Nichts Genaues weiss man nicht - Peter Schneider - E-Book

Nichts Genaues weiss man nicht E-Book

Peter Schneider

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Beschreibung

Brauchen wir Religionen? Ist Blut dicker als Wasser? Gibt es ein Recht auf Boshaftigkeit? Muss ich mir ein Handy kaufen? Das Spektrum an Leserfragen, die Peter Schneider in seinen Kolumnen beantwortet, könnte breiter nicht sein. Dabei entpuppen sich oft gerade die einfachen Alltagsfragen als vielschichtig und nur scheinbar banal. Mit Scharfsinn, Empathie und Humor deckt Schneider in seinen Antworten implizite Vorannahmen auf, zersetzt eingefahrene Denkmuster und regt zum Nachdenken an.

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EPUB

Seitenzahl: 249

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PETER SCHNEIDER

NICHTS GENAUES WEISS MAN NICHT

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Mit freundlicher Genehmigung der Redaktionen

‹Der Bund› und ‹Tages-Anzeiger›.

© 2018, Zytglogge Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Coverfoto: Dominique Meienberg

e-Book: mbassador GmbH, Basel

ISBN epub 978-3-7296-2232-6

ISBN mobi 978-3-7296-2233-3

www.zytglogge.ch

Peter Schneider

NICHTSGENAUESWEISSMAN NICHT

Kolumnen

Inhalt

Abstumpfen

Abwesend und abgehoben

Als Idiot im Heim

Als Idiot im Heim, 2. Teil

Als Idiot im Heim, 3. Teil

Antwort und Wahrheit

Arme Flüchtlinge

Attentat in Manchester

Attentat in Nizza

Bedingungen von Fremdenfeindlichkeit

Beispiel an anderen

Blut ist dicker als Wasser

Blutspende

Brandstifter für die Zukunft

Brauchen wir Religionen?

Cogito ergo sum

Dämlich

Darf man Emotionen bewerten?

Der neue amerikanische Präsident

Der neue amerikanische Präsident, 2. Teil

Der Nutzen einer Psychoanalyse

Die Freiheit des Einzelnen

Die gute Welt

Digitale Psychoanalyse

Doppelmoral

Dritte Partnerschaft

Durchsetzungsinitiative

Egoismus versus Altruismus

Eine Stunde mit Freud

Einzelkinder

Familiäre Beziehungen fortführen

Freundschaft

Gegen die Eliten

Gelassen werden

Gendergerechtigkeit

Gendergerechtigkeit, 2. Teil

Gendern

Gesund ernährte Raucher

Gibt es ein Recht auf Boshaftigkeit?

Glauben Sie an ‹die Vernunft›?

Heim oder Daheim?

Heim oder Daheim?, 2. Teil

Homosexualität

Identität und Herkunft

Judentum ohne Holocaust

Kinder an der Kasse

Kinder sind das Beste

Kita

Kita, 2. Teil

Kleinste Minderheit

Koinzidenzen

Konzept der Freundschaft

Krisen und Entwicklung

Krüppel

Künstliche Intelligenz

Lebenserwartung

Loyalität

Lupenreine Demokraten

Luxusprobleme

Männliche Probleme

Meine kleine Welt in grossen Stichworten

Meinungen, Tatsachen und alternative Tatsachen

Moralische Pflicht der Kunden?

Motivieren

Mühe mit der Demokratie

Muss ich mir ein Handy kaufen?

Muss ich mir ein Handy kaufen?, 2. Teil

Narzissmus und Probleme

Neger

Norm und Abweichung

Pragmatisch

Radikale und Konservative

Rassistisch

Raubkunst

Recht haben

Rechte Parteien

Rechts-links

Reflexionsfähigkeit

Reich erfülltes Leben

Schöpfungsgeschichte

Schulpolitik

Schwulen-Gen

Sex im Alter

Sind immer beide schuld?

Sozialisten und ihre Maximen

Spott über die psychoanalytische Heilkraft

Sturheit

Tabu

Tolerant oder ignorant

Umweltbewusster Lebensstil

Unfreundliche Linke

Unsittliche Angebote?

Unterschied zwischen Frau und Mann

Vergangenheit

Verschwörungstheorien

Vorbild

Wann ist es genug?

Warum müssen Akademiker zwei linke Hände haben?

Was ist und wie fördert man psychosoziale Gesundheit?

Was sind christliche Werte?

Weihnachten

Weltuntergang

Widersprüche im Leben

Wie hilfreich sind Kategorien?

Wie kommt es zum geschlechtlichen Identitätsgefühl?

Wie soll man als Anarchist sein Kind erziehen?

Wirtschaftsflüchtlinge

Wissenschaftlicher Humbug

Wutbürger

YouTube-Filme verschicken

Zu Tode gegessen

Zufall…

Zunge

Abstumpfen

Je öfter ein Terroranschlag geschieht, desto weniger schockiert reagieren wir: Wir stumpfen ab. Ist das zynisch? Ist das gut, oder ist es schlecht? A.M.

Liebe Frau M.

Ist eine Chirurgin abgestumpft, die nicht bei jeder Operation wieder schockiert ist über das viele Blut, das sie sehen muss? Ein Scheidungsanwalt, der nicht jeden Abend tief erschüttert ist ob der Gemeinheiten, die sich Menschen antun können, die sich doch irgendwann einmal geliebt haben? Man kann viele analoge Beispiele produzieren, die zeigen, dass eine gewisse Art von ‹Abgestumpftheit› dafür sorgt, dass diese Leute ihre Arbeit gerade deshalb auf eine vernünftige Art und Weise tun können, weil sie sich eben nicht fortwährend in einem Zustand erregter ‹Betroffenheit› befinden. Die Vergleiche hinken aber auch. Denn ‹wir› als Teil der Öffentlichkeit, die einmal mehr erfährt, dass es bei einem Terroranschlag x Tote und y Verletzte gegeben hat, sind ja nicht in der Position von Polizistinnen, Sanitätern, Feuerwehrleuten, Menschen also, die von Berufs wegen mit den Folgen des Terrors beschäftigt sind. Niemand kann von uns deren professionelle Distanziertheit verlangen. Wir können also ungeniert so hysterisch (oder abgebrüht) tun, wie uns gerade zu Mute ist. Das jedoch ist, um auf Ihre Frage zu antworten, nicht gut, sondern schlecht. Zum Ersten, weil dieses hysterische Echo auf terroristische Anschläge ansteckend ist, und weil jeder, der sich davon nicht ergreifen lässt, sondern stattdessen vermeintlich kühl bleibt, dem Verdacht der Ignoranz oder der Bagatellisierung des Terrorismus und des mangelnden Respekts vor dessen Opfern ausgesetzt ist. Dabei sind es doch eher die kollektive Auf- und Erregung und das öffentliche Zurschaustellen der ‹Betroffenheit›, die zynisch sind, nicht die vermeintliche ‹Abstumpfung›. Zum Zweiten kann man hoffen, dass die nachlassende Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, die allgemeine Ermüdung, auch auf die Terroristinnen und Terroristen zurückwirkt, die mit ihren Aktionen schliesslich maximale Aufmerksamkeit erregen wollen. Ein Terrorakt, von dem nur noch auf der dritten Seite unserer Zeitungen berichtet wird, ist Mord, aber kein Terror mehr.

Man traut den Terrorist*innen alles Schlimme zu, aber merkwürdigerweise nicht, dass sie schamlos lügen, wenn sie die höheren Ziele ihrer Taten verkünden. Doch genau das tun sie. Wir müssen also nicht – jeder Einzelne von uns – unsere ‹westlichen Werte› (was immer das sein mag) verteidigen. Je mehr wir uns in der kollektiven empörten Gewissheit suhlen, dass wir Partei in einem Kampf der Kulturen sind, desto mehr bestätigen wir im Nachhinein den Selbstbetrug, den sich die Killer zu ihrer Rechtfertigung zurechtgelegt haben.

Abwesend und abgehoben

Sie geben angeblich Antworten zu Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Könnten Sie diese Antworten nicht auch in der Art geben, dass alltägliche Menschen auch verstehen, was Sie meinen? Ihre Antworten sind so abwesend und abgehoben, dass sie in der Art für Menschen im Alltagsleben nicht verständlich sind. W.S.

Lieber Herr S.

Sich in eigener Sache zu echauffieren ist peinlich; ich tu’s jetzt aber trotzdem. Wer sind denn diese «alltäglichen Menschen», die nicht verstehen, was ich meine? Sie und Ihr Tischtennisclub? Sie und Ihre Familie? Die Teilnehmer*innen einer von Ihnen veranstalteten Umfrage? Oder vor allem Sie selber? Was genau verstehen Sie nicht? Ausser, dass ich nicht «angeblich» Antworten auf Fragen zur «Philosophie des Alltagslebens» gebe, sondern tatsächlich. (Der Untertitel meiner Kolumne ist übrigens eine etwas plumpe Anspielung auf Freuds Bestseller ‹Psychopatoholgie des Alltagslebens›.) Und zwar echten Leuten, die mir diese Fragen schicken. Es kann sein, dass Ihnen schon deren Fragen und darum auch erst recht meine Antworten darauf nicht gefallen, dass sie Sie nicht interessieren oder Sie sie auch nicht verstehen. Aber warum machen Sie so ein Gedöns darum? Es steht ja wahrlich genug anderes in der Zeitung, das Sie lesen können. Wenn ich ein Steak essen will, gehe ich auch nicht in ein veganes Restaurant und klöne hinterher auf Tripadvisor, dass die Leute nicht kochen können und die Speisekarte ein Beschiss ist. Klar muss sich jeder Koch Gastro-Kritik gefallen lassen. Dasselbe gilt fürs Kolumnen-Schreiben. Aber «Haninöggern!» oder «Wäägg, isch das gruusig!» ist keine Kritik, sondern kindisches Genöle. Können Sie mir folgen? War das nun Tacheles genug, oder immer noch zu «abwesend und abgehoben»?

Als Idiot im Heim

Ein Freund von uns, ein Idiot (‹Mensch mit schwerer kognitiver Beeinträchtigung›) wie wir, soll in ein anderes Heim umziehen. Die Heimleitung hat mit Eltern und Betreuern gesprochen. Aber nicht mit ihm. Warum wohl? Er kann nicht sprechen, aber er kann sich äussern. Warum fragt ihn also das Heim nicht, was er davon hält? Das wäre doch normal bei Normalen? Gruppe Idiotenspeak (https://idiotenspeak.blogspot.ch)

Liebe Idioten

Ja, das wäre es. Ihre Anfrage (und Blog) zeigen ja, dass und wie Menschen mit schwerer kognitiver Beeinträchtigung im oberen Teil des Autismus-Spektrums, also Idioten wie Sie, durchaus dazu in der Lage sind, sich differenziert mitzuteilen, wenn auch mit wesentlich mehr Mühe als wir Neurotypischen. Dazu braucht es just a little help from your friends. Das ‹just› ist natürlich eine hemmungslose Untertreibung. Es braucht nämlich ordentlich viel Unterstützung. Und vielleicht liegt genau dort der Hund begraben bzw. der ziemlich triviale Grund dafür, dass die Heimleitung (ich nehme ohne Weiteres an: nicht aus bösem Willen) gar nicht auf die Idee kommt, mit Ihrem Freund zu ‹sprechen›. Oder, wenn ihr der Gedanke daran käme, ihn schnell wieder als unbrauchbar zu verwerfen. Es ist ja ohnehin schon alles so kompliziert mit den Schwerbehinderten: Heimplätze gibt es nicht wie Sand am Meer, die Betreuung kostet viel Geld und erfordert viel Personal, und beides ist immer knapper, als man sich wünscht, die Arbeit im Heim ist anstrengend, die Behinderten sind nicht immer die Sonnenscheinchen aus der Pro-Infirmis Broschüre … Die Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind, die Betreuer im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten selbstverständlich ebenfalls. Da ist eine bilaterale Einigung vielleicht am vernünftigsten. Denn wenn nun Ihr Freund auch noch etwas wollen würde, das möglicherweise ausserhalb der realistischen Möglichkeiten läge und vielleicht auch nicht ‹das Beste› für ihn wäre – sondern einfach nur das, was so ein behinderter Mitmensch sich halt im Rahmen seiner Möglichkeiten wünscht – das wäre wahrscheinlich der Tropfen an Komplikation, der das institutionelle Fass zum Überlaufen brächte. Man stelle sich nur die endlosen Diskussionen mit jemandem vor, der nicht richtig sprechen kann und auf unterstützte Kommunikation angewiesen ist. Und nur seine (gar kein Zweifel: berechtigten!) Interessen im Auge hat, aber (verständlicherweise!) gar keinen Sinn für all die Sachzwänge, die stets im Hintergrund lauern und allesamt berücksichtigt werden wollen. Woher die Zeit dafür nehmen, wenn nicht den anderen Heim-Insassen stehlen? Man muss den einzelnen Behinderten nämlich immer auch als Bestandteil einer Gemeinschaft sehen, und wenn da jeder noch sein Sonderzüglein fahren würde, wäre das Verkehrschaos perfekt. Anders ausgedrückt: Beggars can’t be choosers.

Als Idiot im Heim, 2. Teil

Liebe Leser*innen

Oi wej, mit meiner letzten Kolumne habe ich Ihnen, meinen Redaktionskollegen und mir aber schwer etwas eingebrockt. Es handelte sich um meine Antwort auf die Frage der Gruppe ‹Idiotenblog›, wie es wohl komme, dass man einen ihrer Freunde («einen Idioten wie wir») nicht selbst befrage, wenn es um die Verlegung in ein anderes Heim gehe. Man habe mit Eltern und Betreuern gesprochen, nicht aber mit dem Freund, der zwar nicht sprechen, sich aber durchaus mitteilen könne. Meine Antwort bestand in einer Art Rollenprosa, die im Satz mündete «Beggars can’t be choosers». Mindestens mit dieser zitierten Redensart, so dachte ich, hätte ich den (wenn auch von mir gut ‹realistisch› verpackten) Sarkasmus meiner Ausführungen ausreichend signalisiert – einer Kaskade von Argumenten und Gründen, die jedes und jeder für sich als durchaus nachvollziehbar erscheinen konnten, letztlich aber auf eine Legitimation der Entmündigung der «Idioten» hinauslief. Manche Leser*innen haben indes meine Ausführungen für bare Münze genommen. Ebenso zwei meiner (leicht entsetzten) Kollegen auf der Redaktion, die den letzten Satz gestrichen haben, weil sie wenigstens nicht noch die Gleichsetzung von Behinderten mit Bettlern mitmachen wollten. Immerhin hatten die ‹Idiotenblogger›, die mir die Frage gestellt hatten, die zartbittere Ironie meiner Pseudoargumentation, dass man nicht für jeden Behinderten ein Sonderzüglein fahren könne, auf Anhieb verstanden. Aber so eine Kolumne soll ja keine Privatkorrespondenz sein, sondern allgemein verständlich. Also, hier noch mal im Klartext: Ich bin ganz entschieden der Ansicht, dass es überhaupt nicht angeht, Behinderte als unmündige Objekte von Entscheidungen zu behandeln. Und ich wollte zeigen, wie einfach in Institutionen diese Entmündigung vonstattengehen kann – ganz ohne bösen Vorsatz. Wie die Vernunft bei helllichtem Tag Monster gebiert, wenn sie sich nämlich von einem vernünftigen Argument zum nächsten weiterhangelt, bei dem die Voraussetzungen vielleicht etwas (aber auch nicht völlig) schief erscheinen mögen – aber man kann doch auch nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, oder? Und am Schluss steht man vor einem Ergebnis, das man eigentlich nicht haben wollte, aber man kann nicht mehr genau sagen, wo man die falsche Abbiegung genommen hat, weil doch jeder Schritt für sich genommen eigentlich so unlogisch nun auch wieder nicht gewesen ist und man schliesslich auch kein unrealistischer Utopist sein wollte, und wer von uns kann schon ein selbstbestimmtes Leben führen, selbst wenn er reden kann und (je) zwei gesunde Arme und Beine hat, und da könnten doch auch die Behinderten eigentlich einsehen, dass auch für sie nicht immer eine Extrawurst drinliegen … So geht das. Wüssed Si, wieni mein?

Als Idiot im Heim, 3. Teil

Mit Interesse haben wir ihre Ausführungen zum Thema Leben im Heim gelesen. Warum ist es wohl so, dass die gleiche Gesellschaft, die für ihre alte, aber nicht behinderte Bevölkerung zum Leben möglichst keine Heime will, für betreuungsintensive Behinderte mit kognitiven oder mehrfachen Beeinträchtigungen praktisch nur das Heim als Wohnform vorsieht? Wir wollen nämlich genauso vielfältig und unabhängig leben wie die Normalen. Am liebsten ohne agogisch-strukturelle Bevormundung. Redaktion Idiotenspeak (https://idiotenspeak.blogspot.ch)

Liebe Redaktion Idiotenspeak

Heim und strukturelle Bevormundung gehören zusammen wie Dichtestress und der Acht-Uhr-Morgen-Zug nach Bern. Es nützt nichts, wenn der Loki-Führer ein ganz besonders Netter und der Kondukteur ein Ausbund an Freundlichkeit und Geduld sind; kein noch so einfühlsamer Betreuer kann an der strukturellen Entmündigung der Insassen etwas ändern. Man könnte den ‹institutionalisierten› Behinderten sagen: Pech gehabt, man kann nicht alles haben im Leben. Auch ein nichtbehindertes Leben ist bekanntlich kein Ponyhof. Und: Glück gehabt, denn früher war alles viel schlimmer. Beides stimmt natürlich. Es bringt also nichts, das Heim zusammen mit den Bewohnern auszuschütten, wie es radikale Vertreter der Anti-Psychiatrie in den 70-Jahren getan haben. Auch blosse Absichtserklärungen wie «Jeder Mensch ist verschieden», mit denen Politiker derzeit für die Inklusion weibeln, deren Folgen sie dann doch nicht bezahlen können, sind gutgemeint, aber auch nicht sehr hilfreich. Es ist zum Beispiel interessant, warum man findet, Behinderte seien unbedingt in Regelschulen zu inkludieren, statt die Nicht-Inklusions-Kinder in sonderpädagogische Einrichtungen. M. a. W.: Inklusion hat zuweilen eine exklusive Kehrseite. Ich bin daher auch nicht für eine vollständige De-Kategorisierung von Behinderungen: Das wäre, als wollte man in der Medizin alle Diagnosen mit der Begründung abschaffen, ab sofort gäbe es für alle eine ganzheitliche Behandlung. Zugleich aber halte ich eine neue Welle der Institutionskritik für nötig, die aus den bisherigen Erfahrungen gelernt hat, statt nur naive Utopien zu verkünden. Vor allem müsste eine solche Kritik von den Betroffenen selbst ausgehen, die ihrerseits eine sehr heterogene Gruppe bilden: Nichtsprechende Autisten gehören dazu wie mehrfach körperlich Beeinträchtigte oder chronifiziert psychisch Angeschlagene. Es gibt hier ganz unterschiedliche Interessen, auch innerhalb solcher Gruppen: Wenn man einen Autisten kennt, kennt man EINEN Autisten. Es bringt nichts, ein einziges Konzept für Deinstitutionalisierung zu entwickeln, es braucht viele. Sie müssen möglichst flexibel sein und empirisch fundiert. Sie müssen die Beeinträchtigungen aufgrund verschiedener Behinderungen anerkennen, aber nicht als naturgegeben annehmen. Der Sinn für das Machbare und der Sinn für das Wünschbare dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Man muss experimentieren statt Vorstellungen umsetzen.

Antwort und Wahrheit

Warum haben Sie auf alles immer eine Antwort? Entspricht das, was Sie antworten, einer Wahrheit, und warum kennen Sie diese? G.A.

Liebe Frau G.

Ihre erste Frage ist ganz einfach zu beantworten. Sie liegen nämlich falsch, wenn Sie annehmen, dass ich immer auf alles eine Antwort habe. Allerdings weigert sich dieses Blatt immer noch hartnäckig, keine Antworten von mir zu drucken. Und erst recht, dafür auch das für Antworten vorgesehene Honorar zu zahlen. Darum erscheinen immer nur die Antworten, die ich habe. (Ein Teufelskreis.) Zu Ihrer zweiten Frage: Was ich antworte, entspricht nicht EINER Wahrheit, sondern setzt sich meist aus der argumentativen Verkettung mehrerer Wahrheiten zusammen. Und nun noch zur dritten Frage: Das weiss ich auch nicht. Es könnte aber damit zu tun haben, dass ich mir ein paar Gedanken zu den jeweiligen Fragen mache.

Arme Flüchtlinge

Warum eigentlich haben Menschen, die fliehen mussten, arm zu sein? R.B.

Liebe Frau B.

Attentat in Manchester

Das Attentat in Manchester war grausam, unfassbar. Warum jedoch wird in den Medien immer wieder betont, wie ‹besonders› niederträchtig, wie ‹besonders› verabscheuungswürdig dieses Attentat war, weil vor allem Kinder und Jugendliche betroffen waren? Sind Menschenleben nicht gleich Menschenleben, ungeachtet ob Kinder, Jugendliche, Erwachsene oder Alte? B.R.

Lieber Herr R.

Mir ist dasselbe säuerlich aufgestossen wie Ihnen. Ich kann nur hoffen, dass diese floskelhaften Bekundungen nicht implizieren sollen, dass, wenn man schon einen solchen Massenmord begeht, dies künftig in einem Alters- oder noch besser Pflegeheim tun solle. Dass sie einfach nur so gedankenlos dahingeredet sind, wie der Hinweis auf die «Feigheit» der Tat (wie mutig soll’s denn sein?); darauf, dass «unschuldige Menschen» ums Leben gekommen sind (was sind wohl die Kriterien einer solchen Unschuldsvermutung?); oder die Beteuerung der Staatsoberhäupter, dass man diese Tat aufs Schärfste verurteile (mit Zweidrittelmehrheit? Oder knapper? Ist die Schärfeskala nach oben offen?). Nun gibt es aber einen einzigen Grund, der mir eingefallen ist, der die Rede vom besonders verabscheuungswürdigen Attentat an Kindern und Jugendlichen verständlich erscheinen liesse. Es ist eine Art instinktiver und existentieller Verzweiflung, die einen bei dem Gedanken erfasst, ein Kind könnte vor einem selber sterben. Es gibt wahrscheinlich wenige Dinge, für die ich mein Leben überhaupt riskieren würde (Gipfelstürmen gehört mit Sicherheit nicht dazu), aber ich würde mein Leben für das Leben meines Sohnes geben. (Welch’ grosses Wort spreche ich hiermit vielleicht allzu gelassen aus. Mögen, lieber Gott, Pflicht und Liebe stets grösser sein als meine Feigheit.) Eine aus dieser Vorstellung entspringende spontane Identifikation mit den Eltern der ermordeten Kinder scheint mir ein legitimes Motiv zu sein, das Attentat ‹besonders› abscheulich zu finden.

Zum Schluss noch etwas zur Gleichheit aller Menschenleben. Dabei handelt es sich um ein abstraktes Ideal, von dem man nicht erwarten kann, dass es auch unser unmittelbares Empfinden bestimmt. Niemandes Trauer ist unterschiedslos und grenzenlos. Freud nennt das christliche Gebot der unbegrenzten Nächstenliebe eine Forderung, die nicht zu mehr Humanität, sondern bloss zu einer Inflation der Liebe führt. Mit der Trauer ist es nicht anders. Nicht jeder Tod kann uns gleichermassen berühren. Wo es keine Beziehung zum Ermordeten gibt, kann man entsetzt sein – aber traurig? Die öffentlichen Trauerkundgebungen kranken vor allem deshalb an dieser manchmal unsäglichen Floskelhaftigkeit, weil Medien und politische Repräsentanten auf keinen Fall den Eindruck erwecken wollen, kühl und unbeteiligt zu sein. Dabei ist die forcierte Emotionalisierung all dieser nichtbetroffenen Betroffenen in etwa so vertrauenerweckend wie ein Chirurg, der kein Blut sehen kann und bei jedem Krebspatienten in Tränen ausbricht.

Attentat in Nizza

Das neueste Attentat in Nizza stürzt mich in Ratlosigkeit. Was lässt sich tun? Eigentlich Pazifist, habe ich in einer ersten Reaktion an einen massiven Militärschlag gegen den sogenannten Islamischen Staat gedacht, um diesen in seiner Substanz zu zerstören und alle potentiellen Sympathisanten davon abzubringen, sich ihm anschliessen zu wollen. Leider ist das aber keine gute Option, da auch dies wiederum viele unschuldige Menschen treffen und sich die Gewaltspirale nur weiterdrehen würde. Ausserdem berufen sich ja viele Terroristen zwar aufden IS, agieren aber weitgehend unabhängig an verschiedensten Orten, so dass weiterhin zahlreiche Köpfe der Hydra nachwachsen würden. Es heisst ja, dass die Terroristen einen ‹Krieg der Kulturen› geradezu provozieren wollen. Wer hier mitspielt, hat schon verloren. Andere rufen nach mehr Überwachung – aber diese konnte bisher vielleicht einige, aber auch nicht alle Terrorschläge verhindern und zerstört dafür unsere Freiheit und Grundrechte. Was soll oder kann ‹man› somit tun? B.H.

Lieber Herr H.

Gerne würde ich erklären, man müsse nur X oder eine Kombination von Y und Z tun, und langsam, aber sicher kehrte wieder Frieden ein in der westlichen Welt. Oder mit unterkühlter Logik verkünden, wir müssten uns an die Gewalt in den westlichen Demokratien genauso gewöhnen, wie wir uns an die Gewalt in der nichtwestlichen Welt und der südlichen Hemisphäre auch gewöhnt haben. Ich weiss aber weder, was X sein könnte, noch finde ich, dass man aus der einen Kaltschnäuzigkeit eine andere ableiten sollte. Vielleicht ist Ihre Ratlosigkeit noch die vernünftigste Reaktion. Sie ist der Verzicht, Zeichen zu lesen, die gar keine Zeichen sind. Es gibt nämlich Gewalt, die uns gar nichts sagen will. Gewalt, die reine Performanz ist und völlig selbstreferentiell. Gewalt, die ihre Bedeutung erst in den Zuschreibungen gewinnt, die man im Nachhinein macht. ‹Wir› übernehmen es dann gleichsam an Stelle der Terroristen, deren Bekennerbriefe zu schreiben bzw. ihren Pamphleten die politische Konsistenz zu verleihen, die sie selber nicht zustande bringen. Ich will damit nicht der Verstehens-Verweigerung das Wort reden, die vor einiger Zeit in Mode war, als man raunend vom absolut Bösen sprach, das nicht wegerklärt werden könne. Denn auch selbstbezügliche Gewalt ist nicht prinzipiell unerklärbar. Es ist keine Schande und auch nicht eine grundsätzlich naive 68er-Marotte, nach gesellschaftlichen Erklärungen zu suchen. Aber diese sind nicht so schnell zu haben, wie der französische Innenminister insinuiert, wenn er behauptet, der Zusammenhang mit dem radikalen Islam «in der einen oder anderen Art» sei offensichtlich. Nichts ist offensichtlich am terroristischen Massenmord von Nizza. Es ist vielleicht klug, sich das einzugestehen und damit wenigstens aus der Begründungsspirale auszusteigen, welche der Gewaltausübung von Leuten, die auch nicht so genau wissen, warum sie tun, was sie tun, immerhin nachträglich einen Sinn verleiht.

Bedingungen von Fremdenfeindlichkeit

Gibt es ‹typische› Entstehungsbedingungen von Fremdenfeindlichkeit? Welche gesellschaftspolitischen Bedingungen begünstigen das Ausleben xenophober Gewalt, welche dämmen sie eher ein? M.E.

Liebe Frau E.

Der Begriff der ‹Fremdenfeindlichkeit› scheint mir heikel. Denn er setzt allzu selbstverständlich voraus, dass die Feindseligkeit gegenüber bestimmten Gruppen von Menschen aus deren Fremdartigkeit resultiert. Der jugoslawische Bürgerkrieg und der Völkermord der Hutu an den Tutsi hingegen sprechen dagegen, dass Menschen vor allem das Fremde am anderen fürchten oder hassen. ‹Fremdheit› ist keine stabile, absolute Kategorie, sondern höchst relativ. Man kann sowohl behaupten, ein jeder andere Mensch sei einem fremd, wie auch sagen, nichts Menschliches sei einem fremd. Die Suche nach den Ursachen von Fremdenfeindlichkeit mündet leicht in einer wenig konkreten, aber vorderhand handfest erscheinenden Anthropologie: Jedes Kind fremdelt schliesslich; der Bauer isst bekanntlich nicht, was er nicht kennt; und für den Höhlenbewohner war es überlebenswichtig, den Mitgliedern einer fremden Sippe zu misstrauen. Solche Geschichten kann man sich endlos ausdenken und erzählen – sie erklären nichts. Schlechte Bildung, eine prekäre ökonomische Situation, wenig reale Kontakte zu Ausländern sind Faktoren, die sich in soziologischen Analysen als statistisch relevante Grössen im Hinblick auf eine feindliche Einstellung gegenüber anderen Ethnien, Kulturen oder Nationalitäten herausgestellt haben. Doch auch bei diesen Faktoren gibt es bedeutsame Ausnahmen und erstaunliche Unterschiede im nationalen Vergleich. Der deutsche Antisemitismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrunderts ist eben nicht nur ein «Sozialismus der dummen Kerls» (Kronawetter) gewesen, sondern auch eine Angelegenheit der Gebildeten. Thilo Sarrazin hat keinen ökonomischen Grund, sich vor der Konkurrenz der türkischen ‹Kopftuchmädchen› zu fürchten; und – um mal ein sehr harmloses Beispiel zu wählen – die vor ein paar Jahren in Zürich grassierenden Ressentiments gegen deutsche Professoren waren in der Studentenschaft entstanden, bevor sie von der SVP aufgegriffen wurden. Die enormen Sozialhilfekosten, die eine kleine Gemeinde für eine eritreische Familie aufbringen muss, sind gewiss ein Ärgernis. Aber sie sind ein Ärgernis unter vielen Ärgernissen, unter welche genau so gut auch einheimische Sozialschmarotzer, Scheininvalide und Burn-Out-Lehrer fallen könnten. Der Witz an der Fremdenfeindlichkeit scheint zu sein, dass das ‹Fremde› so wenig zu seiner Erklärung taugt, dass man fast erleichtert scheint, wenn mit den syrischen Flüchtlingen für einmal echte Fremde aus der wirklichen Fremde kommen, die uns überfremden und in den Badeanstalten unsere Frauen unsittlich berühren und begaffen. (Ist Donald Trump eigentlich ein Syrer?) Was wir über soviel äussere Fremdheit vergessen können: «Fremde sind wir uns selbst.» (Julia Kristeva) Etwas weniger gebüldet hat Karl Valentin dieselbe Tatsache so formuliert: «… manchem Münchner zum Beispiel ist das Hofbräuhaus nicht fremd, während ihm in der gleichen Stadt das deutsche Museum, die Glyptothek, die Pinakothek und so weiter fremd sind.» – Sie sehen mich zwar nicht sprach-, aber doch ratlos.

Beispiel an anderen

Schon von Kindesbeinen an wird man oft damit getröstet, sich ein Beispiel an anderen zu nehmen, denen es (noch) schlechter geht als einem selbst – kränker, ärmer, trauriger usw. Bei mir hat das nie wirklich funktioniert. Warum sollte mich das Leid anderer Personen (ob bekannt oder unbekannt) trösten oder gar erfreuen? Darf man nicht einfach auch mal traurig sein und Mitleid mit sich selbst haben? Oder ist das egoistisch? F.M.

Lieber Herr M.