Ryan und Avery - David Levithan - E-Book

Ryan und Avery E-Book

David Levithan

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Beschreibung

Der neue Roman von Bestsellerautor David Levithan (»Letztendlich sind wir dem Universum egal«) Avery, 16, pinke Haare, kann sein Glück kaum fassen: er ist verliebt! In Ryan, 16 Jahre, blaue Haare. Und Ryan ist verliebt in Avery. Nach den ersten schüchternen Begegnungen, verbringen sie immer mehr Zeit zusammen, machen verrückt-verknallte Dinge: Schneeballschlachten, feine Dinner-Dates und Kanufahrten im Sonnenuntergang. Mit jedem Date wächst die Nähe zwischen den beiden, und sie entdecken ihre Seelenverwandtschaft. Alles könnte wunderbar sein. Wären da nicht Ryans Eltern, die glauben, es besser zu wissen, und ihren Sohn von Avery fernhalten wollen. Ryan und Avery müssen für ihre Liebe kämpfen … Zehn Dates = zehn Kapitel = ein Roman voller zärtlicher Unsicherheit, Herzschmerz und dem Wagnis, sich ganz auf jemand anderen einzulassen – jeden Tag und bei jedem Date aufs Neue. Pressestimmen zur amerikanischen Originalausgabe: »Eine LGBTQIA+-Romanze zum Dahinschmelzen und mit viel Herz.« School Library Journal »Eine wunderschöne queere Liebesgeschichte.« The Pink News »Liebesgeschichten gehören zu dem, was David Levithan am besten kann, und diese Neuerscheinung erfüllt alle Erwartungen.« Queerty

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Seitenzahl: 396

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David Levithan

Ryan und Avery

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Martina Tichy und Felix Mayer

 

Biografie

 

 

David Levithan, geboren 1972, ist Verleger eines der größten Kinder- und Jugendbuchverlage in den USA und Autor vieler erfolgreicher Jugendbücher, unter anderem Will & Will (gemeinsam mit John Green) und Two Boys Kissing, in dem die Figuren Ryan und Avery ihren ersten Auftritt haben. Sein Roman Letztendlich sind wir dem Universum egal erhielt den Deutschen Jugendliteraturpreis 2015 in der Kategorie Jugendjury. Er lebt in Hoboken, New Jersey, USA.

 

Inhalt

Widmung

Schneetag

Hausarrest

Auftakt im Autokino

Übung

Der verlassene Minigolfplatz

Wo willst du denn hin?

Freunde auf dem Fluss

Die Abschlussparty

Willkommen am Ozean

Ankommen

Danksagungen

Für Noah, den Leser, von dem

der Vorschlag für das hier stammt

und

Für Andrew, der queere

Liebesgeschichten mag

Schneetag

(Das fünfte Date)

Am Tag von Averys und Ryans fünftem Date schneit es.

Daran ist nichts Besonderes – in den Orten, wo sie leben, schneit es viel. Aber das hier ist der erste Schnee, und der versetzt einen immer ein bisschen ins Staunen. Der Winter steht vor der Tür, kein Zweifel, auch wenn ein paar Blätter sich noch hartnäckig an den Bäumen halten. Die Tage sind schon kürzer geworden, jeder Abend schluckt ein, zwei Minuten Sonnenlicht, doch das fällt nicht so auf wie der plötzliche Übergang zum Schnee.

Würden Avery und Ryan in demselben Ort wohnen, hätte der Schnee keine großen Auswirkungen auf ihr Date. Sie würden sich ein Quäntchen langsamer und achtsamer aufeinander zubewegen, doch sonst liefe alles wie geplant. Nun aber fährt Ryan zu Avery. Theoretisch könnten sie sich auf halbem Weg treffen, aber da ist nichts, und auch in gut achtzig Meilen Umkreis nicht. Ein paar Kinos. Ein paar Diners. Eine Mall, die ihre besten Zeiten hinter sich hat. Ein Supermarkt, in dem man mit Sicherheit mindestens drei Leuten über den Weg läuft, die man bei einem Date nicht sehen will. Da und dort könnte man abhängen, aber ob man das unbedingt will, bei so einem speziellen Anlass? Und um die Zeit ist jedes Date für Avery und Ryan ein spezieller Anlass.

Kennengelernt haben sie sich bei einer queeren Party – der blauhaarige Junge (Ryan) und der pinkhaarige Junge (Avery) entdeckten einander, hatten auf einmal nur noch Musik und Farben im Kopf sowie den unerklärlichen, aber machtvollen Drang, ihre Scheuheit zu überwinden. Weiter ging es in einem Tempo, das weder Ryan noch Avery einschätzen können. Schnell? Langsam? Auf Höchstgeschwindigkeit? Ryan kennt mittlerweile Averys Eltern; umgekehrt ist das nicht der Fall, doch Avery weiß, dass es nichts mit ihm zu tun hat, sondern einzig und allein damit, dass Ryans Eltern es noch nicht so gut verkraften würden, wenn ihr blauhaariger Sohn einen pinkhaarigen Freund (oder überhaupt einen Freund, Haarfarbe egal) mit nach Hause bringt.

Averys Eltern hatten immer Verständnis – schon bevor ihm selbst klarwurde, dass er ein Junge war und die Welt das gefälligst zur Kenntnis nehmen sollte. Als er ihnen dies mitteilte, taten sie es nicht einfach ab oder versuchten, es ihm auszureden. Und als Ryan in Averys Leben auftauchte und Avery ihn seinen Eltern vorstellte, hießen sie ihn mit offenen Armen willkommen. Das überrascht Avery nicht sonderlich, auch wenn es sich immer noch anfühlt, als hätten sie gemeinsam ein neues Kapitel aufgeschlagen, an dem weitergeschrieben wird, und so ganz sicher ist er sich nicht, was sie herauslesen werden. Ryan hingegen ist so viel Akzeptanz fremd. Er weiß nicht, wie er sich gegenüber anderen Eltern verhalten soll, weil seine eigenen vor allem so sehr die Augen verschließen.

Ohne die Wettervorhersage zu checken, schnappt sich Ryan seine Schlüssel und geht aus dem Haus. In der Schule wurde wohl hier und dort etwas von Schnee gemurmelt, aber Ryan hat gelernt, alles Gemurmel in seiner Anwesenheit auszublenden; das meiste davon ist gehässiger und unwichtiger als der Wetterbericht. Als die ersten Flocken auf die Windschutzscheibe treffen, sieht es aus, als fielen kleine, durchsichtige Spinnen mit Glühfäden im Schlepptau vom Himmel. Erst als ihn nur noch zehn Minuten von Averys Haus trennen, muss er die Scheibenwischer anschalten und vom Gas gehen. Die Schneeflocken bevölkern den Himmel, und Ryan muss lächeln bei dem Gedanken, dass die Luft mit einem Mal etwas Festes hervorbringt, wie auf einen sanften Zauberspruch hin.

Vom Gefühl her kennt er die Strecke schon in- und auswendig … doch manchmal leitet das Gefühl einen auch in die Irre. Er könnte Avery anrufen und nach dem Weg fragen, beschließt dann aber, sich lieber auf die Navi-App seines Handys zu verlassen: Avery soll glauben, dass er alles im Gedächtnis hat. (Beim fünften Date muss man sich immer noch beweisen – für das sechste, siebte und achte.)

Avery wartet am Fenster und sieht den Schnee natürlich auch. Er fällt nicht so dicht, dass Averys Vorfreude ins Schlingern gerät und Richtung Sorge abdriftet. Nein, beim Anblick der Flocken kommt ihm kein Gedanke daran, dass Ryan irgendwie in der Klemme stecken könnte oder vielleicht sogar umkehren müsste. Er spürt nur dieses unbändige Staunen angesichts der Welt, die sich langsam wandelt, ist in Bann geschlagen von dem, was da so vielgestaltig vom Himmel herabkommt.

Als Ryans Pick-up auftaucht, wird Averys Herz zum Gegenteil von Schneefall – zu jenem irren, windverwehten Moment, wenn man sieht, dass der Schnee tatsächlich in die Höhe treibt. Schneestieg, das ist Averys Herz, als Ryan in die Zufahrt einbiegt.

Er versucht, sein Herz zu bewachen, aber die Wächter sind nicht bei der Sache. Er will seine Aufregung im Zaum halten, lässt aber immer wieder die Zügel locker. Es ist gefährlich, jemanden so sehr zu mögen, das weiß er.

Außerdem ist er nervös. Er ist Herr über sein Zimmer, aber nicht über das ganze Haus. Seine Mutter hängt gern Familienfotos auf, und deshalb gibt es jede Menge Bilder von Avery als Kind, bevor alles erkannt und verstanden war. Zu dem Punkt hatte seine Mutter sich glasklar geäußert: Es würde schmerzhafter sein, die Vergangenheit auszulöschen. Besser sei es, Frieden mit ihr zu schließen. Es gebe keinen Grund, sie zu verbergen und das Kind zu verleugnen, das Avery gewesen war. Avery fand das Ganze sehr viel komplizierter, aber da seine Eltern bei allem anderen so cool reagiert hatten, war es wohl nicht fair, von ihnen zu verlangen, alle Bilder von früher abzuhängen. Auf manchen von ihnen sieht Avery sehr glücklich aus. An manchen jener Tage war er es auch gewesen. An anderen eher weniger. Nur Avery hat Zugang zu den Gefühlen, die darunter existierten. Auch als er noch bloß ein Kind war.

Auf keinen Fall kann er seine Eltern jetzt bitten, die Bilder abzuhängen, nur weil Ryan zu Besuch kommt. Es hat keinen Wert, seine Vergangenheit verstecken zu wollen, oder sie Ryan in einem falschen Licht zu präsentieren. Dass Avery ihm die Wahrheit sagen will, gehört zu den Dingen an Ryan, die ihn am meisten erregen und zugleich erschrecken. Das haben sie wechselseitig anerkannt. Kein So-tun-als-Ob. Kein Sich-Verstellen, wenn sie miteinander reden.

Das macht Ryan ebenfalls nervös, aber er ist bereit, es damit aufzunehmen, so wie er bereit ist, hinaus in den Schnee zu treten und durch den Wind zum Haus zu gehen. Auf der Zufahrt sieht er Avery am Fenster, sieht sein pinkes Haar und die Lampe neben ihm, die wie ein Leuchtturm in den Dämmertag hinausstrahlt. Ryan hat einmal die Zeile Leave a light on for me gehört und konnte sich kaum einen romantischeren Wunsch vorstellen. Ihm gefiel die Idee, dass der Mensch, in den du dich verliebst, dein Leuchtturmwärter wird, auch wenn das bedeutet, die ganze Nacht aufzubleiben und ins Dunkel hinauszustarren, bis es die Form des geliebten Menschen annimmt und zu dir zurückkehrt.

Ryan schaltet den Motor aus, und im Nu ist die Windschutzscheibe schneebedeckt. Er schaltet die Scheinwerfer aus, und einen Moment lang umgibt ihn das feierliche Schweigen einer ganz und gar natürlichen Welt. Obwohl sein Leuchtturmwärter wartet, bleibt er noch ein paar Sekunden sitzen und lauscht der Schneemusik, dem sachten Geklimper von Schneeflocken auf Glas. Er öffnet die Fahrertür und lässt seinen Turnschuh in die dünne Schneedecke auf der Zufahrt einsinken. Die Kälte setzt sich auf der Stelle an seinen Ohren und Fingern fest. Er rennt über die Stufen hinauf, hinterlässt die ersten Spuren im Schnee. Die Haustür steht schon offen, in ihr steht Avery in einem blauen Pullover und lächelt, als wäre Ryans Eintreffen das größte Geschenk, das sich ein Junge nur wünschen kann.

Sie sehen einander an. Ein wenig Schnee fällt auf Ryans Schulter und bestäubt sein Haar. Er merkt es erst, als er drinnen ist und Avery ihn von dem Schnee befreit – ein Vorwand, um ihn sogleich berühren zu können, ein Willkommen, das sich von Ryans Scheitel über seine Wange bis zum Hals erstreckt.

»Ich bin so was von froh, dass du da bist«, sagt Avery.

»Geht mir genauso«, erwidert Ryan.

Avery ist die letzten Stunden drinnen gewesen und hat keine Ahnung, wie warm das Haus ist. Für Ryan fühlt es sich an, als würden ein paar Schritte weiter Kekse gebacken. Eine Wärme, in die man sich hineinkuscheln möchte.

Aus einem angrenzenden Zimmer sind Schritte zu hören, und Averys Mutter ruft: »Ist er da?« Ryan stampft mit den Schuhen auf die Fußmatte, zieht seine Jacke aus und gibt sie Avery, der sie über einen Türknauf hängt. Da soll sie bleiben, bis sie trocken genug für den Garderobenschrank ist. Averys Mutter kommt aus ihrem Arbeitszimmer, begrüßt Ryan und fragt, wie die Fahrt war. Solches Geplauder vonseiten eines Elternteils ist Ryan nicht gewohnt – sein Vater hätte vielleicht Fährt der Wagen ordentlich? gesagt, aber nichts darüber hinaus wissen wollen. Bei Averys Mutter wirkt das Geplauder wie ein Auftakt zu weiteren Unterhaltungen, weiteren Themen.

Sie sagt, Ryan solle seine Sneakers doch bei der Tür stehen lassen, aber aus ihrem Mund klingt es weniger nach einem Befehl als nach der Bitte um einen Gefallen. Ryan tut wie geheißen und macht sich dann Sorgen wegen des Lochs an der Ferse seiner linken Socke. Falls Averys Mutter es bemerkt, sagt sie jedenfalls nicht dazu.

(Ryans Mutter hätte etwas dazu gesagt, und zwar nichts besonders Nettes.)

»Na, ich will euch nicht weiter aufhalten«, sagt Averys Mutter und hält sie im Folgenden noch ein Weilchen auf. »Falls ihr irgendwas braucht, wisst ihr ja, wo ich zu finden bin. In der Küche müssten ein paar Muffins sein, mit Blaubeeren, glaube ich, vielleicht auch ein paar mit Möhren – oder vielleicht auch Kleie. Magst du Kleie, Ryan? Oder Rosinen? Ich glaube, bei denen sind Rosi-«

»Alles klar, Mom«, fällt Avery ihr ins Wort. Es amüsiert Ryan, dass Avery von dem Muffin-Gelaber sichtlich genervt ist.

Averys Mutter lacht und hebt ergeben die Hände.

»Wie gesagt, falls ihr irgendwas braucht, ich bin in meinem Arbeitszimmer.«

Sie wirft Avery einen letzten Blick zu – Ich hab dich lieb, auch wenn du vor deinem Freund grob zu mir bist – und verzieht sich.

Ryan tritt von der Tür weg ans Fenster, wo vorher Avery gestanden hat. Der Schnee kommt jetzt mit wilden Böen – Wolken, die sich mitten im Kampf auflösen. Die Zweige der Bäume beginnen sich zu neigen und zu schwanken, wie als Bitte an den Schnee, noch schneller zu fallen.

Ich kann von Glück sagen, dass ich durchgekommen bin, denkt Ryan.

Avery stellt sich hinter ihn und weiß erst nicht wohin mit seinen Händen. Ryan so nah bei sich zu haben – was er sich so lange nur vorgestellt hat … Sanft schiebt er einen Arm unter Ryans Arm, lässt seine Hand über Ryans Brust gleiten. Dann drückt er sich an Ryans Rücken und schaut über seine Schulter gemeinsam mit ihm in den Schnee hinaus.

Keiner von ihnen spricht laut aus, wie schön es ist, aber beide denken es.

Avery spürt, dass Ryan sich kurz verspannt, und begreift dann, warum. Wie alle zwanzig Minuten in den vergangenen zwei Stunden kommt Mrs. Parker von gegenüber aus dem Haus und streut Salz auf den Weg. Mit der gleichen Bewegung verteilt sie im Sommer Samen für die Vögel.

Sie schaut nicht hoch, aber die Vorstellung, sie könnte es tun, macht Ryan angespannt. Dass sie sie beide hier sieht. Den Moment, der ihnen gehört, in ihren Gedanken zu etwas anderem macht.

Avery weiß, dass sie nichts einzuwenden hätte, es vielleicht sogar süß finden würde, den blauhaarigen und den pinkhaarigen Jungen wie ein Tagebuch mit Verschluss umeinander geschlungen zu sehen. Aber das kann Ryan natürlich nicht wissen.

Ryan dreht sich um. Avery lockert seinen Griff. Einer den anderen im Blick, gehen sie wieder in den Flur, den die Haustür vor dem Draußen abschirmt.

»Du hast mir gefehlt«, sagt Ryan.

Avery beugt sich vor und küsst ihn. Nur einmal, aber voller Sehnsucht.

»Du mir auch.«

Ryan und Avery sprechen täglich miteinander und schicken sich praktisch in jeder wachen Stunde, in der sie das Handy benutzen dürfen, Nachrichten oder unterhalten sich per Videocall. Jeden Abend chatten sie ewig lang, ein fortlaufender Kommentar, der häufig abschweift. Doch nichts davon hilft gegen die Leere, die sie beide empfinden; wenn überhaupt, macht es die Leere noch krasser. Wie Avery es spätabends, lange nach der Zubettgehzeit, einmal zu Ryan sagte: Was wir da jetzt tun, hat Wassermelonengeschmack. Wenn wir zusammen sind, ist es Wassermelone. Das hat Ryan damals eingeleuchtet, und nun ist es ihm noch klarer. Avery zu küssen, ist Wassermelone. Seine Arme um ihn zu schlingen, ist Wassermelone. Seinen Gesichtsausdruck beim Reden zu sehen, ist Wassermelone.

»Was willst du machen?«, fragt Avery.

Und Ryan denkt: Das. Wassermelone.

Hier, beim fünften Date, kommt eine weitere kostbare Ahnung von einer Wahrheit über die Liebe auf: Irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem es keine Rolle mehr spielt, was man macht, und an dem die Frage, was man machen soll, über lange Zeitspannen hinweg unerheblich wird. Die Antwort schrumpft auf die kürzesten, wichtigsten Worte zusammen.

Du.

Hier.

Wir.

Das.

Alles fügt sich so leicht zu den kurzen Wörtchen Jetzt und Liebe.

Aber Ryan ist sechzehn. Ihm ist nicht klar, dass all diese kleinen Worte gültige Antworten darstellen, ebenso wie Avery, im gleichen Alter, nicht weiß, dass es in Ordnung ist, keinen Plan zu haben, was sie als Nächstes machen sollen.

Unsicher, wie die Antwort lauten soll, sagt Ryan: »Es ist dein Haus. Du bestimmst, wohin.«

Avery würde am liebsten dableiben und Ryan noch ein paar Minuten länger küssen. Aber es besteht immer das Risiko, dass seiner Mutter eine weitere Geschmacksvariante der Muffins in der Küche einfällt und sie zu ihnen rauskommt, um sie ihnen mitzuteilen.

»Wie wär’s mit meinem Zimmer?«, schlägt er vor, wird dann rot und beeilt sich anzufügen: »Nicht weil da ein Bett drin ist, sondern weil es, äh, eben mein Zimmer ist.«

Ryan lächelt. »Klingt gut.«

 

 

Das ist die Geographie eines Hauses um fünf Uhr nachmittags bei einem fünften Date:

In einem Zimmer tippt eine Mutter. Hin und wieder hält sie inne und überlegt, was sie da eigentlich tippt, doch ihre Gedanken schweifen selten weiter ab. In der Küche halten der Kühlschrank und die Uhr eine kaum hörbare Unterhaltung in Gang. Die Garage wartet wie ein schlafender Wal; wenn in einer Stunde ein Vater nach Hause kommt, reißt sie das Maul mit einem Getöse auf, das alle im Haus mitbekommen. Das Wohnzimmer wiederum setzt der vordringenden Nacht Lampenlichtkleckse entgegen. Der Eingangsbereich ist voll feuchter Fußabdrücke; ein Paar Sneakers wartet an der Tür. Durch den Flur gehen zwei Jungen, beide auf Socken, im Gänsemarsch und schenken einander sehr viel mehr Beachtung, als wo sie hintreten, oder was an den Wänden hängt. Vor ihnen wartet ein Schlafzimmer darauf, dass ein Knips am Schalter es zum Leben erweckt. Dahinter hat ein weiteres Schlafzimmer momentan Pause. Im Bad tropft ein Wasserhahn, als wolle er nachmachen, was draußen vom Himmel kommt. Eine Klobrille ist noch hochgeklappt. Drei Zahnbürsten stehen stramm und bleiben stumm – vermutlich lauschen sie auf alles andere, was im Haus vor sich geht.

Und ringsum Schnee. Er bedeckt mittlerweile das Dach. Der Pick-up ist so weiß wie die Zufahrt, auf der er steht. Von oben müsstest du schon genau hinschauen, um noch zu erkennen, dass da ein Haus ist.

Aber du schaust nicht von oben.

 

 

Ryan erkundet Averys Zimmer mit wohlwollender Neugier. Die Poster an den Wänden zeigen Künstler, nicht Bands. Die Bücher auf den Regalen haben eine bunt gestreifte Ordnung – blau, rot, blau, grün, rot, grün, gelb, grün und so weiter. Das Bett steht in der Ecke, unter dem einzigen Fenster des Raums.

Ryan geht hin und schaut hinaus. Bald schon wird im fortschreitenden Dunkel der Schnee nicht mehr zu sehen sein, doch jetzt kann man ihm noch folgen und nachspüren. Avery stellt sich neben ihn, und gemeinsam sehen sie die Schneeflocken wie aus einer Buchseite geschüttelte Satzzeichen zur Erde fallen.

Avery setzt sich auf den Boden, mit dem Rücken ans Bett gelehnt. Ryan setzt sich so dicht neben ihn, dass ihre Beine sich berühren und ihre Arme übereinanderliegen. Schon komisch, wie das läuft, denkt Avery. Wenn dich jemand anstarrt, hast du das Gefühl, dass dein Körper alle seine Mängel förmlich herausschreit. Aber wenn jemand neben dir sitzt und für dich so viel Körper ist wie du für ihn, dann entspannt sich die Lage, wertet sich auf. Ryans Haut zu spüren und zu wissen, dass Ryan genau in diesem Moment auch seine Haut spürt. Zu wissen, dass sie zwei verschiedene Wesen sind, aber die Empfindung ist womöglich die gleiche, so wie Atem und Herzschlag das Gleiche sind. Avery versenkt sich darin. Spürt ihr nach.

»Und, wie war dein Tag so?«, fragt Ryan. Ein Weilchen reden sie über die Schule, über Freunde und die ersten Schneeflocken am Himmel. Auch das gehört zu dem, was sie nötig haben – wie alle anderen zu sein, sich gemächlich zurückzulehnen und zu berichten, was seit ihrem letzten Gespräch passiert ist. Keine großen Offenbarungen: Das Aufregendste an ihrem Tag war das Warten, das kitzlige Gefühl beim Gedanken daran, einander alles mitzuteilen.

»Ist das ein Jahrbuch?«, fragt Ryan und will etwas von ganz unten aus Averys Bücherregal ziehen.

»Nein!«, sagt Avery. »Lass das!«

Ryan greift zum Spaß erst recht danach. Avery stürzt sich halb zum Spaß wie ein Wilder auf ihn. Ryan gibt kampflos auf und legt sich flach auf den Boden. Avery drückt ihn trotzdem nieder.

An dem Punkt kann es von Verspieltheit zu etwas anderem umschlagen. Kann Hitze an die Stelle von Wärme treten. Doch weder Ryan noch Avery wollen das – nicht jetzt, noch nicht, nicht so früh bei ihrem Date. Deswegen bleiben sie bei verspielt – Avery beugt sich zu einem Kuss herunter und schnellt wieder hoch, kurz bevor ihre Lippen sich berühren. Gelächter. Dann ein richtiger Kuss, dem Ryan sich entgegenreckt.

Avery lockert seinen Griff. Sie küssen sich noch ein bisschen weiter, im Unterhaltungsmodus. Ryan streckt den Arm aus, als wolle er Avery durchs Haar wuscheln oder den Schwung seiner Schulter nachzeichnen. Doch es ist nur ein Täuschungsmanöver – Ryans Arm reicht gerade eben bis zum Bücherregal, seine Finger ziehen das Jahrbuch heraus.

Avery stöhnt auf, unternimmt aber nichts dagegen. Nicht einmal dann, als Ryan sich hinsetzt und das Buch durchblättert. Es ist vom letzten Jahr, und als Zehntklässler hat Avery damals auf den Seiten keinen großen Eindruck hinterlassen.

Avery sieht Ryan beim Blättern zu und entdeckt dabei kleine, bisher unentdeckte Dinge – die Stellen, an denen Ryans blaues Haar wieder ausbleicht, die Muttermale in der Form des Kleinen Wagens auf seinem Arm. Ryan stellt ein paar Fragen zu ein paar Leuten auf den Fotos, und Avery antwortet, soweit er kann – die Schule ist zu groß, um alle zu kennen, und außerdem verspürt er auch keinen großen Drang, alle zu kennen. Er hat seine kleine Freundesschar und die Leute von der Theater-AG, mit denen er den Großteil seiner Zeit verbringt.

Schließlich schlägt Ryan die Seite mit dem Foto von Avery in der Zehnten auf – eins von vielen Mosaiksteinchen briefmarkenkleiner Missmutiger, die der Schulfotograf in ihre Rahmen gezwungen hat. Das Foto ist zu winzig, als dass Avery es hassen könnte, obwohl die abgebildete Person sich für ihn schon anfühlt wie eine Haut, die er abgestreift hat.

»Nette Frisur«, sagt Ryan neckisch, ohne gehässigen Unterton.

»Ich hab halt experimentiert!«

»Womit?«

»Mit miesen Frisuren!«

Es ist ein Schwarzweißfoto (erst ab der Elften kriegt man Farbe), darum sieht man das erbärmliche Orange nicht, das Avery anlässlich des Fototags ausprobiert hat – es sah aus wie Marmelade, ihm hingegen hatte ein Halloween-Kürbis vorgeschwebt. Von da bis zu Pink war es nicht mehr lange hin.

»Ich hatte die Haare mal schulterlang«, gesteht Ryan. »Da war ich zwölf oder dreizehn und dachte, das würde mich zu einem knallharten Typen machen. Wenn es gegangen wäre, hätte ich mir damals vermutlich auch noch einen Bart wachsen lassen. Im Rückblick weiß ich, dass es eine Tarnung war – und nicht mal eine gute. Meine Mutter hat mich eines Tages erwischt, wie ich die Haare über die Schulter warf, als wäre ich ein Supermodel, und fragte mich geradeheraus: ›Warum tust du das?‹ Und ich dachte: Oh, tja. Beim nächsten Termin beim Friseur musste sie gar nicht erst was sagen. Ich erklärte ihm, er solle sie abschneiden, und er forderte die restlichen Typen in dem Laden zu einer Runde Applaus auf.«

»Fehlen sie dir?«, fragt Avery.

Ryan schnaubt. »Kein bisschen. Es wurde echt eklig, das Fett hätte ich auswringen und in Flaschen abfüllen können.«

Avery kratzt sich instinktiv am Kopf. Ryan bemerkt es und lächelt.

»Sorry«, fährt er fort. »Wahrscheinlich wollte ich damit sagen, dass wir alle eine Vergangenheit mit miesen Haarschnitten haben. Oder miesen Nicht-Haarschnitten.«

In dem Moment reißt die Garage das Maul auf und lässt ihren Ruf durchs Haus ertönen. Avery schaut auf die Uhr – normalerweise kommt sein Vater erst etwas später nach Hause.

»Wahrscheinlich haben sie wegen dem Schnee alle nach Hause geschickt«, sagt er zu Ryan als Antwort auf den Lärm. »Langsam wird’s da draußen wohl ziemlich ungemütlich.«

Wenn es so schlimm steht, dass Averys Vater vorzeitig nach Hause kommt, sollte Ryan vermutlich auf der Stelle los. Doch er beschließt, dass ihm nicht danach ist.

(Avery kommt es überhaupt nicht in den Sinn, dass Ryan vielleicht früher aufbrechen müsste.)

»Jungs!«, ruft Averys Mutter. »Noch eine halbe Stunde bis zum Abendessen!«

Avery hatte nicht geplant, mit Ryan und seinen Eltern zu Abend zu essen. Er dachte, sie würden irgendwohin gehen, und wenn es bloß Burger King wäre. Er steht auf, schaut erneut durchs Fenster und – ja, ganz klar, heute wird zu Hause gegessen. Die Straße steht auf der Schneeräumliste nicht an oberster Stelle, und mittlerweile lässt sich kaum noch sagen, wo der Bordstein endet und die Straße beginnt. Ryans Wagen bekommt langsam Ähnlichkeit mit einem Iglu.

Avery checkt immer noch nicht, dass Ryan früher losfahren müsste als geplant. Oder dazu jetzt schon keine Chance mehr hat.

»Eine halbe Stunde«, flüstert Ryan Avery ins Ohr. »Was machen wir mit einer halben Stunde?«

Die Antwort?

Seine Hände auf Averys Hüften.

Die Antwort?

Küsse. In Variationen. In Wiederholungen. Einander durch Küsse kennenlernen.

Die Antwort?

Klamotten bleiben an, weil Eltern im Flur herumlaufen, und weil es nicht darum geht, noch nicht. Aber bloß weil die Klamotten an bleiben, spürt man durch den Stoff hindurch doch Körper, spürt die Haut den Druck, die Berührung.

Die Antwort?

Es ist ziemlich egal, was genau sie tun.

 

 

Speisekammer und Kühlschrank sind randvoll, und auf der Arbeitsfläche in der Küche stehen sogar Kerzen und Streichhölzer bereit, falls der Strom ausfallen sollte. Der Fernseher im Wohnzimmer ist auf den Wetterkanal geschaltet, wo der Sturm aussieht wie eine Riesenwolke, die über ein Viertel des Landes herfällt.

Ryan und Avery spielen füreinander Spiegel, um sicherzugehen, dass alle Kleidungsstücke ordentlich sitzen, dann gehen sie in die Küche. Falls Averys Eltern merken, dass irgendwas nicht stimmt, sagen sie jedenfalls keinen Pieps dazu. Außerdem ist Averys Mutter mit dem Abendessen beschäftigt und Averys Vater mit der Wettervorhersage. Da es draußen nun stockdunkel ist, dient ihm der Fernseher als Fenster.

»Da seid ihr ja«, sagt Averys Mutter, als Ryan und Avery hereinkommen – als wäre ihr völlig entfallen, wo die beiden die ganze Zeit waren. »Wir müssen ein paar Sachen besprechen. Erstens habe ich dich gar nicht gefragt, ob du irgendwelche Allergien oder Einschränkungen bei Lebensmitteln hast, Ryan.«

»Mir ist alles recht«, sagt Ryan. Es gibt ungefähr hundert Sachen, die er nicht ausstehen kann, aber danach hat sie wohl nicht gefragt. Er steht hier noch zu sehr auf dem Prüfstand, um nicht alles zu essen, was sie zubereitet hat.

»Sehr schön. Es gibt Hähnchen, Kartoffeln und Broccoli – ich dachte mir, daran ist nicht groß was zu meckern. Wichtiger aber ist die Sache mit dem Schnee. Es heißt, die Highways sind ein einziges Chaos, und der Sturm wird frühestens gegen Mitternacht abflauen. Deshalb sieht es danach aus, dass du hier übernachtest. Bei dem Wetter lasse ich dich auf gar keinen Fall nach Hause fahren. Wenn es okay ist, würde ich gern mit deiner Mutter sprechen und ihr erklären, was hier los ist. Morgen bleiben die Schulen bestimmt geschlossen.«

Avery versucht erfolglos, sich einen Freudenjuchzer zu verkneifen; wenn das Universum weiß, wie sehr er sich über diese Wendung der Ereignisse freut, wird es – so fürchtet er – eine plötzliche Hitzewelle über sie hereinbrechen lassen. Dann wird ihm klar, wie albern das ist; soll seine Mom ruhig zufrieden damit sein, wie er vor sich hin summt und strahlt.

Ryan kann sich stimmungsmäßig nicht so hoch hinaufschwingen wie Avery. Dessen Mutter hat sicherlich recht damit, dass er unmöglich auf sicherem Weg nach Hause gelangen kann. Selbst Ryans Eltern werden das einsehen. Bleibt aber immer noch die Frage, warum er überhaupt hier ist und beim ersten Anzeichen des Unwetters nicht auf der Stelle kehrtgemacht hat. Sie werden ihm die Hölle heißmachen, und das nicht nur einmal.

»Ich kann sie doch einfach selbst anrufen«, bietet er Averys Mutter an. »Und ihr die Lage erklären.«

»Vertrau mir«, kommt als Antwort. »Ich bin auch eine Mutter. Sie wird sicher mit mir sprechen wollen.«

Und richtig, kaum hat Ryan seiner Mutter am Telefon gesagt, wie es aussieht, und dass das, was ein Date hätte sein sollen (das Wort Date benutzt er dabei nicht), sich zu einer Pyjamaparty entwickelt hat (auch das Wort Pyjamaparty umschifft er weiträumig), will sie mit Averys Mutter reden. Als hätte er sich den Schneesturm aus den Fingern gesogen.

Ryan hat keine Ahnung, was – falls überhaupt – Avery seiner Mom über Ryans Eltern erzählt hat, aber als diese sich mit »Hallihallo!« meldet, schraubt sie ihre Stimme um mindestens drei Munterkeitsfaktoren höher. Dann folgt ein ernstes »Ja« und ein mitfühlendes »Oh, das verstehe ich, glauben Sie mir«. Alles Weitere bekommt Ryan nicht mit, weil Averys Mom aus der Küche geht und die folgenden fünf Minuten nicht wiederkommt.

»Ganz klar, sie besprechen die Einzelheiten zu unserer Hochzeit«, lautet Averys Kommentar, während sie warten.

»Wenn ich nicht solchen Schiss hätte, fände ich das witzig«, sagt Ryan.

Averys Vater kommt in die Küche, rupft eine Weintraube aus dem Kühlschrank und steckt sie in den Mund.

»Riecht gut«, sagt er.

»Das richten wir Mom ganz sicher aus«, gelobt Avery.

Sein Vater sieht sich um. »Oh. Wo ist sie denn?«

»Redet mit Ryans Mom. Er bleibt über Nacht hier.«

»Gute Entscheidung«, sagt Averys Vater und sieht dann zu Ryan hin. »Es macht dir doch nichts aus, im Garten zu schlafen, oder? Irgendwo im Keller haben wir einen Superschlafsack. Ich glaube, er ist isoliert.«

»Dad. Nicht cool.«

»Es ging mir nicht um cool, sondern um eiselausekalt.«

Averys Mutter kommt wieder in die Küche. Avery denkt, dass sie ein bisschen weniger sorglos aussieht als vorher. Ryan denkt, dass sie so aussieht, als hätte sie eben mit seiner Mutter telefoniert.

»So – das wäre geregelt. Ryan, dein Vater wollte offenbar herfahren und dich abholen, aber ich konnte deine Mutter davon überzeugen, dass das keine gute Idee wäre. Ich glaube, ihnen ist nicht klar, welche Entfernungen zwischen uns liegen. Aber egal – jetzt sind sie mit im Boot. Ich habe versprochen, gut auf euch aufzupassen, also bitte kein Jonglieren mit Messern und keine Fesselungen.« (Letzteres meint sie nicht als sexuelle Anspielung. Ryan und Avery verstehen es hundertpro als sexuelle Anspielung.)

»Und ich habe ihr auch versprochen«, fährt Averys Mutter fort, »dass du im Gästezimmer übernachtest. Was hier bei uns heißt: auf der Couch. Zum Glück ist sie ausziehbar.«

Avery hütet sich, diese Entscheidung in Frage zu stellen, überlegt sich aber schon Mittel und Wege, um sie zu umgehen. Die Vorstellung, Seite an Seite mit Ryan zu schlafen, ist unbestreitbar verlockend.

Ryan fragt sich, ob er seine Eltern anrufen und um Entschuldigung bitten sollte. Was würde das ändern?

Nichts, sagt ihm sein Instinkt. Sei einfach froh, dass du hier bist und nicht dort.

Avery berührt ihn am Rücken, und er zuckt zusammen. Mit Averys Eltern als Publikum kann er Averys Zuneigung weniger genießen. Es fühlt sich … verkehrt an. Nichts Schlimmes – bloß etwas, woran noch gearbeitet werden muss.

Avery spürt es und lässt seine Hand sinken. Derweil hechtet seine Mom laut fluchend zum Ofen und seufzt erleichtert auf, als beim Öffnen keine Rauchwolke herausquillt.

»Das Abendessen«, sagt sie, »ist so gut wie fertig.«

 

 

Beim Essen fällt Ryan auf, dass Kurzformeln in der Familie nicht nur vorwurfsvoll, sondern auch humorvoll eingesetzt werden können. Die anderen drei sagen Sätze, die für sich genommen vollkommen verständlich sind – Wo ist die Avocado? –, im Zusammenhang der allgemeinen Unterhaltung für einen Außenstehenden aber keinen großen Sinn ergeben.

Beim Essen fällt Avery auf, dass Ryan immer scheuer und in sich gekehrter wird. Avery ist sonnenklar, wie lächerlich seine Familie wirkt, und er klärt Ryan jedes Mal auf, wenn etwas, das seine Eltern sagen, keinen Sinn ergibt. (»Mit acht durchlebte ich eine höchst unselige Zeit, in der ich auf allem Avocado drauf haben wollte. Da Avocados nicht gerade billig und auch nicht schnell mal im Discounter zu bekommen sind, kriegten Mom und Dad allmählich die Megakrise. Sie setzten mir ein Steak vor, und ich sagte: Wo ist die Avocado? Oder Spaghetti. Oder, was weiß ich, ein Hotdog.«)

Beim Essen fällt auch Averys Mutter auf, wie still Ryan geworden ist, obwohl sie wesentlich weniger Vergleichsmöglichkeiten hat.

Beim Essen versucht Averys Vater, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Avery ihnen einen Freund zum Kennenlernen ins Haus gebracht hat. Scheinbar ein großer Schritt, doch da Avery nicht so wirkt, als wäre es einer, versucht sein Vater, seinen Stolz für sich zu behalten.

Draußen schneit es weiter.

 

 

Nach dem Essen will Ryan beim Abräumen helfen. Alle sagen, das muss er nicht, er ist doch der Gast. Doch er lässt sich nicht abwimmeln, kann ihnen allerdings nicht erklären, dass er vom Gefühl her auch einen Beitrag leisten sollte. Schließlich geben Avery und seine Eltern nach und beziehen Ryan in ihre Routine von Abräumen, Ausschrubben, Abspülen und Abtrocknen mit ein. Es gibt ein paar Stolpersteinchen (ein Löffel im Abfluss, die ewige Suche nach dem Anfang der Frischhaltefolie), aber im Großen und Ganzen fügt Ryan sich gut ein. Und dadurch fühlt er sich weniger als Gast. Es weckt in ihm das Gefühl, in diese Küche, zu diesen Menschen dazuzugehören. Beim Abspülen schauen sie nicht Fernsehen, sondern reden miteinander. Er gibt Antwort, wenn er etwas gefragt wird, ist sich aber unsicher, welche Gegenfragen er stellen könnte.

Das ändert sich, als er und Avery wieder allein sind. Averys Mutter und Vater treten den Rückzug an und sagen, sie hauen sich in die Falle, obwohl es noch nicht mal acht Uhr ist. Schauen sich vielleicht noch einen Film an. Gehen früh schlafen. Averys Vater witzelt, dass er sie in aller Herrgottsfrühe wecken wird, damit sie ihm helfen, die Zufahrt freizuschaufeln. Ryan ist drauf und dran, sein Okay zu geben – es wäre nur fair, sich so für die Gastfreundschaft zu revanchieren –, doch Avery spürt seinen Einsatzwillen und sagt vernehmlich: »Nein, so weit kommt es noch.«

Niemals würde Ryan so mit seinem Vater reden.

Averys Vater lacht.

»Schon gut, schon gut«, sagt Averys Mutter und scheucht ihn aus dem Raum. Dann sagt sie zu Avery: »Ich habe im Bad Handtücher für Ryan hingelegt und Bettzeug für das Sofa im Wohnzimmer – ich meine, im Gästezimmer.« Dann wirkt sie nachdenklicher und blickt beide nacheinander an. »Ich kann mich auf euch verlassen, richtig? Bleibt bei jugendfrei. Vielleicht jugendfrei ab 12. Ihr habt euch ja gerade erst kennengelernt und –«

»Wissen wir!« Avery ist gekränkt. »Jugendfrei ab 12!«

(Ryan würde am liebsten im Erdboden versinken.)

»Okay,« sagt Averys Mutter. »Dann wäre das geklärt.« Sie fixiert Ryan, der es irgendwie schafft, ihr in die Augen zu blicken. »Die Sache ist die – ich habe deiner Mutter versprochen, dass du im Gästezimmer schläfst. Das heißt, du schläfst im Gästezimmer und basta.« Dann sieht sie zu Avery. »Ich habe allerdings keinerlei Versprechungen zu der Frage abgegeben, wo du heute Nacht schläfst. Weil ich euch beiden vertraue, dass ihr es … langsam angehen lasst.«

»Mom! Wir haben’s kapiert!«

Averys Mutter lächelt. »Gut. Und falls ihr nach draußen geht, zieht um Himmels willen Stiefel an.«

 

 

Erst mal gehen sie nicht nach draußen, sondern ins Wohnzimmer, als würde das so von ihnen erwartet. Sie sitzen auf der Couch und gucken den stumm geschalteten Wetterkanal, Auge in Auge mit den Satellitenübertragungen des Sturms. Avery greift zur Fernbedienung und will Ryan fragen, worauf er Lust hat … doch Ryan schaut sich schon etwas an: ein Foto von Avery und seinen Eltern in Disneyland, im Sommer vor der dritten Klasse. Avery trägt Micky-Maus-Ohren und sieht, offen gesagt, ziemlich dämlich aus. Er hat keine Ahnung, wer das Bild aufgenommen und ihrer Kleinstfamilie damit die Chance gegeben hat, komplett Aufstellung zu nehmen – Avery der Lächler in der Mitte, eingerahmt von seinen ebenfalls lächelnden Eltern.

»Es ist so kitschig«, sagt er nun. »Ich hab sie angefleht, es abzunehmen, aber sie ziehen mich gern damit auf.«

»Mir gefällt’s«, sagt Ryan ruhig. »Sieht aus, als hättest du Spaß gehabt.«

Wir lernen einander durch Zuhören kennen, und in diesem Moment erinnert sich Avery, dass Ryans Besuch in Disneyland nicht entfernt so spaßig war. Er lernt, dass Dinge, die ihm peinlich sind, für Ryan nicht peinlich sein müssen. Er lernt, dass er Ryan zwar nicht in Watte packen muss, aber auch nicht gedankenlos mit ihm umgehen darf.

»Es war lustig«, gibt er zu. »Ständig musste ich die Leute korrigieren – sie meinten, ich müsste doch Minnie sein, und ich so, nein, seht ihr irgendwo hier einen Reifen auf meinem Kopf? Ich bin Micky.«

Ryan greift nach seiner Hand. Hält sie in seiner.

»Aber du bist so viel schnuckeliger als Micky.«

Avery lacht. »Oh, danke!«

Ihre Aufmerksamkeit gilt nicht länger dem Foto, sondern ihren Händen, ihren Fingern. Das Epizentrum ihrer Ruhe.

Jeder von beiden wird auf seine Weise davon überrascht, wie gut sich ihr Genießen anfühlt. Wenn du um deine Identität kämpfen und sie erst erobern musst, denkt ein Teil von dir immer, dass du dafür bezahlen musst. Du hast der Norm den Rücken gekehrt, und dafür bist du verurteilt, dafür riskierst du, auch dem Glücklichsein den Rücken zu kehren. Du hast das Gefühl, du musst härter darum kämpfen, dass jemand dich liebt. Du hast das Gefühl, du musst riskieren, einsamer zu werden, weil du der sein willst, der du bist.

Und doch.

Wie oft löst sich mit diesem kleinen Überraschungsmoment der Kampf auf, das Risiko fällt von dir ab wie ein geborstener Kokon, und du bist vollkommen unallein, wirst von jemand anderem nicht nur wahrgenommen, sondern gespürt. Das gehört zu dem, was du dir vorgenommen hast, und jetzt ist es da.

Avery schließt die Augen und lehnt sich an Ryan. Ryan schließt die Augen und lehnt sich an Avery. Ein paar Minuten lang lassen sie das ihr Leben sein. Aus dem Schlafzimmer der Eltern verschwommene Klänge einer TV-Show. Draußen Feenspuren aus Schnee. Avery spürt Ryans Atem. Ryans Augen sind zu, trotzdem sieht er sie beide vor sich auf der Couch, stellt sich vor, wie Averys Kopf auf seiner Schulter aussieht.

Dann wird Ryans Hand fest gedrückt. Avery setzt sich gerade hin. Ryan macht die Augen auf, schaut zu ihm und sieht, dass er lächelt.

»Raus«, sagt Avery. »Wir müssen raus.«

 

 

In Averys alte Stiefel passt Ryan beim besten Willen nicht hinein und borgt sich deshalb die von Averys Vater aus. (Avery schwört Stein und Bein, dass es okay ist.) Sie wickeln einander so gut wie möglich ein – Avery schlingt Ryan den Schal so oft um den Hals, dass er an eine Mumie erinnert. Ryan besteht darauf, bei Averys Jacke alle Reißverschlüsse zuzuziehen und ihm die Mütze auf den Kopf zu setzen. Nur damit seine Hände auf Averys Wangen ruhen können. Und es in einem Kuss endet.

Sämtliche Wege – selbst die Zufahrt – sind im Lauf der letzten Stunden verschwunden. Avery und Ryan treten hinaus in ein kristallenes Schweigen, eine weiße Dunkelheit. Es schneit noch immer, aber fast schon wie eine Nachlese, ein sanftes Gemurmel.

Fäustling in Fäustling gehen sie, von Avery geführt, in den Vorgarten. Kurz denkt Ryan an die Nachbarin von gegenüber, an irgendwelche anderen Nachbarn … aber dann beschließt er, solche Gedanken beiseitezuschieben. Er konzentriert sich darauf, wie seine Stiefel bei jedem Schritt einsinken. Auf die eisigen Fasergebilde, die auf seiner Wange landen. Er konzentriert sich auf Fäustlinge und Avery und die tiefe Stille ringsum. Eine Welt ohne Autos, in der für den folgenden Morgen keine Wecker gestellt werden.

Avery lässt Ryan los. Er hält es nicht mehr aus – der Schnee ist einfach zu perfekt, um ihn unbeachtet zu lassen. Ryan begreift zu spät, worauf er aus ist. Als Averys Schneeball fertig ist, greift Ryan eben nach der ersten Ladung für sich selbst. Avery zielt. Wirft.

Volltreffer.

Ryan feuert zurück, doch Avery duckt sich, wirft und trifft erneut. Ryan schaufelt einen Riesenklumpen Schnee zusammen und rückt zum Angriff vor. Avery versucht, ihm zu entkommen, mit mehr oder weniger Erfolg. Weitere Salven werden abgegeben. Immer mehr Fußspuren bedecken den Garten.

Schließlich hat Ryan genug und wirft Avery zu Boden. Ihre Jacken sind so dick, dass das Ganze Ähnlichkeit mit einer Kissenschlacht hat, bei der die Jungen als Kissen dienen. Es ist eine sanfte Landung und ein sanfter Angriff. Avery versucht, sich aus Ryans Griff herauszuwinden, und lässt es dann bleiben. Er liegt im Schnee, und Ryan legt sich neben ihn, und dann küssen sie einander wieder, mit Schneeflocken auf den Wimpern und vor Kälte geröteten Wangen.

Ryan dreht sich auf den Rücken, und beide schauen in den Himmel, von dem die Schneeflocken fallen. Wie Sternebeobachtung, nur dass diese Sterne wie auf Knopfdruck erscheinen. Ryans Kopf liegt neben Averys Kopf, seine Hüfte an Averys Hüfte. Avery legt seine Beine zu einem zusammen. Und Ryan, der weiß, was Avery vorhat, tut es ihm nach. Sein linker Fäustling findet Averys rechten Fäustling und schließt sich um ihn. Und dann, auf eins-zwei-drei, strecken sie die freien Arme aus und machen Flügel damit. Ein Schneeengel, größer, als jeder von ihnen es für sich allein sein könnte.

»Das hätte ich für heute Abend nicht erwartet«, sagt Ryan. An einem gewöhnlichen Abend wäre er um diese Zeit vermutlich auf der Rückfahrt.

»Ich weiß«, flüstert Avery.

Ryan spürt, wie die feuchte Kälte seine Jeans durchdringt. Wie seine Nase keinen Spaß versteht und jederzeit anfangen kann zu triefen. Der Spalt zwischen Mütze und Jacke lässt eine fiese Kälte bis zu seinem Nacken wandern, trotz des Schals. Doch er will sich immer noch nicht vom Fleck rühren.

Avery zwinkert den Schnee weg, der sich um seine Augen herum anlagert. Er lauscht angestrengt und hört nichts als Schneesprache (schwach), Baumsprache (noch schwächer) und das leise Rascheln von Ryans Jacke an seiner.

»Wir sind die einzigen Menschen auf der Welt«, sagt er.

»So ist es«, stimmt Ryan zu.

Sie bewegen ihre Beine. Ziehen ihre Flügel ein. Wenden sich einander zu. Und verändern so ganz leicht die Fläche, auf der sie liegen, die Form der Welt. Das ist ihnen nicht klar, nicht so ausformuliert. Aber sie spüren es trotzdem.

Pinke Haarsträhnen lugen unter Averys Mütze hervor. Feuchtes blaues Haar ist an Ryans Schläfen angeklatscht, ringelt sich um sein rechtes Auge. Ryan möchte Avery gern wieder küssen, doch mittlerweile läuft seine Nase wie verrückt. Avery ist zufrieden damit, auf die Stille zu lauschen und den Jungen vor ihm anzusehen.

So verharren sie.

Schnee kriecht in ihre Jeans. Schnee sammelt sich auf ihren Jacken und Mützen. Ryan wischt sich die Nase mit dem Fäustling und den Fäustling dann im Schnee ab.

»Wenn ich nicht irre«, sagt Avery, »kann man auf diese Art und Weise an Unterkühlung sterben.«

Er klingt haargenau wie seine Mutter. Merkt es aber nicht. Ryan schon, doch er nimmt es gut auf.

»Zeit, in die echte Welt zurückzukehren«, sagt Ryan.

»Nein«, stellt Avery richtig. »Das hier ist auch die echte Welt.«

Ist sie das?, fragt sich Ryan mit leisem Zweifel.

»Das ist sie«, antwortet er laut.

Avery steht auf und streckt einen Fäustling aus, um Ryan hoch zu helfen. Ryan braucht eigentlich keine Unterstützung, nimmt sie aber hin.

Außerdem sieht Avery damit den Schneeball nicht, den Ryan in seiner freien Hand hält.

 

 

Aus dem Schnee wieder hereinkommen: Niemals sonst trifft der Spruch vom trautem Heim so zu. Avery und Ryan merken erst, wie nass und eingesaut sie sind, als die Tür hinter ihnen ins Schloss fällt, sie sich aus ihren Jacken pellen und die Stiefel abstreifen. Die T-Shirts sind okay – vielleicht ein bisschen verschwitzt –, aber ihre Jeans und Socken sind vollgesogen.

»Jetzt wollen wir dich doch mal von der Hose da befreien«, gurrt Avery, und beide lachen, weil keiner von ihnen vorhat, aus diesem speziellen Moment einen Porno werden zu lassen.

Nicht, dass Avery nicht neugierig wäre. Nicht, dass er nicht jeden Anflug von bloßer Haut, die Ryan je hat sehen lassen, mit Adleraugen begutachtet hätte.

Nicht, dass Ryan nicht in Versuchung wäre. Er ist so weit weg von seinen Eltern, von allen Beschränkungen. Aber er hat auch eine peinlich schäbige Unterhose an. Und es ist so still, dass er das Gefühl hat, wenn er den Reißverschluss seiner Hose runterzieht, würde das Geräusch kreuz und quer durchs ganze Haus zu hören sein und Averys Eltern im Schweinsgalopp hierher führen.

»Ich bin gleich wieder da«, sagt Avery. In der kleinen Waschküche hinter der Garage stellt er zu seiner Erleichterung fest, dass der Trockner durchgelaufen, aber noch nicht geleert ist. Er fischt eine Jogginghose seines Vaters heraus sowie eine trockene Jeans, die ihm selbst gehört, schlüpft schnell hinein, räumt den Trockner ganz leer und steckt seine nassen Jeans mitsamt den Socken hinein. Barfuß geht er zu Ryan zurück, hält ihm die Jogginghose hin und zeigt Richtung Bad, wo ihn ein frisches Handtuch erwartet. Jetzt ist die Reihe an Ryan, »Ich bin gleich wieder da« zu sagen und dann auf Zehenspitzen zum Umkleiden zu schleichen.

Sie sind nicht länger als fünf Minuten voneinander getrennt, doch beide spüren die Trennung, spüren, wie der andere in einem anderen Teil des Hauses wartet. Nachdem er im Bad die Jogginghose unten aufgekrempelt hat, damit sie nicht auf dem Boden schleift, schaut Ryan auf die Uhr, die zu seiner Verwunderung halb elf anzeigt. Wobei er nicht weiß, ob er sich darüber wundert, dass es noch so früh oder schon so spät ist. In dieser Schneenacht scheint es auf das Gleiche hinauszulaufen.

Als Ryan wieder ins Wohnzimmer kommt, bleibt er kurz auf der Türschwelle stehen. Avery hat unterdessen die Couch zu einem Bett umgebaut und hantiert mit Laken. Er wirft sich der Länge nach aufs Bett, um die vierte Ecke des Spannbetttuchs festzustopfen. Wortlos legt Ryan seine nassen Sachen auf den Boden und kommt ihm zu Hilfe.

»Okay«, sagt er.

Avery faltet das zweite Laken auseinander und wirft Ryan die eine Hälfte zu. Tatsächlich macht er selbst sein Bett nur, wenn es unbedingt sein muss – aber da Ryan hier schlafen wird, will Avery alles ordentlich haben. Also streichen sie die Oberfläche glatt, stecken beide zugleich das Laken fest, bis es eben aufliegt.

Dann die Decke. Auch hier arbeiten sie im Zweierteam.

Kissen an Ort und Stelle, fertig. Avery blickt über das Bett hinweg zu Ryan und möchte sofort zu ihm hinkrabbeln, ihn zu sich herunterziehen und alles verwüsten, was sie gerade geschaffen haben.

Aber Ryan fängt das Signal nicht auf. Er hat ein schlechtes Gewissen wegen seiner nassen Klamotten auf dem Teppich, hebt sie wieder auf und fragt Avery, wohin damit.

»Ich mach’s schon«, sagt Avery.

»Nein, nein, alles gut – sag mir nur, wo sie hin sollen.«

Avery geht mit Ryan in die Waschküche und hält ihm die Tür des Trockners auf, als wäre er ein Portier. Ryan bedankt sich mit einer Verbeugung und wirft seine Sachen zu denen von Avery. Nach ein paar Knopfdrücken beginnen sie zu kreiseln.

»Und, was jetzt?«, fragt Avery und hofft auf eine Antwort, die sie zu dem eben geschaffenen Bett zurückführt.

»Ich möchte noch mehr von deinem Zimmer sehen«, erwidert Ryan. Seine Art zu sagen Ich will dein Zimmer kennenlernen, was mit anderen Worten heißt Ich will dich kennenlernen.

»Okay.« Falls Enttäuschung in Averys Stimme mitschwingt, hört Ryan sie nicht.

Als sie in seinem Zimmer sind, denkt Avery, Ryan wird sich hinsetzen und eine Weile so verharren. Doch er bleibt stehen, schaut sich um.

»Was ist das Peinlichste hier, auf das du stolz bist?«, fragt Ryan. Kaum ist es heraus, kommt es ihm unsinnig vor. Aber Avery versteht, was er meint.

»Das hier«, sagt er und geht zum Bücherregal, wo ein pinkes Plüscheinhorn die gesammelten Werke von Beverly Cleary bewacht. »Das ist Gloria. Und sie war ohne Wenn und Aber sehr, sehr lange meine beste Freundin. Wir waren nie lange voneinander getrennt. Früher war sie viel knalliger, aber das ist nicht mehr so. Trifft wohl auch auf mich zu. Meine Eltern wussten mit meiner Affenliebe für sie nichts anzufangen. Sie fanden, in der Abteilung Beste Freundin wäre da noch Luft nach oben. Sie konnten einfach nicht begreifen, dass sie für mich der Teil von mir war, auf den ich hören musste … und wenn es auch als Einhorn daherkam. Aber hey, meine Eltern mussten viele Sachen entlernen. Anders gesagt, sie mussten vieles neu lernen. Wie wir alle. Das tun wir ja immer noch. Du tust es. Ich tue es. Für uns alle ist das Ganze eben total neu.«

Ryan geht zu Avery und stellt sich ihm gegenüber. »Für mich ist es definitiv neu«, sagt er. Damit meint er nicht das, wovon Avery spricht. Er meint, ja, all diese Dinge können entlernt und neu gelernt werden, aber die echte Knacknuss, der wirklich haarige und furchterregende und wunderbare Teil besteht darin, in einem Raum mit jemandem zu sein, den du magst, und zu versuchen, das Richtige zu sagen, das Richtige mit deinem Körper anzustellen, das Signal auszusenden, das so klar wie nur was übermittelt, dass dies hier eine Menge, wirklich eine Menge bedeutet.

Avery hebt das Plüschtier vom Regal und stupst mit dem Horn an Ryans Nase. Ryan lacht.

»Sie ist einverstanden«, versichert Avery ihm.

 

 

Wir finden jemanden, der liebenswert ist, und damit finden wir auch unsere Befähigung, diese Person zu lieben.

Meistens – nein, immer – haben wir keinen Schimmer, wozu wir fähig sind.

 

 

Zwei Jungen küssen sich in einem Raum.