Nimm mich mit dir, wenn du gehst - David Levithan - E-Book

Nimm mich mit dir, wenn du gehst E-Book

David Levithan

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Beschreibung

Ein Mädchen auf der Flucht, ein Bruder auf Spurensuche und ein erschütterndes Familiengeheimnis

Ezras Leben ändert sich von einem Tag auf den anderen, als seine ältere Schwester urplötzlich verschwindet. Kein Brief, kein Hinweis, keine Vorwarnung. Das Einzige, was er findet, ist eine geheime Mailadresse. Alles hätte er von seiner großen Schwester erwartet, aber niemals, dass sie ihn alleinlässt. Verzweifelt versucht er, dem Geheimnis ihres Verschwindens auf die Spur zu kommen.
Bea weiß schon lange, dass sie von zu Hause fliehen muss. Hals über Kopf, ohne ihren jüngeren Bruder in eine fremde Stadt aufzubrechen war allerdings nie ihr Plan. Doch eine geheimnisvolle Nachricht in ihrem Postfach ändert einfach alles – und sie begibt sich auf die Suche – nach jemandem, von dem sie nicht einmal weiß, ob er je gefunden werden will.
Zwei der bedeutendsten Stimmen der YA-Literatur brillieren in dieser Geschichte über Hoffnung, Geschwisterliebe und darüber, was es bedeutet, die eigene Herzens-Familie zu finden

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Seitenzahl: 368

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Aus dem Amerikanischen von Bernadette Ott

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© 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2021 David Levithan, Jennifer Niven

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel:

»Take me with you when you go«

Bei Knopf Books for Young Readers, einem Imprint von Random House Children’s Books, New York

Übersetzung: Bernadette Ott

Lektorat: Christina Neiske

Coverkonzeption: Kathrin Schüler, Berlin

unter Verwendung der Abbildungen von © Shutterstock (VaLiza; Lurai; Colorstream; Olga; fantom_rd; AlexandrAl)

MP · Herstellung: BO

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-29281-2V002

www.cbj-verlag.de

Mit Dank an alle unabhängigen Buchhandlungen, vor allem die Leute bei Little City Books (meiner Buchhandlung vor Ort, die mir durch die Pandemie geholfen hat), bei Books of Wonder (für fast zwei Jahrzehnte Unterstützung) und bei Avid Bookshop (meiner Lieblingsbuchhandlung, auch wenn ich nicht in der Nähe wohne).

D. L.

Für Joe und Angelo, meine Brüder im Herzen. Ich liebe euch mehr als Harry Styles und ABBA und Popcorn. Und sogar mehr als Worte – ich liebe euch mehr, als ich es ausdrücken kann.

J. N.

Hauptteil

Betreff: Dein Verschwinden

Von: [email protected]

An: [email protected]

Datum: Montag, 25. März, 12:12 EST

Liebe Bea,

ich bin nicht wütend auf dich. Ich mache dir auch keine Vorwürfe. Aber ich finde, du schuldest mir eine Erklärung.

Ich weiß, dass du nicht mehr zurückkommst. Wir wissen alle, dass du nicht mehr zurückkommst. Wir wussten es von dem Moment an, als Mom in dein Zimmer hoch ist und es so vorgefunden hat, wie du wolltest, dass sie es vorfindet. Da war der Fall klar. Was für ein perfektes Ihr könnt mich mal von dir! Da hast du es ihr und Darren am Schluss echt noch gezeigt – ein perfekt gemachtes Bett. Als hätte nie jemand darin geschlafen. So als hätte es dich hier nie gegeben. Wie oft haben sie dich angebrüllt, dass du das Bett machen sollst? Wie oft hast du dich geweigert? (Kleiner Tipp: Die Anzahl ist beide Male gleich.) Und jetzt: Alles aufgeräumt von dir zurückgelassen. Unberührt. Leer.

Kein Brief. Kein einziges Wort.

Das weiß ich genau. Ich habe danach gesucht.

Mom hat dein Zimmer als Erste in diesem Zustand gesehen. Nicht ich. Ich saß am Küchentisch und habe versucht, mein Müsli so leise zu essen, dass Darren sich nicht darüber aufregen musste. Plötzlich hat Mom deinen Namen geschrien. Mehrmals hintereinander, zuerst wütend, dann klang da noch etwas anderes durch, zu zehn Prozent, würde ich sagen, zu zehn Prozent klang da noch Angst durch. (Aber mehr nicht.) Ich gebe zu, dass ich zuerst nicht weiter darauf geachtet habe, weil ihr euch ja jeden Morgen gestritten habt. Das gehörte einfach dazu. Darren hat auch nicht von seinem Toast aufgeblickt. Aber dann stürzte Mom in die Küche und brüllte mich an: »Wo ist deine Schwester? Sag mir sofort, wo deine Schwester ist!«

Wenn ich du wäre, hätte ich ihr bestimmt ein Verdammt, woher soll ich das denn wissen? an den Kopf geschleudert oder ein Ist es nicht ein bisschen früh am Morgen für diesen Scheiß, Mom? Aber wie jeder weiß, bin ich nicht du. Deshalb habe ich sofort beteuert: »Weiß nicht, weiß nicht, weiß nicht – was ist denn los?« Ich bemühte mich so sehr, unschuldig zu klingen, dass ich wohl erst recht schuldig wirkte. Dann drehte sie sich zu Darren und rief: »Sie ist verschwunden!«, und darauf er: »Was soll das heißen, sie ist verschwunden?«

Als Antwort haben wir einen Familienausflug in dein Zimmer unternommen. Da habe ich dein Bett gesehen und gedacht: Wow, sie hat sich davongemacht.

Mehr als etwas in der Art wollte ich auch nicht dazu sagen. Aber als sie gemerkt haben, wie ich mich im Zimmer umsah, packte Darren mich und wollte wissen, wonach ich denn suchte. Ich machte ihnen klar, dass dein Rucksack nirgendwo zu sehen war und deine Schulbücher neben dem Papierkorb gestapelt waren. (Hübsches Statement.) Der größte Schock war, dass auf der Kommode dein Handy lag. Damit wir dich darüber nicht ausfindig machen können, oder?

Mom und Darren taten so, als wäre für diese Beobachtungen besonderes Insiderwissen notwendig. Deshalb verhörten sie mich weiter. Aber diesmal konnten sie mich nicht einschüchtern. Oder vielmehr, sie schafften es zwar auch diesmal wieder, aber sie haben schnell gemerkt, dass es bei mir nichts zu holen gab. Ich wusste auch nicht mehr als sie.

Trotzdem hätten sie wahrscheinlich so schnell nicht von mir abgelassen, sonst gab es für sie ja nicht viel zu tun oder jedenfalls fiel ihnen nichts Besseres ein. Aber in diesem Moment hupte es vor dem Haus. Und ich muss gestehen: Obwohl mich dein Verschwinden nicht wirklich überrascht hat, war ich total erstaunt, als Joe plötzlich vor unserem Haus stand, um dich abzuholen. Denn das hieß, dass du ihn ebenfalls verlassen hast.

Wahrscheinlich brauche ich dir nicht groß zu beschreiben, was darauf folgte. Wie Darren Joe aus dem Auto in die Küche zerrte. Wie er ihn auf einen Stuhl drückte, ihm hundert Fragen stellte. Und wie Joe dasaß und ihm allmählich dämmerte, dass seine Freundin sich in Luft aufgelöst hat. Du bist sein Leben, Bea. Das weißt du. Und von allen Menschen auf der Welt erzählt ihm ausgerechnet Darren, dass sich sein Leben gerade auf und davon gemacht hat. Und tschüss!

Obwohl Darren ihn anbrüllte, er solle ihm gefälligst in die Augen schauen, blickte Joe immer wieder zu mir. Als flehte er mich an, ihm zu sagen, es sei alles nicht wahr und ich hätte eine geheime Nachricht von dir mit den Koordinaten eines Treffpunkts, wo du auf ihn warten würdest.

Als Antwort schüttelte ich nur den Kopf.

Schließlich nahmen Mom und Darren Joe ab, dass er auch nicht mehr wusste. Und weißt du, was? Die Tatsache, dass Joe genauso ahnungslos war wie sie, machte sie nur noch wütender. Als ob sie sich zusätzlich darüber aufregten, wie unfair du dich damit ihm gegenüber verhalten hast. Als wären sie schon immer die größten Fans von Joe gewesen. Na ja, um ehrlich zu sein, mögen sie ihn wahrscheinlich mehr als dich oder mich. Was aber keine große Leistung ist.

»Da siehst du mal, was für eine Lügnerin sie sein kann.« Das hat Mom tatsächlich zu Joe gesagt. So als wären sie auf derselben Seite. Als würde sie ihm einen mütterlichen Rat geben. Das war echt zu viel. Das ging über mein Vorstellungsvermögen. Aber seit Mom auf Darren reingefallen ist, habe ich es sowieso aufgegeben, sie verstehen zu wollen. Und Darren ist zwar total durchschaubar, aber das nützt einem nichts. Wenn etwas nicht so läuft, wie er will, fängt er an zu brüllen. Aber wem sag ich das.

Ich merkte höflich an, dass ich jetzt in die Schule müsste. Deshalb würde ich nach oben gehen und meine Sachen holen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, Joe mit Mom und Darren allein zu lassen, aber es gab keinen anderen Weg.

Als ich in meinem Zimmer war, wusste ich sofort, wo ich nachschauen musste. Wahrscheinlich hast du geglaubt, ich würde länger brauchen als diese eine Sekunde, aber so war es nicht. Du weißt genau, was ich gefunden habe. Und was ich dort nicht gefunden habe.

Ich werfe dir nicht vor, dass du das Geld genommen hast. Es überrascht mich nicht einmal. Und soll ich dir was sagen? Ich habe mehr als nur dieses eine Versteck, von dem ich dir erzählt habe, und ich habe dort immer nur so viel hineingesteckt, wie es für mich okay war, von dir bestohlen zu werden. (Von ausleihen will ich dabei nicht sprechen, obwohl ich mir sicher bin, dass dir das lieber wäre. Du brauchst es mir nicht zurückzugeben.)

Als ich die Schublade mit den Baseballkarten ausgeschüttet habe, war die spannende Frage nicht, ob du deinen kleinen Bruder beklaut hast. Sondern ob du mir dafür etwas zurückgelassen hast.

Und das hast du. Diese Mailadresse.

Echt, ich hatte keine Ahnung, dass es so was wie ein Ymail-Konto überhaupt gibt. Und natürlich werde ich höllisch aufpassen, dass niemand von dieser Adresse erfährt. Wie du siehst, habe ich bei Ymail eine eigene Adresse eingerichtet, nur für dich. Ich akzeptiere die allgemeinen Regeln für unsere Kontaktaufnahme. Wenn du verschwunden wärst, ohne mir diese Möglichkeit zu geben, hätte ich dir das nie verziehen. Niemals. Aber so, wie es jetzt ist, ist es für mich okay. Solange du mir erzählst, was passiert ist.

Mom und Darren waren immer noch dabei, Joe auszuquetschen, als ich unbemerkt in die Küche zurückkam. Allerdings hat Joe auch hartnäckig zurückgefragt: Ob sie bereits die Polizei verständigt hätten? Ob sie es bei Sloane versucht hätten? Ob denn eines ihrer Autos fehlte?

Die letzte Frage ließ Darren blitzartig aufspringen und aus der Küche rennen. Mit einer Miene, die klarmachte, dass ihm Joe persönlich dafür haften würde, wenn eines der Autos fehlte. Während Darren die Garage kontrollierte, antwortete Mom, nein, sie würden die Polizei nicht einschalten. Beatrix sei mit Sicherheit nicht entführt worden. Es sei von keiner Gefährdungslage auszugehen. Und wenn, dann habe sie sich mutwillig selbst in Gefahr gebracht.

»Wir müssen jetzt in die Schule«, wiederholte ich.

Aber wir durften erst los, als Darren zurück war und verkündete, die Autos stünden sicher in der Garage. Ich sparte mir den Hinweis, dass beide Autoschlüssel auf der Küchentheke lagen, weshalb sein Sprint in die Garage überflüssig gewesen war.

Schließlich durften Joe und ich gehen. Während wir zu seinem Auto trabten, redeten wir kein Wort. Wir hatten immer noch Angst, dass Mom und Darren uns hören könnten. Erst als wir im Auto saßen und ich bereits den Sicherheitsgurt umlegte, fragte Joe: »Ist sie wirklich abgehauen?«

Ja, sagte ich, sehe ganz danach aus.

Und in diesem Moment war ich wütend auf dich. Denn ich habe gesehen, wie Joe zitterte. Er wollte nicht, dass ich ihn weinen sah, schon gar nicht in seinem eigenen Auto. Aber so war es. Wir saßen beide in seinem Auto, ich auf dem Beifahrersitz, wo du immer gesessen hattest, und es war, als hättest du mich als deinen Boten geschickt, um mit ihm Schluss zu machen. Dass du mich auch sitzen gelassen hast, war dabei nebensächlich. Joe war derjenige, den du hättest mitnehmen sollen, und das hast du nicht gemacht. Du hast ihn nicht einmal gefragt. Ich weiß nicht, was er getan hat, um eine solche Behandlung zu verdienen.

Von der Mailadresse habe ich ihm nichts gesagt. Auch nicht, als er gefragt hat, ob ich wüsste, wie er dich finden kann. Blut ist dicker als Wasser, an dem Spruch scheint was dran zu sein. Aber es kann auch viel hartnäckigere Flecken hinterlassen.

Wir haben uns beide an die Hoffnung geklammert, dass Sloane vielleicht etwas wüsste oder dass du ihr gegenüber irgendwas angedeutet hättest. Vielleicht warst du ja auch bei ihr, vielleicht würdest du dort auf uns warten. Joe und ich versuchten immer wieder, Sloane anzurufen, aber sie ging nie dran. Bei mir konnte ich das ja noch verstehen, sozusagen als Vorsichtsmaßnahme, denn es war nicht auszuschließen, dass Mom und Darren mein Handy beschlagnahmten, um dich aufzuspüren. Aber Joes Anrufe? Warum ging sie denn da nicht dran?

Ich versuchte, Joe aufzumuntern, erzählte ihm, dass du schon ein paar Mal davongelaufen warst, um »eine Pause einzulegen«, wie du das immer genannt hast, und dass du nie wirklich weit abgehauen warst. Wie damals, weißt du noch, als du in Columbus in einem Hotel warst und dort den Forensiker-Kongress aufgemischt hast, bis einer der Verantwortlichen sich beschwerte, weil sie Besseres zu tun hätten.

Damit erreichte ich aber offenbar das Gegenteil, denn Joe hatte bisher von dir keine dieser Geschichten gehört und kam sich jetzt wohl erst recht wie ein Idiot vor. Ungewollt hatte ich ihm vor Augen geführt, wie wenig er dich kannte. Was merkwürdig war, weil ich gedacht hätte, dass er dich viel besser kennt als ich, schließlich hast du ja in den letzten zwei Jahren total viel Zeit mit ihm verbracht.

Vielleicht klang ich auch nicht sehr überzeugend, als ich ihm versicherte, du wärst bisher immer wieder zurückgekommen. Denn diesmal fühlt es sich anders an als sonst. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Als ich dein Bett gesehen habe, wusste ich sofort, diesmal meinst du es wirklich ernst. Die Tatsache, dass du mein Geldversteck geplündert hast, hat das bestätigt. Denn das hättest du nicht gemacht, wenn es nicht wirklich notwendig gewesen wäre, oder?

Joe und ich fuhren also zur Schule. Mir war klar, dass wir etwas wussten, von dem niemand sonst eine Ahnung hatte – jedenfalls noch nicht. Alle anderen liefen herum und glaubten, du wärst immer noch bei uns, immer noch Teil unserer Schule. Na klar, höre ich dich in meinem Kopf sagen, als ob irgendjemand groß auf mich geachtet hätte, solange ich dort war. Aber für ein paar Menschen warst du wichtig. Joe sagte, dass er sich auf die Suche nach Sloane machen würde, und ich sagte, das würde ich auch, obwohl es für mich natürlich viel schwieriger war, ein Mädchen aus der Abschlussklasse im Flur zu stellen. Ein Detektiv würde jetzt bestimmt fragen: »Und erst einmal nach Bea zu suchen, auf die Idee seid ihr nicht gekommen?« Aber weder Joe noch ich glaubten daran, dass du in der Schule warst. Von allen Orten auf der Welt wäre die Schule der allerletzte Ort, an dem du Zuflucht suchen würdest.

Wie immer wartete am Spind Terrence auf mich. Und wie immer küsste ich ihn zur Begrüßung. Er fragte, wie es mir geht … wie immer. Und ich dachte: Hier beginnt die neue Wirklichkeit. Sobald ich jemand anders davon erzähle, wird es wirklich. Fast hätte ich ihn angelogen. Aber wenn unsere Familie mich irgendetwas gelehrt hat, dann dass Lügen immer zu dir zurückkehren, dass sie dich ständig vor sich hertreiben und dass die Menschen mehr Verständnis haben, wenn du ihnen sofort etwas erzählst, als später, wenn sie herausfinden, dass du sie die ganze Zeit angelogen hast. Ich hatte mitbekommen, was du Joe gerade angetan hattest, und wollte Terrence nicht dasselbe antun. Deshalb habe ich ihm erzählt, was geschehen war, die Kurzfassung. Und ich habe es weniger endgültig klingen lassen, als es wahrscheinlich ist. Aber ich habe nicht so getan, als wäre nichts geschehen.

Von meinem Versteck, dem fehlenden Geld oder dieser Mailadresse habe ich ihm nicht erzählt. Ich verspreche dir, davon werde ich niemandem erzählen.

Terrence wirkte betroffen und fragte mich, ob bei mir alles okay sei, ob er irgendetwas für mich tun könne. Ich antwortete, ich sei für Vorschläge von seiner Seite offen und dass ich jede Menge unterschiedlicher Gefühle gleichzeitig empfinden würde, ich sei traurig und verwirrt und merkwürdig erleichtert und zutiefst beunruhigt.

Weil er süß und nett ist, hat Terrence so getan, als würde er mich verstehen. Er hat selber ein paar ungeklärte Themen mit seinen Eltern, die sein Schwulsein bisher nach dem Motto Nichts gehört und nichts gesehen behandeln. Aber wie katastrophal kaputt unsere Familie ist, habe ich ihm nie erzählt.

Wie immer haben wir uns zum Abschied geküsst. Ich bin normal in den Unterricht gegangen. Allerdings habe ich dir zu Ehren keine Sekunde aufgepasst.

(Ich weiß, dass das unfair ist. Ich weiß, dass dir manche Dinge etwas bedeutet haben.)

Jetzt ist Mittagspause und ich sitze an einem der Computer in der Bibliothek und passe auf, dass Mrs Goldsmith mir nicht über die Schulter schaut und mitliest, was ich gerade schreibe. Sloane haben wir immer noch nicht aufgetrieben. Allerdings hat Joe erfahren, dass ein paar Leute sie heute schon in der Schule gesehen haben. Deshalb wissen wir, dass sie nicht mit dir abgehauen ist. Ich glaube, Joe beunruhigt es sehr, aber ich verstehe das mit dem Allein-sein-Wollen.

Armer Joe. Arme Sloane. Und ich auch. Ich Armer.

Aber dir ist klar, wie heftig das noch werden wird, oder? Du weißt, womit du mich da zurückgelassen hast? Und vermutlich ist es gar nicht schlecht, dass ich nicht eingeweiht war, weil ich jetzt aus vollem Herzen alles abstreiten kann. (»Wirklich, Darren, ich hatte keine Ahnung!«) Trotzdem wäre etwas Vorbereitungszeit nett gewesen.

Und ein Abschied. Ein Abschied wäre schön gewesen.

So, und jetzt warte ich erst einmal darauf, dass du mir schreibst, wo du bist. Wenn du mir genug vertraut hast, um mir diese Mailadresse zu geben, dann musst du auch genug Vertrauen in mich haben, um mir zu sagen, wo du bist, und vor allem, ob es dir gut geht. Wenigstens, ob es dir gut geht, musst du mir sagen, falls du mir nicht verraten willst, wo du bist. Du hast es leicht – du weißt, wo ich bin. Du kannst dir jederzeit vorstellen, was ich gerade tue. Du weißt sogar, an welchem Computer ich sitze – am selben Computer wie immer, wie das ganze Schuljahr schon. Wo du mich immer abgeholt hast, bevor die Bibliothek geschlossen hat; bevor wir dann nach einem anderen Ort gesucht haben, um noch nicht nach Hause zu müssen. Du weißt, wie es sein wird, wenn ich nach Hause komme und Mom und Darren mich wieder mal anbrüllen. Du weißt, dass Joe für sehr lange Zeit ein gebrochenes Herz haben wird, es geht gar nicht anders, das musst du wissen. Man wird ihm die tiefe Enttäuschung ansehen. Ich weiß, dass du eine aufmerksame Beobachterin bist. Du weißt Dinge, die ich nicht weiß. Und du weißt viele Dinge, die ich ebenfalls weiß. Denk mal kurz darüber nach.

Hoffentlich ist es nicht irgendetwas, das ich getan habe. Ich will nicht der Grund dafür sein, dass du ausgerechnet den Zeitpunkt jetzt dafür ausgewählt hast; der Grund dafür, dass du nicht mehr die zwei Monate bis zu deinem Abschluss durchgehalten hast. Ich glaube nicht, dass ich der Grund dafür bin, aber ich wollte es hier einfach mal gesagt haben.

Die Mittagspause ist fast vorbei. Ich drücke jetzt auf Senden. Ich werde darauf achten, dass ich alle meine Spuren verwische. Du kannst sicher sein, dass niemand diese Mails findet. Du kannst mir also problemlos schreiben.

Wirklich, Bea, schreib mir. Es wird sehr hart für mich werden, ohne dich mit deinem Verschwinden zurechtzukommen.

Ich weiß, dass du mich nie gebraucht hast. Aber verdammt noch mal – ich brauche dich.

Schreib mir

Ezra

Betreff: Ich

Von: Bea <[email protected]>

An: Ezra <[email protected]>

Datum: Dienstag, 26. März, 02:32 CST

Lieber Ez,

ich atme noch, falls es das ist, was du mit der Frage meinst, ob es mir gut geht. Und nein, ich kann dir nicht erzählen, wohin ich gegangen bin oder warum.

Was ich dir aber sagen kann, ist: Ja, ich bin definitiv fort.

Tschüss, Hidden Valley Circle. Tschüss, Indiana.

Es ging überraschend leicht. Als ich beschlossen hatte, erfolgreich abzuhauen, habe ich kurz gegoogelt: von zu Hause weglaufen. Mit ein paar Klicks hatte ich alle Informationen, die ich brauchte.

Lauf nur dann von zu Hause weg, wenn du dir ganz sicher bist. ✓

Mach dir einen Plan. ✓

Einen Freund oder eine Freundin mitzunehmen kann eine gute Idee sein, aber auch eine schlechte. (Bei mir wäre es eine schlechte Idee.)

Nimm nicht viel Gepäck mit. ✓

Such dir einen Ort aus, an dem es sich gut leben lässt. (Ganz besonders wird davor gewarnt, sich als Fluchtort ein Haus im Wald auszusuchen, denn »die Natur kann grausam sein«. Wer auch immer dies geschrieben hat, scheint keine Ahnung zu haben, wie es ist, mit Mom und Darren zusammenzuwohnen.)

Hau ab, wenn keiner es bemerkt und keiner dich sieht. ✓

Nimm kein Handy oder irgendein anderes Gerät mit, über das man dich aufspüren kann. ✓

Nimm eine falsche Identität an. (Hab ich vor.)

Hinterlasse keine Spuren. ✓

Verhalte dich in der Zeit davor ganz normal. ✓

Brich jeden Kontakt ab, schau nicht zurück. ✓ (Halbwegs.)

Wobei dazu gesagt werden muss, dass von Beatrix Ahern nichts anderes erwartet wurde, als dass sie irgendwann endgültig abhauen würde. Klar werden die beiden sich noch eine Weile aufregen, aber gib ihnen ein, zwei Monate, dann werden sie am Tisch sitzen und sich gegenseitig bestätigen: »Es konnte mit ihr gar nicht anders enden. Sie war eben ein hoffnungsloser Fall.« Wart’s nur ab. Ich wünschte fast, ich wäre dabei, um es mitzuerleben.

Tut mir leid wegen dem Geld. Und tut mir wirklich sehr leid, dass ich mich von dir nicht verabschiedet habe. Nimm das bitte nicht persönlich, es hat nichts mit dir zu tun. Von allen Menschen in meinem Leben bist du der letzte, dem ich eins würde reinwürgen wollen. Deshalb habe ich auch Regel elf gebrochen und diese Mailadresse eingerichtet. Wenn es dich nicht gäbe, hätte ich jedes Band zerschnitten.

Was ich dir auch noch sagen will:

Es ist nicht so, wie du denkst. Ich bin aus einem ganz anderen Grund weggelaufen.

Dass Sloane nicht drangeht, wenn Joe sie anruft, überrascht mich nicht.

Es ist okay, wenn du Mitleid mit Joe hast, aber übertreib es nicht. Ich habe gute Gründe, wenn ich das so sage.

Wenn du es bei Mom und Darren nicht mehr aushältst, gehe zu Terrence. Versprich es mir.

Hör auf, dich schuldig zu fühlen. Je früher du dich von diesem Gefühl befreien kannst, desto besser.

Und nenn mich nicht mehr Beatrix. »Beatrix« ist mein altes Leben. Neues Leben, neuer Name – oder jedenfalls habe ich beschlossen, mir für eine Weile einen anderen Namen auszuleihen. Ich sage ihn dir aber nicht, damit du nicht versuchst, mich aufzuspüren, falls du das vorhaben solltest. Du bist mein kleiner Bruder und ich liebe dich. Aber ich werde dir immer einen Schritt voraus sein.

Liebe Grüße,

Ich

PS: Benutze den Browser immer im Inkognito-Modus. Speichere NIE das Passwort. Auch nicht auf deinem Handy.

Betreff: Dein Verschwinden

Von: Ezra <[email protected]>

An: Bea <[email protected]>

Datum: Mittwoch, 27. März, 07:45 EST

Liebe BEATRIX,

ich werde dich weiter Bea nennen, egal wie du dich nennst. Auch wenn du willst, dass die Welt dich für jemand anders hält – für mich wirst du immer Bea bleiben.

Und ich werde auch nicht aufhören zu fragen, wo du bist.

Ich weiß, dass das jetzt nicht mehr dein Problem ist, aber gestern Abend war es bei uns zu Hause alles andere als lustig. Mom und Darren dämmert allmählich, »welch schlechtes Licht es auf ihre erzieherischen Fähigkeiten wirft«, dass ihre Tochter abgehauen ist. Als ich nach Hause gekommen bin, haben sie mich nicht etwa als Erstes gefragt, ob ich dich vielleicht gesehen hätte, sondern ob ich irgendjemandem davon erzählt habe. Sie misstrauen mir genauso wie dir.

Ich hatte vor zu checken, ob in deinem Zimmer noch irgendwas zu finden war. Aber Mom hatte bereits alles durchwühlt, während ich in der Schule war. Ehrlich, es hat ausgesehen, als wäre eine riesige Hundemeute von der Leine gelassen worden, um alles herauszuzerren. Dein Zimmer war ja nie besonders aufgeräumt, aber deine Unordnung hatte ein System. Du hast immer gesagt, du könntest dort alles finden – und ich, na ja, konnte es irgendwie auch. Aber das hier war anders. Das totale Chaos. Überall lagen Klamotten herum, solche, die du in der letzten Zeit dauernd anhattest, mit anderen zusammengeschmissen, die du schon ewig nicht mehr getragen hast. (Welche hast du eigentlich mitgenommen? Das habe ich noch nicht rausgefunden.) Die Stofftiere aus deinem Regal lagen ebenfalls auf dem Boden, und es sah aus, als wäre jedes einzelne von ihnen einem strengen Verhör unterzogen worden. Zettel mit irgendwelchen Nachrichten von Joe waren über deinen Schreibtisch verstreut – nicht viele und keiner aus jüngster Zeit. Weil er dir ja ständig getextet hat, hat mich das überrascht. Hat er dir die Zettel manchmal im Unterricht zugesteckt oder in den Pausen, wenn du nicht zurückgetextet hast?

Und, ach ja, von wegen Handy – dein Handy war verschwunden.

Der Anblick deines Zimmers machte mich ratlos. Ich konnte schlecht stellvertretend für dich wütend sein, du hattest ja selbst alles schutzlos zurückgelassen. Wäre dein Zimmer nicht Teil des Hauses gewesen, hättest du vielleicht alles verbrannt, bevor du weg bist. Möglicherweise ist dir jetzt aber auch egal, wer in deinen Sachen herumwühlt.

Komischerweise war ich trotzdem wütend, auch wenn ich es stellvertretend für dich eigentlich nicht sein konnte. Zum Teil, das gebe ich zu, weil mir klar wurde, wenn sie sich so über dein Zimmer hergemacht hatten, dann konnten sie das jederzeit auch mit meinem Zimmer tun.

Ich wartete ab, bis Darren im Arbeitszimmer verschwunden war. Dann stellte ich Mom in der Küche zur Rede. Sie hatte den Fernseher auf ganz laut gestellt, aber sie guckte gar nicht hin. Auch mich sah sie kaum an, als ich in die Küche kam.

»Was hast du mit Beas Zimmer angestellt?«, fragte ich.

Einen Augenblick lang waren unsere Rollen vertauscht: Sie war das Kind und ich war die Mutter, die sie gerade bei etwas erwischt hatte, das sie nicht hätte tun dürfen. In ihren Augen sah ich, dass ihr bewusst war, etwas Unrechtes getan zu haben. Aber kaum hatte ich den Ausdruck in ihren Augen bemerkt, verschwand er wieder.

Sie musterte mich kalt. »Nicht in diesem Tonfall«, wies sie mich zurecht. »Es geht mir nur darum, sie zu finden, das ist alles.«

»Glaubst du, sie hat sich in einer der Schubladen versteckt? Oder im Wäschekorb?«

»Das reicht.«

Aber ich konnte nicht anders, ich setzte noch einen drauf. »Oder hast du nach Drogen gesucht? Bist du fündig geworden?«

Schlechte Idee. Sehr schlechte Idee.

»Darren!«, rief sie.

»Mom, jetzt reg dich ab …«

Darren tauchte in der Tür auf. Er war verärgert, dass er unterbrochen worden war. (Bei was auch immer.)

»Was ist denn?«, fragte er.

»Ezra hat mir erzählt, dass Bea Drogen genommen hat.«

»Das hab ich nicht gesagt!«

»Warum sonst hättest du mich fragen sollen, ob ich bei ihr Drogen gefunden habe?«

DUBISTECHTDASLETZTE!, hätte ich am liebsten geschrien. Wie ungefähr neunundneunzig Prozent der Zeit, die ich zu Hause bin. Wie konntest du mich mit diesen Menschen allein lassen? Warum muss ich mich mit ihnen herumschlagen? Ich weiß, dass Mom eine schwere Zeit durchgemacht hat, nachdem Dad sie verlassen hatte. Ich weiß, dass es nicht einfach war, uns jahrelang allein großzuziehen. Ich weiß, dass nicht viel gefehlt hat und wir wären alle obdachlos geworden. Ich bin ihr für alles, was sie für uns getan hat, dankbar. Aber wenn sie klug und stark genug war, das alles hinzukriegen, warum hat sie dann irgendwann aufgegeben? Warum hat sie uns aufgegeben? War es in dem Moment, als sie Darren kennengelernt hat? Oder war es ein schleichender Prozess? Ich kann mich kaum noch daran erinnern, dass sie irgendwann mal auf unserer Seite war. Ich weiß, irgendwann früher muss es so gewesen sein. Aber dann kam Darren und von da an waren die Linien klar gezogen. Seither hat sie nie mehr für uns Partei ergriffen. Ich erkenne sie fast nicht mehr, so weit hat sie sich von uns entfernt.

Darren schwafelt was von wegen, er hätte schon immer gewusst, dass du Drogen nimmst, das würde deine »Instabilität« erklären, deine »Verantwortungslosigkeit«.

»Macht ihr euch eigentlich gar keine Sorgen um sie?«, fragte ich. »Es könnte ihr ja was zugestoßen sein.«

»Glaub ich nicht«, meinte Mom nur.

Und Darren – ich schwöre dir, so war’s –, Darren fügte hinzu: »Jemandem wie deiner Schwester stößt nichts zu. Du hast Angst, dass ihr jemand was angetan haben könnte? Die braucht dazu niemanden, das schafft sie allein.«

Ausgerechnet er musste das raushauen. Was sollte ich darauf sagen? Darauf gab es nichts mehr zu sagen. Deshalb bin ich in mein Zimmer.

Dort habe ich Joe angerufen.

Er war sofort dran. »Ja?«, fragte er hoffnungsvoll. »Gibt’s was Neues?«

Und mir wurde klar, dass er gehofft haben muss, ich hätte Neuigkeiten von dir. Gute Neuigkeiten. Aber ich rief ihn nur an, weil mir niemand sonst einfiel, den ich hätte anrufen können. Und weil ich wissen wollte, ob er mich weiter morgens im Auto in die Schule mitnehmen würde.

Ich brauche keine Erlaubnis von dir, um Mitleid mit Joe zu haben. Wenn ich die Enttäuschung und den Schmerz in seiner Stimme höre, tut er mir einfach leid. Das musst du verstehen. Und was das Übertreiben angeht – was ist in dieser Situation übertrieben oder nicht, Bea? Und wer hat es mit seiner Aktion wohl am meisten übertrieben?

»Warum ruft sie nicht an?«, fragte er.

»Weil sie nicht will, dass wir sie finden«, antwortete ich.

So ist das nämlich: Man kann Dinge zu sich selbst sagen, so oft man will, in dem Augenblick, in dem man sie laut ausspricht und zu jemand anders sagt, verwandeln sie sich, nehmen sie erst richtig Gestalt an. Als würde man zum Beispiel eine Angst hernehmen und ihr einen scharfen Umriss geben, sodass sie dich erst richtig verletzen kann. Und wenn jemand anders die Dinge ausspricht, die du dir bisher nur in Gedanken gesagt hast, hat das dieselbe Wirkung. Es sollte sich besser anfühlen, die Dinge miteinander zu teilen. Aber sie werden dadurch auch zu Tatsachen, die man nicht mehr leugnen kann.

»Weil sie nicht will, dass wir sie finden«, wiederholte er.

Da hätte ich ihm sagen sollen, dass ich von dir gehört hatte. Es fühlte sich egoistisch von mir an, es nicht zu tun. Aber mir war klar, wenn ich es ihm erzählen würde, würdest du es früher oder später erfahren. Und ich hätte damit bewiesen, dass du mir nicht vertrauen kannst.

Ich kenne dich. Ich weiß, dass du mir keine zweite Chance gibst. Nicht dieses Mal.

Statt Joe anzudeuten, dass du am Leben bist, fragte ich ihn, ob er mich weiter morgens in die Schule mitnehmen würde. Er sagte Ja. Aber das dürfte dich kaum überraschen.

Danach hab ich’s noch mal bei Sloane probiert.

Sie ist nicht drangegangen.

Abendessen habe ich ausfallen lassen. Mom und Darren haben ohne mich gegessen. Als ich später runter bin, um mir was aus dem Kühlschrank zu holen, hat Mom mich blöd angemacht. Darren ist reingekommen, hat die kalte Pizza auf meinem Teller gepackt und in den Müll geschmissen. Danach hat er sich so lange vor dem Kühlschrank aufgebaut, bis ich wieder hoch in mein Zimmer bin.

Ich habe dann Fruchtgummis von dir gegessen. Was sich nach einer Weile komisch angefühlt hat, weil mir einfiel, dass sie bei uns keiner mehr kaufen wird, wenn du nicht zurückkommst.

Wenn ich Mom darum bitte, wird sie Nein sagen. Fruchtgummis gehören zu dir, und wenn du nicht da bist, haben sie in diesem Haus keinen Platz.

Ich weiß, dass das idiotisch ist. Ich weiß, dass ich sie mir selbst kaufen kann. Ich schreibe dir nur, was in meinem Kopf gerade abgeht.

Als ich schon im Bett war, ist Darren noch vorbeigekommen. Ich hasse es, wenn er das tut. Er bleibt immer im Türrahmen stehen, als hätte ich eine ansteckende Krankheit.

»Ungewöhnlich still hier«, sagte er.

»Jep.« Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als würde ich schlafen. Er merkt immer, wenn ich wach bin.

»Kein Wunder ohne deine Schwester, die ständig ihre Musik laut aufdreht.«

Ich habe mir verkniffen, ihn darauf hinzuweisen, dass es nicht mehr still war, weil er mich vollquasselte. Ich wiederholte nur: »Jep.« Wenn man ihm keine Angriffsfläche bietet, langweilt er sich und lässt einen in Ruhe. Normalerweise funktioniert das.

»Du bist nicht wie sie«, sagte er. »Du bist nicht aus demselben Holz geschnitzt.«

Ich glaube, das meinte er als Lob.

Trotzdem, so wie er es sagte?

Es klang fast wie eine Beleidigung.

Es klang fast so, als wollte er mich anstacheln, auch abzuhauen.

Du hast es von Anfang an gespürt, oder?

Als Darren ein Teil unseres Lebens wurde, war ich bereit, ihn zu meinem Vater zu machen. Ich habe ihn mit meinen Buntstiften in unsere Familienfotos hineingezeichnet. Habe jede Fernsehsendung geguckt, die er gucken wollte. Bin zu ihm gelaufen und habe ihn gefragt, ob er mit mir Fangen spielen will. Habe ihn bewundert, weil Mom ihn bewundert hat. Weil ich dachte, das würde jetzt von mir erwartet.

Aber du hast ihn von Anfang an durchschaut. Hast dich widersetzt und auf stur geschaltet. Hast am Vatertag Wutausbrüche bekommen. Hast ihm verweigern wollen, mit uns am Küchentisch zu sitzen. Ich bin mir sicher, dass du der Grund warst, warum sie ihre Hochzeit ohne uns beide gefeiert haben. Du hast von Anfang an erkannt, dass wir ihm egal waren. Er hat uns nie gemocht. Nur sie zählte für ihn. Vielleicht hast du sogar geahnt, dass wir ihr auch bald egal sein würden. Dass für sie nur noch er zählte.

Du hast für unsere kleine Familie, so wie sie war, gekämpft und hast verloren. Ich habe ihm unser Leben mit einem braven Lächeln und einer selbst gebastelten Willkommenskarte auf dem Silbertablett überreicht.

Klar denke ich auch daran, von zu Hause abzuhauen. Aber genauso klar ist mir, dass ich nicht weiter als bis zu Terrence abhauen kann. Realistischerweise. Weiter als bis zu ihm habe ich nichts. Niemanden. Ich meine, irgendwo da draußen habe ich jetzt natürlich dich. Aber im Moment kann ich dorthin nicht. Deine Entscheidung, nicht meine.

Es war schon spät, trotzdem habe ich ihn angerufen.

»Woran denkst du gerade?«, fragte er. Er hat mich nicht gefragt, weshalb ich ihn anrief. Er beschwerte sich nicht, dass ich ihn aufgeweckt hatte, wies nicht darauf hin, dass es ja mitten in der Nacht sei.

»Es ist so still hier«, sagte ich. Und dann sagte ich auf einmal etwas, das ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesagt habe, jedenfalls nicht, soweit ich mich erinnern kann. Ich sagte: »Ich bin ganz allein.«

»Nein, bist du nicht«, antwortete Terrence.

Und das war es. Das war, was ich gebraucht hatte. Zu spüren, dass noch jemand da war. Dass mir jemand geblieben war.

Ich weiß, du denkst, ich bin noch zu jung. Ich weiß, du denkst, Terrence und ich sind beide noch zu jung. Aber das ist mir egal. Ich bin alt genug, um einen anderen Menschen zu brauchen.

Ich kann mich nicht daran erinnern, was die letzten Worte waren, die ich zu dir gesagt habe. Das macht mich wahnsinnig. Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie so wichtig sein würden.

Ich sollte diese Mail jetzt abschicken. Der Unterricht fängt gleich an. Mrs Goldsmith hat vorhin die Bibliothek für mich aufgeschlossen, als sie gekommen ist. Joe wollte los, um Sloane zu finden.

Ich will dich finden.

Schreib mir.

Ezra

Betreff: Mittagspause

Von: Ezra <[email protected]>

An: Bea <[email protected]>

Datum: Mittwoch, 27. März, 12:04 EST

Bei deiner Mail von gestern ist eine andere Zeitzone angegeben. Hast du mir deshalb noch nicht geschrieben?

Betreff: Nachmittags

Von: Ezra <[email protected]>

An: Bea <[email protected]>

Datum: Mittwoch, 27. März, 14:06 EST

Es macht mich noch total verrückt, immer wieder meinen Mailaccount zu checken und nie eine Antwort von dir zu finden. Ich hoffe, dir ist das bewusst.

Sloane verhält sich merkwürdig. Aber anders neben der Spur als Joe und ich, weil wir dich vermissen und unbedingt wissen wollen, wie es dir geht.

Am Ende der Mittagspause habe ich sie endlich abgefangen. Nachdem ich meine Mails gecheckt und gesehen hatte, DASSDUMIRIMMERNOCHNICHTGEANTWORTETHAST. (Okay, weiter im Text.) Ich weiß, dass Sloane mich immer für die Pest gehalten hat, dein übereifriges, unterwürfiges Anhängsel. (Ich habe mich immer bemüht, eine liebenswerte Pest zu sein. Das schwöre ich. Eher eine Maus als eine Ratte.) Ihre Genervtheit wirkte auf mich trotzdem immer wie Teil des Spiels. Aber als sie mich diesmal gesehen hat, hatte ich das Gefühl, dass sie am liebsten davongerannt wäre. Es war, als könnte sie meinen Anblick nicht ertragen.

Doch ich vermute mal, sie wusste auch, dass sie früher oder später mit mir würde reden müssen. Deshalb ist sie nicht wirklich davongerannt.

»Weißt du irgendwas?«, fragte ich, als ich vor ihr stand. »Hat sie dir irgendwas gesagt?«

Und weißt du, was sie darauf geantwortet hat?

»Sie erzählt mir schon lange nichts mehr.«

Und dann, als sie meinen fragenden Gesichtsausdruck bemerkte, fügte sie noch hinzu: »Lass sie einfach in Ruhe. Wenn sie allein sein will, dann lass sie. Das ist es nämlich, was sie will – allein sein. Wir anderen sind ihr doch alle total egal. Glaub bloß nicht, dass das was mit dir zu tun hat. Es hat mit ihr zu tun. Ausschließlich mit ihr. So geht sie nämlich mit der Welt um.«

Sloane verhielt sich, als hätte sie mit dir völlig abgeschlossen. Als wollte sie sich von dir oder irgendeiner Sache reinwaschen. Aber ich habe genau gespürt, dass du noch an ihr klebst. Was weiß sie? Ich frage das dich, weil sie es mir niemals erzählen wird. Und nicht mal, weil sie mich nicht mag, sondern weil sie findet, dass es unter ihrer Würde ist, mir zu antworten. Weil ich es ihrer Meinung nach nicht verdiene, mehr zu erfahren.

Ehrlich, ich geb’s zu, da bin ich ausgerastet. Ich hab sie angefahren: »Wie lange kennst du Bea? Drei Jahre? Jetzt sag ich dir mal was: Ich kenne sie schon mein ganzes Leben. Sie ist meine Schwester. Ich weiß, dass das alles nichts mit mir zu tun hat. Trotzdem betrifft es mich. Es geht mich etwas an, okay? Kannst du gefälligst wenigstens das akzeptieren?«

Sie hat mich angeschaut, als wäre ich so nutzlos wie ein Kühlschrank am Nordpol. Dann ist sie gegangen.

Jemandem wie mir war sie überhaupt nichts schuldig.

Ach ja, Lisa Palmer hat mir gesagt, dass ihre Schwester sie gebeten hat, mich zu fragen, wo du steckst. Ich glaube, es gibt hier mehrere, die sich so ihre Gedanken machen.

Hilf mir, das alles besser zu verstehen.

Ezra

Betreff: Mitternacht

Von: Ezra <[email protected]>

An: Bea <[email protected]>

Datum: Mittwoch, 27. März, 23:56 EST

Ja, ich schreibe dir von meinem Handy.

Ist dir klar, wie brutal es ist, dass du schweigst?

Brutal, aber vielleicht typisch für dich?

Betreff: Re: Mitternacht

Von: Ezra <[email protected]>

An: Bea <[email protected]>

Datum: Donnerstag, 28. März, 00:05 EST

Tut mir leid. Das war nicht fair.

Ich weiß, dass es nicht gegen mich geht. Du hast jetzt bestimmt jede Menge andere Dinge zu tun.

Trotzdem.

Betreff: Das ist kein Aprilscherz

Von: Ezra <[email protected]>

An: Bea <[email protected]>

Datum: Donnerstag, 28. März, 12:15 EST

Du hast es geschafft, mein Fluch ist endlich durchbrochen!

Das erste Mal in meiner Schulkarriere bin ich ins Sekretariat gerufen worden, und zwar über Lautsprecher! Höchste Aufmerksamkeit, am Ende der Morgendurchsage! »Ezra Ahern, bitte ins Sekretariat kommen. Der stellvertretende Direktor Southerly möchte dich sprechen.«

Ich konnte es kaum fassen. Zuerst dachte ich, ich hätte mir das eingebildet. Aber dann fiel mir auf, dass alle mich anstarrten, und Justin Ling rief: »Oooooh … was hast du denn angestellt?«

Ich murmelte irgendwas von wegen ich hätte keine Ahnung. Du hättest daraus natürlich eine Megaszene gemacht, dir den Ruf ins Sekretariat wie einen Orden an die Brust geheftet. Als offiziell beglaubigte Unruhestifterin.

Ich habe es gerade noch hingekriegt, nicht mit den Knien zu schlottern, als ich das Büro betreten habe.

»Ezra?«, fragte die Sekretärin. Ich merkte, wie sie sich mein Aussehen einprägte, fürs nächste Mal.

Ich nickte. Sie zeigte auf das Büro von Mr Southerly.

Ich ging hinein. Er saß gerade an seinem Computer, lächelte, als er mich sah, und machte eine Handbewegung, dass ich mich setzen solle. Er war sehr freundlich zu mir, womit ich nicht gerechnet hatte.

»Also«, sagte er, »ich will gleich zur Sache kommen. Weißt du zufällig, ob deine Schwester vorhat, wieder in die Schule zu kommen? Ich frage dich das, weil sie bereits den dritten Tag in Folge fehlt, und als wir bei euch zu Hause angerufen haben, hat keiner abgehoben. Was meistens heißt, dass eine Familie während der Schulzeit Urlaub macht – aber weil du ja hier bist und deine Schwester nicht das erste Mal unentschuldigt fehlt, fühle ich mich dazu verpflichtet, jetzt einmal nachzufragen, was mit ihr los ist.«

Es war ein merkwürdiges Gefühl. Ein Erwachsener führte mit mir ein ernsthaftes, vernünftiges Gespräch. Vielleicht habe ich ihm deshalb eine ehrliche Antwort gegeben.

»Ich weiß es auch nicht wirklich«, sagte ich. »Aber es sieht so aus, als würde sie eher nicht an die Schule zurückkehren.«

»Ist sie zu Hause? Könnte ich vielleicht einmal mit ihr reden?«

»Nein, Mr Southerly«, sagte ich. »Ich glaube nicht, dass das möglich ist.«

Mom und Darren würden mich für diese Antwort lynchen, das wusste ich. Aber was hätte ich denn sagen sollen? Es war die Wahrheit.

Mr Southerly schaute mich an. In seinem Blick lag keine Drohung. Wenn ich darin irgendetwas spürte, dann eine Andeutung von Verständnis für das, was in mir vorging.

»Beatrix ist achtzehn«, sagte er, »deshalb habe ich keine Möglichkeit, in irgendeiner Weise einzugreifen. Und du sollst für mich auch nicht den Boten spielen. Ich möchte nur, dass du weißt, ich mache mir Sorgen um sie. Und dass du weißt, ich bin für euch beide da. So etwas wie die Schule hält man in ihrem Alter oft für unwichtig und einen Abschluss zu machen genauso. Aber sie sollte auch an ihre Zukunft denken. Du musst mir nicht sagen, wo sie sich aufhält … aber weißt du, ob es ihr gut geht?«

»Glaub schon.«

»Ist bei euch zu Hause irgendetwas vorgefallen? Gibt es Probleme?«

Da verließ mich meine Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit. Ich konnte ja schlecht antworten: Bei uns zu Hause gibt es immer Probleme. Das wäre ja wie eine Einladung gewesen, bei mir noch weiter nachzuhaken. Und dann hätte ich noch mehr Probleme bekommen.

Das Merkwürdige war: Ich hatte das Gefühl, dass Mr Southerly die ehrliche Antwort bereits kannte. Vielleicht hast du doch einen stärkeren Eindruck hinterlassen, als du glaubst. Oder vielleicht hat Mr Southerly so etwas ja schon öfter miterlebt. Vielleicht ist eine Familie wie unsere gar nicht so selten, Bea. Ist das nicht unendlich traurig?

»Nichts Besonderes in letzter Zeit«, sagte ich.

Er nickte. Musterte mich dabei.

»Gut«, sagte er und stand von seinem Schreibtisch auf. »Falls du mich brauchst, ich bin immer für dich da. Ich versuche weiter, mit deinen Eltern Kontakt aufzunehmen. Ich werde ihnen nicht erzählen, dass wir uns hier miteinander unterhalten haben – was in diesem Büro gesagt wurde, bleibt auch hier. Du kannst jederzeit zu mir kommen. Verstanden?«

Jetzt sah ich ihn an und nickte. Obwohl ich mich nur noch verdrücken wollte.

Ich kann nicht die ganze Mittagspause an dich schreiben. Ich habe noch andere Dinge zu erledigen. Und du sollst mir endlich antworten.

Ezra

Betreff: Sorry

Von: Bea <[email protected]>

An: Ezra <[email protected]>

Datum: Donnerstag, 28. März, 03:09 CST

Ezra,

wenn ich dir alles erklären könnte, glaub mir, dann würde ich es tun!

Ich

Betreff: Mehr von mir

Von: Bea <[email protected]>

An: Ezra <[email protected]>

Datum: Donnerstag, 28. März, 03:26 CST

Ez,

ich hätte dir diese Mailadresse nie geben sollen. Es ist immer das Gleiche mit dir. Ich kann nicht alles hinkriegen, was ich hinkriegen muss, und mich gleichzeitig um dich kümmern. Ich war nie gut darin, zwei Dinge gleichzeitig zu tun, das weißt du.

Ich glaube nicht, dass du eine Ahnung davon hast, wie es sich anfühlt, dauernd alle um dich herum zu enttäuschen. Nein, anders: Ich weiß, dass du nicht weißt, wie das ist. Du kleiner Überflieger! Es überrascht mich nicht, dass Mom und Darren nicht wirklich beunruhigt und aufgewühlt sind. Trotzdem wäre es schön gewesen zu hören, dass sie sich wenigstens etwas Sorgen machen, ob es mir auch gut geht oder ob mir vielleicht etwas zugestoßen ist.

Ich will jetzt nicht in der Vergangenheit kramen, aber erinnerst du dich an damals, als ich mit elf vom Fahrrad gefallen und den ganzen Tag mit einem gebrochenen Arm herumgelaufen bin, bis sie endlich von der Arbeit nach Hause kamen und beschlossen haben, mit mir ins Krankenhaus zu fahren – nachdem sie sich vergewissert hatten, dass ich nicht bluffte? Als ob ich jemals solche Dinge erfunden hätte. Ich habe sehr früh im Leben gelernt, dass ein Aua oder eine Krankheit vorzutäuschen kein Mittel war, um mehr Zuwendung zu bekommen.