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"Was sie zuvor mit mir getan, das tu ich jetzt den andern an" ritzt er ihnen in die nackte Haut, nachdem er sie vergewaltigt und stranguliert hat. Seine Opfer sind alle jung, hübsch, brünett – genau wie die eine, auf die er es abgesehen hat: Detective September Rafferty vom Laurelton Police Department, Oregon. Ihr schickt er eine ihrer Kinderzeichnungen, auf die er in blutroten Buchstaben seine tödliche Nachricht kritzelt. September versteht sofort, dass sie den Serienmörder offenbar aus Kindertagen kennt und er hinter ihr her ist – doch warum? Im Zuge der Ermittlungen trifft sie ihre Jugendliebe Jake wieder. Er bietet ihr seine Hilfe an, doch September weiß, dass sie jedem ihrer alten Bekannten mit Misstrauen begegnen sollte … Die schlafraubende Thrillertrilogie von New York Times-Bestsellerautorin Nancy Bush beinhaltet außerdem "Nirgends wirst du sicher sein" (bereits erschienen) und "Niemand kannst du trauen" (Erscheinungstermin eBook: 04.02.2016; Taschenbuch: 01.04.2016).
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Seitenzahl: 538
Nancy Bush
Niemals wirst du ihn vergessen
Thriller
Aus dem Amerikanischen von Kristina Lake-Zapp
Knaur e-books
»Was sie zuvor mit mir getan, das tu ich jetzt den andern an« – diese Zeile ritzt ein Serienmörder seinen weiblichen Opfern ins Fleisch. Dieselbe Nachricht erhält Detective September Rafferty in einem anonymen Brief, geschmiert auf eine ihrer Zeichnungen aus Kindertagen. Der Mörder scheint sie seit vielen Jahren zu kennen. Bald schon weiß September nicht mehr, wem sie noch trauen kann …
Ein Raubvogel kreiste am Himmel. Tief unter ihm auf dem Feld musste etwas Totes liegen, dachte er, während er den träge dahingleitenden Habicht beobachtete. Vermutlich eines von Avery Boonsters Schafen. Schatten krochen über die Felder. Er bahnte sich einen Weg durch die wogende Wiese, ohne auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, dass er widerrechtlich über fremden Grundbesitz streifte. Er kannte sich hier aus, war in der Weite des diese Gegend prägenden Acker- und Weidelands zu Hause.
Es war kein Schaf, sondern ein großer Waschbär. Äußerlich waren keine Anzeichen eines Kampfes zu entdecken, weshalb er annahm, dass das Tier schlicht und ergreifend an Altersschwäche verendet war. Wahrscheinlich war es einfach tot umgefallen. Zack – aus und vorbei. So lief das eben.
Manchmal.
Manchmal musste man allerdings nachhelfen.
… und sie lagen in den Feldern …
Er hatte die Felder zu seiner Bühne erkoren. Hatte von anderen gelesen, die seine Not teilten … seine perversen sexuellen Bedürfnisse … Die dasselbe gefährliche, aberrante Verhalten an den Tag legten wie er. Denselben Drang verspürten, sich der verbrauchten Körper zu entledigen, wie er selbst.
Mit geschlossenen Augen versuchte er, in seine andere Haut zu schlüpfen. In die äußere Hülle. Die, die er der Öffentlichkeit präsentierte. Doch unter dieser Hülle verbarg sich ein Monster, getrieben von unersättlichem Hunger, quälender sexueller Begierde. Die Bestie. Das Biest. Es war immer da, lag stets auf der Lauer, vor allem wenn er an sie dachte.
Er hatte sich wirklich alle Mühe gegeben, nicht an sie zu denken, an die eine, an die er einst geglaubt und die ihn dennoch abgewiesen hatte. Das war vor langer Zeit gewesen. Er hatte sie für sich gewinnen wollen, doch sie hatte ihm einen Korb gegeben. Er hatte die Hand nach ihr ausgestreckt, doch sie war zurückgeschreckt, angewidert. Er war verlegen gewesen, und sie hatte gelacht. Er konnte sie immer noch lachen hören. Heute noch. Alle hatten gelacht. Lachten … lachten … lachten.
Für eine Weile war es ihm gelungen, sie zu vergessen … dann hatte er angefangen, ihr erneut nachzustellen. Hatte geglaubt, sie würde wieder lachen, ihn auslachen. Und dann war es passiert. Danach hatte er schreckliche Angst bekommen. Als er weggeschickt wurde, war er sich sicher gewesen, dass sie davon wussten. Dass alle davon wussten.
Aber sie wussten es nicht.
Er hatte nie aufgehört, an sie zu denken. All die Jahre nicht, die seitdem vergangen waren. Nie hatte er den Wunsch aufgegeben, sie zu besitzen. Und dann hatte sie angefangen, mit ihm zu spielen! Er hatte erfahren, dass sie als Detective bei der Mordkommission des Laurelton Police Department angefangen hatte, und er wusste, dass er der Grund dafür war. Das spürte er, tief im Innern, wie einen zuckenden Nerv. Und plötzlich wollte er sie nehmen. Sofort. Auf der Stelle. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Zuvor gab es noch so viel zu tun! Außerdem war sie clever und ausgesprochen sensibel. Wie eine scheue, empfindliche Meereskreatur, eine Seeanemone mit zarten Tentakeln, mit denen sie zögernd ihre Umgebung abtastete. Beim leisesten Anzeichen von Gefahr zog sie sich zurück. Verschwand völlig im Untergrund. War weg. Fort.
Eine Flut von Bildern brach über ihn herein, und schließlich fand er sich auf den Knien wieder, das Gesicht mit den blicklosen Augen dem kreisenden Habicht hoch oben in der Luft zugewandt. Er wollte sich Freude verschaffen, sich selbst befriedigen, doch der Zeitpunkt dafür war verstrichen. Er veränderte sich bereits … verwandelte sich, wurde zu jemand anderem. Immer mehr, immer mehr während dieses langen Sommers. Seine Begierde konnte nur noch von ihr gestillt werden, doch bis es so weit war, würde er sich mit Ersatz begnügen müssen. Drei hatte er bereits genommen. Drei, die zu viel wussten. Er hatte sie genommen, während er an sie dachte.
Er hasste sie.
Er liebte sie.
Sie wurde »Nine« genannt, aber er kannte sie als September.
»September«, flüsterte er dem am Himmel gleitenden Raubvogel und dem toten Waschbären zu. Er würde sie auf dieses Feld bringen und sie seine Macht spüren lassen. Nie wieder würde er sich auslachen lassen. Sich nie wieder abweisen, nie wieder Spielchen mit sich spielen lassen …
Sie würden zusammen sein. So war das eben. Bald schon würde er sich von ihren zarten Tentakeln umschließen lassen, sich ihrem Seeanemonen-Griff hingeben. Blutrot, leuchtend orange, sonnenblumengelb. Ein Kaleidoskop signalweisender Sexualfarben.
Aber nicht jetzt. Noch nicht …
Er würde den richtigen Moment abwarten.
Und sich währenddessen mit Ersatz begnügen.
»Was sie zuvor mit mir getan, das tu ich jetzt den andern an«, flüsterte er in die flimmernde Hitze und hob das Gesicht erneut zum Himmel, um in Gottes Antlitz zu blicken.
Um drei Minuten nach Mitternacht klingelte ihr Handy. Schlaftrunken schreckte September Rafferty von ihrer Wohnzimmercouch hoch und tastete nach dem Schalter der Stehlampe, während sie mit zusammengekniffenen Augen auf die Digitalanzeige des Fernsehers blickte. 00.03 Uhr verkündeten die weiß leuchtenden Ziffern.
Lächelnd knipste sie das Licht an. Schlagartig wurde es hell im Zimmer. Sie wusste, wer dran war und warum er sie jetzt anrief. Blinzelnd drückte sie auf die grüne Taste ihres Handys, um das Gespräch entgegenzunehmen, und sagte: »Du kannst wohl nicht bis morgen früh warten, oder?«
»Drei Minuten nach zwölf«, sagte ihr Zwillingsbruder. »Genau um die Uhrzeit bist du auf die Welt gekommen. Und genau dann rufe ich dich an. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
»Dann hätte ich dich vor sechs Minuten anrufen müssen und nicht gestern Nachmittag. Dir ebenfalls herzlichen Glückwunsch.«
»Tja, ich bin eben der Korrektere von uns beiden«, erklärte er voller Stolz.
»Unsinn«, widersprach sie. »Dir gefällt doch bloß die Vorstellung, mich mitten in der Nacht aus dem Tiefschlaf zu reißen.«
»Nun … ja.«
Ihr Bruder, August »Auggie« Rafferty, war ihr Zwilling, allerdings waren sie an zwei verschiedenen Tagen in zwei verschiedenen Monaten geboren, er am einunddreißigsten August um kurz vor Mitternacht, sie am ersten September um kurz nach Mitternacht. Daher hatten ihre Eltern sie August und September genannt – eine Marotte, die einiges über die beiden aussagte, denn auch ihre älteren Kinder trugen die Namen der Monate, in denen sie zur Welt gekommen waren: March, May und July. Ziemlich verschroben, befand September, und typisch für ihren Vater. Ihre Mutter war schon vor Jahren gestorben. Sie hatte einmal verlauten lassen, dass es ihr leidtat, ihre Kinder so genannt zu haben.
»Hat dir sonst noch jemand aus der Familie zum Geburtstag gratuliert?«, erkundigte sich September, ein Gähnen unterdrückend.
»March hat angerufen. Und July.«
»July ist bei so etwas äußerst gewissenhaft. Ich bin schrecklich, wenn es darum geht, an Geburtstage zu denken.«
»Unsere beiden sind die einzigen, die ich nie vergesse«, gab Auggie zu.
»Tja …« September dachte flüchtig an ihre ältere Schwester May, die während ihrer Highschool-Zeit bei einem missglückten Raubüberfall auf ein Fast-Food-Restaurant ums Leben gekommen war, doch das stimmte sie nur noch melancholischer, als sie sich an diesem Geburtstag ohnehin schon fühlte. »Also kein Wort von Dad«, stellte sie nüchtern fest.
»Hattest du etwas anderes erwartet?«, gab er zurück.
Braden Rafferty hatte seine beiden jüngsten Kinder enterbt, als sie sich für eine Karriere bei der Polizei entschieden. Er hatte eine feste Vorstellung davon, wie eine Familie funktionieren sollte, obwohl er seiner Frau ein untreuer Ehemann gewesen war und bei seinen Kindern vor allem durch Abwesenheit geglänzt hatte. Die Namensgebung seiner Sprösslinge sprach Bände und spiegelte zweifelsohne sein ganz persönliches Bedürfnis nach Ordnung und Kontrolle wider. Zumindest war das Septembers Ansicht. Wären Auggie und sie beide im August zur Welt gekommen, hätten sie mit Sicherheit August und Augusta geheißen. So tickte ihr Vater nun einmal, und genau das war der Grund dafür, dass sie für gewöhnlich einen Bogen um ihn und die übrigen Raffertys machte, mit Ausnahme ihres Zwillingsbruders. Glücklicherweise hatte das Schicksal bei ihr und ihrem Zwilling ein Einsehen gehabt.
August und September.
Oder hatte das mit Glück womöglich gar nichts zu tun und war eher Bradens unbeugsamem Willen geschuldet, keinen Monat doppelt zu verwenden? Den Wünschen des Patriarchen schien sich mitunter sogar das Universum zu beugen.
»Themenwechsel … Hast du schon etwas wegen deines Bildes unternommen?«, fragte er, womit er sich auf ihr Kunstwerk aus der zweiten Grundschulklasse bezog – wenn man es denn so nennen konnte: das Bild, auf das jemand mit blutroter Farbe Was sie zuvor mit mir getan, das tu ich jetzt den andern an geschrieben und ihr vergangene Woche ins Präsidium geschickt hatte. Sie und ihre Partnerin waren die leitenden Detectives im Schnitzer-Fall, wie sie ihre Ermittlungen auch nannten. Irgendein durchgedrehter Irrer erwürgte Frauen und schnitzte ihnen ebendiese Worte ins Fleisch: Was sie zuvor mit mir getan … Anschließend legte er die Leichen in den Feldern rund um die Stadt Laurelton im County Winslow ab. Zumindest war das ihre Theorie, auch wenn sie sich bislang nicht damit an die Öffentlichkeit gewendet hatten.
»Wir arbeiten noch daran«, teilte sie Auggie mit.
»Dann arbeitet schneller.«
»He«, protestierte sie.
»Ich meine ja nur. Es gefällt mir gar nicht, wenn du in der Schusslinie stehst.«
Auggie war fast ausgerastet, als sie ihm von dem »blutigen Kunstwerk« erzählte, das man ihr ins Department geschickt hatte. Was keine große Überraschung war, denn ihr Bruder war bekannt dafür, dass er sich als eine Art Ritter verstand, der jungen Fräulein in Nöten aus der Patsche half. Als er erfuhr, dass ein Killer seine Schwester bedrohte, hatte er stante pede in seinen Beschützermodus geschaltet und war schnurstracks zu seinem Vorgesetzten, Lieutenant Aubrey D’Annibal, marschiert, um Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, damit er auf diesen Fall angesetzt wurde. Aber September hatte seinen Wunsch abgeschmettert. Es war ihr Fall, und sie war fest entschlossen, weiter daran zu arbeiten – und jetzt, da er zu einer persönlichen Angelegenheit geworden zu sein schien, erst recht. Ihre Partnerin, Detective Gretchen Sandler, und sie hatten den Schnitzer-Fall zugewiesen bekommen, und ihr sich ständig einmischender Bruder würde ihr nicht dazwischenfunken. Basta.
Genau das hatte sie D’Annibal zu verstehen gegeben, unmissverständlich, außerdem hatte sie ihn darauf hingewiesen, dass Auggie nach wie vor bis über beide Ohren im Zuma-Fall steckte. Ein maskierter Attentäter hatte das Gebäude von Zuma Software gestürmt, einer Firma, die Computerspiele mit Schwerpunkt Krieg und Ballerei entwickelte, und das Feuer auf die Angestellten eröffnet. Zwar war der Fall inzwischen aufgeklärt, aber es gab trotzdem noch höllisch viel Arbeit zu erledigen. Außerdem hatte sie ihren Chef daran erinnert, dass er sie höchstpersönlich vom Zuma-Fall abgezogen hatte, damit sie sich um die Opfer des Was-sie-zuvor-mit-mir-getan-Mörders kümmerte. Sie wollte nicht schon wieder inmitten der Ermittlungen anderswo eingesetzt werden. Ja, man hatte ihr ihr Zweitklässler-Kunstwerk ins Präsidium geschickt. Der Killer kannte sie, so viel stand fest. Und genau das war der Grund, warum sie den Fall behalten wollte.
Bislang war der Lieutenant Auggies Wunsch noch nicht nachgekommen, allerdings unter dem Vorbehalt, September abzuziehen, sobald der Boden zu heiß wurde. Diese hatte ihrem Bruder daraufhin noch einmal mit Nachdruck zu verstehen gegeben, er möge sich doch bitte zurückhalten und seine eigenen Fälle lösen. Mit Zuma hätte er ja wohl weiß Gott genug zu tun.
»Aber die beiden Fälle überschneiden sich«, hatte Auggie dagegengehalten.
»Sobald wir herausgefunden haben, inwiefern, kannst du dich auch darauf stürzen«, hatte September mit fester Stimme entgegnet, nicht bereit, auch nur einen Millimeter zurückzuweichen. Solange Sandler und sie die zuständigen Detectives waren, wollte September nicht, dass ihr Bruder ihnen ins Gehege kam.
Trotzdem wusste sie, dass Auggie keineswegs danebenlag. Das dritte Opfer des Schnitzers, Glenda Tripp, war verwandt mit einem der Hauptverdächtigen im Zuma-Fall – die Verbindung lag also auf der Hand. Ein Zufall war so gut wie ausgeschlossen. War der Was-sie-zuvor-mit-mir-getan-Mörder ein Trittbrettfahrer des Zuma-Killers? Jemand, der seine Opfer im unmittelbaren Dunstkreis der Ermittlungen suchte, um selbst zu Berühmtheit zu gelangen … oder sonstiges? Doch das müsste erst noch bewiesen werden. Sie standen ganz am Anfang ihrer Ermittlungen, und solange sie nicht mehr Beweismaterial für einen Zusammenhang zwischen dem Übergriff auf Zuma Software und den Morden beziehungsweise zwischen den Morden an sich zusammengetragen hatten, bewegten sie sich auf dünnem Eis.
»Ich habe beschlossen, zu Dad zu fahren und auf dem Dachboden und im Keller nach meinen alten Schulsachen zu stöbern. Mal sehen, ob ich noch etwas finden kann. Willst du mitkommen?«
»Du machst Witze.«
»Du behauptest doch immer, du willst in diesen Fall mit einsteigen.«
»Deswegen begebe ich mich aber noch lange nicht in die Nähe unseres guten alten Dads.« Er und Braden redeten nicht miteinander. Sie verstanden sich nicht, und sie mochten sich nicht sonderlich.
»Ich dachte, ich kann dich ja mal fragen.«
»Halt mich auf dem Laufenden«, bat er.
»Ja, ja.«
Auggie hatte D’Annibals Entscheidung, allein Gretchen und September auf den Schnitzer-Fall anzusetzen und dabei auf seine Unterstützung zu verzichten, nur zähneknirschend akzeptiert, aber er war zu beschäftigt, um großen Protest einzulegen, und auch wenn September im Grunde nichts dagegen gehabt hätte, mit ihrem Bruder zusammenzuarbeiten – egal, was sie ihm gegenüber behauptete –, war Gretchen Sandler ihre Partnerin. Sie steckten zusammen in dieser Sache drin, wie auch immer sich diese entwickeln würde.
»Ich habe noch bis nach dem Labor Day frei … sozusagen Zwangsurlaub«, gab sie jetzt zu. »D’Annibal wollte, dass ich mir Zeit zum Nachdenken nehme und erst dann entscheide, ob ich den Fall wirklich weiter bearbeiten möchte.«
»Überlegst du, ob du aussteigen sollst?«
»Klingt ja so, als könntest du’s kaum erwarten. Nein. Aber ich werde dich anrufen, wenn ich wieder anfange zu arbeiten. Wir könnten uns über ein paar Dinge unterhalten.«
»Worüber denn?«
»Keine Ahnung. Vielleicht über die Grundschule? Ich gebe dir Bescheid, sobald ich den Rest meiner Kunstwerke gefunden habe. Wenn ich sie denn finde«, fügte sie hinzu.
»Du weißt, dass ich immer für dich da bin.«
»Ach, Unsinn. Du willst den Fall nur für dich haben.«
»Ich will nicht, dass meine kleine Schwester mit einem Psycho zu tun hat.«
»Nur weil ich sechs Minuten jünger bin als du, bin ich noch lange nicht deine ›kleine‹ Schwester.«
»Aber sicher doch.«
»Quatsch. Gute Nacht, Auggie«, sagte sie und knipste das Licht aus.
»Gute Nacht, Nine«, erwiderte er. Er hatte sie bei ihrem Spitznamen genannt, Nine, weil sie im neunten Monat des Jahres geboren war. Ein Name, der ihr seit ihrer Schulzeit anhaftete, was sich wohl auch in ihrem Erwachsenenleben nicht ändern würde.
Am folgenden Dienstag hastete sie an Guy Urlacher vorbei, dem Officer am Empfang des Laurelton Police Department – kurz LPD –, und streckte ihm Ausweis und Dienstmarke entgegen. Urlacher war einfach nicht zu bremsen, wenn es darum ging, seine Kollegen um ihren Ausweis zu bitten, egal, wie oft sie an seinem Schreibtisch vorbeikamen. Das war Vorschrift, und Guy war eifrig darauf bedacht, diese einzuhalten.
»He!«, rief er ihr nach in der Absicht, sie aufzuhalten – vermutlich um ihren Ausweis zum x-ten Male gründlich zu studieren –, doch ihr war heute einfach nicht nach einem Plausch oder gar einer Auseinandersetzung mit diesem Paragraphenreiter zumute.
Im Großraumbüro, das sich Detectives und Officer teilten, ließ sie ihre Handtasche auf den Tisch fallen und ging hinüber zu einer großen Magnetpinnwand, an der ihr Grundschulkunstwerk hing. Daneben waren die Fotos der drei Opfer des mutmaßlichen Was-sie-zuvor-mit-mir-getan-Mörders befestigt: Sheila Dempsey, Emmy Decatur und Glenda Tripp. Gretchen und sie hatten nur widerstrebend eingeräumt, dass aller Wahrscheinlichkeit nach ein Serienkiller am Werk war, da sie fürchteten, das FBI würde in Laurelton aufkreuzen, um den Fall zu übernehmen, noch bevor sie sich ganz sicher waren.
September drehte sich um und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Detective George Thompkins, ein großer, stämmiger Mann, der sich kaum von seinem quietschenden Drehstuhl erhob, und ihre Partnerin, Gretchen Sandler, saßen an ihren Schreibtischen. Gretchen drückte sich den Telefonhörer ans Ohr und wollte gerade eine Nummer wählen, doch sie hielt inne, genau wie George, als sie sah, wie September ihr Bild von der Pinnwand nahm und es zu ihrem Arbeitsplatz hinübertrug. Ihr Kunstwerk aus der zweiten Klasse. Jetzt drehte sich September um und verkündete laut: »Es ist mir egal, ob es sich um Ketchup, rote Farbe, Salsa-Sauce oder Granatapfelsaft handelt – als ich es das erste Mal gesehen habe, dachte ich, es wäre Blut.« Sie hielt das Bild in die Höhe, damit Thompkins und Sandler es noch einmal betrachten konnten. Es war auf Fingerabdrücke untersucht worden, doch es wies lediglich ein paar Schmutzflecke auf. »Die Nachricht ist für mich. Der Killer hat es mir zugeschickt.«
»Da ist tatsächlich Ketchup drauf und irgendwas anderes«, ließ sich Thompkins vernehmen.
Sandler warf ihm einen stechenden Blick zu. »Das wissen wir, George. Mein Gott. Bleib bei der Sache. Es sollte aussehen wie Blut, um ihr Angst einzujagen.« An September gewandt fuhr sie fort: »Ich kann nicht glauben, dass du dich tatsächlich daran erinnerst, in welcher Klasse du das Bild gemalt hast.«
Sandler war schlank und dunkelhäutig, halb brasilianisch, mit lockigem dunklem Haar und schrägstehenden blauen Augen. Attraktiv wie eine Raubkatze. Und genauso bissig, wie allgemein bekannt war. Niemand wollte mit ihr zusammenarbeiten, aber September, die noch nicht lange bei der Mordkommission des Laurelton PD war, blieb kaum eine andere Wahl, als Gretchen als ihre Partnerin zu akzeptieren. Gretchen war ein guter Detective, egal, was die anderen über sie dachten. Während der vergangenen Monate hatte September viel von ihr lernen können.
Jetzt blickte sie nachdenklich auf ihr Kunstwerk hinab. Das Papier war hellblau, darauf klebten braune, gelbe und orangefarbene Blätter, durchgepaust und ausgeschnitten, die vom Himmel auf einen Haufen unten auf der Seite fielen. Oben prangten ein tintenblauer Smiley und mehrere goldene Sterne, darunter hatte die Lehrerin geschrieben: Deine Geburtstagstörtchen waren fantastisch! So startet es sich gut ins neue Schuljahr!
Doch unter den Worten der Lehrerin standen noch andere, ein blutiges Gekritzel: Was sie zuvor mit mir getan, das tu ich jetzt den andern an.
»Meine Lehrerin hieß Mrs. Walsh. Ich mochte sie sehr gern«, sagte September laut. »Die herabfallenden Blätter waren das erste Kunstprojekt im neuen Schuljahr, und meine Mutter hatte das Bild lange an unserer Küchenwand neben dem Kühlschrank hängen.«
»Dann hat der Mörder es also aus deinem Elternhaus«, schlussfolgerte Gretchen. Wieder einmal. Seit der Umschlag im Präsidium eingetroffen war, hatten sie so oft darüber gesprochen, dass man fast den Eindruck gewinnen konnte, sie probten ein Theaterstück.
»Möglich …«, murmelte September.
»Fürchtest du nicht, dass jemand aus deiner Familie es dir geschickt haben könnte?«
Das war ein neuer Blickwinkel. Bislang hatte Gretchen die Raffertys außen vor gelassen. »Nein«, log sie.
»Ach, komm schon«, bohrte Gretchen, aber September wandte sich bereits ab. Sie hatte keine Lust, sich bei ihrer Partnerin über ihre Familie auszulassen, obwohl ihr ebenjener Gedanke selbst schon gekommen war.
Zwei Wochen waren vergangen, seit sie den Umschlag erhalten hatte, in dem auch eine Geburtstagskarte steckte. »Gut gemacht! Schon 3!« stand darauf. Hinter die Drei hatte jemand per Hand eine Null geschrieben, so dass nun eine 30 dort stand. Zwei Wochen, seit September begonnen hatte, die Akten mit sämtlichen Unterlagen und Fotos zu den Was-sie-zuvor-mit-mir-getan-Morden zu durchforsten. Zwei Wochen, in denen sie sich mit der Tatsache auseinandersetzen musste, dass die verstörende Nachricht, die der Mörder in die Bäuche seiner Opfer einritzte, im Grunde ihr galt.
»Der weiß, wie alt ich bin«, hatte September gesagt, als Candy aus der Verwaltung ihr das Schreiben brachte.
»Mein Gott, Nine«, hatte Gretchen schockiert hervorgestoßen. »Das hat ja in Wirklichkeit etwas mit dir zu tun!«
Sie meinte den Schnitzer-Fall, denn zur selben Zeit, als September als Detective bei der Mordkommission begonnen hatte, hatte der Mörder auch mit seinem blutigen Werk begonnen. Zwei der Opfer hatte er auf Feldern in der Gegend von Laurelton im Verwaltungsbezirk Winslow deponiert, das dritte lag in der eigenen Wohnung. Die Leichen waren mehr oder weniger entkleidet, und alle wiesen Schnittwunden auf, die offenbar Wörter darstellen sollten. Womöglich war der Täter bei seiner Arbeit unterbrochen worden, denn nur auf Emmy Decaturs Unterleib befand sich der vollständige Satz Was sie zuvor mit mir getan, das tu ich jetzt den andern an, der, auf Septembers Zweitklässler-Kunstwerk gekritzelt, auch zu ihr ins Präsidium geschickt worden war.
Vor zwei Wochen …
Da hatte Septembers dreißigster Geburtstag unmittelbar bevorgestanden, die Anspielung auf der Karte traf also durchaus zu. Aber wer wusste, wann sie geboren war, mit Ausnahme ihrer Familie? Viele Leute fielen ihr da nicht ein. Schon gar nicht solche, die wussten, dass es sich um einen runden Geburtstag handelte. Die Vorstellung, ein Mitglied des Rafferty-Clans könnte die Karte geschickt haben, kam ihr absurd vor, zumal sie mit ihrer Familie nicht viel Kontakt hatte. July hatte angerufen, um ihr zu gratulieren und gleichzeitig verlauten zu lassen, sie wolle sich gern mal wieder mit ihr treffen, aber September hatte sie abgewimmelt. Auch ihr Vater und ihr Bruder hatten ihr alles Gute zum Geburtstag gewünscht, aber das war auch schon alles. Die Raffertys hatten nicht gerade ein warmes, herzliches Verhältnis zueinander. Nicht seit Kathryn, Septembers Mutter, gestorben war und nicht lange danach ihre Schwester May.
September blickte von dem Bild auf, das sie immer noch in der Hand hielt, und quer durch den Raum zu der Magnetpinnwand mit den Fotos der drei Opfer. Tripp war die einzige der drei Frauen, die man in ihrem Apartment gefunden hatte. Septembers und Gretchens aktuelle Theorie lautete, dass der Killer ihr nach Hause gefolgt war und sie dort überwältigt hatte, doch er war vertrieben worden, bevor er seine Nachricht in ihre Haut ritzen konnte. Da Dempsey und Decatur auf einem Feld abgelegt worden waren, gingen sie davon aus, dass auch für diesen Leichnam ursprünglich eine andere letzte Ruhestätte vorgesehen war.
Was sie zuvor mit mir getan …
Nachdem September vor ungefähr zwei Wochen diese Warnung erhalten hatte, hatte sie sich mit neuerlichem Elan auf den Fall gestürzt, doch bislang hatte das nicht viel gebracht. Der Laborbericht für das letzte Opfer, Glenda Tripp, war eingetroffen, es hatte allerdings nichts Nennenswertes dringestanden. Die Spurensicherung hatte am Tatort keine DNS-Spuren gefunden, daher gingen sie davon aus, dass der Täter ein Kondom benutzt hatte. Er hatte seine Opfer vergewaltigt und mit einem dünnen Strick stranguliert, der keinerlei Fasern hinterlassen hatte, zudem war der Täter so vorsichtig gewesen, das Tatwerkzeug wieder mitzunehmen. Bislang war es der Polizei nicht gelungen, eine Verbindung zwischen den Opfern herzustellen, abgesehen davon, dass alle drei Frauen dunkles Haar hatten und ähnlich gebaut waren. Offensichtlich bevorzugte der Täter einen bestimmten Typ – Septembers Typ, denn auch sie war brünett und hatte den schlanken Körper einer Tänzerin. Während der letzten Wochen hatte sich der Killer ruhig verhalten, was durchaus eine gute Sache war, auch wenn es noch lange nicht hieß, dass er aufgehört hatte zu morden. Womöglich hatte er jetzt September ins Visier genommen. Sollte sie sein nächstes Opfer sein? Oder wollte er sie nur erschrecken, mit ihr spielen?
Wie auch immer, dachte sie, nimm die Sache in Angriff. Diese Warterei machte sie nervös und schnippisch. Zumal D’Annibal sie im Auge behielt, auch wenn er ihr erlaubt hatte, an dem Fall dranzubleiben. Sie wollte nicht, dass sich das FBI einschaltete, bevor sie herausgefunden hatte, wer sich ihr Kunstwerk unter den Nagel gerissen hatte und vor allem wie. Sie konnte froh sein, dass der Lieutenant jegliche Unterstützung von außen ablehnte, zumindest bislang. Doch die Uhr tickte.
Wie war der Kerl an ihr Kunstwerk gekommen? Wie in ihr Elternhaus? Nein, aus ihrer Familie konnte es niemand sein, da war sie sich ganz sicher, egal, auf welchem Fuß sie mit ihrem Vater und ihren Geschwistern stand.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon fünf. Sie beschloss, dass sie morgen noch einmal ganz von vorn beginnen würde, noch einmal mit den Freunden und Familien der Opfer sprechen würde, um sicherzugehen, dass sie wirklich kein Bindeglied übersehen hatte. Gedankenversunken verließ sie das Großraumbüro und betrat den Gang mit den Spinden. Gerade als sie ihre Handtasche aus ihrem schmalen Schrank nahm, stellte sie fest, dass Gretchen ihr nacheilte. September drehte sich um und fragte sich verwundert, was ihre Partnerin so dringend von ihr wollte.
»Ich dachte, ich schaue noch bei Xavier auf einen Drink vorbei. Hast du Lust mitzukommen?«
»Ähm … ich weiß nicht«, sagte September. Bei der Arbeit kam sie gut mit Sandler klar, aber die Vorstellung, sich auch außerhalb ihres Berufslebens mit ihr zu treffen, sich gar mit ihr anzufreunden, verunsicherte sie. Wollte sie wirklich so weit gehen?
Allein in ihre leere Wohnung zurückzukehren war allerdings noch weniger reizvoll. Ihrem Vater und der Familie einen Besuch abzustatten, um in ihrer Vergangenheit zu wühlen – so, wie sie es Auggie am Telefon mitgeteilt hatte und was sie seit nunmehr zwei Wochen vor sich herschob –, toppte jedoch alles.
»Nun, es ist Donnerstag, fast schon Wochenende …«, sagte sie schließlich zögernd.
»Dann sehen wir uns dort«, erwiderte Gretchen und ließ September stehen.
Eine halbe Stunde später drehte September eine Flasche Bier auf der markant gemaserten Zebranoholz-Bar im Xavier und betrachtete den Beschlag, der kleine Wassertropfen bildete. Sie funkelten im Licht wie Diamanten. Der Tresen war auf Hochglanz poliert, er spiegelte, als wäre er aus Glas. September hob die Flasche an die Lippen und versuchte abzuschalten, aber wenn es einen Trick gab, die in ihrem Kopf wild durcheinanderwirbelnden Gedanken zu stoppen, musste sie ihn erst noch erlernen.
Sandler plauderte mit einem der Barkeeper, dem die Vorstellung zu gefallen schien, dass sie ein Cop war. September fragte sich, ob Gretchen wohl überlegte, mit ihm nach Hause zu gehen. Das käme ihr nicht ungelegen. Sie wollte einfach nur noch ins Bett kriechen und sich die Decke über die Ohren ziehen, obwohl es noch so früh am Abend war.
Genau das hatte sie ihrer Partnerin bereits mitgeteilt, aber Gretchen war derart auf den Typen fixiert – »Dominic, meine Freunde nennen mich Dom« –, dass sie sie gar nicht zu hören schien. Zeit zu verduften, dachte September und trat hinaus in die schwülwarme Luft. Ein heißer Wind blies die ersten Blätter von den Bäumen, die um ihre Stiefel tanzten, als sie zu ihrem silbernen Honda Pilot schlenderte. Sie hätte nicht in ihrer Arbeitskleidung dorthin gehen sollen – praktische schwarze Baumwollhose und kurzärmelige hochgeschlossene Bluse. Obwohl viele Pendler das Steakhouse mit angeschlossener Bar besuchten, schrie das Xavier förmlich nach tiefen Ausschnitten und Chandelier-Ohrringen sowie nach Designerpumps mit Zehn-Zentimeter-Absätzen.
Als würde sie je so etwas tragen.
Sie sollte zu ihrem Vater fahren, wie sie es ursprünglich vorgehabt hatte, und Dachboden, Keller und womöglich auch die Garage und Nebengebäude nach Überbleibseln ihrer Zeit auf der Sunset Elementary School durchforsten. Aber wie Auggie ging sie nicht gern »nach Hause«. Absolut nicht. Seit dem Tod ihrer Mutter – September war damals in der fünften Klasse gewesen – hatte sie sich dort nicht mehr wohl gefühlt, und der Gedanke, sich mit ihrem despotischen Vater auseinandersetzen zu müssen, war nicht gerade verlockend. Ihm dann noch zu erklären, dass sie ein Killer ins Visier genommen hatte, schreckte sie vollends ab. Braden Rafferty würde mit Sicherheit der Schlag treffen, doch nicht bevor er sie mit einer Flut von Vorwürfen überschüttet hätte. Sie konnte förmlich hören, wie er vor sich hin tobte und immer wieder »Hab ich’s dir nicht gesagt?« schimpfte.
An Rosamund, ihre neueste Stiefmutter, die vom Alter September näher war als deren Vater, wollte sie erst gar nicht denken. Die Stiefmutter vor Rosamund, Verna, lag altersmäßig irgendwo in der Mitte; Bradens Geschmack wurde mit zunehmendem Alter immer jünger.
Absurd.
September glitt hinters Steuer, ließ den Motor an und schaltete Bluetooth ein, dann holte sie ihr Handy aus der Tasche, um Auggies Nummer einzutippen. Es klingelte dreimal, dann ging er dran. »Hallo, Nine.«
»Selber hallo. Ich fahre jetzt rüber zu Dad und suche meine Sachen aus der Grundschulzeit zusammen«, sagte sie, während sie sich in den Verkehr einreihte.
»Hat ja eine ganze Weile gedauert, bis du den Mut dazu gefunden hast«, stellte er fest. »Ich kann deine Qual förmlich durchs Telefon spüren.«
»Ich wollte bloß ein bisschen mit dir reden …«
»Und worüber?«
»Darüber, eine Rafferty zu sein?«
Er stöhnte. »Muss das sein?«
»Glaubst du, sie haben unsere Sachen weggeworfen? Dad, meine ich. Oder Verna, vielleicht auch Rosamund? Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass sie sich die Mühe gemacht haben. Vermutlich haben sie meinen Krempel – und auch deinen – einfach auf den Dachboden oder in den Keller verfrachtet und dann vergessen.«
»Anzunehmen«, pflichtete er ihr bei.
»Wenn Dad da ist, werde ich ihn fragen.«
»Wann hast du das letzte Mal mit ihm gesprochen?«, fragte Auggie.
»Er hat mich an meinem Geburtstag angerufen, zu einer zivilisierteren Zeit als du.«
»Und davor?«, bohrte er weiter.
»Wir haben an Marchs Geburtstag telefoniert«, teilte September ihm mit. »Und natürlich habe ich ihn an Julys Geburtstag getroffen, bei der Party auf dem Weingut.« Die Winzerei ihres Vaters trug den klingenden Namen The Willows.
»Toll. Und jetzt erzähl mir, wie lange es jeweils gedauert hat, bis er dir nahelegte, dir eine neue Arbeit zu suchen.«
»Er hat sich in letzter Zeit ziemlich zurückgehalten.«
Auggie schnaubte ungläubig. »Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm, nach Hause zurückzukehren«, sagte er dann, doch sein Ton legte nahe, dass er das Gegenteil dachte.
»Der Killer ist irgendwie an mein Bild gekommen. Vermutlich hat er es aus Dads Haus.«
»Wenn es wirklich der Killer war, der dir den Umschlag geschickt hat.«
»Natürlich war er das«, beharrte sie.
»Nicht unbedingt. Pauline Kirby hat aller Welt verkündet, wie die Nachricht auf Emmy Decaturs Bauch lautete. Gut möglich, dass dir jemand lediglich einen gehörigen Schrecken einjagen wollte.«
Pauline Kirby war die bekannteste Reporterin des Nachrichtensenders Channel Seven und die Erzfeindin sämtlicher Polizisten, September eingeschlossen. Erst kürzlich hatte sie September in einem Fernsehinterview ins offene Messer laufen lassen.
»Du glaubst, dass ein Mitglied unserer Familie dahintersteckt, hab ich recht?«, fragte sie ihn.
»Möglich. Ich sage bloß, dass die Nachricht nicht zwangsläufig vom Mörder stammen muss.«
»Du willst dir bloß nicht vorstellen, dass er mich ins Visier genommen hat, das ist mir schon klar. Aber ja, die Nachricht ist eine Warnung. Das mit Sicherheit. Trotzdem kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass jemand aus unserer Familie so etwas tut, geschweige denn tatsächlich auf irgendeine Weise in die Morde verwickelt ist. Vielleicht … vielleicht stammt die Nachricht ja von jemandem, der den Mörder kennt und der weiß, dass ich mit dem Fall betraut bin, aber ein Familienmitglied … Nein, das schließe ich aus.« Noch während sie sprach, verspürte sie ein Kribbeln im Bauch, doch sie konnte es nicht recht zuordnen.
»Du solltest auf jeden Fall offen bleiben und sämtliche Möglichkeiten in Betracht ziehen, Nine.«
»Nun, wer immer mir das Bild geschickt hat, muss es irgendwoher haben. Das ist alles, was ich dazu sagen kann. Und am wahrscheinlichsten ist, dass er es aus unserem Elternhaus hat.«
»Wenn du den guten alten Dad siehst, grüß ihn bitte nicht von mir.«
»Das hatte ich auch nicht vor. Er wird sich allerdings trotzdem nach dir erkundigen. ›Wie geht es deinem Zwillingsbruder, September? Hast du August in letzter Zeit gesehen?‹ Das gehört einfach dazu.«
»Er hat uns enterbt«, knurrte Auggie. »Nicht umgekehrt.«
»Das musst du nicht extra betonen«, erklärte September. »Ich werde allerdings trotzdem zu ihm fahren.«
Sie bog um eine enge Kurve und fuhr auf ihr Wohngebäude mit seinen farblich aufeinander abgestimmten Einheiten zu, die der Anlage das Aussehen einer Reihenhaussiedlung verliehen. Jede Fassade unterschied sich von der anderen; die von September und den Nachbarn unter ihr hatte braune Schindeln und schwarze Fensterläden. »Ich bin auch nicht gerade wild darauf, heute Abend noch zu ihm zu fahren, aber schließlich muss ich etwas tun.«
»Sei vorsichtig, Nine.«
»Ach, Auggie, jetzt hör schon auf mit diesem Großer-Bruder-Mist.«
»Sobald ich kann, helfe ich dir, diesen kranken Scheißkerl zu schnappen«, versprach er wohl zum fünfzigsten Mal, ohne auf ihren Einwand einzugehen.
»D’Annibal hat mich vom Zuma-Fall abgezogen und auf den Schnitzer angesetzt, bevor ich die Botschaft des Mörders oder von wem auch immer erhalten habe. Gib Sandler und mir eine Chance, Auggie, wir sind durchaus in der Lage, den Fall selbst zu lösen.«
»Wenn es tatsächlich der Mörder war, der dir das verunzierte Bild geschickt hat, dann hat er es auf dich abgesehen!«
»Langsam glaube ich wirklich, du bist taub! Halt dich da raus und lass mich meine Arbeit machen! Wenn du –« September konnte sich gerade noch bremsen, etwas zu sagen, was sie später bereuen würde. Sie wusste, warum ihr Bruder sich so aufführte: Er hatte Angst um sie.
»Wenn ich was?«, fragte er prompt.
»Mach einfach gar nichts. Zumindest noch nicht. Ich werde zu Dad fahren und mal sehen, ob ich etwas finde. Gretchen und ich sind momentan dabei, den Hintergrund aller drei Opfer abzuklopfen. Gehen noch mal alles durch. Glaub mir, es gibt nichts für dich zu tun, also warte einfach ab.«
Eine lange Pause folgte, dann sagte er endlich: »Okay.«
»Amüsiere dich mit Liv und vergiss mich für eine Weile. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Selbst, was Dad anbelangt. Ich werde ihn fragen, ob er sich an die Kunstwerke erinnert, mit denen Mom eine der Küchenwände schmückte. Vielleicht fällt ihm etwas dazu ein. Mom hatte das Bild an die Wand geklebt, das mit den herabfallenden Blättern, ich erinnere mich genau. Es hing ziemlich lange da.«
»Deine Erinnerung trügt dich. Sie hatte mein Bild aufgehängt, nicht deins«, widersprach Auggie.
»Auf keinen Fall.« September fuhr auf ihren Platz im Carport und stellte den Motor ab, doch sie blieb noch im Wagen sitzen.
»Es war mein Bild«, beharrte ihr Bruder.
»Dann hatte sie dein Blätter-Kunstwerk also auch an die Wand geklebt?«
»Ich habe keine Ahnung, was mit deinem war, aber meins hing dort. In der Grundschule hatten wir im Kunstunterricht jede Menge gemeinsame Projekte. Ich weiß zwar nicht mehr, dass die herabfallenden Blätter aus der zweiten Klasse stammen, aber ich gehe mal davon aus, dass du recht hast. Und Mom hat alles gelobt und zu Kunstwerken erklärt, was wir fabriziert haben, egal, wie es aussah.«
»In der zweiten Klasse hatte ich Mrs. Walsh in Kunst. Sie war auch meine Klassenlehrerin.«
»Das mag ja sein, trotzdem war es mein Bild, das an der Küchenwand hing. Vielleicht hing deins ja ebenfalls dort.«
»Wer war deine Klassenlehrerin?«, fragte September.
»Mrs. McBride.«
»Bäh! Das war bestimmt nicht witzig. In der dritten hatte ich Ms. Osborne. Die war jünger.«
»Hm.« Auggie klang, als würde er das Interesse an dem Gespräch verlieren.
»Bist du wirklich sicher, dass das Bild an der Küchenwand von dir war?« September kniff nachdenklich die Augen zusammen und stieg aus dem Honda.
»Absolut sicher.«
»Mensch, Auggie, vielleicht hast du recht. Ich weiß noch, dass ich viele meiner Sachen in der Schule gelassen habe. Du warst derjenige, der immer alles mit nach Hause geschleppt hat. Das ist mir schrecklich auf die Nerven gegangen.«
»Ja, ja. Ich war damals wohl ziemlich auf Anerkennung aus.«
»Damals?« September räusperte sich. »Aber mal im Ernst, Auggie. Was bedeutet das? Dass mein Bild es nie bis zu uns nach Hause geschafft hat, aber irgendwie in die Hände des Killers geraten ist? Oder in die Hände von jemand anderem, so dass dieser Zugang dazu hatte … Aber wem?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass dir die Botschaft Angst machen soll.«
»Der, der das getan hat, wusste definitiv, dass die fallenden Blätter von mir stammen, und er wusste, dass ich ein Cop bin.«
»Du warst in den Nachrichten zu sehen.«
»Richtig, aber –«
»Ich muss auflegen, Nine. Und nimm’s locker, was den guten alten Dad anbelangt. Er ist es nicht wert, dass du dich über ihn aufregst. Ruf mich später an und erzähl mir, ob du irgendwelche anderen Bilder gefunden hast. Wir haben damals so viele tolle Sachen gemacht!«
»Ich habe mich schon oft gefragt, ob wir nicht lieber zur Kunstakademie statt zur Polizei hätten gehen sollen.«
Er prustete los und legte auf. Grinsend ging sie an der Eingangstür zur Erdgeschosswohnung vorbei und die Treppe hinauf, die zu ihrer eigenen Wohnung führte. Rasch sperrte sie auf und trat ein, dann schloss sie die Tür hinter sich und legte den Riegel vor. Sie war längst nicht so unbekümmert, wie sie Auggie glauben machen wollte.
September sah sich in ihrem kleinen Reich um: u-förmige Küche, Wohnzimmer mit Fernseher und Festplattenrecorder. Über der dick gepolsterten Couch lag der Quilt, den ihre Großmutter mütterlicherseits ihr geschenkt hatte. Als September das Sprechen lernte, hatte sie ihre Oma Meemaw genannt, und das war hängengeblieben. Meemaw war im selben Jahr gestorben wie ihre Tochter Kathryn, Septembers Mutter, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Meemaw hatte gesundheitliche Probleme, zumindest behauptete das Septembers Vater, aber bis heute glaubte diese, dass Meemaw das Herz gebrochen war wegen des Verlusts ihrer Tochter.
Bevor sie ihre Meinung ändern konnte, tauschte September ihre Arbeitskluft gegen Jeans, ein schwarzes, ärmelloses Oberteil und Sandalen, dann fuhr sie zum Anwesen der Familie am südlichen Ende von Laurelton. Die Raffertys, stets wohlhabend, waren noch vermögender geworden durch Septembers Vater, einem Geschäftsmann. Nach Kathryns Tod war Braden noch verbissener, noch härter geworden und hatte mehr und mehr Geld angehäuft, oftmals auf Kosten anderer, was ihm eine beträchtliche Anzahl an Feinden beschert und ihn die Bindung zu seinen beiden jüngsten Kindern September und Auggie gekostet hatte.
Braden Rafferty war für sein Vermögen bekannt, seinen Einfluss, seinen Geschäftssinn und seine Winzerei, The Willows, nicht aber dafür, ein Familienmensch zu sein, trotz seiner fünf Kinder. Genauso wenig wie er für Treue und Beständigkeit bekannt war. Obwohl September noch immer traurig war über den Verlust ihrer Mutter, und obwohl sie wusste, dass ihr Vater Kathryn so innig geliebt hatte, wie es ihm möglich gewesen war, wusste sie auch, dass Braden ihr das Leben zur Hölle gemacht hatte. Sie hoffte sehr, dass Kathryn Rafferty im Jenseits ihren Frieden gefunden hatte.
September fuhr durch das schmiedeeiserne, von Säulen gerahmte Tor und holte tief Luft. Sie rollte auf die weitläufige Villa zu und stellte den Wagen auf dem großen, mit Travertin-Steinen eingefassten Vorplatz ab, den Braden für seine Gäste hatte anlegen lassen. Wenn man es recht bedachte, war September für ihn inzwischen nicht mehr als das: ein Gast.
Sie stieg aus ihrem silbernen Pilot und drückte auf die Fernbedienung, um den Honda zu verriegeln, dann ging sie durch die Abenddämmerung aufs Haus zu.
Showtime, dachte sie grimmig.
Die Rafferty-Villa war monströs. Einem bayerischen Schloss nachempfunden, komplett mit Türmchen, Giebeln und Zinnen, war die gesamte Einrichtung bereits zweimal erneuert worden – jeweils von den beiden unmittelbar aufeinanderfolgenden Ehefrauen, die ihr Vater nach dem Tod ihrer Mutter geheiratet hatte. Beide Male zum Nachteil. Bei ihrem letzten Besuch hatte September kein einziges Möbelstück wiedererkannt, keine Schüssel, keinen Teller, kein Bild aus ihrer Kindheit. Alles war verändert worden, entweder von Verna, der zweiten Frau ihres Vaters, oder von Rosamund, der aktuellen Mrs. Braden Rafferty, allerdings verschwanden langsam, aber sicher auch Vernas Spuren. Der Kristalllüster war durch eine moderne mehrarmige Deckenleuchte aus glänzendem Nickel ersetzt worden, die schweren, braunen Vorhänge durch noch schwerere schwarze Damastvorhänge; die Küchenschränke, einst aus naturbelassenem Kirschholz und burgunderrot gestrichen unter Vernas Regime, erstrahlten nun in einem grellen Limettengrün.
September fragte sich kurz, was wohl aus Vernas verschlagenem Ich-lasse-dich-nicht-aus-den-Augen-Sohn Stefan Harmak geworden war. Verna hatte Stefan, der zwei Jahre jünger war als September und Auggie, mit in ihre Ehe mit Braden gebracht. Die Zwillinge waren damals Teenager gewesen. Vor rund zehn Jahren dann hatte Braden Rosamund kennengelernt und sich von Verna scheiden lassen. Septembers Erinnerung an jene Zeit beschränkte sich auf ihre angestrengten Versuche, Vernas aufbrausendem Zorn zu entgehen. Bis zum heutigen Tag beschwerte sich ihre einstige Stiefmutter lautstark und bitterlich bei allen, die es hören wollten oder auch nicht, dass Rosamund Reece eine geldgierige Schlampe sei, die Braden umgarnt habe, um an sein Vermögen zu gelangen. Genau das Gleiche konnte man auch von Verna behaupten, fand September, doch sie behielt ihre Gedanken für sich. Wäre Rosamund nicht gewesen, so tobte Verna weiter, wäre sie mit Sicherheit noch mit Braden verheiratet.
Was natürlich kompletter Unsinn war.
September klopfte an die Haustür. Sie war nicht verschlossen, deshalb trat sie ein, noch bevor ihr jemand öffnen konnte. Zögernd ging sie über den dicken marokkanischen Teppich, der vom Foyer ins Wohnzimmer führte, und rief: »Hallo? Rosamund? Ich bin’s, September!«
Vor der Tür zum Wohnzimmer blieb September stehen und horchte. Ihre Augen fielen auf das Bild an der gegenüberliegenden Wand. Als Verna die Königin dieses Schlosses gewesen war, hatte sie voller Stolz ein Foto von Stefan an den Mantel des schwarzen Marmorkamins gehängt, doch jetzt prangte dort eine noch viel größere Aufnahme der wunderschönen Rosamund. September wandte den Blick ab, doch dann fuhr ihr Kopf plötzlich wieder herum.
War auf dem Foto etwa ein Babybauch zu sehen?
Einen Augenblick später hörte sie tapsende Schritte auf sich zukommen, und Rosamund erschien auf der Bildfläche, barfuß, in einem hellbraunen ärmellosen Leinentop zu einer flotten Capri-Hose. Zu ihrem ungläubigen Erstaunen war besagter Babybauch zu einem unübersehbaren Hügel angewachsen.
»Mein Gott, September! Ich dachte schon, ein Fremder wäre ins Haus eingedrungen! Suma muss vergessen haben, die Tür hinter sich abzusperren. Das vergisst sie ständig, egal, wie oft ich sie daran erinnere.«
»Ich wusste nicht, dass du schwanger bist«, bemerkte September mit ausdrucksloser Stimme.
Rosamunds Augen waren gelbbraun, ihr Haar ein langer, glatter, glänzender, dunkelbrauner Vorhang. Sie hob eine Augenbraue und sagte vorwurfsvoll: »Wenn du und dein Bruder Braden öfter anrufen würdet, würdet ihr so einige Dinge erfahren.«
Verdeckte Seitenhiebe. Wie immer. »Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, hat er Auggie und mich wegen unserer Berufswahl enterbt.«
»Er sagte, er habe dich an eurem Geburtstag angerufen.«
»Das ist ihm natürlich hoch anzurechnen«, entgegnete September tonlos.
»Ts, ts. Du trägst einen solchen Groll in dir«, stellte Rosamund missbilligend fest.
»Ein typischer Rafferty-Charakterzug. So, wann steht der Kindersegen denn nun ins Haus?«
Rosamund legte eine Hand auf ihren Bauch. »Im Januar.«
»Ich hoffe, es wird ein Mädchen«, sagte September. »Sollten Dad und du an dieser befremdlichen Monatsnamensgebung festhalten, klingt ›January‹ für ein Mädchen schöner als für einen Jungen.«
»Es wird ein Mädchen«, erwiderte Rosamund. »Und ich werde es Gilda nennen.«
»Gilda. Viel Glück dabei.«
Mit zusammengepressten Lippen sagte Rosamund: »Wenn du deinen Vater suchst, er ist in der Winzerei.«
Die Winzerei lag etwa vierzig Autominuten entfernt in den Weinbergen Oregons im Yamhill County. September hielt es für ein gutes Zeichen, dass ihr Vater nicht in einer Konferenz hinter verschlossenen Türen mit ihrem älteren Bruder March steckte, wo sie gemeinsam einen neuen Coup ausheckten, der ihnen ganze Wagenladungen voller Dollars bescheren sollte, während sie gute Leute einsparten – ihr üblicher Modus Operandi.
»Eigentlich bin ich hier, weil ich auf dem Dachboden nach Sachen aus meiner Grundschulzeit suchen wollte«, erklärte September und machte Anstalten, um Rosamund herumzugehen, die ihr den Weg zur Hintertreppe blockierte, über die man auf den Dachboden gelangte.
»Deine Sachen aus der Grundschule?«, wiederholte diese perplex. »Wozu?«
»Ich habe mir überlegt, ein paar meiner Kunstwerke aus jener Zeit zu rahmen und zum Verkauf anzubieten. Ein bisschen Bargeld kann nie schaden.«
»Haha. Sehr komisch. Allerdings möchte ich nicht, dass du jetzt auf den Dachboden hinaufgehst. Ich werde Braden Bescheid geben, dann könnt ihr einen Termin vereinbaren.«
»Das meinst du doch nicht ernst?« September starrte sie fassungslos an.
»Todernst«, erwiderte Rosamund kühl.
Zum ersten Mal gewann September den Eindruck, dass die grässliche Verna womöglich das kleinere Übel gewesen war. Vermutlich hatte Verna sogar recht gehabt, als sie die dritte Ehefrau ihres Vaters als »geldgierige Schlampe« bezeichnete.
Sie überlegte gerade, ob sie Rosamund den wahren Grund für ihren geplanten Abstecher auf den Dachboden nennen sollte, als March durch die Eingangstür marschiert kam, als sei er hier der Hausherr. Als er September und Rosamund erblickte, blieb er wie angewurzelt stehen. »Was zum Teufel machst du denn hier, Nine?«
»Ich statte euch einen Besuch ab«, entgegnete diese. »Dad ist in The Willows?«
»Ja. Ich bin sozusagen auf dem Sprung dorthin. Seit wann stattest du uns denn ›Besuche‹ ab?«
»Ach, ich hab bloß meine Familie vermisst.«
Er sah sie durchdringend an, als versuche er festzustellen, ob sie ihn auf den Arm nahm. Er sah aus wie Auggie: dunkles Haar, die blauen Augen der Raffertys, markantes Kinn, schlanker, muskulöser Körperbau. Doch während Auggies Augen stets amüsiert blitzten, waren die von March ernst und kalt, genau wie die ihres Vaters. Septembers ältere Schwester July ähnelte ihren Brüdern, wohingegen May, die Schwester, die nur wenig älter gewesen war als die Zwillinge, eher so ausgesehen hatte wie September: der schlanke Körper einer Tänzerin, hohe Wangenknochen, kastanienbraunes Haar und blaue Augen. Sie war gestorben, als September gerade mal fünfzehn gewesen war, und ihr Tod, so kurz nach dem grauenvollen Unfall ihrer Mutter, hatte die Familie aufs Neue erschüttert.
Und jetzt, so schien es, bekamen sie noch einmal Zuwachs.
Als habe er ihre Gedanken gelesen, schweifte Marchs Blick über Rosamunds gewölbten Bauch, und er runzelte die Stirn. Er selbst hatte geheiratet, als er Mitte zwanzig war, doch die Ehe hatte keine fünf Jahre gehalten; Jenny, seine Ex, hatte Marchs Geld und seinen Lebensstil geliebt, aber ihren Pilates-Lehrer noch mehr.
March und Jenny hatten eine gemeinsame Tochter: die zehnjährige Evie, die abwechselnd bei ihnen beiden lebte. Evie war eine Schönheit mit langem dunklem Haar und so blauen Augen, dass sie schon violett wirkten, aber sie war genauso ernst und kompromisslos wie ihr Vater. Zumindest hatte September die Kleine so in Erinnerung, seit sie sie vor zwei Monaten auf Julys Geburtstagsparty in The Willows wiedergesehen hatte. Allerdings war Evie bei dem großen Picknick das einzige Kind gewesen, was ihr Verhalten vielleicht erklärte. Hoffentlich. September fand die Vorstellung schrecklich, dass Evie genauso fordernd und unflexibel sein könnte wie March und ähnlich humorlos wie Braden.
»Habt ihr July gesehen?«, fragte March seine Schwester und seine Stiefmutter.
»Ist sie nicht auf dem Weingut?«, fragte September zurück, da ihre Schwester die Winzerei für ihren Vater führte.
»Ich habe vorhin dort angerufen, und man hat mir gesagt, dass sie heute noch nicht aufgetaucht ist.« March klang verärgert.
Rosamund zuckte die Achseln und sagte: »Ich bin nicht ihr Babysitter.«
»Ich habe sie seit ihrem Geburtstag nicht mehr gesehen.« September dachte an das Picknick und daran, dass sie March zu seinem Geburtstag nur kurz angerufen hatte. Ihrem Vater hatte sie gar nicht gratuliert.
Wenn March ähnliche Gedanken hegte, ließ er sich nichts anmerken, sondern sagte bloß ungeduldig zu Rosamund: »Wenn du sie siehst, richte ihr doch bitte aus, dass ich mit ihr reden muss.«
»Schreib ihr eine SMS. Das dürfte vermutlich schneller gehen.« Gelangweilt fuhr sich Rosamund mit der Hand durchs Haar.
»Wie geht es Evie?«, erkundigte sich September.
»Gut«, erwiderte er kurz angebunden, dann murmelte er etwas von irgendwelchen Papieren, die er aus dem Arbeitszimmer holen wollte, und ließ die beiden Frauen stehen.
Rosamund sah ihm nach und sagte genervt zu September: »Er arbeitet für Braden. Ständig schleppen sie Unterlagen, Ordner und Akten ins Arbeitszimmer.«
»Ich dachte nicht, dass March häufig mit July und der Winzerei zu tun hat. Sieht er sie tatsächlich so oft?«
»Aber sicher … das tun wir im Augenblick doch alle.«
»Wie meinst du das?«
Rosamund schnaubte wenig damenhaft. »Seit letztem Monat wohnt sie hier. Ist einfach eingezogen, ohne mich zuvor zu fragen! Ich habe Braden gesagt, dass sie verschwinden muss, bevor das Baby zur Welt kommt, aber anscheinend hört niemand auf mich.«
September konnte es kaum glauben. Obwohl sie nicht gerade viel mit ihrer Familie zu tun hatte, war sie doch überrascht, dass ihre große Schwester in ihr Elternhaus zurückgekehrt war. July hatte, solange sich September erinnern konnte, stets in ihrer eigenen Wohnung gelebt.
Rosamund sah sie abwartend an. September überlegte, ob sie sie einfach beiseiteschieben und an ihr vorbei zur Dachbodentreppe stürmen sollte, doch dann entschied sie sich dagegen. Das war den Ärger nicht wert.
»Sag Dad, dass ich morgen wiederkomme«, bat sie, bevor sie wieder in den immer noch warmen Abend hinaustrat.
Sie war deprimiert. Außer Auggie gab es niemanden im Rafferty-Clan, mit dem sie sich verbunden fühlte. Ihre Mutter und May, die beiden Frauen, denen sie nahegestanden hatte, waren ihr noch während ihrer Jugend genommen worden. July war immer eine Einzelgängerin gewesen und September zu jung, um eine Beziehung zu ihr herzustellen. Vielleicht war es an der Zeit, die Kluft zwischen ihnen zu überbrücken; zumindest wäre es einen Versuch wert. Sie wünschte sich so sehr, jemanden zu haben, dem sie vertrauen konnte; zwar hatte sie Auggie, aber der war ständig bei irgendwelchen Undercover-Einsätzen und daher nur selten greifbar.
Kein Wunder, dass sie sich in ihrem letzten Jahr auf der Highschool in Jake Westerly verliebt hatte. Kein Wunder, dass sie sich damals zum Narren gemacht hatte. Sie hatte von ihm geträumt wie eine liebeskranke Irre, hatte mit ihm geschlafen, bloß um von seinem widerwärtigen Freund T. J. zu erfahren, dass Jake lediglich darauf aus gewesen war, eine Jungfrau zu vögeln. Stimmte das wirklich? Bis heute hatte sie keine Antwort auf diese Frage, und im Grunde spielte es auch keine Rolle. September hatte mit ihm zusammen sein wollen, und sie hatte ihre Chance genutzt. Er war nett zu ihr gewesen – zumindest hatte sie das so empfunden, auch wenn T. J.s Bemerkung wohl eher auf das Gegenteil schließen ließ –, was wundervoll war nach den Jahren in der Grundschule, in denen er sie ständig geneckt hatte. Jakes Vater hatte für Septembers Vater gearbeitet, und Jake piesackte sie unablässig mit seinem albernen »Reiches Kind – armes Kind«-Gerede. Im Nachhinein erkannte sie, dass das seine Art und Weise gewesen war, mit ihr zu flirten, aber damals hatte es sie verletzt, weil sie insgeheim schon immer auf ihn gestanden hatte. Doch dann wurde plötzlich alles anders. Jake fing an, sein eigenes Geld zu verdienen, und trennte sich von seiner langjährigen Freundin Loni Cheever. Und er verbrachte eine Nacht mit September.
Als T. J. davon erfuhr, hatte er jede Menge unerfreuliche Dinge darüber zu sagen. Unangenehme Dinge. Dinge, die sie schrecklich in Verlegenheit brachten. September hatte so getan, als sei sie immun dagegen, doch als Jake zu Loni zurückkehrte, fragte sie sich, ob nicht einiges, was T. J. von sich gegeben hatte, der Wahrheit entsprach. Wollten die Jungs wirklich Jungfrauen ins Bett kriegen, nur um sich eine Kerbe in den Gürtel zu schneiden?
Das war so verdammt lahm.
September schüttelte den Gedanken ab und fuhr den Weg zurück, den sie gekommen war. Gegen zwanzig Uhr kam sie an ihrem Apartment an. Sie hatte kaum geparkt, da musste sie auch schon an ihren leeren Kühlschrank denken, weshalb sie den Motor erneut anließ und den Pilot zum nächstgelegenen Fast-Food-Restaurant lenkte, Subway Sandwiches.
Ein eingewickeltes Pastrami-Sandwich in der Hand, kehrte sie zwanzig Minuten später zu ihrer Wohnung zurück, doch bevor sie anfing zu essen, sprang sie rasch unter die Dusche. Anschließend legte sie ihr Sandwich auf einen Teller, ließ sich aufs Sofa fallen und schaltete den Fernseher ein. Seit sie vor ein paar Wochen wegen des Was-sie-zuvor-mit-mir-getan-Falls interviewt worden war, nahm sie allabendlich die Siebzehn-Uhr-dreißig- und die Zweiundzwanzig-Uhr-Nachrichten auf Channel Seven auf. Jetzt griff sie nach der Fernbedienung und zappte durch die Programme, dann spielte sie die Siebzehn-Uhr-dreißig-Nachrichten ab und biss herzhaft in ihr Sandwich.
Während sie auf den Bildschirm starrte, kam ihr wieder der Gedanke, der sie schon vorher beschäftigt hatte: Er hatte sie in den Nachrichten gesehen. Das konnte gar nicht anders sein. Der Killer hatte sie in den Nachrichten gesehen, daher wusste er, dass sie als Detective arbeitete.
In ebenjener Nacht war Glenda Tripp ermordet worden.
Kurz darauf hatte September die »blutige« Botschaft erhalten.
Sie legte ihr Sandwich ab und drückte auf PAUSE. Das finstere Gesicht von Channel Sevens Sensationsreporterin Pauline Kirby erstarrte in einem unvorteilhaften Moment, die Augen halb geschlossen, der Mund offen, als würde sie die Zähne fletschen.
Stellte sie Verbindungen her, die gar nicht existierten?
Nein. Das war mehr als Zufall. Er hatte ihr die Nachricht geschickt, und sie war persönlich.
Mit einem mulmigen Gefühl – sie hasste es, sich selbst auf dem Bildschirm zu sehen – schaltete sie von den Nachrichten des Tages auf ihr Interview mit Pauline Kirby. Sie hatte es sich erst einmal angeschaut, entsetzt darüber, wie sie rüberkam. Sie hatte keine Ahnung, wie es Schauspielern und Leuten wie Pauline Kirby gelang, sich derart vorteilhaft vor der Kamera zu präsentieren. Sie selbst hätte am liebsten fest die Augen zugedrückt und laut gestöhnt.
Das Interview hatte auf jenem Feld am Waldrand stattgefunden, auf dem man Emmy Decaturs Leichnam entdeckt hatte.
Mit zusammengebissenen Zähnen spielte September den Beitrag ab. Sie spulte vor bis zu der Stelle, an der Pauline Kirby die beiden Wanderer interviewte, die förmlich über die junge Frau gestolpert waren. Anschließend war September an der Reihe gewesen. Nun kauerte sie auf der Sofakante, der Dinge harrend, die da kommen würden, fest entschlossen, sich allein auf die Worte zu konzentrieren und sich nicht von ihren eigenen Unzulänglichkeiten ablenken zu lassen, egal, ob eingebildet oder real.
Das Interview begann damit, dass Pauline die beiden Wanderer vorstellte: »Der Leichnam von Emmy Decatur wurde von Brian Legusky und Dina Wendt entdeckt, zwei Wanderern, die häufig in dieser Gegend in den Ausläufern der Coast Range unterwegs sind. Sie haben die Neun-eins-eins gerufen. Der Fall wurde dem Police Department von Laurelton übertragen, doch Brian Legusky und Dina Wendt erklärten sich bereit, an den Fundort zurückzukehren und für uns zusammenzufassen, was passiert ist.« Sie streckte Legusky ihr Mikrofon entgegen und forderte ihn auf: »Erzählen Sie uns, was Sie vorgefunden haben.«
»Nun … Dina und ich waren auf dem Rückweg von einer Wanderung, unser Pick-up parkte dort drüben …« Er deutete auf die Kiesstraße, auf der auch September geparkt hatte, als sie zum verabredeten Treffpunkt erschienen war. »Es war ein schöner Tag, deshalb beschlossen wir, auf dem Feld ein Picknick zu machen, ein bisschen was zu essen … Und dann lag sie plötzlich da …« Er schaute zu Wendt hinüber, die ihn bei dieser Erinnerung mit schreckgeweiteten Augen anstarrte.
Pauline versuchte, die Frau mit einzubeziehen, aber diese brachte kaum ein Wort hervor. Also schwenkte die Kamera wieder auf die Reporterin, die verkündete, sie wolle nun einen der mit dem Fall befassten Ermittler befragen, Detective September Rafferty vom Laurelton PD.
Auftritt September, bekleidet mit einer schwarzen Hose, einem schwarzen T-Shirt mit V-Ausschnitt und ihrem hellgrauen Leinenblazer. Auch an jenem Tag war es sehr heiß gewesen, trotzdem hatte sich September während des Interviews den Blazer übergezogen, damit man eventuelle Schweißflecke nicht sah. Ihr normalerweise zurückgebundenes oder mit Clips aus dem Gesicht gehaltenes kastanienbraunes Haar fiel ihr lose über die Schultern, was sie, so stellte sie fest, als die Kamera zu einem Close-up heranzoomte, jung und unerfahren wirken ließ.
»Mist.« Lieutenant D’Annibal hatte sie gebeten, den Ermittlungen ein Gesicht zu geben, und sie hatte sich um des lieben Friedens willen dazu bereit erklärt. Die braven Bürger von Laurelton können unbesorgt sein: Die Polizei ist da, um sie zu beschützen, weshalb sie den besten – und unerfahrensten – Detective auf den Fall angesetzt hat.
Pauline fing an, sich bei September nach Details zu erkundigen, beginnend mit dem Notruf der beiden Wanderer, dann lenkte sie das Thema auf Sheila Dempsey, das erste Opfer, das man erwürgt auf einem Feld in der gleichen Gegend gefunden hatte. Auch dieser Fall wurde vom LPD bearbeitet, obwohl er eigentlich in den Zuständigkeitsbereich der County Police fiel. Dann war da noch das dritte Opfer, Glenda Tripp, das man in seiner Wohnung innerhalb der Stadtgrenze gefunden hatte. Auch diesen Fall bearbeiteten September und Gretchen Sandler.
Zum Zeitpunkt des Interviews hatte man Tripp allerdings noch gar nicht entdeckt, so dass September noch hoffte, die Morde hätten nichts miteinander zu tun, auch wenn ihr ihr Bauch etwas anderes sagte. Es war nicht gut, die Öffentlichkeit in Panik zu versetzen, indem sie verkündete, dass ein Serienmörder die Gegend um Laurelton unsicher machte. Daher behauptete sie mit fester Stimme: »Wir sind noch dabei, die Beweismittel zu überprüfen, damit wir feststellen können, ob die beiden Verbrechen tatsächlich miteinander in Verbindung stehen«, um den Spekulationen ein Ende zu bereiten.
Pauline nickte, bedachte September mit einem durchdringenden Blick, der so viel sagte wie: »Dich kriege ich schon noch«, und dann ließ sie die Bombe platzen: »Wir haben gehört, dass eine Art Markierung auf den Leichen der Frauen entdeckt wurde. Wörter.«
September sah, wie sie unversehens einen Blick auf die beiden Wanderer warf. Man hatte sie gebeten, nichts von den Worten, die in Emmy Decaturs Unterleib geschnitten waren, verlauten zu lassen, aber Pauline hatte sie offenbar dazu gebracht, ihr Schweigen zu brechen. Sie wandte sich wieder der Reporterin zu, schaute ihr direkt ins Gesicht und verkündete: »In beiden Fällen wurde der Tod durch Strangulation herbeigeführt.«
»Aber er hat seine Opfer markiert …«, beharrte Pauline und blickte ebenfalls zu Legusky und Wendt hinüber. »In Emmy Decaturs Unterleib waren Wörter geschnitten. ›Was sie zuvor mit mir getan, das tu ich jetzt den andern an‹, stimmt’s?« Die Kamera schwenkte wieder auf Legusky, der mehrere Male nickte. Pauline wandte sich wieder an September: »Können Sie das bestätigen, Detective Rafferty?«
»Zum jetzigen Zeitpunkt nicht.«
»Fürchten Sie eine Panik unter der Bevölkerung? Dass die Leute durchdrehen vor Angst, wenn sie erfahren, dass ein Serienmörder umgeht, der mysteriöse Sätze in die Haut seiner Opfer ritzt? Nun, ich denke, die Öffentlichkeit sollte auf jeden Fall davon erfahren.« Pauline schaute direkt in die Kamera. »Junge Frauen werden ermordet und ihre Leichen für geschmacklose Botschaften missbraucht.« Sie drehte sich zu September um. »Was tun Sie, um uns zu beschützen, abgesehen davon, dass Sie uns die Wahrheit vorenthalten?«
September sah, wie sie bei diesem Affront die Schultern straffte und ein Seufzen unterdrückte. »Es finden umfassende Ermittlungen in alle Richtungen statt«, wich ihr Bildschirm-Ich clever aus.
»Tatsächlich? Entschuldigen Sie, Detective, aber wie kann das sein in Anbetracht des nach wie vor unaufgeklärten Massakers bei Zuma Software? Finden in dem Fall ebenfalls ›umfassende Ermittlungen in alle Richtungen‹ statt?«
»Ja.«
»Verfügt das Department über genügend Personal, um beide Fälle abzudecken? Wie wir alle wissen, hat die Regierung drastische Budgetkürzungen vorgenommen, die auch den Polizeivollzugsdienst betreffen. Können Sie ernsthaft für unsere Sicherheit garantieren?«
September starrte auf den Fernseher und hätte sich am liebsten die Hände vors Gesicht geschlagen. Schließlich wandte sie sich ab und hörte sich mit förmlicher Stimme sagen: »Das Laurelton PD verfügt gemeinsam mit dem Büro des Sheriffs von Winslow County und der Polizei von Portland über genügend Kapazitäten, beiden Fällen die erforderliche Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. Unsere qualifizierten Kräfte arbeiten hart an der Aufklärung sowohl des Anschlags auf Zuma Software als auch der Morde an den beiden Frauen. Wir –«
»Aber gibt es irgendwelche Fortschritte?«
»Selbstverständlich.«
»Im Zuma-Fall oder im Fall des Schnitzers?«
»In beiden Fällen«, erwiderte September. »Ich bin mir sicher, Sie verstehen, dass wir aus Ermittlungsgründen keine Details bekanntgeben werden …«
»Was ist mit Dr. Frank Navarone?«, fragte Pauline plötzlich. September richtete den Blick wieder auf den Fernseher. Sie sah, wie sie überrascht blinzelte ob dieser unerwarteten Frage. Nun kniff sie erneut die Augen zusammen und betrachtete nachdenklich Paulines Bildschirmkonterfei. Ihre Gedanken schlugen Richtungen ein, die sich zuvor als Sackgassen entpuppt hatten, doch auf einmal entdeckte sie neue, ungeahnte Möglichkeiten. Pauline hatte Frank Navarone, Glenda Tripps Onkel, aufs Tapet gebracht, und kurz danach war diese ermordet worden, aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls vom Schnitzer. Zumindest deutete alles darauf hin.
Der Mörder musste September im Fernsehen gesehen haben, in diesem Interview.
Pauline sah sie ungeduldig an, und endlich erklärte September: »Dr. Navarone ist für die Polizei eine Person von besonderem Interesse, da wir davon ausgehen, dass er möglicherweise entscheidend zur Aufklärung eines Falles beitragen kann.«
»Auf welchen Fall beziehen Sie sich konkret?«, hakte Pauline nach.
»Auf den Übergriff auf Zuma Software«, musste September zugeben.
Und das war’s. Pauline wandte sich wieder der Kamera zu einem letzten Close-up zu und schloss mit den Worten: »Mag sein, dass es tatsächlich so ist, wie Detective Rafferty vom Laurelton PD behauptet – dass die Polizei alles tut, was sie kann« – ihr Ton ließ eher auf das Gegenteil schließen –, »aber können wir unser Leben tatsächlich unserer unterbesetzten, überlasteten Ortspolizei anvertrauen? Dort draußen läuft ein Killer herum. Vermutlich mehr als einer. Geben Sie auf sich acht und verschließen Sie Ihre Türen …«
September spulte vor bis zum Ende der Aufnahme, aber sie löschte sie noch nicht.
Seit fünf Monaten war sie nun beim Laurelton PD, bei der Mordkommission. Sheila Dempsey war in etwa zeitgleich zu ihrem Einstand ermordet worden, allerdings in Winslow County. Emmy Decaturs Leichnam war innerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Laurelton PD