Two Boys Kissing – Jede Sekunde zählt - David Levithan - E-Book
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Two Boys Kissing – Jede Sekunde zählt E-Book

David Levithan

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Beschreibung

Poetisch, mitreißend und tief bewegend: David Levithans Meisterwerk jetzt als Taschenbuch »Harry küsst Craig und spürt etwas, das größer ist als sie beide, etwas, das über den Kuss hinausreicht. Er greift nicht danach – noch nicht. Aber er weiß, dass es da ist. Und damit wird dieser Kuss anders als all ihre anderen Küsse zuvor. Das weiß er sofort.« Craig und Harry wollen ein Zeichen für alle schwulen Jungs setzen. Dafür küssen sie sich. 32 Stunden, 12 Minuten und 10 Sekunden. So lange dauert es, um den Weltrekord im Langzeitküssen zu brechen. So lange dauert es, sich über die Gefühle füreinander klarzuwerden, nachdem man sich doch eigentlich gerade getrennt hat. So lange dauert es, das Leben aller schwulen Pärchen in der Umgebung für immer zu verändern … Geschickt verwebt David Levithan all ihre Geschichten zu einer großen Geschichte über queere Jugendliche von heute. Vor allem aber beschreibt er in poetischen Worten die Liebe in all ihren Facetten. - Vielschichtiges Portrait queerer Lebenswelten - Gefühlvoll und einzigartig erzählt - Favorit der Leipziger Jugend Jury

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Seitenzahl: 272

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David Levithan

Two Boys Kissing – Jede Sekunde zählt

Aus dem Amerikanischen von Martina Tichy

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungTeil 1Teil 2Nachwort und Danksagung des Autors

Aus sehr unterschiedlichen Gründen

gäbe es diesen Roman nicht ohne

 

Robert Levithan,

Matty Daley

und

Michael Cart.

 

Er ist den dreien gewidmet.

Ihr könnt nicht wissen, wie es jetzt für uns ist – da werdet ihr immer einen Schritt hinterher sein.

Seid dankbar dafür.

Ihr könnt nicht wissen, wie es damals für uns war – da werdet ihr immer einen Schritt voraus sein.

Seid dankbar, auch dafür.

Glaubt uns: Vergangenheit und Zukunft lassen sich so gut wie perfekt ausbalancieren. Wir werden zur fernen Vergangenheit, ihr zu einer Zukunft, die sich nur wenige von uns hätten vorstellen können.

Wer will schon über so was nachdenken, wenn man mit Träumen, Lieben oder Vögeln beschäftigt ist. Wo ist da der Zusammenhang. Wir sind eine Geisterlast, die ihr mit euch herumtragt, wie die eurer Großeltern oder der Freunde aus Kindertagen, die irgendwann weggezogen sind. Wir versuchen euch die Last so leicht wie möglich zu machen. Und müssen bei eurem Anblick doch immer an uns selbst denken. Einst waren wir es, die träumten und liebten und vögelten. Einst waren wir es, die lebten – und dann gestorben sind. Wir haben uns um eine Fadenbreite in eure Geschichte eingenäht.

Wir waren einmal wie ihr, aber unsere Welt war nicht wie die eure.

Ihr habt keine Ahnung, wie nah ihr dem Tod gekommen seid. Ein, zwei Generationen früher wärt ihr vielleicht hier bei uns.

Wir sind sauer auf euch. Ihr verblüfft uns.

 

 

 

Es ist sieben Minuten nach acht an einem Freitagabend, und Neil Kim denkt gerade an uns. Er ist fünfzehn und auf dem Weg zu seinem Freund Peter. Sie sind seit einem Jahr zusammen, und Neil überlegt, wie lange ihm das schon vorkommt. Von Anfang an haben ihm alle gesagt, es würde nicht von Dauer sein. Aber auch wenn es nicht für die Ewigkeit sein sollte, hält es vom Gefühl her schon so lange, dass es etwas zu bedeuten hat. Für Peters Eltern ist Neil wie ein zweiter Sohn, und seine eigenen Eltern sind zwar immer noch abwechselnd durcheinander und bekümmert, aber sie halten ihm weiter alle Türen offen.

Neil hat zwei DVDs, zwei Flaschen Diet Dr Pepper, Plätzchenteig und einen Gedichtband in seinem Rucksack. Mehr als das – und Peter – braucht er nicht, um sich rundum glücklich zu fühlen. Doch Glück, das haben wir gelernt, ist eigentlich ein Teil einer unsichtbaren Gleichung. Zwei Querstraßen von Peters Elternhaus entfernt ahnt Neil das und empfindet plötzlich tiefe, namenlose Dankbarkeit. Ihm wird klar, dass sein Platz in der Menschheitsgeschichte einiges zu seinem Glückszustand beiträgt, und er denkt flüchtig an uns, an diejenigen, die vorher da waren. Wir sind keine Namen oder Gesichter für ihn; wir sind eine Abstraktion, eine Macht. Seine Dankbarkeit hat Seltenheitswert – ein durchschnittlicher Fünfzehnjähriger wäre wohl eher dankbar für die Diet Dr Pepper als dafür, dass er gesund und munter ist und seinen Freund besuchen gehen kann, in der festen Überzeugung, genau das Richtige zu tun.

Neil hat keine Ahnung, wie schön er ist, als er da durch den Vorgarten geht und auf die Türklingel drückt. Er hat keine Ahnung, wie schön das Gewöhnliche wird, wenn es verschwunden ist.

 

 

 

Wenn ihr jetzt im Teenageralter seid, werdet ihr wohl kaum etwas von uns wissen. Wir sind eure Schattenonkel, eure Engelpaten, der beste Freund eurer Mutter oder Großmutter aus Collegezeiten, der Autor des Buchs, das ihr in der Schwulen- und Lesbenabteilung der Bücherei gefunden habt. Wir sind Figuren aus einem Stück von Tony Kushner oder Namen auf einer Quiltdecke, die nur noch selten aus dem Schrank genommen wird. Wir sind die Geister dessen, was von der älteren Generation noch übrig ist. Ihr kennt ein paar von unseren Songs.

Wir wollen euch nicht zu schwer im Nacken sitzen. Was wir hinterlassen, soll euch nicht bedrücken. So würdet ihr nicht leben wollen, und so soll man sich auch an euch nicht erinnern. Es wäre ein Fehler, unser Sterben als unsere große Gemeinsamkeit anzusehen. Das Leben bis dahin war wichtiger.

Wir haben euch Tanzen gelehrt.

 

 

 

Doch, es stimmt. Seht euch Tariq Johnson auf der Tanzfläche an. Im Ernst jetzt – seht ihn euch an. Einen Meter siebenundachtzigeinhalb groß und einundachtzig Kilo schwer, was sich mit den richtigen Klamotten und dem richtigen Song in eine Masse unbändiger Freude verwandeln lässt. (Die richtige Frisur schadet auch nicht.) Er bewegt sich, als bestünde er aus Feuerwerkskörpern, die einer nach dem anderen im Takt der Musik zünden. Tanzt er für sich oder mit allen anderen im Raum? Lasst euch etwas verraten: Es spielt keine Rolle. Er ist zwei Stunden bis hierher in die Stadt gefahren, und wenn das Ganze vorbei ist, wird er mehr als zwei Stunden brauchen, um wieder nach Hause zu kommen. Aber das ist es wert. Freiheit heißt nicht nur, wählen gehen und heiraten und sich auf der Straße küssen zu dürfen, auch wenn das alles durchaus wichtig ist. Freiheit lässt sich auch daran messen, was man sich selbst zugesteht. Wir beobachten Tariq, wenn er in der Spanischstunde Phantasielandkarten in sein Heft zeichnet. Wir beobachten ihn, wenn er in der Cafeteria sitzt und verstohlen älteren Jungs nachschaut. Wir beobachten ihn, wenn er Klamotten auf sein Bett drapiert und sich ausmalt, wer er heute Abend sein wird. Wir haben jahrelang nichts anderes getan. Und genau darauf haben wir uns gefreut, auf eben das, worauf Tariq sich freut. Auf diese Befreiung.

Die Musik ist gar nicht so anders als zu der Zeit, da wir auf die Tanzfläche stürmten. Das hat etwas zu bedeuten. Wir haben etwas Universelles gefunden. Wir haben jenes Verlangen unter Verschluss gehalten und dann in den Äther entlassen. Der Sound kriegt euch zu fassen, ihr kommt in Bewegung.

Wir stecken in den Teilchen, die euch in Gang setzen. Wir stecken in dieser Musik.

Tanz für uns, Tariq.

Spür uns in deiner Freiheit.

 

 

 

Es war schon eine ganz besondere Ironie: Genau an dem Punkt, als wir uns nicht mehr umbringen wollten, ging es für uns mit dem Sterben los. Genau in dem Moment, als wir begannen, uns stark zu fühlen, wurde uns die Stärke genommen.

Das soll euch nicht passieren.

Die Erwachsenen können lange reden von wegen, in der Jugend fühle man sich unbesiegbar. Klar, manche von uns waren so drauf. Aber es gab auch die düstere innere Stimme, die uns sagte, wir seien zum Untergang verdammt. Und das waren wir dann auch. Und wiederum auch nicht.

Ihr sollt euch niemals zum Untergang verdammt fühlen.

 

 

 

Es ist siebzehn Minuten vor neun an demselben Freitagabend, und Cooper Riggs ist nirgendwo. Er ist in seinem Zimmer, allein, und es fühlt sich an wie nirgendwo. Er könnte woanders sein, umgeben von Menschen, und es käme ihm trotzdem vor wie nirgendwo. In seinen Augen ist die Welt flach und öde. Alle Empfindungen sind aus ihr herausgeströmt, und stattdessen rast ihre Energie durch seine hektischen Hirnwindungen und gibt wütende, frustrierte Laute von sich. Er sitzt auf seinem Bett und ringt mit sich, was er tun soll, und letztlich fällt ihm nur ein, ins Internet zu gehen, denn dort ist das Leben ebenso flach wie in Wirklichkeit, nur ohne die Erwartungen des realen Lebens. Er ist erst siebzehn, aber online kann er zweiundzwanzig, fünfzehn oder siebenundzwanzig sein. Wie immer sein Gegenüber ihn haben will. Er hat gefakte Profile und Fotos, gefakte Statusmeldungen und Lebensgeschichten. Die Chats sind größtenteils ebenfalls gefakt, jede Menge Flirterei, über die es nie hinausgehen wird, kleine Funken, die nie ein Feuer entfachen werden. Er gibt es nicht zu, aber eigentlich möchte er von etwas Echtem überrascht werden. Er öffnet sieben Websites gleichzeitig, lenkt sich ab, trickst sich raus aus dem Nirgendwo, auch wenn es sich immer noch danach anfühlt. Er verliert sich so sehr in der Suche, dass nichts anderes mehr wichtig scheint und die Zeit wertlos wird, nur dazu da, um sie mit wertlosen Dingen herumzubringen.

 

 

 

Wir wissen, dass manche von euch immer noch Angst haben. Wir wissen, dass manche von euch immer noch den Mund halten. Nur weil es jetzt besser ist, heißt das noch lange nicht, dass es immer gut ist.

Träumen und lieben und vögeln. Nichts davon definiert uns. Vielleicht in den Augen anderer, aber nicht für uns. Wir sind so viel komplizierter als das.

Wir würden euch gern einen Schöpfungsmythos liefern, einen genauen Grund, warum ihr so seid, wie ihr seid, warum ihr wisst, dass es um euch geht, wenn ihr diesen Satz lest. Aber wir wissen nicht, wie es angefangen hat. Wir haben ja kaum unsere eigene Zeit verstanden. Wir sammeln alles, was wir gelernt haben, und das reicht bei weitem nicht, um ein Leben zu füllen.

Du wirst den Geschmack von Froot Loops vermissen.

Und die Verkehrsgeräusche.

Seinen Rücken an deinem.

Und sogar, wie er dir immer die Decke geklaut hat.

Lass all das nicht außer Acht.

 

 

 

Wir hatten kein Internet, aber wir hatten ein Netzwerk. Wir hatten keine Websites, aber es gab Orte, an denen wir unsere Netze webten. Meist in den großen Städten. Selbst halbe Kinder wie Cooper oder Tariq konnten sie aufspüren. Landungsbrücken und Coffee Shops. Stellen im Park und Buchhandlungen, wo Wilde, Whitman und Baldwin als Bastardkönige regierten. Das waren die sicheren Häfen, auch wenn wir lieber nicht zu offen waren, aus Furcht, uns offenen Angriffen auszusetzen. Es war Trotz in unserem Glück, Trotz und Furcht. Manchmal blieb alles anonym, manchmal war man von Freunden und deren Freunden umgeben. So oder so war man verbunden. Durch die Sehnsüchte. Durch den Trotz. Durch die schlichte, komplizierte Tatsache, wer man war.

Außerhalb der großen Städte waren die Verbindungen schwerer zu erkennen, das Netz dünner, die Orte schwerer zu finden. Aber wir waren da. Selbst wenn wir glaubten, wir seien die Einzigen, wir waren da.

 

 

 

Kaum etwas kann uns so glücklich machen wie ein Schwulenball.

Eben jetzt, an diesem Freitagabend um drei Minuten nach neun, sind wir in einem Ort mit dem kuriosen Namen Kindling – entweder wünschten die Pioniere, die diese Siedlung »Feuerholz« nannten, sich glühend den Tod herbei, oder es war einfach ein Tribut an das brennende Reisig, das die Siedler am Leben hielt. Irgendwann im Lauf der Zeit hat jemand offenbar die Lektion des dritten Schweinchens gelernt, denn das Gemeindezentrum ist ein reiner Ziegelbau – ein öder, stiller Klotz in einem öden, stillen Ort, von der Architektur her so ansprechend wie das Wort kommunal. Unwahrscheinlich, dass sich hier ein Junge mit blauen und ein Junge mit pinken Haaren über den Weg laufen.

In Kindling gibt es nicht genügend schwule Kids für einen eigenen Ball. Deshalb kommen heute Abend die Autos von nah und fern. Manche sind mit Pärchen bestückt, sie lachen oder streiten oder sitzen stumm in sich versunken da. Manche Jungs kommen alleine – sie haben sich aus dem Haus geschlichen, wollen im Gemeindezentrum Freunde treffen oder haben die Ankündigung online entdeckt und in letzter Minute beschlossen hinzugehen. Jungs in Smokings, Jungs mit Blumenschmuck, Jungs in zerrissenen Kapuzenpullis, Jungs mit Krawatten so schmal wie ihre Jeans, Jungs in ironisch gemeinten Taftkleidern, Jungs in nicht ironisch gemeinten Taftkleidern, Jungs in T-Shirts mit V-Ausschnitt, Jungs, die sich in ihren Abendschuhen unwohl fühlen. Und Mädels … Mädels auch in all diesen Klamotten, unterwegs zu demselben Ort.

Zu unseren Bällen gingen wir mit Mädchen. Manche von uns hatten Spaß; andere fragten sich Jahre später, wie wir so blind dafür sein konnten, wer und was wir wirklich waren. Ein paar von uns schafften es, miteinander hinzugehen und uns von unseren besten Freundinnen decken zu lassen, so dass es wie ein Date aussah. Wir waren bei diesem Ritual willkommen, aber nur, wenn wir uns an die Regeln hielten. Eher hätte Neil Armstrong uns zu einem Ball auf dem Mond geladen, als dass wir zu einem Ball wie dem heute Abend in Kindling hätten gehen können.

Als wir auf der High School waren, bestand das Haarspektrum aus dem langweiligen Sortiment schwarz/braun/rot/blond/grau/weiß. Doch heute Abend in Kindling kommt Ryan ins Gemeindezentrum und hat die Haare blau gefärbt. Zehn Minuten später kommt Avery, die Haare knallpink wie ein Mary-Kay-Cadillac. Ryans Kopfstacheln erinnern an einen felsigen Meeresboden, Avery fallen die Strähnen sacht bis über die Augen. Ryan ist aus Kindling, Avery aus Marigold, vierzig Meilen weiter. Man sieht sofort, dass sie sich hier und jetzt zum ersten Mal begegnen werden.

Über die Sache mit den Haaren sind wir uns nicht so ganz einig. Manche von uns finden es lächerlich, blaues oder pinkes Haar zu haben. Andere fänden es schön, zurückzugehen und unser Haar so aussehen zu lassen wie die Götterspeise, die unsere Mütter uns nachmittags immer vorsetzten.

Wir sind uns selten über irgendetwas einig. Manche von uns konnten lieben. Manche nicht. Manche von uns wurden geliebt. Manche nicht. Manche von uns kapierten nie, was die ganze Aufregung eigentlich sollte. Andere wollten sie so sehr, dass sie daran starben. Manche von uns schwören, dass wir an gebrochenem Herzen gestorben sind und nicht an AIDS.

Ryan kommt zu dem Ball, und zehn Minuten später kommt Avery herein. Wir wissen, was passieren wird. Solche Szenen haben wir schon so oft mit angesehen. Wir wissen nur nicht, ob es hinhaut und ob es von Dauer ist.

Wir denken an die Jungs, die wir geküsst, gevögelt und geliebt haben, an die Jungs, die unsere Liebe nicht erwidert haben, an die, die am Ende und darüber hinaus bei uns waren. Die Liebe tut so weh, wie kann man sie jemandem wünschen? Die Liebe ist so grundlegend, wie kann man ihr im Wege stehen?

Ryan und Avery sehen uns nicht. Sie kennen uns nicht, brauchen uns nicht, spüren uns nicht bei sich in dem Raum. Selbst einander sehen sie erst, als der Ball schon ungefähr zwanzig Minuten im Gang ist. Ryan sieht Avery über den Kopf eines Dreizehnjährigen mit (im Ernst, so schwul) Hosenträgern in Regenbogenfarben. Erst sticht ihm Averys Haar ins Auge, dann Avery selbst. Und Avery sieht genau in dem Moment hoch und entdeckt den blauhaarigen Jungen, der zu ihm hinschaut.

Manche von uns klatschen Beifall. Andere gucken weg, weil es zu sehr schmerzt.

Wir haben unseren eigenen Beitrag zum Bereich des Magischen immer unterschätzt. Wir dachten, Magie würde auch ohne uns existieren. Aber das stimmt nicht. Sie rührt nicht daher, dass irgendeine fremde Macht sie für uns heraufbeschwört. Wir erschaffen sie selbst und erleben sie dann. Über den Moment, an dem sie zum ersten Mal miteinander gesprochen, zum ersten Mal miteinander getanzt haben, werden Ryan und Avery sagen, er sei magisch gewesen. Doch sie waren es – nichts und niemand sonst –, die ihm Magie verliehen haben. Das wissen wir. Wir waren da. Ryan hat sich dafür geöffnet. Avery hat sich dafür geöffnet. Und mehr als diese Offenheit brauchen sie nicht. Darin liegt die Magie.

Aufgepasst. Der blauhaarige Junge macht den Anfang. Lächelnd nimmt er die Hand des pinkhaarigen Jungen. Er spürt, was wir wissen: Das Übernatürliche ist völlig natürlich, und Staunen kann sich aus den banalsten Dingen ergeben, einem Herzschlag oder einem Blick. Der pinkhaarige Junge hat Angst, so fürchterliche Angst – nur was man sich am meisten wünscht, kann einem solche Angst machen. Hört ihren Herzschlag. Hört genau hin.

Und jetzt tretet zurück. Seht euch die anderen Kids auf der Tanzfläche an. Die unbekümmerten Außenseiter, die zerrissenen Rebellen, die Furchtsamen und die Tapferen. Tanzend oder nicht tanzend. Redend oder schweigend. Aber alle in demselben Raum, alle an demselben Ort, kommen sie hier zu etwas zusammen, was früher nicht erlaubt war.

Tretet noch weiter zurück. Wir stehen in den Kulissen.

Sagt Hi, wenn ihr uns seht.

 

 

 

Schweigen ist gleich Tod, haben wir immer gesagt. Und darunter verbarg sich die Vermutung – die Furcht –, dass Tod gleich Schweigen war.

Manchmal bekommt ihr eine Ahnung von diesem Schrecken. Wenn jemand, der euch nahesteht, krank wird. Oder in den Krieg geschickt. Wenn jemand, der euch nahesteht, sich das Leben nimmt.

Jeden Tag ein neues Begräbnis. Wie viel Raum nahm das in unserem Leben ein. Stell dir vor, in deiner Schule würde jeden Tag ein Schüler sterben. Manche sind Freunde von dir, andere einfach Klassenkameraden. Du gehst weiter hin, weil du weißt, dass dir nichts anderes übrigbleibt. Du wirst zum Erinnerungsträger, und zum Kummerträger, bis schließlich du es bist, der gegangen ist und betrauert wird.

Du hast keine Ahnung, wie schnell die Dinge sich ändern können. Wie schnell die Jahre vergehen und Leben enden können.

Ignoranz ist kein Segen. Segen heißt, voll und ganz zu wissen, was dir geschenkt worden ist.

 

 

 

Es ist viertel vor elf. Craig Cole und Harry Ramirez planen ihren großen Kuss. Monatelange Vorbereitungen haben zu diesem Kuss geführt, und hier sind sie nun, am Abend davor. Für die meisten Küsse braucht es nur zwei Leute, aber für den hier braucht es letztlich mindestens ein Dutzend. Keiner der anderen ist momentan mit im Raum. Craig und Harry sind allein.

»Machen wir das jetzt echt?«, fragt Craig.

»Na klar«, gibt Harry zurück.

Sie wissen, dass sie ihren Schlaf brauchen. Morgen ist ein großer Tag. Es gibt kein Zurück mehr, und keine Garantie, dass sie es schaffen.

Sie sollten schlafen gehen, aber gute Gesellschaft ist der Feind des Schlafs. Wir erinnern uns so haargenau an dieses Gefühl – den Wunsch, Stunde um Stunde mit jemandem zu vertrödeln, zu reden, sich zu umarmen oder einfach bloß einen Film anzuschauen. In diesen Momenten erscheint die Anzeige der Uhr völlig willkürlich, weil das Zeitgefühl anderen, eigenen Maßstäben folgt.

Sie sind bei Harry zu Hause. Seine Eltern sind ausgegangen, der Hund schläft schon. Sie haben das Haus und vom Gefühl her die ganze Welt für sich. Warum sollte man davor die Augen verschließen?

Sie sind bei Harry, weil Craigs Eltern nichts von dem Kuss wissen dürfen. Früher oder später werden sie es erfahren. Aber nicht jetzt. Nicht bevor es soweit ist.

Irgendwann wird Craig zusammengerollt auf der Couch liegenbleiben. Harry wird ihn zudecken und dann auf Zehenspitzen zurück in sein Zimmer schleichen. Sie werden nicht am selben Ort sein, aber sehr, sehr ähnliche Träume haben.

Wir vermissen das Gefühl, zugedeckt zu werden, oder umgekehrt der gute Engel zu sein, der dem anderen die Decke bis über die Schultern zieht und ihm eine gute Nacht wünscht. Das sind die Betten, an die wir uns erinnern möchten.

Wir sind gespannt auf den Kuss morgen. Wir haben keine Ahnung, wie sie es anstellen wollen, aber wir hoffen das Beste.

 

 

 

Avery mit den pinken Haaren wurde als Junge geboren, in dem die übrige Welt ein Mädchen sah. Wir können verstehen, wie das ist – für jemanden gehalten zu werden, der man nicht ist. Aber wir konnten uns leichter verstecken. Die biologische Kette, die Avery sprengen muss, ist stärker gefügt. Schon als er noch ganz klein war, wurde seinen Eltern klar, was nicht stimmte. Seine Mutter meinte, sie hätte es womöglich von Anfang an gewusst und ihn deshalb Avery genannt – nach ihrem Vater, dessen Namen das Kind auf jeden Fall haben sollte, egal ob Junge oder Mädchen. Mit der Hilfe und dem Segen seiner Eltern – wenn auch nicht immer mit ihrem vollen Verständnis – richtete Avery sein Leben neu aus, wurde viele Meilen durch die Gegend gekarrt, nicht zum Tanzen oder zum Trinken, sondern um die Hormone zu bekommen, die seinem Körper die richtige Richtung weisen sollten. Und es hat funktioniert. Das sehen wir, wenn wir Avery jetzt vor uns haben, und sind dankbar für das Wunderwerk. Zu unserer Zeit hätte sein Körper ihn eisern in der Falle gehalten, gefangen in einer starrsinnigen Welt.

Beim Tanzen fragt sich Avery, ob Ryan wohl etwas davon merkt und sich vielleicht daran stört. Der blauhaarige Junge sieht ihn – soviel steht fest. Aber sieht er alles oder nur das, was er sehen will? Das ist immer eine der großen Fragen in der Liebe.

Ryan macht sich mehr Gedanken um die Zeit und was er damit anfangen soll. Er kann es nicht fassen, dass er hier, in den Tiefen des Gemeindezentrums von Kindling, jemanden gefunden hat. Da, wo er schwimmen gelernt hat. Wo er mit neun in der Freizeitliga Basketball gespielt hat. Wo er beim Kuchenverkauf und bei Blutspendeaktionen geholfen hat und wo er wählen gehen wird, wenn er alt genug dafür ist. Ja, es war auch hier, wo er sich zu seiner ersten Zigarette hinausgeschlichen hat und ein paar Jahre später zu seinem ersten Joint, aber nie hätte er sich vorgestellt, ausgerechnet an diesem Ort einen pinkhaarigen Jungen zu treffen und mit ihm zu tanzen. Er spürt, dass seine Freunde ihn vom Rand aus beobachten und darüber tuscheln, wie es wohl weitergehen wird. Das wüsste er selbst gern, und zwar noch viel dringender. Die Zeit läuft aus, aber wo läuft sie hin? Soll er aufhören zu tanzen und noch ein paar Takte mit diesem Jungen reden, bevor der DJ das letzte Stück auflegt und die Lichter wieder angehen? Oder sollten sie einfach so bleiben, von der Musik zueinander geführt, eingehüllt in einen Song?

Red mit ihm, würden wir gern sagen. Denn ja, die Zeit lässt sich durch Schweigen vertäuen, aber sie braucht Worte als Anker.

Wir wissen, wie es am besten für sie laufen müsste, und der DJ enttäuscht uns nicht. Wie alle DJs spielt er im Lauf des Abends einen Song, der ihm viel bedeutet und allen übrigen Anwesenden nichts. Im Nu leert sich die Tanzfläche, der Gesprächspegel steigt von Gesumm zu Geschrei, und vor der Herrentoilette bildet sich eine Schlange.

Avery und Ryan stehen stumm da. Keiner von beiden will gehen, wenn der andere noch bleiben will.

Schließlich sagt Avery: »Wie soll man dazu tanzen?«, und Ryan sagt: »Willst du einen Schluck Wasser?«

Ein Ausweg ist gefunden.

Der DJ öffnet die Augen und sieht, was er angerichtet hat. Eigentlich müsste er schleunigst einen anderen Song auflegen. Aber es ist so was wie eine Fernwidmung für den Jungen in Texas, den er liebt. Im nächsten Moment wählt er seine Nummer und hält das Handy hoch.

Nicht alle Songs müssen tanzbar sein. Es kommt immer wieder einer, der die Tänzer zurücklockt.

 

 

 

Das passiert, wenn du schwer krank wirst: Tanzen ist nicht länger real, sondern eine Metapher. Und meistens eine unschöne. Ich tanze, so schnell ich kann. Als wäre die Krankheit der Fiedler, der immer schneller spielt, und ein Fehltritt bedeutet den Tod. Du mühst dich und mühst dich, bis der Fiedler dich schließlich fertigmacht.

Das ist nicht die Art Tanz, an die du dich erinnern möchtest. Du möchtest dich an eine langsame Nummer erinnern, wie die bei Averys und Ryans letztem Tanz. Du möchtest dich so ans Tanzen erinnern wie Tariq, auf dem Nachhauseweg von seinem Abend im Club. Es ist erst elf – in der Partyzeitrechnung also noch nicht mal mittags –, aber er hat Craig und Harry versprochen, sich früh aufs Ohr zu legen, damit er morgen bei ihrem großen Kuss nicht wegdöst. Es ist ihm schwergefallen, sich von der Musik zu lösen, von dem Pulsieren, das sie auslöst. Jetzt versucht er noch ein bisschen daran festzuhalten, lässt sich Musik in die Ohren blasen und ignoriert die übrigen Geräusche in dem spätabendlichen Vorortzug. Es ist nicht dasselbe, weil es hier keine Jungs gibt, die man anschauen kann und von denen man angeschaut wird, bloß ein Bodensatz von Pendlern und ein paar Mädels, die von einer Broadwayshow kommen. Eine von ihnen hat vorhin Tariqs Blick gesucht, und er hat nur Netter Versuch, tut mir leid gelächelt, worauf sie sich wieder in ihr Theatermagazin vertieft hat.

Wenn man die Augen schließt, kann man eine Welt heraufbeschwören. Tariq schließt die Augen und sieht Schmetterlinge. Ihr Schwirren, wie sie zur Musik in seinem Kopf durch die Luft wirbeln. Das will er sein – auf der Tanzfläche und im Leben. Ein Schmetterling. Bunt und hoch hinaus.

Es ist etwas Besonderes an der Reinheit von Schmetterlingsträumen, an all dem, was Tanzen dir eröffnet, wenn du jung bist. Wenn es funktioniert, ist es mit dieser Freiheit nicht vorbei, nachdem der letzte Song verklungen ist. Du nimmst sie mit dir. Sie verhilft dir zu größeren Dingen.

Es entgeht dir nicht, wenn sie dir genommen wird.

 

 

 

Ryan und Avery spüren, wie ihre Worte sich zusammenfügen, spüren die schlichte Freude, in den gleichen Rhythmus zu finden, verwandte Gedanken zu denken. Ryans Freundin Alicia soll ihn mit nach Hause nehmen, sie drückt sich weiter hinten herum und wirft ihm dann und wann einen Blick zu. Ryan beachtet sie nicht – er und Avery bilden eine Festung gegen die Einsamkeit, sie reden darüber, in welchen Käffern sie wohnen und wie komisch es ist, auf einem Schwulenball zu sein. Ryan gefällt es, wie Averys Haare herabfallen, wie scheu und neugierig zugleich er schaut. Avery wiederum späht immer wieder verstohlen zur Spitze von Ryans V-Ausschnitt, zu seinen Jeans, seinen wunderschönen Händen.

Wir erinnern uns, wie es war, jemand Neuen kennenzulernen. Wie es war, jemandem Möglichkeiten einzuräumen. Man hält Ausschau aus seiner eigenen Welt und betritt dann die des anderen, ohne genau zu wissen, was man dort finden wird, aber in der Hoffnung, dass es etwas Gutes ist. Genau das tun Ryan und Avery gerade: in die Welt des anderen treten und gar nicht mitbekommen, dass du nicht mehr einsam bist. Du lässt die Einsamkeit hinter dir und merkst es nicht, weil du nicht den Wunsch verspürst zurückzublicken.

Dein Blick ruht auf ihm.

 

 

 

Vielleicht liegt es an der Diet Dr Pepper, die sie getrunken haben, jedenfalls sind Peter und Neil länger auf als erwartet. Ihr Date war ein Erfolg – wobei sie schon so lange zusammen sind, dass sie es nicht mehr als ein Date betrachten, sondern einfach als einen gemeinsamen Abend. Sie haben sich beide DVDs hintereinander angesehen, erst den Horrorfilm (für Neil), dann die Liebeskomödie (für Peter). Neil hat sich Mühe gegeben und weder über Peters Angstschweiß bei den Horrorszenen noch über seine Tränen bei dem voraussehbaren Happy End der Liebeskomödie gelächelt. Peter ist immer noch empfindlich, was das angeht, und Neil ist empfindsam genug, um es zu spüren … obwohl er seine Belustigung nicht immer für sich behalten kann. (»Alles okay mit dir?«, hat er während der Liebeskomödie gefragt, als Peter gerade besonders angespannt wirkte – und unwillkürlich in gespieltem Mitgefühl Peters Arm gedrückt, als dieser sagte: »Ich will bloß, dass es für Emma Stone gut ausgeht.«)

Weder Neils noch Peters Eltern haben sich bisher mit Übernachtungsbesuchen anfreunden können, darum ist Neil kurz vor Mitternacht aufgebrochen, und jetzt ist jeder in seinem Zimmer, sie machen sich bettfertig und reden derweil übers Internet miteinander. Hin und wieder ist einer von Neils koreanischen Verwandten online, doch zu Neils Erleichterung versucht keiner, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Peter ist nur für Neil erreichbar, zumindest um diese Uhrzeit.

Peter kann sich keinen hinreißenderen Anblick vorstellen als Neil im Pyjama. Es ist ein richtiger Pyjama – gestreifte, durchgeknöpfte Jacke und passend gestreifte Hose mit Gummizug. Er ist mindestens eine Nummer zu groß und lässt Neil aussehen, als wartete er darauf, im nächsten Moment von Mary Poppins ins Bett gesteckt zu werden. Peter trägt Boxershorts und ein T-Shirt mit der Aufschrift LEGALIZE GAY. Obwohl sie schon den ganzen Abend miteinander gequatscht haben, quatschen sie noch eine Stunde weiter, manchmal vor dem Computer, mit Blickkontakt, dann wieder lassen sie die Kameras zugucken, wie sie durchs Zimmer laufen, sich die Zähne putzen, Klamotten für morgen heraussuchen. Eine Intimität, die uns neidisch macht.

Irgendwann wird ihre Unterhaltung zu wolkig und muss ein Ende finden. Selbst Diet Dr Pepper verliert mit der Zeit an Wirkung. Aber es sind weiße, flauschige Wölkchen wie die, von denen kleine Kinder sich willig in den Schlaf tragen lassen. Peter wünscht Neil süße Träume, Neil wünscht ihm das Gleiche. Dann, ganz kurz, winken sie einander zu. Lächeln. Ein letzter Pyjama-Blick, dann gute Nacht.

 

 

 

Früher oder später müssen wir alle schlafen. Das ist der erste Hinweis für uns, dass der Körper immer das letzte Wort hat. Egal, wie glücklich wir sind, egal, wie sehr wir uns wünschen, der Abend würde ewig dauern, um den Schlaf kommen wir nicht herum. Eine übermütige Runde lang kann man sich vielleicht vor ihm drücken, aber der Körper meldet sich mit seinen Bedürfnissen immer wieder zu Wort.

Wir haben dagegen angekämpft. Ob wir uns nun geschworen hatten, im Dunkeln miteinander zu reden oder im zuckenden Licht miteinander zu tanzen, unsere Nächte sollten niemals enden. Der Gesprächsfaden sollte nicht abreißen, das Tanzen uns immer weiter treiben. Wir stopften uns voll, mit Kaffee, mit Zucker und stärkeren, riskanteren Substanzen. Aber immer nagte die Müdigkeit an uns und machte uns schließlich mürbe.

Anfangs bezeichneten wir den Schlaf scherzhaft als Feind, das Übel schlechthin. Warum im Haus des Schlafes Wohnung nehmen, wenn draußen doch so viel vor sich ging? Dann wurde der Kampf immer verzweifelter. Wenn man weiß, dass einem bloß noch Monate oder gar Tage bleiben, wer will da schlafen? Nur wenn der Schmerz zu stark wird. Wenn man ihn dringend, dringend ausblenden muss. Ansonsten ist Schlafen verlorene Zeit, die man niemals zurückbekommt.

Und doch, wie angenehm ist es, dieses Ausblenden. Wir schweben über das Land des Schlafes und der Träume und erkennen, warum Schlaflose um Erlösung betteln und Träumer allen voraus sind. Wir sehen Craig zusammengerollt auf Harrys limonengrüner Couch, unter einer Wolldecke, die Harrys Urgroßmutter gehäkelt hat. Wir sehen Harry in seinem Zimmer, die Hände hinter dem Kopf zum Oberteil eines kleinen q verschränkt. In einer anderen Ecke desselben Orts ist Tariq eingeschlafen, den Kopfhörer noch aufgesetzt, isländische Musik begleitet ihn in Endlosschleife durch seine nächtlichen Reisen. Ein paar Orte weiter träumt Neil (in seinem Pyjama), dass er mit Peter Tic-Tac-Toe spielt, und Peter (in Boxershorts und T-Shirt) träumt, dass Kaiserpinguine das örtliche Einkaufszentrum übernommen haben und versuchen, Emma Stone eine Sonnenbrille zu verkaufen. In einem Ort namens Marigold schläft Avery, eine Telefonnummer auf seiner Hand, in einem Ort namens Kindling schläft Ryan im Schlafsack unter den Sternen und lächelt bei dem Gedanken an einen pinkhaarigen Jungen und das, was sie morgen miteinander unternehmen könnten.

Nur Cooper ist noch wach, aber nicht mehr lange. Er tippt sich in andere Zeitzonen, chattet mit Männern, die gerade wachgeworden sind oder sich ein paar Minuten von der Arbeit abzwacken. Er täuscht sie alle, nur sich selbst täuscht er nicht. Er ist immer noch nirgendwo, und wie sehr er auch sucht, es ist kein Irgendwo in Sicht, vor allem nicht in ihm selbst. Seiner Meinung nach besteht die Welt aus lauter Dummen und Verzweifelten, wie soll er sich da nicht selbst dumm und verzweifelt vorkommen, wenn er so viel Zeit mit ihnen zubringt? Das macht uns Sorge. Wir raten ihm, schlafen zu gehen. Danach ist alles besser. Aber er kann uns nicht hören. Macht weiter und immer weiter. Die Augen fallen ihm zu, immer und immer wieder. Geh zu Bett, Cooper, flüstern wir. Geh in dein Bett.

Er schläft vor dem Computer ein. Männer aus anderen Zeitzonen fragen, ob er noch da ist, ob er noch lebt. Dann ziehen sie weiter zu neuen Fenstern, lassen seines leer zurück. Er bekommt nicht mit, dass außer ihm niemand mehr da ist.

 

 

 

Das Bild ist unvollständig. Hier liegen Jungs wach und hassen sich. Hier vögeln Jungs aus den richtigen Gründen, da aus den falschen. Hier schlafen Jungs auf Parkbänken und unter Brücken, und die Glücklicheren unter den Unglücklichen schlafen in Unterkünften, die ihnen Sicherheit, aber kein Heim bieten. Hier sind Jungs so rasend verliebt, dass ihr hämmerndes Herz ihnen keine Ruhe lässt, und da sind Jungs von der Liebe so am Boden zerstört, dass sie unentwegt in ihrem Schmerz wühlen müssen. Jungs, die sich des Nachts an Geheimnisse krallen und tagsüber an deren Verleugnung. Jungs, die beim Träumen nicht die Spur an sich denken. Jungs, die mitten in der Nacht geweckt werden. Jungs, die mit Kopfhörern auf den Ohren einschlafen.

Und Männer. Für sie gilt all das ganz genauso. Und dann gibt es Männer – immer weniger –, die nachts ins Bett fallen und an uns denken. In ihren Träumen sind wir immer noch an ihrer Seite. In ihren Albträumen liegen wir immer noch im Sterben. Im schwimmenden Dunkel der Nacht greifen sie nach uns. Sie rufen uns im Schlaf beim Namen. Für uns ist dies das bedeutsamste, herzzerreißendste Geräusch, das wir je hören durften und mussten. Zur Antwort wispern wir ihre Namen. Und vielleicht hören sie uns ja in ihren Träumen.

 

 

 

Wir würden euch so gern die Welt zeigen, wenn sie schläft. Dann hättet ihr niemals mehr Zweifel daran, wie ähnlich, wie vertrauensvoll, wie erstaunlich und verletzlich wir alle sind.

 

 

 

Wir schlafen nicht mehr, und darum träumen wir auch nicht mehr. Wir halten Ausschau. Wir wollen nichts verpassen.

Ihr seid zu unseren Träumen geworden.