Nikolas Nickleby - Charles Dickens - E-Book

Nikolas Nickleby E-Book

Charles Dickens.

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Beschreibung

Nach dem Tod seines Vaters muss sich der junge Nikolas Nickleby allein durchs Leben schlagen. Doch sein Onkel Ralph, ein hartherziger Geschäftsmann, schickt ihn in das düstere Internat Dotheboys Hall – eine Schule, in der Kinder mehr gequält als unterrichtet werden. Dort trifft er auf den sanftmütigen Smike, einen Jungen, der sein ganzes Leben lang nur Leid erfahren hat. Entsetzt über die grausamen Zustände wagt Nikolas die Flucht – und begibt sich auf eine abenteuerliche Reise voller Gefahren, Freundschaft und Intrigen. Mit scharfem Witz, großer Emotion und schneidender Gesellschaftskritik erzählt Charles Dickens die bewegende Geschichte eines jungen Mannes, der sich gegen Ungerechtigkeit auflehnt. Ein Meisterwerk der klassischen Literatur – jetzt neu als hochwertiges E-Book! Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 1408

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Charles Dickens

Nikolas Nickleby

Charles Dickens

Nikolas Nickleby

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2025Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · info@null-papier.deÜbersetzung: Gustav Meyrink EV: Albert Langen Verlag, München, 1911 1. Auflage, ISBN 978-3-962819-37-8

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Inhaltsverzeichnis

1. Ka­pi­tel – Das alle üb­ri­gen einlei­tet.

2. Ka­pi­tel – Han­delt von Mr. Ra­l­ph Nickle­by, sei­nen Ge­schäf­ten und Un­ter­neh­mun­gen. Fer­ner von ei­ner gro­ßen Ak­ti­en­ge­sell­schaft, die für das gan­ze Land von größ­ter Be­deu­tung ist.

3. Ka­pi­tel – Mr. Ra­l­ph Nickle­by er­hält trau­ri­ge Nach­rich­ten von sei­nem Bru­der, weiß sich aber mit ed­ler Stan­d­haf­tig­keit zu fas­sen. Der jun­ge Ni­ko­las ge­fällt sei­nem On­kel aus­neh­mend, und die­ser fasst den edel­mü­ti­gen Ent­schluss, für des­sen Zu­kun­ft zu sor­gen.

4. Ka­pi­tel – Ni­ko­las und sein On­kel ma­chen, um das Glü­ck beim Schopf zu fas­sen, bei Mr. Wack­ford Squeers ihre Auf­wa­r­tung.

5. Ka­pi­tel – Ni­ko­las be­gibt sich nach York­s­hi­re auf die Rei­se und nim­mt Ab­schied von den Sei­ni­gen. –– Sei­ne Rei­se­ge­fähr­ten, und was un­ter­wegs vor­fiel.

6. Ka­pi­tel – Der er­wähn­te Un­fa­ll gibt ein paar Her­ren Ge­le­gen­heit, ein­an­der Ge­schich­ten zu er­zäh­len.

7. Ka­pi­tel – Mr. und Mrs. Squeers im häus­li­chen Krei­se.

8. Ka­pi­tel – Der Haus­ha­lt in Do­t­he­boys Hall.

9. Ka­pi­tel – Von Miss Squeers, Mrs. Squeers, Mas­ter und Mr. Squeers und an­de­ren mit ih­nen in Ver­bin­dung ste­hen­den Per­so­nen.

10. Ka­pi­tel – Wie Ra­l­ph Nickle­by für sei­ne Nich­te und Schwä­ge­rin sor­gt.

11. Ka­pi­tel – Mr. Ne­w­man No­g­gs führt Mrs. und Miss Nickle­by in ihre neue Be­hau­sung in der City.

12. Ka­pi­tel – Der wei­te­re Ver­lauf der Lie­bes­ge­schich­te Miss Fan­ny Squeer­s’.

13. Ka­pi­tel – Ni­ko­las bringt durch ein äu­ße­r­st tat­kräf­ti­ges und un­ge­wöhn­li­ches Ver­fah­ren ei­ni­ge Ab­wechs­lung in die Ein­tö­nig­keit von Do­t­he­boys Hall.

14. Ka­pi­tel – Han­delt nur von ganz ge­wöhn­li­chen Leu­ten.

15. Ka­pi­tel – Was die Ver­anlas­sung der im vo­r­i­gen Ka­pi­tel be­schrie­be­nen Un­ter­bre­chung war.

16. Ka­pi­tel – Ni­ko­las sucht eine An­s­tel­lung und nim­mt, als ihm dies fehl­schlägt, eine Stel­le als Haus­leh­rer an.

17. Ka­pi­tel – Kate Nickle­bys wei­te­re Schick­sa­le.

18. Ka­pi­tel – Miss Knag fasst, nach­dem sie drei gan­ze Tage in Kate Nickle­by för­m­lich ver­na­rrt ge­we­sen, den Ent­schluss, sie für im­mer zu has­sen.

19. Ka­pi­tel – Be­schrei­bung ei­nes Din­ners bei Mr. Ra­l­ph Nickle­by, und wie sich sei­ne Gäs­te da­bei un­ter­hiel­ten.

20. Ka­pi­tel – Ni­ko­las trifft en­d­lich mit sei­nem On­kel zu­sam­men und sagt ihm mit be­mer­kens­wer­ter Of­fen­heit die Mei­nung.

21. Ka­pi­tel – Ma­da­me Man­ta­li­ni ge­rät in eine schwie­ri­ge Lage, und Kate ver­liert da­durch ihre Stel­lung.

22. Ka­pi­tel – Ni­ko­las be­gibt sich in Smi­kes Be­glei­tung auf die Wan­der­schaft und macht bei die­ser Ge­le­gen­heit eine in­te­r­es­san­te Be­kannt­schaft in der Per­son Mr. Vin­cent Crum­m­les’.

23. Ka­pi­tel – Han­delt von dem En­sem­ble Mr. Vin­cent Crum­m­les’ wie auch von sei­nen häus­li­chen und The­a­teran­ge­le­gen­hei­ten.

24. Ka­pi­tel – Miss Sne­vel­lic­cis gro­ßes Be­ne­fiz und Ni­ko­las’ er­s­tes Auf­tre­ten auf der Büh­ne.

25. Ka­pi­tel – Eine jun­ge Dame aus Lon­don sch­ließt sich der Trup­pe an und führt ei­nen äl­t­li­chen Ve­r­eh­rer von sich im Schlepp­tau.

26. Ka­pi­tel – Kate Nickle­bys See­len­frie­den ge­rät in erns­te Ge­fahr.

27. Ka­pi­tel – Mrs. Nickle­by wird mit den Her­ren Pyke und Rup­fer be­kannt, de­ren Er­ge­ben­heit und Zu­nei­gung kei­ne Gren­zen ken­nen.

28. Ka­pi­tel – Kate Nickle­by sucht, durch Sir Mul­ber­ry Ha­wks Ver­fol­gung zur Ver­zweif­lung ge­bracht, als letz­tes Mit­tel Schutz bei ih­rem On­kel.

29. Ka­pi­tel – Von Ni­ko­las’ wei­te­ren Schick­sa­len und ge­wis­sen Zer­wür­f­nis­sen in Mr. Vin­cent Crum­m­les’ En­sem­ble.

30. Ka­pi­tel – Fest­lich­kei­ten, die Ni­ko­las zu Eh­ren ver­an­sta­l­tet wer­den, und sein Austritt aus der Vin­cent–­Crum­m­les­schen Schau­spie­ler­trup­pe.

31. Ka­pi­tel – Han­delt von Ra­l­ph Nickle­by und Ne­w­man No­g­gs so­wie von ei­ni­gen wei­sen Vor­sichts­maß­re­geln, über de­ren güns­ti­gen be­zie­hungs­wei­se un­güns­ti­gen Aus­gang spä­ter be­rich­tet wer­den wird.

32. Ka­pi­tel – Eine höchst merk­wür­di­ge Un­ter­re­dung mit nicht min­der merk­wür­di­gen Fol­gen.

33. Ka­pi­tel – Mr. Ra­l­ph Nickle­by wird plötz­lich von dem Ver­kehr mit sei­nen Ver­wan­d­ten er­löst.

34. Ka­pi­tel – Be­such bei Mr. Ra­l­ph Nickle­by.

35. Ka­pi­tel – Smi­ke wird Mrs. Nickle­by und Kate vor­ge­s­tellt. Auch Ni­ko­las macht neue Be­kannt­schaf­ten, und die Zu­kun­ft scheint sich für sei­ne Fa­mi­lie auf­hel­len zu wol­len.

36. Ka­pi­tel – Han­delt le­dig­lich von Fa­mi­li­e­n­an­ge­le­gen­hei­ten –– Mr. Ken­wigs ge­rät in he­f­ti­ge Auf­re­gung, und Mrs. Ken­wigs be­fin­det sich den Um­stän­den an­ge­mes­sen.

37. Ka­pi­tel – Ni­ko­las wird bei den Ge­brü­dern Chee­ry­ble und Mr. Ti­mo­theus Lin­kin­wa­ter im­mer be­lie­b­ter. Die Brü­der ge­ben anläss­lich ei­ner Jah­res­feier ein Fest­mahl, und als Ni­ko­las nach Hau­se kom­mt, macht ihm sei­ne Mut­ter eine höchst wich­ti­ge und ge­heim­nis­vol­le Er­öff­nung.

38. Ka­pi­tel – Ein Kon­do­lenz­be­such –– Smi­ke be­geg­net un­ver­hofft ei­nem al­ten Be­kann­ten, der ihn in sein Haus einlädt und von Ein­wen­dun­gen durchaus nichts wis­sen will.

39. Ka­pi­tel – Ein an­de­rer al­ter Freund fin­det Smi­ke recht­zei­tig.

40. Ka­pi­tel – Ni­ko­las Nickle­by ver­lie­bt sich und be­dient sich ei­ner Mit­tel­s­per­son, de­ren Be­mü­hun­gen nur in ei­nem ein­zi­gen Punkt fehl­schla­gen.

41. Ka­pi­tel – Be­han­delt ei­nen höchst ro­man­ti­schen Auf­tritt zwi­schen Mrs. Nickle­by und dem Herrn in den Knie­ho­sen.

42. Ka­pi­tel – Be­leuch­tet den al­ten Er­fah­rungs­satz, dass oft die bes­ten Freun­de un­eins wer­den kön­nen.

43. Ka­pi­tel – Ver­sieht den Die­nst ei­nes Ze­re­mo­ni­en­meis­ters, in­dem es ver­schie­de­ne Leu­te zu­sam­men­bringt.

44. Ka­pi­tel – Mr. Ra­l­ph Nickle­by sagt sich von ei­nem al­ten Be­kann­ten los. Es zeigt sich, dass selbst zwi­schen Mann und Weib ein Scherz un­ter Um­stän­den zu weit ge­trie­ben wer­den kann.

45. Ka­pi­tel – Eine gro­ße Über­ra­schung.

46. Ka­pi­tel – Auf Ni­ko­las’ Lie­be­s­an­ge­le­gen­heit fällt ein Licht, ob ein güns­ti­ges oder sch­lim­mes, mag der Le­ser selbst ent­schei­den.

47. Ka­pi­tel – Mr. Ra­l­ph Nickle­by hat eine ver­trau­li­che Zu­sam­men­kun­ft mit ei­nem an­de­ren al­ten Freund. Sie be­spre­chen ein Pro­jekt, das für bei­de Tei­le gro­ße Vor­tei­le in Aus­sicht stellt.

48. Ka­pi­tel – Ein Be­ne­fiz Mr. Vin­cent Crum­m­les’ zu sei­nem ga­ran­tiert letz­ten Auf­tre­ten auf der Büh­ne.

49. Ka­pi­tel – Be­rich­tet von wei­te­ren Maß­nah­men der Fa­mi­lie Nickle­by und dem Ver­lauf des Aben­teu­ers mit dem Herrn in den Knie­ho­sen.

50. Ka­pi­tel – Eine Ka­ta­s­tro­phe.

51. Ka­pi­tel – Der Plan Ra­l­ph Nickle­bys und sei­nes Freun­des kom­mt zur Durch­füh­rung, ge­langt je­doch zur Kennt­nis ei­nes Drit­ten.

52. Ka­pi­tel – Ni­ko­las ver­zwei­felt an Ma­de­li­ne Brays Ret­tung, fasst je­doch spä­ter wie­der Mut und ent­sch­ließt sich, ei­nen Ver­such zu ma­chen. –– Fa­mi­li­en­nach­rich­ten von den Ken­wigs’ und Lil­lyvicks.

53. Ka­pi­tel – Wie Ra­l­ph Nickle­bys und Ar­thur Gri­des Kom­plott wei­ter ver­lief.

54. Ka­pi­tel – Die Kri­sis und der Aus­gang des Pro­jek­tes.

55. Ka­pi­tel – Fa­mi­li­e­n­an­ge­le­gen­hei­ten, Sor­gen, Ent­täu­schun­gen und Trüb­sal.

56. Ka­pi­tel – Ra­l­ph Nickle­by bie­tet sich durch Zu­fa­ll Ge­le­gen­heit zur Ra­che an sei­nem Ne­f­fen, und er nim­mt dazu den Bei­stand ei­nes er­prob­ten Bun­des­ge­nos­sen in An­spruch.

57. Ka­pi­tel – Wie Ra­l­ph Nickle­bys Bun­des­ge­nos­se ans Werk ging und wel­chen Er­folg er da­bei hat­te.

58. Ka­pi­tel – Eine Sze­ne die­ser Ge­schich­te geht ih­rem Ende zu.

59. Ka­pi­tel – Die bö­sen Plä­ne dro­hen zu miss­lin­gen, und Zwei­fel und Ge­fah­ren be­un­ru­hi­gen ih­ren Ur­he­ber.

60. Ka­pi­tel – Die Ge­fah­ren häu­fen sich, und das Sch­lim­ms­te kom­mt ans Licht.

61. Ka­pi­tel – Ni­ko­las und Kate ver­wir­ken die gute Mei­nung al­ler wel­t­klu­gen Leu­te.

62. Ka­pi­tel – Ein letz­ter Be­such bei Ra­l­ph Nickle­by.

63. Ka­pi­tel – Die Ge­brü­der Chee­ry­ble ge­ben ver­schie­de­ne Er­klä­run­gen ab, teils für sich selbst, teils für an­de­re; nur Mr. Ti­mo­theus Lin­kin­wa­ter gibt eine sol­che für ei­ge­ne Rech­nung ab.

64. Ka­pi­tel – Ein al­ter Be­kann­ter taucht un­ter sehr kläg­li­chen Um­stän­den auf, und die Schu­le in Do­t­he­boys Hall wird für im­mer ge­schlos­sen.

65. Ka­pi­tel – Schluss.

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1. Kapitel – Das alle übrigen einleitet.

In ei­nem ent­le­ge­nen Teil der Graf­schaft De­v­ons­hi­re leb­te einst ein bra­ver Mann na­mens Gott­fried Nick­le­by, der sich ziem­lich spät noch in den Kopf ge­setzt hat­te, zu hei­ra­ten. Da er aber we­der jung noch be­gü­tert war und da­her nicht auf die Hand ei­ner ver­mö­gen­den Dame rech­nen durf­te, so ver­ehe­lich­te er sich le­dig­lich aus Zu­nei­gung mit ei­ner al­ten Flam­me, die ihn ih­rer­seits aus dem­sel­ben Grun­de nahm –– so wie etwa zwei Leut­chen, die es sich nicht leis­ten kön­nen, um Geld Kar­ten zu spie­len, ein­an­der hin und wie­der den Ge­fal­len zu er­wei­sen, mit­sam­men eine Par­tie »um­sonst« zu ma­chen.

Die Flit­ter­wo­chen wa­ren bald vor­über, und da Mr. Nick­le­bys jähr­li­ches Ein­kom­men acht­zig Pfund nicht über­stieg, blick­te das Ehe­paar sehn­süch­tig in die Zu­kunft und ver­ließ sich in nicht ge­rin­gem Maß auf den Zu­fall, der ih­nen auf­hel­fen soll­te. Es gibt, der Him­mel weiß, Men­schen ge­nug auf der Welt; und selbst in Lon­don, wo Mr. Nick­le­by in je­nen Ta­gen wohn­te, hört man nur we­nig kla­gen, dass die Be­völ­ke­rung zu spär­lich ge­sä­et sei. Da­bei aber –– du lie­ber Gott –– kann man lan­ge su­chen, bis man einen Freund ent­deckt.

Mr. Nick­le­by späh­te und späh­te, bis ihn die Li­der nicht we­ni­ger schmerz­ten als das Herz, aber nir­gends woll­te sich ein sol­cher bli­cken las­sen. Wenn er dann die vom Aus­schau­en er­mü­de­ten Au­gen sei­nem ei­ge­nen Her­de zu­wand­te, so zeig­te sich auch dort gar we­nig, wo sie hät­ten aus­ru­hen kön­nen.

Als schließ­lich Mrs. Nick­le­by nach fünf Jah­ren ih­ren Gat­ten mit ein paar Jun­gen be­glück­te, fühl­te der tief ge­drück­te Mann die Not­wen­dig­keit, für sei­ne Fa­mi­lie zu sor­gen, im­mer mehr und mehr, und er war be­reits nach reif­li­cher Über­le­gung zu dem Ent­schluss ge­kom­men, sich am nächs­ten Quar­tal in eine Le­bens­ver­si­che­rung ein­zu­kau­fen und dann ganz zu­fäl­lig von ir­gend­ei­nem Mo­nu­ment oder Turm her­un­ter­zu­fal­len, als ei­nes Mor­gens ein schwarz­ge­sie­gel­ter Brief mit der Nach­richt an­lang­te, Mr. Ralph Nick­le­by, sein Oheim, sei ge­stor­ben und habe ihm sein gan­zes klei­nes Ver­mö­gen von un­ge­fähr fünf­tau­send Pfund Ster­ling hin­ter­las­sen.

Da der Se­li­ge bei Leb­zei­ten kei­ne wei­te­re No­tiz von sei­nem Nef­fen ge­nom­men hat­te, als dass er des­sen äl­tes­tem Kna­ben, der in­fol­ge ei­ner ver­zwei­fel­ten Spe­ku­la­ti­on den Na­men sei­nes Groß­on­kels in der Tau­fe er­hal­ten hat­te, einen sil­ber­nen Löf­fel in ei­nem Maro­quin­fut­te­ral schick­te –– was, da die­ser nicht all­zu viel da­mit zu es­sen hat­te, fast wie eine Sa­ti­re dar­auf aus­sah, dass das Kind nicht mit ei­nem sol­chen nütz­li­chen Ar­ti­kel im Mun­de auf die Welt ge­kom­men war ––, so woll­te Mr. Gott­fried Nick­le­by im An­fang die freu­di­ge Bot­schaft kaum glau­ben. Bei wei­te­rer Prü­fung stell­te sich je­doch her­aus, dass sich die Sa­che wirk­lich so ver­hielt. Der wa­cke­re alte Herr hat­te, wie es schi­en, zu­erst be­ab­sich­tigt, sei­ne gan­ze Habe dem all­ge­mei­nen Ret­tungs­ver­ein zu hin­ter­las­sen und zu die­sem Zwe­cke auch be­reits ein Te­sta­ment auf­ge­setzt. Aber die­ser Ve­rein hat­te ei­ni­ge Mo­na­te vor­her das Pech ge­habt, das Le­ben ei­nes ar­men Ver­wand­ten Mr. Nick­le­bys zu ret­ten, dem die­ser wö­chent­lich ein Al­mo­sen von sechs Schil­lin­gen und drei Pence aus­zahl­te. Des­halb wi­der­rief Mr. Ralph Nick­le­by in höchst ge­rech­ter Ent­rüs­tung das Ver­mächt­nis durch ein Ko­di­zil und setz­te sei­nen Nef­fen Gott­fried zum Uni­ver­saler­ben ein, um da­durch sei­nen Un­wil­len so­wohl ge­gen die Ge­sell­schaft, die das Le­ben des ar­men Ver­wand­ten ge­ret­tet, als auch ge­gen den ar­men Ver­wand­ten selbst, der es sich hat­te ret­ten las­sen, aus­zu­drücken.

Mit ei­nem Tei­le die­ser Erb­schaft kauf­te Gott­fried Nick­le­by ein klei­nes Land­gut un­weit Daw­lish in De­v­ons­hi­re und zog sich dort­hin mit sei­ner Gat­tin und sei­nen zwei Kin­dern zu­rück, um von dem spär­li­chen Er­tra­ge des Güt­chens und den In­ter­es­sen des ihm noch üb­rig blei­ben­den Ka­pi­tals zu le­ben. Als er nach fünf­zehn Jah­ren, etwa fünf Jah­re nach dem Tode sei­ner Gat­tin, starb, hin­ter­ließ er sei­nem äl­tes­ten Soh­ne Ralph drei­tau­send Pfund in ba­rem Gel­de und dem Jün­ge­ren, Ni­ko­las, tau­send Pfund und das Land­gut –– wenn man an­ders ein Stück Feld als Land­gut nen­nen kann, das mit Aus­nah­me des Hau­ses und des ein­ge­heck­ten Gras­gar­tens kei­nen grö­ße­ren Um­fang hat­te als der Rus­sel­platz von Co­vent Gar­den.

Die zwei Brü­der wa­ren mit­sam­men in ei­ner Schu­le in Exe­ter er­zo­gen wor­den und hat­ten, da sie ge­wöhn­lich wö­chent­lich ein­mal einen Be­such zu Hau­se mach­ten, von ih­rer Mut­ter oft lan­ge Er­zäh­lun­gen über die Lei­den ih­res Va­ters in den Ta­gen sei­ner Ar­mut und die Wich­tig­keit ih­res ver­bli­che­nen On­kels in den Ta­gen sei­nes Wohl­stan­des mit an­ge­hört –– Er­zäh­lun­gen, die auf die bei­den Kna­ben einen sehr ver­schie­de­nen Ein­druck her­vor­brach­ten, denn wäh­rend der Jün­ge­re, des­sen Cha­rak­ter schüch­tern und be­gnüg­sam war, nur Win­ke dar­in sah, das Ge­trie­be der Welt zu mei­den und sein Glück in der Ruhe des Land­le­bens zu su­chen, schöpf­te Ralph, der Äl­te­re, die zwei großen Leh­ren dar­aus, dass Reich­tum die ein­zi­ge Quel­le von Glück und An­se­hen sei und dass er zur Er­wer­bung des­sel­ben alle Mit­tel an­wen­den dür­fe, so­fern sie nicht durch das Ge­setz mit To­dess­tra­fe be­droht wä­ren. »Wenn mei­nes On­kels Geld auch kei­nen Nut­zen brach­te, so­lan­ge er leb­te«, fol­ger­te Ralph wei­ter, »so kam es doch nach sei­nem Tode mei­nem Va­ter zu­gu­te, der jetzt den höchst lo­bens­wer­ten Vor­satz hat, es für mich auf­zu­spa­ren. Und was den al­ten Herrn an­be­langt, so fand die­ser doch auch sei­nen Ge­nuss dar­in, sich sein Leb­tag lang be­wusst zu sein, dass ihn sei­ne Fa­mi­lie des­halb be­nei­de und in Ehren hal­te.« So kam Ralph im­mer bei der­ar­ti­gen Selbst­ge­sprä­chen zu dem Schluß, dass auf der gan­zen Welt nichts dem Gel­de gleich­kom­me.

Doch schon in frü­hen Jah­ren be­schränk­te sich der hoff­nungs­vol­le Kna­be nicht auf Theo­ri­en und rein ab­strak­te Spe­ku­la­tio­nen, son­dern er­öff­ne­te be­reits in der Schu­le ein klei­nes Wu­cher­ge­schäft, in­dem er zu­erst Schie­fer­stif­te und Mar­meln auf gute Zin­sen aus­lieh und dann all­mäh­lich auf Kup­fer­mün­zen über­ging. Er quäl­te aber da­bei sei­ne Schuld­ner nicht etwa mit um­ständ­li­chen und ver­wi­ckel­ten Zin­ses­zins­be­rech­nun­gen. Sein Satz: »Zwei Pence für je­den Half­pen­ny« ver­ein­fach­te das Ver­fah­ren au­ßer­or­dent­lich.

In glei­cher Wei­se ver­mied der jun­ge Ralph Nick­le­by alle um­ständ­li­chen und ver­wi­ckel­ten Be­rech­nun­gen der ein­zel­nen Tage –– mit de­nen man, wie je­der weiß, der schon da­mit zu tun ge­habt hat, selbst bei dem ein­fachs­ten Zins­fu­ße sei­ne lie­be Not hat ––, in­dem er als all­ge­mei­ne Re­gel fest­stell­te, dass Ka­pi­tal nebst In­ter­es­sen im­mer am Ta­schen­geld­ta­ge, das heißt am Sams­tag, zu­rück­zu­zah­len sei, wo­bei es sich gleich blieb, ob die Schuld am Mon­tag oder am Frei­tag kon­tra­hiert wor­den war. Er fol­ger­te näm­lich, und nicht mit Un­recht, dass die Zin­sen ei­gent­lich für einen Tag hö­her sein soll­ten als für fünf, da man an­neh­men kön­ne, dass in ers­te­rem Fal­le dem Bor­ger aus ei­ner be­son­ders großen Ver­le­gen­heit ge­hol­fen wer­de, weil die­ser sonst ge­wiss nicht un­ter solch drücken­den Be­din­gun­gen Geld auf­ge­nom­men ha­ben wür­de.

Nach dem Tode sei­nes Va­ters wid­me­te sich Ralph Nick­le­by, der kurz zu­vor in ei­nem Lon­do­ner Hand­lungs­haus un­ter­ge­bracht wor­den war, sei­nem al­ten Hang, Geld zu er­wer­ben, mit ei­ner sol­chen Lei­den­schaft, dass er dar­über sei­nen Bru­der vie­le Jah­re lang ganz und gar ver­gaß. Wenn auch hin und wie­der ein Rückerin­nern an sei­nen lie­ben al­ten Spiel­ge­fähr­ten durch den Ne­bel, in dem er leb­te, brach –– denn das Geld um­hüllt den Men­schen mit ei­nem Ne­bel, der auf die Ge­füh­le der Ju­gend­zeit weit zer­stö­ren­der wirkt und ein­schlä­fern­der als Koh­len­gas ––, so tauch­te da­mit doch im­mer zu­gleich der Ge­dan­ke auf, je­ner wer­de viel­leicht, falls das ge­gen­sei­ti­ge Ver­hält­nis in­ni­ger wäre, Geld von ihm bor­gen wol­len. Da­her schüt­tel­te Mr. Ralph Nick­le­by dann je­des Mal die Ach­seln und sag­te: Es ist bes­ser so, wie es ist.

Ni­ko­las sei­ner­seits leb­te als Jung­ge­sel­le auf sei­nem Erb­gut, bis er, der Ein­sam­keit müde, die Toch­ter ei­nes Nach­bars mit ei­ner Mit­gift von tau­send Pfund zum Wei­be nahm. Die gute Dame ge­bar ihm zwei Kin­der: einen Sohn und eine Toch­ter, und als der Sohn un­ge­fähr neun­zehn Jah­re und die Toch­ter etwa vier­zehn zähl­te, sah sich Mr. Nick­le­by nach Mit­teln um, sein Ka­pi­tal wie­der zu ver­grö­ßern, das durch den Zu­wachs sei­ner Fa­mi­lie und die Kos­ten der Er­zie­hung der Kin­der sehr zu­sam­men­ge­schmol­zen war.

»Spe­ku­lie­re da­mit!« mein­te Mrs. Nick­le­by.

»Spe­ku­lie­ren, mein Schatz?« ent­geg­ne­te Mr. Nick­le­by be­denk­lich.

»Wa­rum denn nicht?«

»Weil wir nichts mehr zu le­ben hät­ten, wenn wir es ver­lie­ren«, ant­wor­te­te Mr. Nick­le­by in sei­ner ge­wohn­ten be­däch­ti­gen Wei­se.

»Pah«, er­wi­der­te Mrs. Nick­le­by.

»Man könn­te es ja im­mer­hin über­le­gen, mei­ne Lie­be«, mein­te Mr. Nick­le­by.

»Ni­ko­las ist schon ziem­lich her­an­ge­wach­sen«, dräng­te die Gat­tin, »und es ist Zeit, dass er sich für einen Be­ruf ent­schei­det. Und was soll aus un­se­rem Käth­chen, dem ar­men Kind, wer­den, wenn wir ihr kei­nen Hel­ler mit­ge­ben kön­nen? Denk an dei­nen Bru­der. Wür­de er das sein, was er ist, wenn er nicht spe­ku­liert hät­te?«

»Das ist frei­lich wahr«, gab Mr. Nick­le­by zu. »Also gut, mei­ne Lie­be. Ich wer­de spe­ku­lie­ren.«

*

Spe­ku­lie­ren ist ein Ha­zard­spiel. Die Spie­ler se­hen am An­fang we­nig oder gar nichts von ih­ren Kar­ten, und der Ge­winn kann groß sein, aber eben­so auch der Ver­lust.

Das Glück war ge­gen Mr. Nick­le­by. Die all­ge­mei­ne Spe­ku­la­ti­ons­wut warf sich da­mals ge­ra­de wie toll auf eine be­stimm­te Ak­ti­en­un­ter­neh­mung; die Sei­fen­bla­se barst, vier Fai­seu­re kauf­ten sich Land­gü­ter in Flo­renz und vier­hun­dert arme Schlu­cker, dar­un­ter auch Mr. Nick­le­by, wa­ren –– rui­niert.

»Das Haus, in dem ich woh­ne«, seufz­te der un­glück­li­che Spe­ku­lant, »kann mir mor­gen ge­nom­men wer­den. Kein Stück un­se­rer al­ten Mö­bel bleibt uns. Al­les wird an Frem­de ver­stei­gert wer­den!«

Und die­ser letz­te Ge­dan­ke war ihm so schmerz­lich, dass er sich in sein Bett leg­te, au­gen­schein­lich fest ent­schlos­sen, we­nigs­tens die­ses in kei­nem Fal­le auf­zu­ge­ben.

»Kopf hoch, Sir!« riet der Arzt.

»Sie müs­sen sich nicht so nie­der­drücken las­sen, Sir«, sag­te die Kran­ken­wär­te­rin.

»Sol­che Din­ge kom­men alle Tage vor«, mein­te der Ad­vo­kat.

»Und es ist eine große Sün­de, sich da­ge­gen auf­zu­leh­nen«, er­mahn­te der Pfar­rer.

»Ein Mann, der sei­ne Fa­mi­lie hat, soll­te so et­was nie tun«, füg­ten die Nach­barn hin­zu.

Mr. Nick­le­by aber schüt­tel­te nur den Kopf dazu, be­deu­te­te al­len, das Zim­mer zu ver­las­sen, um­arm­te sein Weib und sei­ne Kin­der, drück­te sie an das im­mer mat­ter po­chen­de Herz und sank dann er­schöpft auf sein Kis­sen zu­rück. Bald sah die Fa­mi­lie zu ih­rer großen Be­stür­zung, dass er irre zu re­den be­gann, denn er sprach lan­ge von der Groß­mut und der Güte sei­nes Bru­ders und den schö­nen Ta­gen, die sie mit­ein­an­der in der Schu­le zu­ge­bracht hat­ten. Als der An­fall vor­über war, emp­fahl er sie fei­er­lich dem Ei­nen, der nie die Wit­wen und Wai­sen ver­gisst, lä­chel­te matt, rich­te­te das Ge­sicht zur Zim­mer­de­cke em­por und sag­te, er glau­be jetzt ein­schlum­mern zu kön­nen.

2. Kapitel – Handelt von Mr. Ralph Nickleby, seinen Geschäften und Unternehmungen. Ferner von einer großen Aktiengesellschaft, die für das ganze Land von größter Bedeutung ist.

Mr. Ralph Nick­le­by war im ei­gent­li­chen Sin­ne des Wor­tes we­der Kauf­mann noch Ban­kier noch Sen­sal noch No­tar. Man hät­te über­haupt sei­nen Be­ruf nicht leicht be­stim­men kön­nen. Nichts­de­sto­we­ni­ger ließ sich aus dem Um­stan­de, dass er in ei­nem ge­räu­mi­gen Hau­se in Gol­den Squa­re wohn­te mit ei­ner Mes­sing­plat­te an der Ein­gang­stü­re, die die Auf­schrift »Büro« trug, ent­neh­men, dass er ir­gend­ein Ge­schäft be­trieb oder zu be­trei­ben vor­gab. Die wei­te­re Tat­sa­che, dass zwi­schen halb zehn und fünf Uhr täg­lich ein Mann mit ei­nem asch­fah­len Ge­sicht und rost­brau­nem An­zug an­we­send war, in ei­nem spei­se­kam­mer­ähn­li­chen Ge­mach am Ende des Haus­flurs auf ei­nem un­ge­wöhn­lich har­ten Stuhl saß – und stets eine Fe­der hin­ter dem Ohr hat­te, wenn er auf den Ruf der Klin­gel die Hau­stü­re öff­ne­te, schi­en das zu be­stä­ti­gen.

Gol­den Squa­re liegt ziem­lich ab­ge­le­gen. Es hat sei­ne Glanz­zeit hin­ter sich und ge­hört nur mehr un­ter die her­ab­ge­kom­me­nen Plät­ze, so­dass nur we­ni­ge Ge­schäfts­leu­te hier ih­ren Auf­ent­halts­ort wäh­len. Die Woh­nun­gen wer­den meis­tens ver­mie­tet und die ers­ten und zwei­ten Stock­wer­ke ge­wöhn­lich mö­bliert an le­di­ge Her­ren ab­ge­ge­ben, die zu­gleich auch im Hau­se einen Kost­tisch fin­den. Es ist vor­zugs­wei­se der Zuf­luchts­ort der Frem­den. Sonn­ver­brann­te Männer­ge­stal­ten mit großen Rin­gen, schwe­ren Uhr­ket­ten und bu­schi­gem Ba­cken­bart, wie sie sich zwi­schen vier und fünf nach­mit­tags un­ter der Säu­len­hal­le des Opern­hau­ses ver­sam­meln, so­bald ge­öff­net wird, um die Lo­gen­bil­letts aus­zu­ge­ben, le­ben in Gol­den Squa­re oder des­sen Nähe. Ei­ni­ge Vio­li­nis­ten und ein Trom­pe­ter der Opern­ka­pel­le ha­ben hier ih­ren Wohn­sitz auf­ge­schla­gen. In den Kost­häu­sern wird un­auf­hör­lich mu­si­ziert, und die Töne der Kla­vie­re und Har­fen be­le­ben die Abend­stun­den. In Som­mer­näch­ten kann man aus den of­fe­nen Fens­tern Grup­pen von dunklen, schnurr­bär­ti­gen Ge­sich­tern se­hen, die fürch­ter­li­che Rauch­wol­ken von sich bla­sen; und der Ge­ruch al­ler mög­li­chen Sor­ten von Ta­bak durch­duf­tet die Luft.

Dem An­schei­ne nach eig­net sich ein der­ar­ti­ger Platz nicht be­son­ders für einen Ge­schäfts­mann, aber Mr. Ralph Nick­le­by wohn­te be­reits seit vie­len Jah­ren hier, ohne dass man je eine Kla­ge von ihm ge­hört hät­te. Er kann­te nie­mand in der gan­zen Um­ge­bung, und nie­mand kann­te ihn, ob­gleich er in dem Rufe ei­nes un­er­mess­lich rei­chen Man­nes stand. Die Hand­wer­ker und Kauf­leu­te hiel­ten ihn für eine Art von Rechts­ge­lehr­ten, und die üb­ri­gen Nach­barn mein­ten, er wäre Ge­ne­ral­agent oder et­was der­glei­chen. Aber alle die­se Ver­mu­tun­gen stimm­ten so we­nig wie Mut­ma­ßun­gen über an­de­rer Leu­te An­ge­le­gen­hei­ten meis­tens.

Mr. Ralph Nick­le­by saß ei­nes Mor­gens, zum Aus­ge­hen an­ge­klei­det, in sei­nem Büro. Er trug einen fla­schen­grü­nen Spencer über ei­nem blau­en Lei­b­rock, eine wei­ße Wes­te, grau­me­lier­te Bein­klei­der und Stul­pens­tie­fel. Der Zip­fel ei­nes schmal­ge­fäl­tel­ten Bu­sen­streifs dräng­te sich, als ob er sich mit Ge­walt se­hen las­sen woll­te, zwi­schen dem Kinn und dem obers­ten Knopf der Wes­te her­vor, wäh­rend der Spencer nicht weit ge­nug schloss, um eine lan­ge, aus ei­ner Rei­he von ein­fa­chen gol­de­nen Rin­gen be­ste­hen­de Uhr­ket­te zu ver­ber­gen, die an ei­ner gol­de­nen Re­pe­tier­uhr in Mr. Nick­le­bys Ta­sche ent­sprang und in zwei Schlüs­sel en­dig­te, von de­nen der eine zur Uhr selbst, der an­de­re of­fen­bar zu ir­gend­ei­nem Pa­tent­vor­le­ge­schloss ge­hör­te. Mr. Nick­le­by trug das Haar ge­pu­dert, als wün­sche er, sich da­durch ein men­schen­freund­lich wohl­wol­len­des Aus­se­hen zu ge­ben. Wenn er dies aber wirk­lich be­ab­sich­tig­te, so hät­te er vor al­lem auch sein Ge­sicht pu­dern müs­sen, in des­sen Fal­ten, wie nicht min­der in den kal­ten un­s­te­ten Au­gen, be­stän­di­ge Ar­g­list lau­er­te.

Mr. Nick­le­by schlug ein vor ihm lie­gen­des Kon­to­buch zu, warf sich in sei­nem Stuhl zu­rück und blick­te mit zer­streu­ter Mie­ne durch die glanz­lo­sen Fens­ter­schei­ben. Häu­ser wie das sei­ne pfle­gen in Lon­don einen trüb­se­li­gen klei­nen Ho­fraum zu ha­ben, der ge­wöhn­lich durch vier hohe weiß­ge­tünch­te Mau­ern ein­ge­schlos­sen ist und auf den die Schorn­stei­ne zür­nend her­abbli­cken. Auf sol­chen Erd­fle­cken welkt alle Jah­re ein ver­küm­mer­ter Baum, der im Spät­herbst, wenn an­de­re Bäu­me ihre Blät­ter ver­lie­ren, so tut, als wenn er et­was Laub her­vor­brin­gen woll­te, gar bald aber wie­der von sei­ner An­stren­gung ab­lässt, um bis zum nächs­ten Som­mer dürr da­zu­ste­hen, wo er dann den glei­chen Pro­zess wie­der­holt und viel­leicht, wenn das Wet­ter be­son­ders güns­tig ist, ir­gend­ei­nen rheu­ma­ti­schen Sper­ling in Ver­su­chung führt, auf sei­nen Zwei­gen zu zir­pen. Man nennt die­se dunklen Höfe bis­wei­len Gär­ten. Der Mie­ter wirft ge­wöhn­lich gleich bei sei­nem Ein­zug ei­ni­ge Pack­kör­be und ein hal­b­es Dut­zend zer­bro­che­ne Glä­ser hin­ein, und da bleibt dann al­les, bis wie­der aus­ge­zo­gen wird, lie­gen, um un­ter dem spär­li­chen Buchs­baum, dem ver­küm­mer­ten Im­mer­braun und den zer­bro­che­nen Blu­men­töp­fen in Schmutz und Kot nach Be­lie­ben zu mo­dern.

In einen der­ar­ti­gen Raum schau­te Mr. Ralph Nick­le­by hin­aus, als er, die Hän­de in den Ta­schen, durch das Fens­ter sah. Die Aus­sicht hat­te ge­ra­de nichts Ein­la­den­des, aber Mr. Nick­le­by war in düs­te­ren Ge­dan­ken ver­lo­ren, und sei­ne Au­gen wan­der­ten schließ­lich zu ei­nem klei­nen schmut­zi­gen Fens­ter lin­ker Hand, durch das das Ge­sicht des Schrei­bers nur un­deut­lich sicht­bar war, und da der Mann ge­ra­de auf­blick­te, so wink­te er ihm ein­zu­tre­ten. So­fort er­hob sich der Schrei­ber von sei­nem ho­hen Ses­sel, der von dem ewi­gen Au­funda­b­rut­schen wie po­liert aus­sah, und er­schi­en in Mr. Nick­le­bys Zim­mer. Er war ein großer Mann in mitt­le­ren Jah­ren mit ei­nem Paar Glotzau­gen, von de­nen das eine un­be­weg­lich war, ei­ner Kar­fun­kel­na­se, ei­nem lei­chen­fah­len Ge­sicht und ei­nem An­zug, der aufs äu­ßers­te ab­ge­tra­gen, viel zu kurz und zu knapp und mit so we­nig Knöp­fen ver­se­hen war, dass man sich wun­dern muss­te, wie es ihm ge­lang, sei­nem Ei­gen­tü­mer nicht vom Lei­be zu fal­len.

»War das halb ein Uhr, Noggs?« frag­te Mr. Nick­le­by mit schar­fer, un­an­ge­neh­mer Stim­me.

»Nicht mehr als fünf­und­zwan­zig Mi­nu­ten nach der ...« Noggs woll­te sa­gen, »nach der Wirts­hau­suhr«, be­sann sich je­doch recht­zei­tig und er­gänz­te: »... nach der Son­ne.«

»Mei­ne Uhr ist ste­hen­ge­blie­ben«, sag­te Mr. Nick­le­by, »kann mir nicht er­klä­ren, warum.«

»Nicht auf­ge­zo­gen«, mein­te Noggs.

»Doch, doch«, ver­setz­te Mr. Nick­le­by.

»Vi­el­leicht die Fe­der über­dreht.«

»Kann nicht gut sein.«

»Muss wohl«, be­harr­te Noggs.

»Na, mei­net­we­gen«, sag­te Mr. Nick­le­by und steck­te sei­ne Re­pe­tier­uhr wie­der in die Ta­sche. »Vi­el­leicht ist’s so.«

Noggs gab einen ei­gen­tüm­lich grun­zen­den Ton von sich, wie er es ge­wöhn­lich am Schlus­se ei­nes je­den Wort­wech­sels mit sei­nem Herrn zu tun pfleg­te, um da­durch an­zu­deu­ten, dass er recht be­hal­ten habe, und ver­sank, da er sel­ten zu spre­chen wag­te, ohne ge­fragt zu sein, in ein gräm­li­ches Schwei­gen, wo­bei er sich lang­sam die Hän­de rieb, an den Fin­gern knack­te und sie auf jede mög­li­che Art ver­renk­te. Da­bei gab er sei­nem ge­sun­den Auge den­sel­ben star­ren und un­ge­wöhn­li­chen Aus­druck, den das an­de­re be­saß, so­dass es un­mög­lich war, zu er­ken­nen, wo­hin er ei­gent­lich bli­cke. Es war dies eine von den zahl­rei­chen Ei­gen­tüm­lich­kei­ten Mr. Noggs’, die je­dem, selbst dem gleich­gül­tigs­ten Beo­b­ach­ter, auf den ers­ten Blick auf­fal­len muss­te.

»Ich will jetzt nach der Lon­don Ta­vern ge­hen«, sag­te Mr. Nick­le­by.

»Öf­fent­li­che Ver­samm­lung?« frag­te Noggs.

Mr. Nick­le­by nick­te.

»Ich er­war­te einen Brief von mei­nem Sach­wal­ter be­tref­fend Rudd­les Pfand­ver­schrei­bung. Wenn das Schrei­ben über­haupt ein­trifft, so muss es um zwei Uhr hier sein. Ich wer­de um die­se Zeit aus der City nach Cha­ring Cross ge­hen. Wenn also Brie­fe kom­men, so wer­den Sie mir sie ent­ge­gen­brin­gen.«

Noggs nick­te. In die­sem Au­gen­blick wur­de die Bü­ro­klin­gel ge­zo­gen. Mr. Nick­le­by blick­te von sei­nen Pa­pie­ren auf, und sein Schrei­ber blieb un­be­weg­lich ste­hen.

»Man hat ge­läu­tet«, sag­te Noggs, als hal­te er es für nö­tig, sei­nen Ge­bie­ter dar­auf auf­merk­sam zu ma­chen. »Zu Hau­se?«

»Ja.«

»Für je­der­mann?«

»Ja.«

»Auch für den Steuer­ein­neh­mer?«

»Nein. Er soll ein an­der­mal wie­der­kom­men.«

Noggs ließ sein ge­wohn­tes Grun­zen hö­ren, was so viel be­deu­ten soll­te wie »ich dach­te es ja«, und ging, da sich das Läu­ten wie­der­hol­te, zur Türe. Bald dar­auf kehr­te er mit ei­nem blas­sen Herrn na­mens Bon­ney zu­rück, der, eine schma­le wei­ße Hals­bin­de nach­läs­sig um­ge­bun­den, mit wir­rem Haar has­tig und un­ru­hig ins Zim­mer trat und über­haupt ganz so aus­sah, als habe man ihn in der Nacht aus den Fe­dern ge­holt, ohne dass er sich zum An­klei­den hät­te Zeit neh­men kön­nen.

»Mein lie­ber Nick­le­by«, rief der Herr, sei­nen wei­ßen Hut ab­neh­mend, der mit Pa­pie­ren so voll ge­pfropft war, dass es ein Wun­der schi­en, wie er ihn hat­te auf dem Kopf tra­gen kön­nen, »es ist kein Au­gen­blick zu ver­lie­ren, ich habe einen Wa­gen vor der Türe. Sir Matt­hew Pup­ker über­nimmt den Vor­sitz, und auf drei Par­la­ments­mit­glie­der kön­nen wir mit Be­stimmt­heit rech­nen. Ich habe selbst zwei von ih­nen aus den Bet­ten ge­holt, und der drit­te, der die gan­ze Nacht durch im Crock­ford­klub am Spiel­tisch ge­ses­sen hat, ist eben nach Hau­se ge­gan­gen, um sei­ne Wä­sche zu wech­seln und ein paar Fla­schen So­da­was­ser zu trin­ken. Er wird aber zur rech­ten Zeit dort sein, um vor der Ver­samm­lung sei­ne Rede zu hal­ten. Die durch­wach­te Nacht hat ihn zwar ein we­nig her­ge­nom­men, aber das hat nichts zu sa­gen, er pflegt in sol­chen Fäl­len mit be­son­de­rem Nach­druck zu re­den.«

»Es scheint also al­les gut­ge­hen zu wol­len?« ver­setz­te Mr. Ralph Nick­le­by, des­sen Kalt­blü­tig­keit in schar­fem Ge­gen­satz zu der Leb­haf­tig­keit sei­nes Ge­schäfts­freun­des stand.

»Gut­ge­hen?« rief Mr. Bon­ney. »Es ist die feins­te Idee, die je aus­ge­heckt wor­den ist. Ve­rei­nig­te, ver­bes­ser­te, haupt­städ­ti­sche War­me–Sem­meln– und Ku­chen­bä­cke­rei und pünkt­li­che Ab­lie­fe­rungs­ge­sell­schaft. Ka­pi­tal fünf Mil­lio­nen mit fünf­mal­hun­dert­tau­send Ak­ti­en à zehn Pfund. Ha, schon der Name wird ma­chen, dass die Ak­ti­en in zehn Ta­gen über Pari ste­hen.«

»Und wenn’s so­weit ist?« ent­geg­ne­te Mr. Ralph Nick­le­by lä­chelnd.

»Wenn’s so­weit ist, so wis­sen Sie so gut wie ir­gend­ei­ner, was dann zu ge­sche­hen hat und wie man sich bei­zei­ten ru­hig aus der Af­fä­re zie­hen kann«, ver­setz­te Mr. Bon­ney und klopf­te dem Geld­mann ver­trau­lich auf die Schul­ter. »Apro­pos, Sie ha­ben da einen selt­sa­men Men­schen zum Schrei­ber.«

»Hm, ein ar­mer Teu­fel«, brumm­te Ralph und zog sei­ne Hand­schu­he an. »Und doch hat Ne­w­man Noggs sei­ner­zeit Pfer­de und Hun­de ge­hal­ten.«

»Was Sie nicht sa­gen«, warf der an­de­re gleich­gül­tig hin.

»Ja, ja. Und zwar vor nicht all­zu lan­ger Zeit. Aber er hat sein Geld durch­ge­bracht. Leg­te es leicht­sin­nig an, borg­te auf Zin­sen und wur­de, mit ei­nem Wort, in kur­z­er Zeit zum Bett­ler. Er er­gab sich dem Trunk, wur­de vom Schlag ge­rührt und kam dann zu mir, um mich um ein Pfund an­zu­pum­pen. Und da ich, als er noch in bes­se­ren Ver­hält­nis­sen war ...«

»In Ge­schäfts­ver­bin­dung mit ihm stand«, er­gänz­te Mr. Bon­ney mit ei­nem be­deut­sa­men Blick.

»Ganz recht. So konn­te ich ihm na­tür­lich nichts lei­hen.«

»Na­tür­lich nicht.«

»Aber ich brauch­te ge­ra­de einen Schrei­ber und Be­dien­ten zum Tü­re­öff­nen usw. und nahm ihn des­halb aus Barm­her­zig­keit auf. Und seit­dem ist er hier. Ich glau­be zwar, dass es in sei­nem Kopf nicht ganz rich­tig ist«, füg­te Mr. Nick­le­by mit ei­nem Blick, der mit­lei­dig sein soll­te, hin­zu, »aber ich kann den ar­men Kerl zur Not schon ge­brau­chen.«

Der weich­her­zi­ge Mr. Nick­le­by ver­gaß hin­zu­zu­set­zen, dass der gänz­lich mit­tel­lo­se Ne­w­man Noggs einen ge­rin­ge­ren Lohn be­zog, als ihn etwa ein drei­zehn­jäh­ri­ger Kna­be be­kom­men ha­ben wür­de, und dass die au­ßer­ge­wöhn­li­che Schweig­sam­keit des Man­nes ihn zu ei­nem sehr wert­vol­len Die­ner an ei­nem Orte mach­te, wo so viel Ge­schäf­te ab­ge­wi­ckelt wur­den, an de­ren Ge­heim­hal­tung Ralph au­ßer­or­dent­lich viel lie­gen muss­te. Die bei­den Her­ren hat­ten in­des große Eile, bra­chen da­her ihr Ge­spräch ab und ver­füg­ten sich zu der be­reit­ste­hen­den Drosch­ke.

Als sie in der Bi­shops­ga­te Street an­lang­ten, herrsch­te dort ein sehr be­weg­tes Trei­ben. Es war ein sehr win­di­ger Tag, und ein hal­b­es Dut­zend Män­ner durch­zo­gen die Stra­ßen mit un­ge­heu­ern An­kün­di­gun­gen, auf de­nen in rie­si­gen Buch­sta­ben zu le­sen war, dass Punkt ein Uhr eine öf­fent­li­che Ver­samm­lung statt­fin­den wer­de, um die Zweck­mä­ßig­keit ei­ner Pe­ti­ti­on an das Par­la­ment hin­sicht­lich der »Ve­rei­nig­ten, ver­bes­ser­ten, haupt­städ­ti­schen War­me–Sem­meln– und Ku­chen­bä­cke­rei und pünkt­li­chen Ab­lie­fe­rungs­–Ge­sell­schaft« zu er­ör­tern, de­ren Ka­pi­tal auf fünf Mil­lio­nen zu fünf­mal­hun­dert­tau­send Ak­ti­en à zehn Pfund ver­an­schlagt sei. Die ge­nann­ten Zah­len wa­ren, wie es sich ge­hört, in ge­wal­ti­gen schwar­zen Zif­fern auf den Pla­ka­ten ver­zeich­net.

Mr. Bon­ney bahn­te sich un­ter den tie­fen Bück­lin­gen der Die­ner, die ihm die Trep­pe frei­mach­ten, mit den El­len­bo­gen sei­nen Weg und be­trat mit Mr. Nick­le­by eine Rei­he von Ko­mi­tee­zim­mern, in de­ren zwei­tem sich ein für eine Sit­zung her­ge­rich­te­ter Tisch be­fand, um den meh­re­re ge­schäfts­mä­ßig aus­se­hen­de Per­so­nen ver­sam­melt wa­ren.

»Hört, hört!« rief ein Herr mit ei­nem Dop­pel­kinn, als sich Mr. Bon­ney vor­stell­te. »Ei­nen Stuhl, mei­ne Her­ren, einen Stuhl!«

Die neu­en An­kömm­lin­ge wur­den mit all­ge­mei­nem Bei­fall be­grüßt, Mr. Bon­ney trat rasch an das Ende des Ti­sches, nahm sei­nen Hut ab, fuhr sich mit den Fin­gern durch die Haa­re und schlug mit ei­nem klei­nen Ham­mer kräf­tig auf den Tisch, wor­auf meh­re­re Her­ren »Hört!« rie­fen und sich ge­gen­sei­tig zu­nick­ten, als woll­ten sie ihre Be­wun­de­rung über die­ses geist­vol­le Be­neh­men aus­drücken. In die­sem Au­gen­blick riss ein Die­ner in fie­ber­haf­ter Er­re­gung die Tür auf, stürz­te her­ein und schrie: »Sir Matt­hew Pup­ker.«

Das Ko­mi­tee stand auf und klatsch­te vor Freu­de in die Hän­de. Gleich dar­auf trat Sir Matt­hew Pup­ker ein, be­glei­tet von zwei Par­la­ments­mit­glie­dern in Le­bens­grö­ße, ei­nem iri­schen und ei­nem schot­ti­schen. Alle drei lä­chel­ten, ver­beug­ten sich und be­nah­men sich so ob­li­geant, dass es ein wah­res Wun­der ge­we­sen wäre, wenn je­mand den Mut ge­habt hät­te, ge­gen sie sei­ne Stim­me zu er­he­ben. Be­son­ders Sir Matt­hew Pup­ker, der auf dem Schei­tel sei­nes klei­nen run­den Kop­fes ein Flach­stou­pet trug, war von ei­nem sol­chen Ver­beu­gungs­par­o­xis­mus be­fal­len, dass ihm die Perücke je­den Au­gen­blick her­un­ter­zu­flie­gen droh­te. Als sich die­se be­droh­li­chen Sym­pto­me ei­ni­ger­ma­ßen ge­legt hat­ten, dräng­ten sich die Her­ren, die mit Sir Matt­hew Pup­ker und den Par­la­ments­mit­glie­dern nä­her be­kannt wa­ren, in klei­nen Grup­pen um sie, wäh­rend die­je­ni­gen, die sich ei­ner sol­chen Ehre nicht zu er­freu­en hat­ten, sich sehn­süch­tig her­an­sch­li­chen und sich lä­chelnd die Hän­de rie­ben in der Hoff­nung, et­was an­brin­gen zu kön­nen, was die Auf­merk­sam­keit auf sie len­ken könn­te. In­zwi­schen ga­ben Sir Matt­hew Pup­ker und die bei­den an­de­ren Par­la­ments­mit­glie­der die An­sich­ten zum Bes­ten, die die Re­gie­rung hin­sicht­lich der An­nah­me der Bill hege, be­rich­te­ten aus­führ­lich, was ih­nen die Mi­nis­ter, als sie das letz­te Mal bei ih­nen ge­speist, zu­ge­flüs­tert und wel­che be­deu­tungs­vol­le Win­ke sie da­bei hät­ten fal­len­las­sen. Aus all dem könn­ten sie nur die Fol­ge­rung zie­hen, dass, wenn der Re­gie­rung ir­gend­ein The­ma be­son­ders am Her­zen läge, die­ses kein an­de­res sein kön­ne als das Ge­dei­hen der »All­ge­mei­nen, ver­bes­ser­ten, haupt­städ­ti­schen War­me–Sem­meln– und Ku­chen­bä­cke­rei und pünkt­li­chen Ab­lie­fe­rungs­–Ge­sell­schaft«.

Das Pub­li­kum hat­te in­zwi­schen auf den Ga­le­ri­en leb­haf­te Un­ge­duld an den Tag ge­legt, und es war be­reits zu ei­ni­gen Schar­müt­zel ge­kom­men, als plötz­lich ein lau­ter Ruf die all­ge­mei­ne Auf­merk­sam­keit er­reg­te. Durch eine Ne­ben­tür trat jetzt eine lan­ge Rei­he von Her­ren mit ent­blö­ßtem Häup­tern auf die Tri­bü­ne.

Der Lärm ver­stumm­te, und Sir Matt­hew Pup­ker über­nahm den Vor­sitz. In schwung­vol­ler Rede gab er kund, wel­che Ge­füh­le ihn im ge­gen­wär­ti­gen Au­gen­blick be­weg­ten, was der ge­ge­be­ne Zeit­punkt in den Au­gen der Welt be­deu­te und welch wich­ti­gen Ein­fluss auf den Wohl­stand, das Glück, die Be­quem­lich­keit, die Frei­heit und so­gar auf die gan­ze Exis­tenz ei­nes frei­en und großen Vol­kes ein In­sti­tut üben müs­se wie das der Ve­rei­nig­ten, ver­bes­ser­ten, haupt­städ­ti­schen War­me–Sem­meln– und Ku­chen­bä­cke­rei und pünkt­li­chen Lie­fe­rungs­–Ge­sell­schaft.

So­dann stand Mr. Bon­ney auf, um die ers­te Re­so­lu­ti­on zu be­an­tra­gen, fuhr sich mit der Rech­ten durch die Haa­re, pflanz­te die Lin­ke zier­lich in die Hüf­te, ver­trau­te sei­nen Hut der Sorg­falt des Herrn mit dem Dop­pel­kinn an, der au­ßer­dem auch noch die Wein­fla­schen für die Red­ner be­reit­hielt, und er­klär­te, dass die an­we­sen­de Ver­samm­lung nur mit Be­sorg­nis und Un­ru­he auf den ge­gen­wär­ti­gen Stand des Sem­mel­han­dels in der Haupt­stadt und de­ren Nach­bar­schaft bli­cken kön­ne, dass die Sem­mel­jun­gen, wie sie ge­gen­wär­tig be­schaf­fen sei­en, das Ver­trau­en des Pub­li­kums ganz und gar nicht ver­dien­ten und dass über­haupt das gan­ze Sem­mel­sys­tem eben­so nach­tei­lig für die Ge­sund­heit und Sitt­lich­keit des Vol­kes wie ver­derb­lich für die höchs­ten In­ter­es­sen ei­ner Groß­stadt wäre. Die Rede des eh­ren­wer­ten Herrn ent­lock­te den zu­hö­ren­den Da­men reich­lich Trä­nen und weck­te bei al­len An­we­sen­den die leb­haf­tes­ten Emp­fin­dun­gen. Er hat­te, wie er sag­te, die Woh­nun­gen der Ar­men in den ver­schie­de­nen Distrik­ten Lon­d­ons be­sucht und auch nicht die min­des­ten Spu­ren von Sem­meln da­selbst auf­ge­fun­den, wes­halb er sich zur An­nah­me be­rech­tigt glau­be, dass so man­cher Be­dürf­ti­ge jahraus, jahrein kei­ne sol­chen zu kos­ten be­käme. Er hät­te fer­ner be­merkt, dass un­ter den Sem­mel­ver­käu­fern Hang zu Trunk­sucht und Aus­schwei­fun­gen al­ler Art herrsch­te, was er der ent­sitt­li­chen­den Na­tur ih­res Ge­schäf­tes bei dem ge­gen­wär­ti­gen Be­trieb zu­schrei­be. Die­sel­ben Las­ter habe er un­ter der är­me­ren Klas­se des Vol­kes, die doch auch am Sem­mel­kon­sum teil­neh­men soll­te, ent­deckt und er glau­be den Grund dazu in der Verzweif­lung zu fin­den, die die­se Leu­te an­trei­be, ein schäd­li­ches Reiz­mit­tel in be­rau­schen­den Ge­trän­ken zu su­chen, da sie nicht in der Lage sei­en, sich ein so un­ge­mein kräf­ti­gen­des Nah­rungs­mit­tel zu kau­fen wie die Sem­mel. Er wol­le es auf sich neh­men, vor ei­nem Ko­mi­tee des Un­ter­hau­ses zu be­wei­sen, dass eine ge­hei­me Ver­bin­dung be­ste­he, die den Preis der Sem­mel in die Höhe schrau­be und den Aus­trä­gern ein Mo­no­pol si­che­re, und er er­klä­re sich be­reit, dies durch die ei­ge­nen Aus­sa­gen der Ver­käu­fer vor den Schran­ken die­ses Hau­ses zu be­wei­sen. Er wol­le auch dar­tun, dass die­se Sor­te Men­schen sich durch ge­hei­me Wor­te und Zei­chen mit­ein­an­der ver­stän­di­ge. Die Ge­sell­schaft be­ab­sich­ti­ge nun, die­sem be­trü­ben­den Stand der Din­ge ab­zu­hel­fen, in­dem sie erst­lich be­an­tra­ge, dass al­ler und je­der Pri­vat­sem­mel­ver­kauf bei schwe­rer Stra­fe ver­bo­ten wer­de, und zwei­tens, dass sie selbst das Pub­li­kum aus­schließ­lich mit die­ser Ware ver­se­hen wol­le, und zwar so, dass auch die Ar­men in ih­ren ei­ge­nen Häu­sern mit Sem­meln von vor­züg­li­cher Güte zu her­ab­ge­setz­ten Prei­sen ver­sorgt wer­den könn­ten. Der pa­trio­ti­sche Prä­si­dent die­ser Ge­sell­schaft, Sir Matt­hew Pup­ker, habe be­reits eine Bill im Par­la­ment ein­ge­bracht, zu de­ren Un­ter­stüt­zung das ge­gen­wär­ti­ge Mee­ting ein­be­ru­fen wor­den sei. Und wer die­se Bill un­ter­stüt­ze, hel­fe mit, un­s­terb­li­chen Ruhm und Glanz über Eng­land zu brin­gen durch För­de­rung der Ve­rei­nig­ten, ver­bes­ser­ten, haupt­städ­ti­schen War­me–Sem­meln– und Ku­chen­bä­cke­rei und pünkt­li­chen Lie­fe­rungs­–Ge­sell­schaft mit ei­nem Ka­pi­tal von fünf Mil­lio­nen zu fünf­mal­hun­dert­tau­send Ak­ti­en à zehn Pfund.

Mr. Ralph Nick­le­by un­ter­stütz­te den An­trag, und nach­dem ein an­de­rer Herr den Zu­satz­an­trag ge­stellt hat­te, an je­der Stel­le in dem Ent­wur­fe an das Par­la­ment, wo das Wort »Sem­meln« vor­käme, auch das Wort »Ku­chen« hin­zu­zu­fü­gen, ging die Re­so­lu­ti­on ein­stim­mig durch. Nur ein ein­zi­ger Mann im dich­tes­ten Ge­drän­ge rief »Nein«, wur­de aber so­fort fest­ge­nom­men und hin­aus­ge­führt.

Die zwei­te Re­so­lu­ti­on galt der Aus­rot­tung al­ler Ku­chen– und Sem­mel­ver­käu­fer, moch­ten sie nun Män­ner oder Wei­ber, Kna­ben oder Er­wach­se­ne sein, und wur­de durch einen wei­ner­li­chen Herrn in ei­ner Art geist­li­chen Ha­bit vor­ge­bracht, der mit ei­nem so er­grei­fen­den Pa­thos sprach, dass er so­gar den ers­ten Red­ner in Schat­ten stell­te. Man hät­te eine Steck­na­del, ja so­gar eine Fe­der fal­len hö­ren kön­nen, als er die Grau­sam­keit schil­der­te, mit der die Sem­mel­jun­gen von ih­ren Her­ren be­han­delt wür­den –– was, wie er her­vor­hob, an sich schon ein hin­rei­chen­der Grund wäre, um die be­an­trag­te, nicht ge­nug zu schät­zen­de Ge­sell­schaft ins Le­ben zu ru­fen. Die un­glück­li­chen Jun­gen wür­den alle Nacht, selbst in der raues­ten Jah­res­zeit, auf die nas­sen Stra­ßen hin­aus­ge­sto­ßen, um stun­den­lang ohne Ob­dach, Nah­rung und war­me Be­klei­dung durch Fins­ter­nis und Re­gen, Ha­gel und Schnee um­her­zu­wan­dern, wäh­rend man die Sem­meln für­sorg­lich in hei­ße Tü­cher ein­schlug. (Aus­ru­fe: Schänd­lich.)

Die Wir­kung der Rede auf die Zu­hö­rer war durch­schla­gend. Die Män­ner rie­fen Bei­fall, und die Da­men wein­ten ihre Ta­schen­tü­cher nass und schwenk­ten sie dann wie­der tro­cken. Die all­ge­mei­ne Auf­re­gung war au­ßer­or­dent­lich, und Mr. Nick­le­by flüs­ter­te sei­nen Freun­den zu, die Sa­che ste­he so güns­tig, dass sie jetzt schon fünf­und­zwan­zig Pro­zent Agio so gut wie si­cher in der Ta­sche hät­ten.

Der An­trag ging na­tür­lich un­ter lau­tem Bei­fall durch, und man wür­de in der Be­geis­te­rung wahr­schein­lich nicht nur die Arme, son­dern so­gar die Bei­ne in die Höhe ge­streckt ha­ben, wenn das an­ge­gan­gen wäre.

So­dann stand der Herr auf, der die gan­ze Nacht über im Spiel­klub zu­ge­bracht hat­te und da­her et­was her­ge­nom­men aus­sah, und er­klär­te sei­nen Mit­bür­gern, wel­che Glanz­re­de er zu­guns­ten der Pe­ti­ti­on zu hal­ten ge­däch­te, wenn sie im Un­ter­haus zur Spra­che käme, und mit welch grau­sa­mem Hohn er das Par­la­ment über­schüt­ten wol­le, wenn es die­sem bei­fal­len soll­te, den An­trag zu ver­wer­fen. Er be­dau­re nur, dass der hoch­ge­schätz­te Vor­red­ner in den Ent­wurf nicht eine Klau­sel auf­ge­nom­men habe, nach der es al­len Klas­sen der bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft zur zwin­gen­den Auf­ga­be ge­macht sei, Sem­meln und Ku­chen zu kau­fen, denn er sei kein Freund von hal­b­en Maß­re­geln und hul­di­ge dem Prin­zip: Aut Cae­sar aut ni­hil.

Als die Pe­ti­ti­on end­gül­tig ver­le­sen war, ließ das iri­sche Par­la­ments­mit­glied, ein tem­pe­ra­ment­vol­ler jun­ger Mann, eine Rede vom Sta­pel, wie sie eben nur ein iri­sches Par­la­ments­mit­glied zu hal­ten im­stan­de ist. Sie war ganz Poe­sie und rausch­te in ei­nem sol­chen Glutstrom da­hin, dass man sich schon er­wärmt fühl­te, wenn man den Spre­cher nur an­sah. Sie gip­fel­te dar­in, dass der Red­ner die Aus­deh­nung der Ve­rei­nig­ten, ver­bes­ser­ten, haupt­städ­ti­schen War­me–Sem­meln– und Ku­chen­bä­cke­rei und pünkt­li­chen Ab­lie­fe­rungs­–Ge­sell­schaft auch für sein grü­nes Va­ter­land for­dern wer­de, auf dass das Ge­läu­te der Sem­mel­glo­cke des­sen rei­che Tä­ler durch­tö­ne.

Den Schluss mach­te das schot­ti­sche Par­la­ments­mit­glied mit ver­schie­de­nen er­freu­li­chen Hin­wei­sen auf die vor­aus­sicht­li­che Ren­ta­bi­li­tät des Un­ter­neh­mens, was die fro­he Stim­mung, die der dich­te­ri­sche Schwung des Ir­län­ders ge­weckt hat­te, noch er­höh­te. Kurz, sämt­li­che Re­den be­wirk­ten ge­ra­de das, was sie er­zie­len soll­ten, und brach­ten den Zu­hö­rern die fel­sen­fes­te Über­zeu­gung bei, dass kei­ne Spe­ku­la­ti­on so viel­ver­hei­ßend und ri­si­ko­los wie die ge­gen­wär­ti­ge sei.

So ging denn die Pe­ti­ti­on zu­guns­ten der Bill ein­stim­mig durch, und die Ver­samm­lung trenn­te sich un­ter Bei­falls­ru­fen. Mr. Nick­le­by und die an­de­ren Di­rek­to­ren ver­füg­ten sich nach ei­nem Spei­se­haus, wo sie ein Lunch ein­nah­men und es, da die Ge­sell­schaft ja erst im Ent­ste­hen war, mit nur je drei Gui­ne­en pro Kopf für ihre Be­mü­hun­gen in An­rech­nung brach­ten.

3. Kapitel – Mr. Ralph Nickleby erhält traurige Nachrichten von seinem Bruder, weiß sich aber mit edler Standhaftigkeit zu fassen. Der junge Nikolas gefällt seinem Onkel ausnehmend, und dieser fasst den edelmütigen Entschluss, für dessen Zukunft zu sorgen.

Mr. Ralph Nick­le­by trat nach dem Mahl in un­ge­wöhn­lich gu­ter Lau­ne den Heim­weg an. Als er bei der St.–Pauls–Kir­che an­lang­te, trat er in einen Tor­weg, um sei­ne Uhr zu rich­ten, und wie er so den Schlüs­sel in der Hand und die Au­gen auf den Zei­ger der Kirch­turm­uhr ge­rich­tet da­stand, trat plötz­lich Ne­w­man Noggs an sei­ne Sei­te.

»Ah, Ne­w­man«, sag­te Mr. Nick­le­by auf­bli­ckend. »Das Schrei­ben we­gen der Hy­po­thek an­ge­langt, was?«

»Falsch«, brumm­te Noggs.

»Was? Und es war auch nie­mand des­halb im Büro?«

Noggs schüt­tel­te den Kopf.

»Aber was ist denn also ge­kom­men?«

»Ich«, ent­geg­ne­te Ne­w­man.

»Und was sonst noch?«

»Dies da«, er­wi­der­te Noggs und zog einen ver­sie­gel­ten Brief aus der Ta­sche. »Post­stem­pel Strand, schwar­zes Sie­gel, schwar­zer Rand, Frau­en­zim­mer­hand, C. N. in der Ecke.«

»Schwar­zes Sie­gel?« frag­te Mr. Nick­le­by mit ei­nem Blick auf den Brief. »Die Schrift kommt mir be­kannt vor. Es soll­te mich nicht wun­der­neh­men, Ne­w­man, wenn mein Bru­der tot wäre.«

»Glaub’s wohl«, ver­setz­te Noggs ru­hig.

»Wie­so?«

»Na, weil Sie sich über­haupt über nichts wun­dern«, ant­wor­te­te Ne­w­man.

Mr. Nick­le­by öff­ne­te den Brief, las ihn mit stei­ner­ner Mie­ne, steck­te ihn dann in die Ta­sche und be­gann, wie­der sei­ne Uhr auf­zu­zie­hen.

»Es ist, wie ich er­war­tet habe, Ne­w­man«, sag­te er da­bei. »Er ist tot. Hm, kommt mir recht un­ge­le­gen. Ich hät­t’s nicht ge­dacht.«

»Kin­der hin­ter­las­sen?« forsch­te Noggs.

»Zwei. Das ist’s doch eben«, brumm­te Mr. Nick­le­by und ging schnell wei­ter.

»Zwei«, wie­der­hol­te Noggs mit lei­ser Stim­me.

»Und auch eine Wit­we. Alle drei sind jetzt in Lon­don. Hol sie der Hen­ker. Alle drei hier, Ne­w­man!«

Noggs blieb ein we­nig hin­ter sei­nem Ge­bie­ter zu­rück und schnitt merk­wür­di­ge Gri­mas­sen. Ob in­fol­ge von Krämp­fen, ei­nes Schmerz­ge­fühls oder ei­nes in­ner­li­chen La­chens, konn­te nie­mand als er selbst sa­gen. Der Aus­druck des mensch­li­chen Ge­sich­tes ist sonst ein Spie­gel der See­le, aber Ne­w­man Noggs’ Züge blie­ben in al­len Ge­müts­s­tim­mun­gen ein un­lös­li­ches Rät­sel.

»Ge­hen Sie nach Hau­se«, sag­te Mr. Nick­le­by nach ei­ner Wei­le und warf da­bei sei­nem Schrei­ber einen Blick zu wie ei­nem Hund. Die Wor­te wa­ren kaum aus­ge­spro­chen, als Ne­w­man be­reits über die Stra­ße glitt und sich im Au­gen­blick in dem Ge­drän­ge ver­lor.

»Hübsch aus­ge­dacht«, brumm­te Mr. Nick­le­by im Wei­ter­ge­hen vor sich hin, »hübsch aus­ge­dacht. Mein Bru­der hat nie et­was für mich ge­tan, und ich habe es auch nicht er­war­tet; aber kaum ist ihm der Atem aus­ge­gan­gen, hält man sich an mich. Ich soll jetzt für ein stäm­mi­ges Weib, einen er­wach­se­nen Jun­gen und ein dito Mäd­chen sor­gen. Was geht’s mich an? Ich ken­ne sie doch gar nicht.«

Un­ter sol­chen und ähn­li­chen Be­trach­tun­gen schlug Mr. Nick­le­by den Weg nach dem Strand ein, zog den Brief zu Rat, um hin­sicht­lich der Adres­se nicht fehl­zu­ge­hen, und mach­te schließ­lich vor der Tür ei­nes Hau­ses un­ge­fähr in der Mit­te der sehr be­leb­ten Stra­ße Halt.

Es muss­te hier ein Mi­nia­tur­ma­ler woh­nen, denn ne­ben dem Tor war ein großer ver­gol­de­ter Rah­men fest­ge­schraubt, auf dem sich auf schwar­zem Samt­grund zwei Por­träts in Ma­ri­ne­uni­form nebst den da­zu­ge­hö­ri­gen Te­le­sko­pen –– das ei­nes jun­gen Herrn in Schar­lach, der einen Sä­bel schwang, und das ei­nes Ge­lehr­ten mit ho­her Stir­ne, ei­ner Fe­der, ei­nem Tin­ten­fass, sechs Bü­chern und ei­nem Vor­hang –– be­fan­den. Da­ne­ben sah man noch das un­ge­mein an­spre­chen­de Bild ei­ner jun­gen Dame, die in ei­nem rie­si­gen Wust von Ma­nu­skrip­ten las, und die lie­bens­wür­di­ge gan­ze Fi­gur ei­nes groß­köp­fi­gen, klei­nen Kna­ben mit Bei­nen, die per­spek­ti­visch zu der Grö­ße von Salz­löf­fel­chen ver­kürzt wa­ren. Au­ßer die­sen Kunst­wer­ken prang­ten noch vie­le Köp­fe von al­ten Da­men und Her­ren auf blau­em und brau­nem Hin­ter­grund, die sich ge­gen­sei­tig zu­lä­chel­ten –– und eine zier­lich ge­schrie­be­ne Preis­lis­te mit ge­press­tem Rand.

Mr. Nick­le­by warf einen ver­ächt­li­chen Blick auf die­se Arm­se­lig­kei­ten und klopf­te mit Dop­pel­schlä­gen an die Türe, bis ihm ein Dienst­mäd­chen mit un­ge­mein schmut­zi­gem Ge­sicht öff­ne­te.

»Ist Ma­dam Nick­le­by zu Hau­se?« frag­te Mr. Ralph un­ge­dul­dig.

»Sie heißt nicht Nick­le­by; Sie mei­nen viel­leicht La Cree­vy?« ant­wor­te­te das Mäd­chen und woll­te sich eben nä­her aus­las­sen, als eine weib­li­che Stim­me von ei­ner fast senk­rech­ten Trep­pe her­un­ter die Fra­ge ver­neh­men ließ, zu wem der Herr wol­le.

»Zu Mrs. Nick­le­by«, er­wi­der­te Ralph.

»Das ist doch im zwei­ten Stock, Han­na«, fuhr die­sel­be Stim­me fort. »Was du doch für ein dum­mes Ding bist. Ist die Herr­schaft im zwei­ten Stock zu Hau­se?«

»Es ist eben je­mand hin­aus­ge­gan­gen, aber ich glau­be, es war von der Dach­stu­be, aus der man den Keh­richt her­un­ter­ge­tra­gen hat«, ver­setz­te das Mäd­chen.

»So sieh nach«, er­wi­der­te das un­sicht­ba­re Frau­en­zim­mer. »Zeig dem Herrn, wo die Klin­gel ist, und sage ihm, er dür­fe nicht mit ei­nem Dop­pel­schlag klop­fen, wenn sein Be­such im zwei­ten Stock gilt. Ich kann über­haupt das Klop­fen nicht ge­stat­ten, wenn nicht die Klin­gel ge­bro­chen ist, und dann muss es durch zwei ein­fa­che Schlä­ge ge­sche­hen.«

»Schon gut«, sag­te Mr. Ralph und trat ohne Wei­te­res in das Haus. »Par­don, sind Sie Ma­da­me La –– wie ist Ihr Name?«

»Cree­vy –– La Cree­vy«, ver­setz­te die Stim­me, und zu­gleich tauch­te ein gel­ber Kopf­putz über dem Ge­län­der auf.

»Ich möch­te, wenn Sie er­lau­ben, einen Au­gen­blick mit Ih­nen spre­chen, Ma­da­me.«

Die Stim­me er­such­te Mr. Nick­le­by her­auf­zu­kom­men, doch dies war be­reits ge­sche­hen, ehe sie noch aus­ge­spro­chen hat­te, und als Mr. Ralph im ers­ten Stock an­lang­te, wur­de er von der Be­sit­ze­rin des gel­ben Kopf­put­zes emp­fan­gen, de­ren Kleid und Ge­sicht so ziem­lich von der­sel­ben Far­be wa­ren. Miss La Cree­vy war eine ge­ziert aus­se­hen­de ju­gend­li­che Dame von fünf­zig Jah­ren, und ihr Zim­mer bil­de­te ein pas­sen­des Sei­ten­stück zu dem ver­gol­de­ten Rah­men an der Türe. Nur dass hier die Kunst­pro­duk­ti­on üp­pi­ger wu­cher­te und der Raum selbst um ein be­trächt­li­ches Maß schmut­zi­ger war.

»Ehüm«, be­gann Miss La Cree­vy, zim­per­lich hin­ter ih­ren sei­de­nen Halb­hand­schu­hen hüs­telnd, »Sie wün­schen wohl ein Mi­nia­tur­por­trät? Ihr Ge­sicht ist sehr mar­kant, Sir. Sind Sie frü­her schon ge­ses­sen?«

»Sie sind, wie ich sehe, hin­sicht­lich mei­nes Hier­seins im Irr­tum, Ma­da­me«, ver­setz­te Mr. Nick­le­by in sei­ner ge­wohn­ten plum­pen Wei­se. »Ich habe kein Geld üb­rig, um es für Mi­nia­tur­bil­der weg­zu­wer­fen, Ma­da­me, und Gott sei Dank auch nie­mand, dem ich ei­nes schen­ken könn­te, im Fall ich wel­ches be­sä­ße. Da ich Sie ge­ra­de auf der Trep­pe sah, so woll­te ich Ih­nen nur ei­ni­ge Fra­gen über die hier woh­nen­den Mie­ter vor­le­gen.«

Miss La Cree­vy hüs­tel­te aber­mals, dies­mal um ihre Ent­täu­schung zu ver­ber­gen, und sag­te: »Ach so.«

»Ich ver­mu­te aus den an Ihre Magd ge­rich­te­ten Wor­ten«, fuhr Mr. Nick­le­by fort, »dass der zwei­te Stock Ih­nen ge­hört, Ma­da­me?«

Miss La Cree­vy er­wi­der­te, dass dem al­ler­dings so sei, aber da sie die Zim­mer des zwei­ten Stockes zur­zeit nicht brau­che, so pfle­ge sie, sie zu ver­mie­ten. Und ge­gen­wär­tig sei­en sie an eine Dame vom Lan­de mit ih­ren bei­den Kin­dern ver­ge­ben.

»An eine Wit­we, Ma­dam?«

»Ja, an eine Wit­we.«

»Eine ar­me Wit­we, Ma­dam?« forsch­te Ralph mit star­ker Be­to­nung des klei­nen Bei­worts, das so viel in sich be­greift.

»Hm, al­ler­dings, ich fürch­te, sie ist arm«, ver­setz­te Miss La Cree­vy.

»Ich ken­ne zu­fäl­lig die nä­he­ren Um­stän­de, Ma­dam«, fuhr Ralph fort. »Mit ei­nem Wort, ich bin ein Ver­wand­ter und möch­te Ih­nen ra­ten, die Fa­mi­lie nicht län­ger zu be­hal­ten.«

»Wäre nicht zu hof­fen«, ent­geg­ne­te Miss La Cree­vy mit ei­nem wei­te­ren Hus­ten, »dass, im Fal­le die Dame nicht im­stan­de sein soll­te, ihre Zah­lungs­ver­bind­lich­kei­ten ein­zu­hal­ten, ihre Fa­mi­lie ...«

»Nein, nein, Ma­dam«, un­ter­brach Ralph has­tig, »dar­an ist nicht im ent­fern­tes­ten zu den­ken.«

»Dann al­ler­dings«, er­wi­der­te Miss La Cree­vy, »er­hält die Sa­che frei­lich ein ganz an­de­res Ge­sicht.«

»Rich­ten Sie sich je­den­falls da­nach, Ma­dam«, sag­te Ralph, »und tref­fen Sie dem­ge­mäß Ihre Vor­keh­run­gen. Ich bin der ein­zi­ge Ver­wand­te, den die Fa­mi­lie hat, und hal­te es für mei­ne Pf­licht, Sie in Kennt­nis zu set­zen, dass ich ihre ver­schwen­de­ri­sche Le­bens­wei­se nicht un­ter­stüt­zen kann. Auf wie lan­ge hat sie sich bei Ih­nen ein­ge­mie­tet?«

»Es ist nur wo­chen­wei­se ge­mie­tet wor­den, und Mrs. Nick­le­by hat für die ers­ten acht Tage vor­aus­be­zahlt.«

»Dann wer­den Sie gut tun, ihr so­fort zu kün­di­gen. Das Bes­te ist, wenn sie wie­der aufs Land zu­rück­geht. Hier ist sie nur je­der­mann im Wege.«

»Al­ler­dings«, er­wi­der­te Miss La Cree­vy, sich die Hän­de rei­bend, »wäre es sehr un­pas­send für eine Dame wie Mrs. Nick­le­by, wenn sie Zim­mer mie­ten wür­de, ohne die Mit­tel zu be­sit­zen, sie auch zu be­zah­len.«

»Na­tür­lich, na­tür­lich, Ma­dam«, be­kräf­tig­te Ralph.

»Und da ich vor­der­hand, hm, nur eine ein­zeln le­ben­de schutz­lo­se Dame bin«, fuhr Miss La Cree­vy fort, »so könn­te ich einen Ver­lust an Miet­zins nicht ver­schmer­zen.«

»Selbst­ver­ständ­lich nicht, Ma­dam«, stimm­te Ralph bei.

»Im­mer­hin«, fuhr Miss La Cree­vy, au­gen­schein­lich zwi­schen Gut­mü­tig­keit und ih­rem Vor­teil schwan­kend, fort, »kann ich durch­aus nichts ge­gen die Dame sa­gen. Wenn sie auch un­ge­mein nie­der­ge­drückt zu sein scheint, so ist sie doch sehr ge­fäl­lig und freund­lich, und auch die jun­gen Leu­te sind so ar­tig und wohl­er­zo­gen, dass man nicht leicht ih­res­glei­chen heut­zu­ta­ge fin­det.«

»Ganz gut, Ma­dam«, knurr­te Ralph und wand­te sich zum Ge­hen, da ihm dies der Ar­mut ge­spen­de­te Lob nicht be­hag­te, »ich habe mei­ne Schul­dig­keit ge­tan und viel­leicht noch mehr, als ich hät­te tun sol­len. Ich bin es na­tür­lich ge­wohnt, dass mir die Men­schen da­für kei­nen Dank wis­sen.«

»Ich für mei­ne Per­son bin Ih­nen je­den­falls sehr ver­bun­den, Sir«, ver­si­cher­te Miss La Cree­vy mit ei­nem zier­li­chen Knicks. »Üb­ri­gens, wür­den Sie mir nicht viel­leicht die Gunst er­wei­sen, ei­ni­ge Pro­ben mei­ner Por­trät­ma­le­rei an­zu­se­hen?«

»Sehr gü­tig, Ma­dam«, lehn­te Mr. Nick­le­by ab und mach­te sich in großer Eile da­von, »aber da ich noch einen Be­such eine Trep­pe hö­her ab­zu­stat­ten habe und mei­ne Zeit knapp be­mes­sen ist, so bin ich in der Tat au­ßer­stan­de ...«

»Ich wer­de mich je­der­zeit glück­lich schät­zen, wenn Sie etwa im Vor­über­ge­hen wie­der ein­mal bei mir vor­spre­chen wol­len«, fing Miss La Cree­vy wie­der an. »Vi­el­leicht ha­ben Sie die Ge­wo­gen­heit, hier mei­ne Kar­te an­zu­neh­men, Sir. Ich dan­ke Ih­nen. Gu­ten Mor­gen ...«

»Gu­ten Mor­gen, Ma­dam«, brach Ralph kurz ab und schloss rasch die Türe hin­ter sich, um jede Fort­set­zung des Ge­sprä­ches zu ver­hin­dern. »Also jetzt zu mei­ner Schwä­ge­rin. Na.«

Dann klomm er eine zwei­te stei­le Trep­pen­flucht em­por, die mit großem ar­chi­tek­to­ni­schen Scharf­sinn nur aus Eck­stu­fen zu­sam­men­ge­setzt war, und hielt eben an dem Ge­län­der inne, um ein we­nig zu ver­schnau­fen, als er von Miss La Cree­vys Dienst­magd über­holt wur­de, die seit ih­rer letz­ten Be­geg­nung mit ihm au­gen­schein­lich nicht sehr ge­lun­ge­ne Ver­su­che ge­macht hat­te, ihr schmut­zi­ges Ge­sicht mit ei­ner noch viel schmut­zi­ge­ren Schür­ze zu rei­ni­gen, und von ih­rer höf­li­chen Ge­bie­te­rin ab­ge­schickt wor­den war, den Herrn an­zu­mel­den.

»Wie ist Ihr Name?« frag­te das Mäd­chen.

»Ralph Nick­le­by.«

»Mrs. Nick­le­by, Mrs. Nick­le­by«, rief das Mäd­chen und riss die Türe auf. »Mr. Nick­le­by ist hier.«

Eine tief in Trau­er ge­klei­de­te Dame er­hob sich, als Ralph ins Zim­mer trat, war je­doch au­gen­schein­lich nicht im­stan­de, ihm ent­ge­gen­zu­ge­hen, denn sie stütz­te sich auf den Arm ei­nes zar­ten, aber un­ge­mein schö­nen Mäd­chens von un­ge­fähr sieb­zehn Jah­ren, das ne­ben ihr ge­ses­sen hat­te. Ein jun­ger Mann, an­schei­nend ein oder zwei Jah­re äl­ter, sprang so­fort auf und be­grüß­te Mr. Nick­le­by als sei­nen On­kel.

»Hm«, brumm­te Ralph mit ei­nem un­gnä­di­gen Stirn­run­zeln, »du bist ver­mut­lich Ni­ko­las?«

»Das ist mein Name, Sir«, er­wi­der­te der jun­ge Mann.

»Nimm mir den Hut ab«, ver­setz­te Ralph her­risch. »Nun, wie geht’s Ih­nen, Ma­dam? Sie müs­sen Ihren Kum­mer nie­der­kämp­fen, Ma­dam; ich ma­che es auch nie an­ders.«

»Der Ver­lust traf mich so plötz­lich und un­er­war­tet«, seufz­te Mrs. Nick­le­by und fuhr sich mit dem Ta­schen­tuch über die Au­gen.

»Gar nichts Uner­war­te­tes«, murr­te Ralph und knöpf­te kalt­blü­tig sei­nen Rock auf. »Fa­mi­li­en­vä­ter ster­ben alle Tage und, Ma­dam, Müt­ter nicht min­der.«

»Und auch Brü­der, Sir«, füg­te Ni­ko­las un­wil­lig hin­zu.

»Ja­wohl, Mus­jö, und auch na­se­wei­se Zier­ben­gel und Mut­ter­söhn­chen«, be­merk­te der On­kel und nahm einen Stuhl. »Sie spre­chen sich in Ihrem Brief nicht dar­über aus, wor­an mein Bru­der litt, Ma­dam.«

»Die Ärz­te konn­ten kei­ne be­son­de­re To­des­ur­sa­che fin­den«, sag­te Mrs. Nick­le­by, in Trä­nen aus­bre­chend. »Ach, wir ha­ben nur all­zu viel Grund zu glau­ben, dass er an ge­bro­che­nem Her­zen starb.«

»Pah«, sag­te Ralph, »so et­was gibt es doch gar nicht. Ich kann mir vor­stel­len, dass sich ein Mensch den Hals bricht oder die Nase, oder den Arm, den Fuß oder den Schä­del, aber ein ge­bro­che­nes Herz? Dumm­hei­ten! Wenn ei­ner sei­ne Schul­den nicht be­zah­len kann, so stirbt er an ge­bro­che­nem Her­zen, und sei­ne Wit­we gilt als Mär­ty­re­rin.«

»Ich will gern glau­ben, dass es Leu­te gibt, de­nen das Herz nicht bre­chen kann, weil sie keins ha­ben«, be­merk­te Ni­ko­las ru­hig.

»Wie alt, um Got­tes Wil­len, ist denn die­ser Bur­sche?« frag­te Ralph wü­tend, dreh­te sich auf sei­nem Stuhl um und mus­ter­te mit un­aus­sprech­li­cher Ge­ring­schät­zung sei­nen Nef­fen von Kopf bis zu Fuß.

»Ni­ko­las geht ins neun­zehn­te.«

»Was, neun­zehn?«, fuhr Ralph auf. »Und was ge­denkst du an­zu­fan­gen, um dir dei­nen Le­bens­un­ter­halt zu er­wer­ben, Mus­jö?«

»Mei­ner Mut­ter will ich un­ter kei­nen Um­stän­den zur Last fal­len«, rief Ni­ko­las leb­haft.

»Wür­dest auch we­nig ge­nug zu bei­ßen ha­ben, wenn du das vor­hät­test«, brumm­te Mr. Nick­le­by ver­ächt­lich.

»Wie we­nig es auch sein mag«, er­wi­der­te Ni­ko­las zor­nig, »in kei­nem Fal­le wer­den Sie es wohl ver­meh­ren.«

»Ni­ko­las, Lieb­ling, ver­giss dich nicht«, ver­wies Mrs. Nick­le­by.

»Bit­te, bit­te, lie­ber Ni­ko­las«, fleh­te die Schwes­ter.

»Halt dei­nen Mund, Mus­jö«, schimpf­te Ralph. »Das ist ja ein recht net­ter An­fang, Ma­dam. Ein net­ter An­fang.«

Mrs. Nick­le­by ent­geg­ne­te wei­ter nichts und bat nur Ni­ko­las durch Ge­bär­den, ru­hig zu blei­ben. –– On­kel und Nef­fe ma­ßen sich ge­gen­sei­tig ei­ni­ge Se­kun­den, ohne ein Wort zu spre­chen. Die Züge des Al­ten wa­ren streng, hart und ab­sto­ßend, die des jun­gen Man­nes of­fen, schön und frei­mü­tig. In Ral­phs ste­chen­den Au­gen lag Geiz und Hin­ter­list, wäh­rend aus Ni­ko­las’ leuch­ten­dem Blick Ver­stand und Mut sprach. Die Ge­stalt des jun­gen Man­nes war eher schmäch­tig, aber männ­lich und wohl­ge­baut, und ab­ge­se­hen von der Fri­sche der Ju­gend lag in sei­ner gan­zen Hal­tung et­was, was den Al­ten in Schran­ken hielt.

Wie schrei­end auch ein der­ar­ti­ger Ge­gen­satz für den Zuschau­er sein mag, so wird er doch nur in sei­ner gan­zen Schär­fe und Bit­ter­keit von dem emp­fun­den, der da­bei die Rol­le des Tie­fer­ste­hen­den über­neh­men muss, und Ralph Nick­le­by hass­te Ni­ko­las von die­ser Stun­de an.

Der ge­gen­sei­ti­gen Be­sich­ti­gung wur­de end­lich durch Ralph ein Ende ge­macht, der mit der Mie­ne höchs­ter Ge­ring­schät­zung sei­ne Au­gen ab­wand­te und Ni­ko­las einen Kna­ben nann­te. Die­ser Aus­druck wird von äl­te­ren Per­so­nen mit Vor­lie­be ge­gen­über jün­ge­ren im Ton des Ta­dels ge­braucht, wahr­schein­lich in der Ab­sicht, den Leu­ten glau­ben zu ma­chen, dass sie um kei­nen Preis wie­der jung wer­den möch­ten, selbst wenn sie es könn­ten.

»Nun, Ma­dam«, be­gann Ralph un­ge­dul­dig, »die Gläu­bi­ger ha­ben sich das Ih­ri­ge ge­holt, wie Sie mir schrie­ben, und es ist nichts für Sie üb­rig­ge­blie­ben?«

»Nichts«, ant­wor­te­te Mrs. Nick­le­by.

»Und Sie ha­ben das Biss­chen Geld, das Sie noch be­sa­ßen, auf die wei­te Rei­se nach Lon­don ver­wen­det, um zu se­hen, was ich für Sie tun wer­de?«

»Ich hoff­te«, stot­ter­te Mrs. Nick­le­by, »dass Sie im­stan­de sein wür­den, den Kin­dern Ihres Bru­ders in ih­rem Fort­kom­men be­hilf­lich zu sein. Es war der Wunsch des Ster­ben­den, dass ich mich an Sie wen­den soll­te.«

»Ich weiß nicht, wie es kommt«, brumm­te Ralph und ging im Zim­mer auf und ab, »aber im­mer, wenn je­mand stirbt, ohne selbst et­was zu hin­ter­las­sen, so scheint er zu glau­ben, er hät­te ein Recht, über das Ver­mö­gen an­de­rer Leu­te zu ver­fü­gen. –– Was hat Ihre Toch­ter ge­lernt, Ma­dam?«

»Kate ist gut er­zo­gen«, schluchz­te Mrs. Nick­le­by. »Sag dei­nem On­kel, mein Kind, wie weit du im Fran­zö­si­schen und den an­de­ren Lehr­ge­gen­stän­den ge­kom­men bist.«

Das arme Mäd­chen schick­te sich an, ei­ni­ge Wor­te her­vor­zu­stot­tern, aber ihr On­kel fiel ihr un­höf­lich in die Rede.

»Wir müs­sen ver­su­chen, dich als Hilfs­leh­re­rin in ei­ner Klos­ter­schu­le un­ter­zu­brin­gen. Du bist doch hof­fent­lich nicht zu vor­nehm da­für?«

»Nein, nein, ge­wiss nicht, On­kel«, schluchz­te das Mäd­chen, »ich will ja al­les tun, um mir mei­nen Le­bens­un­ter­halt zu ver­die­nen.«

»Nun, nun«, lenk­te Ralph ein, viel­leicht durch die Schön­heit, viel­leicht auch durch den Jam­mer sei­ner Nich­te ein we­nig be­sänf­tigt, »du musst es eben ver­su­chen, und wenn es dir zu hart an­kommt, so geht’s viel­leicht mit der Klei­der­nä­he­rei oder mit dem Stick­rah­men. Und hast du je et­was ge­ar­bei­tet, Mus­jö?« fuhr er sei­nen Nef­fen an.

»Nein«, er­wi­der­te Ni­ko­las un­be­fan­gen.

»Das hät­te ich mir den­ken kön­nen. Das ist also die Art, wie mein Bru­der sei­ne Kin­der er­zo­gen hat, Ma­dam?«

»Mein ar­mer Mann hat Ni­ko­las so weit her­an­ge­bil­det, als er es selbst ver­moch­te«, ver­setz­te die Wit­we, »und er dach­te eben ...«

»In Zu­kunft et­was aus ihm zu ma­chen«, fiel Ralph ein. »Die alte Ge­schich­te. Im­mer den­ken und nie han­deln. Wäre mein Bru­der ein tä­ti­ger und klu­ger Mann ge­we­sen, so wür­de er Ih­nen ein schö­nes Ver­mö­gen hin­ter­las­sen ha­ben, Ma­dam, und hät­te sei­nen Sohn in die Welt hin­aus­ge­schickt, wie es mein Va­ter mit mir mach­te, als ich noch an­dert­halb Jah­re jün­ger als die­ser Bur­sche war. Dann wür­de er jetzt in der Lage sein, Sie zu un­ter­stüt­zen, statt Ih­nen zur Last zu fal­len und Ihre trau­ri­ge Lage noch zu ver­schlim­mern. Mein Bru­der war eben ein un­über­leg­ter, ge­dan­ken­lo­ser Mensch, Ma­dam, und ge­wiss kann das nie­mand mehr füh­len als Sie selbst.«

Die­se Be­mer­kung er­weck­te in der sonst gu­ten, aber äu­ßerst schwa­chen Frau den Ge­dan­ken, dass sie viel­leicht mit ih­ren tau­send Pfund doch am Ende eine bes­se­re Par­tie hät­te ma­chen kön­nen. Sie ließ ih­ren Trä­nen frei­en Lauf und be­gann im Über­maß ih­res Schmer­zes, ihr har­tes Los zu be­kla­gen. Un­ter vie­lem Schluch­zen er­zähl­te sie, dass sie von ih­rem ar­men Gat­ten in wahr­haft skla­vi­scher Ab­hän­gig­keit er­hal­ten wor­den sei und ihm oft ge­sagt habe, wie vie­le bes­se­re Par­ti­en sie hät­te ma­chen kön­nen. Auch habe sie die gan­ze Zeit über nie ge­wusst, wo das Geld hin­käme, und es wäre wohl al­les weit bes­ser ge­gan­gen, wenn er mehr Ver­trau­en in sie ge­setzt hät­te, und was der­glei­chen bit­te­re Erin­ne­run­gen mehr sind, die man ge­wöhn­lich bei ver­hei­ra­te­ten Frau­en wäh­rend ih­res Ehe­stan­des oder nach­her zu hö­ren be­kommt. Sie schloss mit der Kla­ge, dass der teue­re Verb­li­che­ne sich von ihr nie habe ra­ten las­sen, ein ein­zi­ges Mal aus­ge­nom­men –– was auch in der Tat voll­kom­men der Wahr­heit ent­sprach, denn das war da­mals ge­we­sen, als der Grund­stein zu sei­nem fi­nan­zi­el­len Zu­sam­men­bruch ge­legt wur­de.

Mr. Nick­le­by hör­te all das mit ei­nem hal­b­en Lä­cheln an, und als die Wit­we mit ih­ren Weh­kla­gen end­lich fer­tig war, nahm er das un­ter­bro­che­ne The­ma ge­nau da wie­der auf, wo er durch den Her­zenser­guss sei­ner Schwä­ge­rin un­ter­bro­chen wor­den war.

»Hast du Lust zu ar­bei­ten, Mus­jö?« wen­de­te er sich an sei­nen Nef­fen.

»Das ver­steht sich von selbst«, sag­te Ni­ko­las stolz.

»Dann sieh her. Die­se No­tiz fiel mir heu­te Mor­gen ins Auge, und du kannst Gott da­für dan­ken.«

Nach die­ser Ein­lei­tung zog Mr. Ralph ein Zei­tungs­blatt aus der Ta­sche, such­te eine Wei­le un­ter den An­zei­gen her­um und las dann laut vor:

»Er­zie­hungs­an­stalt. –– In Mr. Wack­ford Squeer­s’ Er­zie­hungs­heim, Do­t­he­boys Hall, bei dem an­mu­ti­gen Dor­fe Do­t­he­boys ge­le­gen, in der Nähe von Gre­ta Bridge in Yorks­hi­re, wer­den Kna­ben be­kö­s­tigt, ge­klei­det, mit Bü­chern, Ta­schen­geld und al­lem Er­for­der­li­chen ver­se­hen und er­hal­ten Un­ter­richt in al­len Spra­chen le­ben­den wie to­ten ––, in Ma­the­ma­tik, Or­tho­gra­fie, Geo­me­trie, Astro­no­mie, Tri­go­no­me­trie, Geo­gra­fie, Al­ge­bra, fer­ner im Fech­ten (wenn es ver­langt wird), Schrei­ben, Rech­nen, in der For­ti­fi­ka­ti­ons­leh­re so­wie je­dem Zwei­ge der klas­si­schen Li­te­ra­tur. Pen­si­ons­geld zwan­zig Gui­ne­en jähr­lich, kei­ne Ex­traan­for­de­run­gen, kei­ne Va­kan­zen und un­ver­gleich­lich gute Kost. Mr. Squeers hält sich ge­gen­wär­tig in Lon­don auf und ist täg­lich von ein bis vier Uhr im »Moh­ren­kopf« in Snow Hill zu spre­chen. –– N.B. Es wird ein fä­hi­ger Hilfs­leh­rer ge­sucht. Jähr­li­ches Ge­halt fünf Pfund. Ein Ma­gis­ter der frei­en Küns­te er­hält den Vor­zug.«

»So«, schloss Mr. Ralph Nick­le­by und steck­te die Zei­tung wie­der ein. »Er­hältst du die­se Stel­le, so ist dein Glück ge­macht.«

»Aber er ist nicht Ma­gis­ter der frei­en Küns­te«, wen­de­te Mrs. Nick­le­by ein.

»Das wird sich, glau­be ich, ma­chen las­sen«, ent­geg­ne­te Ralph.

»Aber das Ge­halt ist so ge­ring und die Ent­fer­nung gar so groß, On­kel«, jam­mer­te Kate.

»Still, mein Kind«, ver­wies die Mut­ter, »dein On­kel muss das am bes­ten ver­ste­hen.«

»Ich sage es noch ein­mal«, be­merk­te Ralph mit Schär­fe, »be­kommt er die Stel­le, so ist sein Glück ge­macht. Be­hagt sie ihm nicht, so mag er selbst für eine an­de­re sor­gen. Wenn er aber ohne Freun­de, ohne Geld, ohne Emp­feh­lung und ohne jede Ge­schäfts­kennt­nis eine ehr­li­che Be­schäf­ti­gung in Lon­don fin­den kann, mit der er sich auch nur die Schuh­soh­len ver­dient, so will ich ihm tau­send Pfund ge­ben. Das heißt«, un­ter­brach er sich, »ich wür­de sie ihm ge­ben, wenn ich sie hät­te.«

»Ar­mer, ar­mer Bru­der«, seufz­te Kate. »Ach On­kel, müs­sen wir uns denn schon so bald tren­nen?«

»Be­läs­ti­ge dei­nen On­kel nicht mit Fra­gen, wo er doch nur für un­ser Wohl be­dacht ist, mein lie­bes Kind«, ta­del­te Mrs. Nick­le­by. »Lie­ber Ni­ko­las, weißt du denn gar nichts dar­auf zu sa­gen?«

»Doch, doch, Mut­ter«, raff­te sich Ni­ko­las auf, der bis­her schwei­gend und in Ge­dan­ken ver­sun­ken da­ge­s­es­sen hat­te. »Wenn ich so glück­lich bin, die Stel­le zu er­hal­ten, für die ich mich so we­nig ge­eig­net füh­le, was wird aber aus de­nen wer­den, die ich hier zu­rück­las­se?«

»In die­sem Fall, aber auch nur in die­sem Fall, will ich für dei­ne Mut­ter und dei­ne Schwes­ter sor­gen«, ver­setz­te Ralph, »und ih­nen eine Po­si­ti­on schaf­fen, in der sie un­ab­hän­gig le­ben kön­nen. Es wird dann mei­ne Sor­ge sein, dass sie kei­ne Wo­che nach dei­ner Abrei­se in ih­rer ge­gen­wär­ti­gen Lage blei­ben.«

»Dann«, rief Ni­ko­las, sprang freu­dig auf und er­griff die Hand sei­nes On­kels, »dann bin ich be­reit, al­les zu tun, was Sie von mir wün­schen. Wir wol­len un­ver­züg­lich un­ser Glück bei Mr. Squeers ver­su­chen. Höchs­tens kann er mir eine ab­schlä­gi­ge Ant­wort ge­ben.«

»Das wird er nicht«, brumm­te Ralph Nick­le­by. »Er wird dich mit Freu­den an­neh­men, wenn ich dich ihm emp­feh­le. Su­che ihm nach Kräf­ten nütz­lich zu sein, und du wirst dich bin­nen kur­z­em zum Teil­ha­ber an sei­nem In­sti­tut em­por­schwin­gen. Du mein Him­mel, wenn er dann gar mit Tod ab­gin­ge, dein Glück wäre auf im­mer ge­macht.«

»Ja, ja, ich sehe schon al­les vor mir«, rief der arme Ni­ko­las, ganz hin­ge­ris­sen von ju­gend­li­cher Be­geis­te­rung. »Oder viel­leicht ge­winnt mich ir­gend­ein jun­ger Ari­sto­krat lieb, der in der An­stalt er­zo­gen wird, bit­tet mich von sei­nem Va­ter, wenn er die Schu­le ver­lässt und auf Rei­sen geht, als Hof­meis­ter aus und ver­schafft mir nach un­se­rer Zu­rück­kunft vom Fest­land ir­gend­ei­ne hüb­sche An­stel­lung. Was hal­ten Sie da­von, On­kel?«

»Hm, höchst wahr­schein­lich«, höhn­te Ralph.

»Und wer weiß, wenn er kommt, um mich zu Hau­se zu be­su­chen, was er na­tür­lich tun wür­de, so ver­liebt er sich in Kate, die mir die Wirt­schaft führt, und, und –– hei­ra­tet sie. Wer weiß, nicht wahr, On­kel?«

»Ja, wer weiß«, brumm­te Ralph.



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