als Trendsetterin gefühlt. Das galt auch für ihre Frisur. Im Moment trug sie ihre dunkelbraunen Haare kinnlang, denn der Bob, denn sie sich hatte schneiden lassen, war seit Victoria Beckham undenkbar geworden. Jetzt trugen ihn alle. Grausam.
Sie lächelte und betrachtete ihre Lippen, wie sie sich leicht nach außen zogen, schmäler wurden und sich dann wieder zu einem Kirschmund zusammenzogen. Eine Kursteilnehmerin hatte sie nach ihrem Schönheitschirurgen gefragt, aber das hier war reinste Natur, da hatte sie einfach Glück gehabt. Und überhaupt, sie würde nie ein Gummiboot in ihrem Gesicht haben wollen, zumal manche dieser Dinger mit einem Mund nichts mehr zu tun hatten. Sie lächelte wieder und öffnete dabei ihre Lippen. Ihre Zähne waren weiß, aber klein. Dafür ebenmäßig – was ihrem Zahnarzt und seiner Spange zu verdanken war. Die Augenbrauen über ihren braunen Augen hatte sie nur leicht gezupft. Zu schmal wirkten sie affig, fand sie, und sahen nach Permanent-Make-up aus. Sie hatte nichts dagegen, aber sie hatte es auch nicht nötig.
Entspannt lehnte sie sich zurück. Alles in allem war sie mit sich zufrieden. Auch der Kurs hier war ein voller Erfolg gewesen, sie träumte nachts bereits auf Englisch und fühlte sich in dieser Sprache absolut wohl. Blieb nur noch Marco. Was würde werden, wenn sie morgen den Abschluss groß feierten? Ihr Magen schnürte sich zusammen. Sie war ein strukturierter Mensch, der gerne nach Regeln lebte, die sie sich zwar selbst aufstellte, aber immerhin waren es feste Regeln. Marco hatte Niki nicht eingeplant, er war einfach so über sie gekommen. Und jetzt fand sie keine Lösung für die Zukunft. Sie wollte in Frankfurt Wirtschaftswissenschaften studieren. Sie war nicht künstlerisch veranlagt, sonst hätte sie ja vielleicht noch auf Mode umschwenken können. Aber sie konnte kaum einen Knopf annähen und war musisch eher eine Niete. Was sollte sie also in Mailand?
Sie fuhren am Toronto Rogers Center vorbei. Diese riesige Sportarena, in der ein ganzes Hotel Platz hatte und deren Dach komplett zurückgefahren werden konnte, faszinierte sie jedesmal aufs Neue. Sie stellte sich vor, wie es wäre, aus einer der Suiten ein Spiel der Argonauts zu verfolgen. Oder der BlueJays. Aber eigentlich interessierte sie sich nicht für Football. Und für Baseball auch nicht. Eine solche Suite wäre also reine Geldverschwendung.
Ihr Handy piepste. Eine SMS von Marco. »Denkst Du gerade an mich?«, wollte er wissen.
»Nein, an Football«, schrieb sie spontan zurück. Schickte aber noch eine Nachricht hinterher. »Jetzt wieder an Dich!«
»Wann sehen wir uns?«, wollte er wissen.
Niki schaute auf ihre Uhr. Den Abend würden Heidi und Eric gern mit ihr verbringen wollen, das war klar. In drei Tagen würde sie abreisen, das ging auch den beiden nah. Sie spürte das. Ihr ging es ja auch nicht anders. »Dinner mit Heidi und Eric«, schrieb sie. »Danach?«
»Ich hol Dich ab!«
»Kuss!«, simste sie zurück.
Marco steckte immer voller Überraschungen. Auch jetzt wieder: Dass er sie abholte, war nicht nötig, bisher war sie einfach mit dem Bus in die Stadt zurückgefahren, aber es freute sie trotzdem. Es hatte so etwas Fürsorgliches an sich. Komisch, sie stand nicht auf den Ritter mit dem weißen Pferd, aber schön war das Gefühl trotzdem.
Heidi stand in der Küche, als sie in das typisch nordamerikanische Haus kam. Anders als in Deutschland, stand man direkt im Wohnzimmer, das in die offene Küche überging. Neben der Küche lag der Haushaltsraum, und die Schlafzimmer waren oben – die frei schwebende Holztreppe führte direkt hinter der Coach hinauf. Niki gefiel dieser Schnitt – es gab keine Räume, in die die Gäste geführt wurden, weil sie repräsentativ und aufgeräumt waren. Hier stand jeder Besucher mitten im Leben.
»Hi«, rief Heidi und winkte ihr zu. »Ich koche uns gerade ein Festmahl. Ein ganz besonderes Gericht!« Sie hielt mit ihrer mehligen Hand ein arg zerfleddertes Kochbuch in die Höhe. »Das ist von meiner deutschen Ma! Du wirst es mögen!«
Niki war sich da nicht so sicher, aber sie nickte freudig. »Spitze! Was gibt es denn?«
»Dämpfnaddeln steht da!« Sie schaute noch einmal genau in ihr Buch und wiederholte: »Dämpfnaddeln!« Dann schaute sie auf und zwinkerte Niki zu. »Eine alte bayerische Spezialität! Du weißt doch, meine Ma kam aus Oberbayern!«
Niki zog ihren Mantel aus und kam näher. »Und was soll das sein?«, fragte sie und schaute ins Buch, wo Heidis Zeigefinger ruhte.
»Dampfnudeln!«, las sie und musste lachen. Wie Heidi das aussprach, war schon witzig genug. Aber Dampfnudeln als Festmahl? »Great!«, erklärte sie inbrünstig. »Can I help you?«
Nein, Heidi wollte keine Hilfe. Sie wollte das Abenteuer wohl alleine durchleben, dachte Niki, denn eines war sicher: Heidi war eine zauberhafte Frau Anfang fünfzig, offen und fröhlich, konnte alles Mögliche gut, inklusive Malen und Singen, aber Kochen gehörte nicht dazu. Sie war jemand, der alles aus dem Tiefkühlfach direkt in die Mikrowelle schob. Wie wollte sie mit Dampfnudeln zurechtkommen und das auch noch nach einem Rezept in deutscher Sprache? Alles, was Heidi noch konnte, war »Guten Tag« und »Auf Wiedersehen«.
Als hätte sie Nikis Gedanken erraten, wies sie auf ein Wörterbuch. Sie hatte also mühsam Wort für Wort übersetzt. Nun gut, es ging um den Vorsatz und nicht um das Ergebnis.
Niki bot an, schon mal den Tisch zu decken, obwohl sie wusste, dass die ganze Dampfnudelaktion mindestens neunzig Minuten dauern würde. Möglicherweise würde es die Dampfnudeln gerade dann geben, wenn Marco sie abholen wollte. Aber gut, dann war es halt so.
Jetzt winkte Heidi sie doch heran. Sie war der Typ Frau, der immer irgendwie beschäftigt war, wuselig wirkte, selbst wenn man entspannt am Tisch saß. Immer fand sie einen Grund, um aufzuspringen und dahin und dorthin zu laufen. Ständig organisierte sie etwas. Niki hatte bis jetzt nicht verstanden, in wie vielen Organisationen sie war, aber es mussten eine ganze Menge sein. Manche Verpflichtung stammte sogar noch aus der Schulzeit ihrer Tochter. Aber sie lachte darüber und fand das ganz okay. Soziales Engagement nannte sie es, und da gehörten auch ständige Benefizabende dazu. Selbst ihre Bilder malte sie für gute Zwecke, wobei Niki nicht wusste, wer sich diese Gemälde aufhängen würde. Ihr waren sie zu abstrakt, eine wilde Mischung aus Farben, die sie je nach Stimmung auf die Leinwand warf. Ob es auch ein »Niki«-Bild gab?
Die häufigsten Anlässe zum Malen bescherte ihr wohl Eric. Wenn die beiden ihr auch die heile Welt vorspielten, so war Niki doch bald klar geworden, dass sie längst nicht so heil war, wie sie taten. Eric kam für ihren Geschmack zu oft spät nach Hause, hatte ständig irgendwelche Verabredungen, fuhr übers Wochenende gern zum Golfen und war als Hauptabteilungsleiter einer großen Firma wohl auch in der Position, gewisse Möglichkeiten zu haben.
So genau wollte Niki es allerdings gar nicht wissen. Er war Mitte fünfzig, sah gut aus, gab sich betont sportlich und jugendlich und hatte mit den Ambitionen seiner Frau wenig am Hut. Benefizabende waren ihm ein Gräuel, er war Argonauts-Fan.
In drei Tagen würde das alles hinter ihr liegen, dachte Niki traurig, während sie Heidi beim Kochen über die Schulter schaute.
Heidi steckte mit beiden Händen im Teig und knetete, aber irgendwie sah er zu klumpig aus. Niki zog sich das Kochbuch heran. »Während des Knetens lauwarme Milch zugießen, bis sich der Hefeteig leicht vom Schüsselrand löst«, las sie laut vor und übersetzte es auch gleich. Sie schaute sich um. »Milk?« fragte sie, und Heidi zeigte mit dem Kopf in Richtung Kühlschrank. »Okay, let’s do this together, that will be much more fun!«
Gemeinsames Kochen war schließlich auch eine Art Lust. Und tatsächlich: Heidi überließ ihr nach und nach die Zubereitung und holte stattdessen zwei Gläser Sekt. Dann erzählte sie ihr, dass sie Angst habe, ihre Tochter Louisa könne sich in Europa verlieben und nicht mehr zurückkommen. Dann wäre sie hier ganz alleine. Und gerade Italien sei doch für seine rassigen Männer bekannt.
Niki musste lächeln. Sie fand Marco eher schnuckelig als rassig. Rassig hörte sich so nach Sportwagen und Beau an, nach zurückgegelten Haaren und großem Maxe. Aber sie habe hier doch ihre Freundinnen und Eric, das Haus und überhaupt. Mehr fiel Niki nicht ein.
Heidi schaute sich um und verzog das Gesicht. »Was ist das schon gegen die Liebe«, sagte sie aus tiefster Seele, und Niki musste schlucken. Also war ihre Ahnung richtig gewesen: Heidi war nicht glücklich. Ihre eigene Mutter war von ihrem Vater verlassen worden und hatte sich danach eine eigene Existenz aufgebaut – war sie nun glücklicher?
Worauf musste man achten, um glücklich zu werden? Nikis Gehirn fing an, auf Hochtouren zu arbeiten. Wovor musste sie sich schützen? Was war wichtig?
Sie wusste es nicht, aber die dreißig Minuten, die der Hefeteig abgedeckt zur Seite gestellt werden musste, waren um. Sie holte die Schüssel, und der Teig war sichtbar aufgegangen. »Toll!«, freute sie sich. Jetzt konnte ihr Heidi wieder helfen. Sie ließ sie eine dicke Teigrolle formen, diese in neun kleine Stücke zerteilen und dann gleichmäßige Kugeln gestalten. Heidi freute sich wie an Weihnachten, ihr depressiver Anflug war vorüber. Allerdings hatte ihn jetzt Niki. Und während sie die Teigkugeln nebeneinander in eine gefettete Auflaufform setzten, überlegte Niki, wie ihr eigenes Leben wohl weitergehen würde.
Louisa hatte es gut. Sie saß dort, wo Niki hinwollte. Aber stimmte das überhaupt? Wollte sie wirklich nach Italien? Zu Marco? War es nicht ein bisschen früh, überhaupt an so etwas zu denken? Und überhaupt – sie hatten wilden Sex gehabt, konnten gemeinsam lachen, die Zeit mit ihm war wie im Flug vergangen. Aber trug so etwas? Und wenn ja, wohin?
»What are you thinking about?«
Ja, jetzt sah sie wohl nachdenklich aus. »Ich denke darüber nach, dass die Zeit hier bald vorüber ist«, sagte sie und stieß mit Heidi an, »und dass ich deshalb traurig bin!«
Heidi nahm sie in den Arm. Das hatte sie noch nie getan. Sie waren etwa gleich groß, und Heidis nackenlange Haare, die sie immer mit etwas zu viel Haarspray in Form hielt, kitzelten sie. Niki musste niesen, und das half ihr über die aufsteigende Rührung hinweg.
»Lass uns nach unseren Dämpfnaddeln schauen«, sagte sie, und Heidi freute sich. »Das gibt ein Fest heute Abend!«, lachte sie.
Niki war sich nicht so sicher. Eric würde sicherlich nicht so früh nach Hause kommen, und ob sich Marco hier wohlfühlen würde, war auch fraglich. Zumal sie mit ihm alleine feiern wollte. Aber was hieß schon feiern. Eigentlich gab es nichts zu feiern.
Sie nickte. Gut, die Teigballen hatten zehn Minuten geruht. Jetzt konnte man sie mit flüssiger Butter bestreichen und mit Zucker bestreuen – und dann ab in den Backofen. Ihre Frage nach Vanillepuddingpulver quittierte Heidi mit einem triumphierenden »Ha!« und griff in den Kühlschrank. Klar, das hätte sie sich denken können, der Becher mit fertiger Vanillesauce wanderte in die Mikrowelle.
Marco kam, als das ganze Haus verführerisch duftete. Er fand es grandios, dass Heidi gekocht hatte, und nistete sich sofort in der Küche ein. Heidi, die ihn bisher nur zweimal in der Stadt gesehen hatte, fragte ihn sofort über Italien aus. Marco war in seinem Element. Er holte sich einen der Teller vom gedeckten Tisch, legte eine goldbraun gebackene Dampfnudel darauf und goss großzügig Vanillesauce darüber. Und dann stand er an den Küchenschrank gelehnt, aß und erzählte, erzählte und aß und fühlte sich ganz offensichtlich wohl.
Niki beobachtete ihn staunend. Hatte das was mit dem sprichwörtlichen »bei Mama« zu tun, das man italienischen Männern nachsagte? Sie hatte es für ein Vorurteil gehalten, aber ganz offensichtlich fand er Heidi in ihrer Rolle als Köchin unwiderstehlich. Und auch Heidi blühte sichtlich auf. Niki kam sich vor wie im Film. Zwei Seelenverwandte. Kaum erwähnte Heidi, dass sie malte, zündete Marco ein Begeisterungsfeuerwerk. Während er sich die zweite Dampfnudel auflud, erzählte er von den Kunstwerken Italiens, von den alten Meistern, von den Galerien und überhaupt: die Küche. Ob sie denn schon einmal in Italien gewesen sei und richtige italienische Küche genossen habe?
»Ich auch nicht«, warf Niki ein, und Marco lächelte ihr zu, während er seinen Löffel genussvoll in die Vanillesauce tauchte.
»Das wirst du alles noch erleben«, sagte er, und das beruhigte Niki wieder. Sie hatte schon befürchtet, dass Marco nun Heidi einladen würde und nicht sie. Man wusste ja nie – Heidi war zwar schon fünfzig, aber eine attraktive Frau.
Niki gab sich leutselig, aber so richtig passte ihr das alles nicht, deshalb schlug sie nach einer Stunde vor, jetzt doch endlich in die City zu fahren. Marco war von dieser Idee wenig angetan, zumal Heidi eben vorgeschlagen hatte, einen guten Roten aufzumachen. Rotwein war nun nicht gerade Standard auf Heidis Speiseplan, das war schon was Besonderes.
Marco nickte begeistert und kniff Niki zustimmungheischend in die Hüfte. »Yeah!«, sagte er. »Und was für einen Roten haben Sie?«
Jetzt war Niki gespannt, denn irgendwie traute sie Heidi bei Weinen keine Sachkenntnis zu. Heidi war der Wodka-Lemon-Typ und trank auch gern mal einen Campari-Orange, aber mit einem bauchigen Weinglas in der Hand hatte sie ihre kanadische Gastmutter noch nie gesehen. Zu gemütlich für ihr unstetes Temperament. Aber immerhin, sie hatte drei Flaschen im Angebot. Sicherlich alles Geschenke, aber was soll’s.
»Alle aus Kanada«, begann sie und hielt eine Flasche nach der anderen hoch, und man hörte den Stolz in ihrer Stimme. »Und zwar hier aus Ontario. Ein Cabernet Sauvignon, ein Merlot und ein Pinot Noir!« Sie lächelte Niki freudig an. »So, jetzt entscheidet euch!«
Niki holte Atem und gab es im selben Moment auf. Es hatte keinen Zweck, noch an eine andere Abendgestaltung zu denken. Der Abend war gelaufen und die Nacht wohl auch. Oder würde Heidi Marco hier übernachten lassen? Sie vielleicht schon – aber Eric? Er tat immer so betont moralisch. Aber wenn man die leisen Andeutungen seiner Frau ernst nehmen konnte …
»Den Cabernet Sauvignon«, hörte sie da Marco sagen. »Nicht wahr, Niki?«
Sie betrachtete das Etikett der Flasche. Nun, gut, eben ein Cabernet Sauvignon.
»Haben Sie schon einen Sassicaia aus der Toskana getrunken?«, wollte Marco von Heidi wissen und nahm Niki die Flasche aus der Hand.
Heidi schüttelte den Kopf, und Marco schnalzte mit der Zunge. »Der Sassicaia von ’85 erzielt öfter mal vierstellige Preise.« Er grinste. »Euro. Nicht Dollar!«
Heidi lachte und gab ihm den Korkenzieher. »Mit einer vierstelligen Summe würde ich eine Reise machen, keinen Wein kaufen!«
»Nach Italien und dort einen leckeren Landwein trinken!«
»Genau!«
Heidi kokettiert mit ihm, stellte Niki im Stillen fest. Hoffentlich würde das nicht schlimmer. Fast sehnte sie sich Eric herbei. Das würde wahrscheinlich auch Marco etwas dämpfen. Aber er entkorkte den Wein, und Heidi zauberte alte Kristallgläser aus ihrem Küchenschrank hervor. So schwer und scheußlich, dass sie fast schon wieder gut waren.
Marco goss sich einen kleinen Schluck ein und testete ihn genießerisch, rollte mit der Zunge und schloss dabei die Augen.
Er war der geborene Schauspieler. Niki begann ihn mit völlig anderen Augen zu sehen. Nun ja, bisher hatten sie Cola aus Pappbechern getrunken. Auch mal ein Bier aus der Flasche oder aus der Dose. Aber natürlich keinen Wein. Trotzdem fand sie, dass er es etwas übertrieb. Sie kannte sich ja auch ein bisschen aus – schließlich war ihre Mutter Wirtin, und sie kamen aus einer Weingegend. Aber so ein Theater wegen eines schlichten Cabernet Sauvignon?
»Du hast es hier wirklich toll erwischt«, sagte Marco unvermittelt zu ihr. »Beneidenswert! Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich schon viel früher gekommen!«
»Ja, wie schade!«, pflichtete Heidi ihm bei.
»Sehr schade!«, sagte Niki, aber niemand schien ihren ironischen Ton zu bemerken. Auch gut, dachte sie und hielt Marco ihr Glas hin.
Der Wein war gar nicht so schlecht, das musste sie zugeben. Und nicht nur das. Mit jedem Schluck wurde es ihr leichter ums Herz, und außerdem hatten die Gläser beim Anstoßen einen wirklich schönen Klang. Heidi fand es lustig, das Kristall möglichst oft singen zu lassen, und so wurde die erste Flasche in recht kurzer Zeit leer.
Dann fing Heidi an, von ihrer deutschen Mutter zu erzählen, und dass sie immer mal mit ihr nach Bayern gewollt, das Geld für die Reise aber nie gereicht hatte. Wie schade, sagte Niki und fand es besonders traurig, dass die Mama gestorben war, bevor Heidi genügend Geld verdienen konnte. Das Leben war doch manchmal ungerecht! Marco gab zum Besten, dass seine Eltern und Vorfahren niemals aus Italien hinauswollten, sie waren durch und durch Italiener. Seinem Vater waren schon seine Auslandsdienstreisen zu viel. Das war für Niki die Gelegenheit, nachzuhaken, was sein Vater beruflich eigentlich tat. »Kaufmann«, erklärte Marco. »Eine ziemlich langweilige Tätigkeit!«
»Und was möchtest du werden?«, wollte Heidi wissen.
»Lebemann!«, kam es wie aus der Pistole geschossen, und beide Frauen lachten herzlich.
Niki saß im Flugzeug, und ihre Stimmung schwankte auf und ab. Mal fuhr sie mit dem Handrücken unter ihrer Nase entlang, weil sie an Marco dachte, der sie zum Flughafen gebracht und dort so leidenschaftlich geküsst hatte, als sei es das letzte Mal; dann musste sie an ihre Mutter denken, die sie in Frankfurt vom Flughafen abholen würde und sich sicherlich schon riesig freute. Und sie sich ja auch. Zu Hause, das war schon was. Andererseits war die Zeit in Toronto auch unglaublich schön gewesen – nur viel zu kurz. In ihrem Kurs hatten sie sich zum Abschluss geschworen, dass sie sich in exakt einem Jahr irgendwo auf der Welt wiedertreffen würden. Und in diesem Moment hatten auch alle fest daran geglaubt. Sie wollten sich nicht aus den Augen verlieren, sich gegenseitig über Neuerungen informieren, ständig in Kontakt bleiben. Aber jetzt, im Flieger, glaubte Niki schon nicht mehr so richtig daran. Sie war fünf Flugstunden von Toronto entfernt, wie viele andere von ihren neuen Freunden, die jetzt nach Japan oder Korea zurückflogen.
Nach Italien war es von Wiesbaden aus nicht so weit, dachte sie sofort, aber noch weit genug. Vor allem, wenn man ans Geld denken musste.
Dann servierte die Stewardess das Mittagessen. Niki entschied sich für die Aluschale mit Huhn in Curry, aber es schmeckte seltsam, und ihr Nachbar schmatzte dermaßen, dass es ihr glatt den Appetit verschlug. Er war auch eine Spur zu korpulent für die schmalen Sitze und drückte mit seiner Leibesfülle unangenehm gegen Nikis Körper. Sie fühlte sich eingeengt und höchst unwohl.
Nur gut, dass sie eine so gute Vorstellungskraft besaß, damit konnte sie flüchten. Als die Stewardess mit dem Kaffee kam, bat sie stattdessen um einen Whisky. Sie trank ihren Plastikbecher in einem Zug aus und hoffte auf eine befreiende Wirkung. Vielleicht konnte sie jetzt wenigstens sofort einschlafen und so dem dicken, schmatzenden Ungeheuer an ihrer rechten Seite entgehen.
Ihre Nachbarin zur Linken fragte sie, ob ihr nicht gut sei. Anscheinend befürchtete sie, Niki könne nach der Spucktüte greifen. Ihr misstrauischer Gesichtsausdruck brachte Niki fast zum Lachen, und sie bejahte die Frage. Ja, ihr sei speiübel!
Damit rückte die Kanadierin in Richtung Mittelgang von ihr ab, und Niki hatte mehr Platz. Was für ein Unterschied im Vergleich zum Hinflug. Da hatte sie neben einem jungen Pärchen gesessen, das eine Rucksacktour durch Kanada machen wollte. Das Gespräch mit ihnen hatte die Zeit wie im Flug vergehen lassen. Was aus den beiden wohl geworden war?
Niki dachte an Marco und spürte, wie sich sofort wieder Tränen bildeten. Sie war einfach ein hoffnungsloser Fall. Wie konnte sie sich nur so blöd in einen verlieben, der Toronto als schöne Zeit sah – und sicherlich nicht mehr!
Aber es war ja auch schön gewesen! Das war ja das Schlimme! Und sie hätte eben gern mehr! Die Stunden in Heidis Küche fielen ihr wieder ein, und sie musste lächeln. Jetzt, so aus der Entfernung, war Marco völlig liebenswert gewesen. Es war doch süß, wie er sich gekümmert hatte. Geflirtet, Wein aufgemacht, die Dampfnudeln gelobt, noch einmal in den Backofen geschoben und fast alle allein gegessen. Er war wie ein Einmannunterhalter, und ihr und Heidi war es doch gut dabei gegangen. Klar, nachher hatte er gehen müssen, und die Nacht war einsam gewesen, aber da war es längst Mitternacht vorbei, und alle hatten zu viel getrunken. Und als schließlich Eric kam, war die Stimmung dahin, was nicht mal an ihm lag. Er kam nur neu in die Runde, war nüchtern und hatte keine Ahnung von den Dampfnudeln, dem Wein und allem anderen. Er kam wie eine kalte Dusche, obwohl er freundlich war. Aber Heidi hatte schon recht: Wo kam er eigentlich immer so spät her?
Niki würde sich das nie bieten lassen. Von keinem Mann der Welt!
Von rechts bekam sie einen Ellenbogen in die Rippen, aber es störte sie schon nicht mehr, Niki war eingeschlafen.
Es war schon seltsam, was man alles schön finden konnte, wenn man Abstand gewonnen hatte. Manche Sachen sprangen einem dafür ziemlich unangenehm ins Auge. Das Treppenhaus, das zu ihrer Wohnung im vierten Stock führte, gehörte dringend gestrichen. Es war viel zu düster. Und der Glasschreibtisch ihrer Mutter war voller Fingerabdrücke und Wasserflecken. Die Sonne stand tief und schien schräg durch die Fensterfront herein, und Niki sah überall Staub und dünne Spinnenfäden, die sich über die Zimmerdecken zogen. Geradezu unglaublich. Dafür sah ihre Mutter unheimlich gut aus, frisch und erholt. Von was denn erholt? Etwa von ihr?
Julia hatte ein leckeres Abendessen vorbereitet und stand in Jeans und einer hellen Bluse in der Küche – und sie konnte kochen! Mein Gott, war das schön, ihrer Mutter beim Kochen zuzuschauen. Wie schnell ihr alles von der Hand ging, wie sie die Zwiebeln hackte, den Salat zupfte, das Fleisch briet, es waren alles harmonische Bewegungen, und ihre Finger wussten genau, was sie zu tun hatten.
Früher hatte sie das immer spießig gefunden. Diese ewige Kocherei. Das ständige Gerede von Gemüse und Salat. Niki hatte das Wort »Vitamine« schon nicht mehr hören können. Jetzt sehnte sie sich danach. Nach einem richtig guten Stück Fleisch, von dem man wusste, woher es kam, und einem knackig-frischen Salat. Dazu frisch gebackenes Brot. So ein Brot war überhaupt die Krönung. Sie zupfte daran herum, und wenn sie nicht aufpasste, würde sie bald das knusprige Holzofenbrot zur Hälfte aufgegessen haben. Noch besser war allerdings – oder auch die pure Freundlichkeit –, dass ihre Mutter zu ihrer Figur nichts gesagt hatte. Jetzt war Julia nämlich die Schlankere von beiden, aber Niki hatte kein Problem damit. Sie würde die vier Kilo recht schnell wieder loswerden – ihre Mutter fing ja schon mit der Tochterdiät an. Salat und Steak. Nur das Brot … Niki lächelte ihrer Mutter zu und suchte im Kühlschrank nach der guten deutschen Butter.
»Du kannst mich für verrückt erklären«, begann sie, aber ihre Mutter winkte ab.
»Mach nur! Ich war auch schon in Amerika, ich weiß, wie das ist!«
Ach so? Das hatte sie Niki ja noch gar nicht erzählt. Oder es hatte sie bisher nicht wirklich interessiert. Niki strich sich ein dickes Butterbrot und biss herzhaft hinein. Der tiefe Seufzer, der ihr danach aus der Seele stieg, war echt.
»Es ist«, sagte sie mit vollen Backen, »einfach mega! Warum machen wir keine Bäckerei in Kanada auf und bieten überhaupt nur Butterbrote an? Das wäre sicherlich ein Renner. Einfach nur richtig gutes Brot mit schöner, dicker Butter!«
Ihre Mutter lachte und klemmte sich das dunkelblonde Haar hinters Ohr. »Wir haben das schon mal mit Maultaschen überlegt. Statt Hamburgern. Eine ganze Maultaschen-Fast-Food-Kette.«
»Und? Warum ist nichts daraus geworden?«, wollte Niki kauend wissen.
»Vielleicht waren wir nicht mutig genug!«
»Wie alt warst du denn?«
»Ein bisschen älter als du. Ich hatte gerade deinen Vater kennengelernt. Und wie du weißt, ist er ein echter Stuttgarter; so gesehen lag die Maultaschenidee nahe!«
Niki dachte an Marco. Eine Maultaschen-Fast-Food-Kette in Kanada. Oder Amerika. Hörte sich eigentlich gar nicht blöd an.
Sie saßen sich beim Abendessen gegenüber, und Niki erzählte von Heidi und Eric, von dem Haus, vom Essen, von den Lehrern, von der Schule – zuletzt sogar von der Dame im Hotel.
Und schließlich hob ihre Mutter das Glas mit dem Rotwein, den sie zuvor sorgfältig ausgesucht und in eine Glaskaraffe dekantiert hatte, und schaute ihr direkt in die Augen: »Und die Liebe?«, wollte Julia wissen.
Tja, dachte Niki. »Und bei dir?« fragte sie zurück.
»Nichts. Keine Zeit!«
Jetzt war die Reihe wieder an ihr. Niki stieß mit ihrer Mutter an und genoss erst mal den Wein. Sie schwenkte das bauchige Glas, schnüffelte, kostete, roch wieder und trank schließlich. Aber dann gab es keinen Ausweg mehr, und sie stellte ihr Glas ab.
»Er heißt Marco«, erklärte sie und spürte, wie sie rot wurde. So was Blödes aber auch! »Er ist vierundzwanzig und Italiener. Kommt aus der Nähe von Mailand. Er sieht süß aus, ist ein unternehmungslustiger Typ, dabei ziemlich cool und hat Charme.«
Damit schloss sie ihren Vortrag. Sie sah ihrer Mutter an, dass sie gern weitergefragt hätte. Was will er werden, was macht der Vater, was die Mutter, aber Julia ließ es. Sie nickte nur und nahm noch einen Schluck. »Dann hast du jedenfalls eine schöne Zeit gehabt«, sagte sie nur abschließend, und Niki war ihr dankbar dafür.
Niki tigerte durch Wiesbaden und fühlte sich irgendwie wurzellos. Komisch. Es waren nur drei Monate gewesen, und nun war sie schon wieder zehn Tag hier, trotzdem wollte sich das alte Gefühl nicht einstellen. Selbst beim Plausch mit Lisa, einer ehemaligen Klassenkameradin, die sie zufällig auf der Wilhelmstraße getroffen hatte, fand sie es lästig, von ihr auf Kanada angesprochen zu werden. Sie hatte gar keine Lust, sich länger darüber auszulassen. Das waren ihre Erfahrungen, das gehörte zu ihrem Leben und war kein Diskussionsstoff. Deswegen lehnte sie Lisas Einladung in ein Café fast schon schroff ab. Nein, sie müsse sich um ihr Studium kümmern, erklärte sie, das ginge ja im März schon los, und sie sei mit manchem in Verzug.
Nachher fragte sie sich, was sie da für einen Mist erzählt hatte. Nur gut, dass Lisa nicht studieren wollte und möglicherweise keine Ahnung hatte. Ohne lang zu überlegen, flüchtete sie sich in das Restaurant ihrer Mutter.
Julia lächelte ihr zu und stellte ihr einen Cappuccino hin. Das war schon mal tröstlich. Und dann setzte Julia sich zu ihr.
»Mutti, ich glaube, ich bin unglücklich!«, begann Niki und wusste nicht so richtig, wo sie hinschauen sollte. Es war ein merkwürdiges Bekenntnis ihrer Mutter gegenüber, aber es entsprach der Wahrheit. Sie war unglücklich und hatte doch eigentlich keinen Grund dazu.
»Hat sich Marco schon gemeldet?«, wollte ihre Mutter wissen und legte den aktuellen Speiseplan, den sie eben für abends hatte schreiben wollen, zur Seite.
»Wir haben telefoniert«, sagte Niki und betrachtete ihre kurzen Fingernägel. »Und gesimst.«
»Bist du seinetwegen unglücklich?«, fragte Julia. »Hast du Sehnsucht?«
Niki nickte und hätte heulen können. Dieses Gefühl im Bauch, dieses Ziehen und gleichzeitig die Frage, was es bedeuten sollte. Was sollte sie mit einer Liebe in Italien? In Toronto war alles so einfach gewesen, so spielerisch. Die gemeinsamen Stunden waren so selbstverständlich, es gab keine Realität außerhalb ihrer Zweisamkeit, sie gingen gemeinsam in die Schule, sie lernten zusammen, sie spazierten herum, saßen auf Bänken, in Cafés, schlenderten durch Straßen, hatten tausend gemeinsame Themen und tausend Gründe, plötzlich stehen zu bleiben und sich leidenschaftlich zu küssen. Oder zu lachen. Oder – überhaupt.
»Ich fühle mich ganz komisch«, sagte Niki und rührte in ihrer Tasse. »Irgendwie ist die Leichtigkeit weg. Es ist, als ob ich vor Toronto noch ein Kind gewesen wäre und jetzt eine uralte Frau!« Sie schaute hoch.
Ihre Mutter lachte nicht, obwohl selbst Niki im selben Moment fand, dass es seltsam klang. »Hm!« Julia legte ihre Hand auf Nikis. »Schreib ihm doch einen Brief. Ganz altmodisch. Und schildere ihm deine Gefühle. Möglicherweise geht es ihm ja wie dir?«
Niki nickte. Vielleicht war das wirklich eine Idee. Was aber, wenn sie sich ihm offenbarte und er ganz anders fühlte? Wie würde er reagieren? Verschreckt Abstand nehmen? Konnte sie seiner Liebe sicher sein – und überhaupt, was hieß schon Liebe!
»Ich habe einfach noch nie so gefühlt«, sagte Niki. »Bisher waren das immer nette Beziehungen. Schön, aber nicht so wahnsinnig wichtig!« Sie seufzte. »Ich glaube, mich hat es richtig erwischt!«
»Scheint mir auch so.« Julia lächelte. »Und das ist doch auch schön! Aber wenn du dich ablenken und nebenher etwas verdienen willst«, sie machte eine ausholende Geste durch den noch leeren Gastraum, »du weißt, ich freue mich!«
Niki zog das leere Blatt Papier und den Kalligrafiestift zu sich heran und schaute auf. »Also, dann erzähl mir mal, was es heute Abend Leckeres geben soll!«
Julia hatte dieses kleine Restaurant nach der Scheidung eröffnet und es Pane e vino genannt. »Brot und Wein«, das erschien ihr essenziell, kein Chichi, nichts Überkandideltes. Julia wollte sich in ihrem neuen Lebensabschnitt auf das Wesentliche besinnen. Mit vollem Einsatz und vielen Ideen gelang es ihr, die geeigneten Räume zu finden, ihre Bank zu überzeugen, alles umzubauen, modern zu gestalten und einen guten Koch zu finden. Sie nannte es »meine Therapie«. Und als sie es vor vier Jahren eröffnete, hatte sie abgenommen, war körperlich ziemlich erschöpft, aber glücklich. Und es lag an ihrer Art und an der ehrlichen Küche, dass immer mehr Leute kamen und sie zum Geheimtipp avancierte. Sechs Tische, das war das, was sie alleine bewältigen konnte. Angelo, ihr Koch, orientierte sich an den Angeboten der Saison und des Marktes, und deshalb boten sie auch täglich neue Gerichte an. Sie hatten nur drei Stammgerichte, alles andere wechselte. Nicht zu viel, war ihre Devise, dafür aber gut. Und so hielt sie es auch mit den Weinen. Kürzlich hatte sie die Tessiner Weine entdeckt und einen Drei-Tages-Ausflug in verschiedene kleine Weingüter gemacht. Sie war stolz und freudestrahlend mit einem neuen trockenen Rosésekt und mit einem im Barrique ausgebauten Merlot von 2002 zurückgekommen. Und alle Gäste gaben ihr Recht. Der Rosso del Mago war sein Geld wert. »Trinkt lieber ein Glas weniger«, erklärte sie stets, »und dafür etwas Gutes!«
»Das ist keine Verkaufsstrategie«, brummte dann Angelo dazwischen, aber auch er liebte es, immer wieder etwas Neues aufzuspüren. Und so fuhren sie zwischendurch gemeinsam zu den Weingütern der Umgebung, testeten hier, verkosteten dort und machten jedesmal ein kleines Fest daraus, wenn sie mit ihrer Beute zurückkamen.
»Ich liebe meinen Beruf«, erklärte Julia stets, wenn jemand im Laufe eines Abends fand, eine Frau wie sie habe doch Besseres verdient. »Und überhaupt«, fügte sie jedes Mal an, »was heißt Besseres? Ich habe mein eigenes Geschäft, bestimme selbst über mich und mein Leben. Was soll es da Besseres geben?«
Meistens bekam sie darauf keine Antwort.
Niki legte den Stift aus der Hand. Sie hatte den letzten Kringel zum Abschluss der Seite unter das »Amarettiparfait« gesetzt und schaute jetzt auf. »Ich bekomme Hunger«, erklärte sie. »Das hört sich alles super lecker an!«
Julia war schon dabei, die Tische für den Abend einzudecken, hielt zwei Weingläser in der Hand und schaute zu ihr hinüber. »Angelo ist noch nicht da«, erklärte sie, »aber ich kann dir auch schnell was brutzeln …«
Niki schaute auf die Uhr. Kurz vor fünf. »Er kommt ja gleich«, sagte sie und holte sich ein Mineralwasser. »Und außerdem …« Etwas zweifelnd schaute sie an sich hinunter.
Julia lachte. »Lass dir den Appetit deshalb nicht verderben. Kleines Ossobuco alla Milanese vielleicht?«
Niki seufzte und schüttelte den Kopf. »Salat, denke ich!«
Zwei Tage später saß Niki am Nachmittag zu Hause und schrieb einen Brief. So richtig von Hand. Sie hatte auf dem Schreibtisch ihrer Mutter die PC-Tastatur zur Seite geschoben, ihren alten Füller aus dem Zimmer geholt, Briefpapier gesucht, das nicht jugendlich kitschig, aber auch nicht zu billig aussah, und sich schließlich hingesetzt.
»Lieber Marco«, fing sie an. Lieber Marco, überlegte sie. Das hörte sich ziemlich gestelzt an. Mein lieber Schatz. Wie affig. So hatte nicht einmal ihr Vater ihre Mutter genannt, und der hatte allerlei Kosenamen auf Lager. Mein Süßer.
»Geht’s noch?«, fragte sie sich laut. Gut, also Lieber Marco. Und dann?
Sie legte das Blatt auf die Seite und nahm das nächste: »Mein lieber Marco«, schrieb sie betont schwungvoll. Die Schrift sollte fröhlich aussehen, bloß nicht verzagt. Groß und lebensfroh. So, gut. Mein lieber Marco, das war schon mal okay. Das zeigte ihm gleich, dass er ihr wichtig war. Dass sie ihn als »ihr« ansah. Besitzanzeigendes Fürwort, Possessivpronomen. Ganz in ihrem Sinne.
Und jetzt, wie weiter?
Ich vermisse Dich, dachte sie. Quatsch, damit fiel sie ja sofort mit der Tür ins Haus. Ich vermisse Dich, Punkt und fertig.
Die Tage sind ziemlich lang. Und ich habe viel Zeit, über uns nachzudenken. Ich vermisse Dich!
Verdammt! Niki schob das Blatt von sich weg und zog es gleich darauf wieder her, las es erneut und lehnte sich dann im Bürostuhl ihrer Mutter zurück. Sie war einfach ungeübt im Liebesbriefeschreiben. Es war die perfekte Kurznachricht.
Sie schaute nach ihrem Handy. Sollte sie? Es war eine SMS eingegangen. Ihr Herz schlug schneller, aber es war Anne, ihre beste Freundin. »Bin wieder da«, stand da. »Hast du Lust auf einen Meinungsaustausch?«
Niki grinste. Sofort hatte sie gute Laune, schraubte ihren Füller zu und legte ihn quer über das Blatt. Dann tippte sie zurück: »Im Spital. Bin schon unterwegs.«
Das Café war gut besetzt, aber Niki erspähte Anne sofort. Sie saß an einem kleinen Tisch in der Ecke, hatte bereits einen Cappuccino vor sich stehen und winkte ihr zu. »Hey, Süße!«, sagte Niki, und sie lagen sich in den Armen. Warum konnte man zu der besten Freundin »Süße« sagen und zu seinem Freund nicht?
»Es ist dramatisch«, begann Anne sofort. »Lauter gute Typen! Und mir blinzelt bereits am zweiten Tag einer über den Tresen zu, und ich denke, wow, Anne, Treffer, das ging schnell, bis ich merke, dass er den Kerl hinter mir meint!«
Niki lachte los. Ach, tat ihr das gut. Anne mit ihrem schwarzen Struwwelkopf, die immer aussah, als sei sie gerade aus der Dusche gekommen, Anne mit ihrem Humor, ihrer sportlichen Fairness und ihrem drahtigen Körper. Sie konnte auch nach einer Sechs in Mathe noch lachen. »Na und?«, sagte sie. »Dann schreibe ich das nächste Mal halt eine Eins, dann gleicht sich das wieder aus!«
Sie arbeitete jetzt in einem Fünf-Sterne-Hotel in München und ließ sich zur Hotelfachfrau ausbilden. So weit weg. »Du bist zu weit weg!«, sagte Niki vorwurfsvoll. »Frankfurt hätte es auch getan!«
»Schnucki!« Anne schüttelte den Kopf. »Ich brauche Wasser, Schnee und Berge. Halb München ist am Wochenende in Kitzbühel. Und ich werde mir das auch ansehen. Bunte live. Ist doch was. Und wenn ich das alles satt habe, übernehme ich ein Hotel im Bayerischen Wald und züchte Gallowayrinder. Kann ja nicht so schwer sein!«
Niki grinste. »Du und Rinder züchten!« Sie schüttelte den Kopf. »Das größte Tier, mit dem du je umgegangen bist, war eine weiße Maus!«
»Ja, stimmt, Esmeralda und Diotima!« Anne grinste. »Die beiden habe ich wirklich geliebt! Aber ist schon lange her, und man entwickelt sich weiter!«
»Von der Maus zum Rind, warum nicht.« Niki zwinkerte ihr zu, bestellte sich eine Latte macchiato und für Anne einen weiteren Cappuccino.
»Und du?«, wollte Anne wissen. »Wie war es in Toronto. Erzähl!«
Und siehe da, anders als bei Lisa, sprudelte alles aus Niki heraus. Und erst am Schluss ihrer Schilderung fiel ihr auf, dass Anne keinen einzigen Ton gesagt hatte.
»Du sagst ja gar nichts!«, stellte sie fest.
Anne rührte in ihrer Tasse. »Ein Italiener also!«
Niki zuckte die Schultern. »Warum? Ist das schlimm?«
»Pasta und fünf Bambini!«
»Du bist ja bescheuert!« Niki runzelte die Stirn. »Und im Bayerischen Wald? Knödel und fünf Gören! Ist das besser?«
Anne nahm die Tasse mit beiden Händen hoch, spähte über den Rand und fragte dann verhalten: »Du bist aber noch nicht schwanger … oder?«
Ende der Leseprobe