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"Wir stehen dauernd zwischen Entsetzen und Angst", schreibt Walter Zweig 1937 an seinen Vater, als er von seiner endgültigen Löschung aus der Anwaltsliste erfährt. Ihm und seiner Familie bleiben nur die Flucht vor den Nazis und die Auswanderung nach Kenia. Der Abschied und die Zerstörung aller Hoffnung reißen tiefe Wunden. Dennoch wird die Zeit in Afrika für seine Tochter Stefanie mit die glücklichste in ihrem Leben. Raffiniert montiert Stefanie Zweig Briefe von verschiedenen Absendern und erzählt eindrucksvoll die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend. Atmosphärisch dicht verwebt sie Zeitgeschichte mit den prägenden Erlebnissen in Afrika und dem Schicksal ihrer Familie.
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Seitenzahl: 518
Stefanie Zweig
Nirgendwo war Heimat
Mein Leben auf zwei Kontinenten
Mit 31 Fotos und Dokumenten
LangenMüller
Die Bilder auf der nächsten Seite zeigen Lotte Zweig geb. Perls (genannt Jettel) als Sechsjährige im Jahr 1914 in Breslau und Walter Zweig als Siebenjährigen im Jahr 1911 in Sohrau, damals noch Oberschlesien.
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© 2012 LangenMüller in der
F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.
Alle Rechte vorbehalten.
Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel
Schutzumschlagfotos: Privat und Shutterstock-images
Satz: und eBook-Produktion EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
ISBN 978-3-7844-8129-6
Im Andenken an meine geliebten Eltern und an meinen unvergessenen Bruder Max.
1
Geburt eines Kindes
Leobschütz, 19. September 1932
Telegramm von Walter Zweig an seinen Vater Max Zweig, Hotel Zweig, Sohrau, Polen, 19. September
Du bist Großvater. Ein Mädchen. Stefanie Regina erwartet Dich und Liesel. Walter
Telegramm von Walter Zweig an seine Schwiegermutter Ina Perls, Breslau, Goethestraße 5, 19. September
Steffi ist da. Jettel gesund. Wann kommen Oma und Tanten? Walter
Brief von Walter Zweig an Josef Greschek, Elektrogeschäft Leobschütz, Am Markt, Brief per Bote am 19. September
Lieber Greschek! Ich habe Sie den ganzen Tag nicht telefonisch erreichen können. Meine Tochter ist seit zwei Stunden auf der Welt und will mir nicht glauben, dass die Glühbirne bereits erfunden worden ist. Während meine Frau in den Wehen lag (sehr lange), hat ihr Mann nämlich versucht, einen Kurzschluss zu reparieren. Nun hat das ganze Haus kein Licht, die junge Mutter tobt wie ein Marktweib, der man einen falschen Fuffziger angedreht hat, meine Tochter wird abends nicht im Bett lesen können, die Säuglingsschwester droht mit Kündigung, und der Arzt hat mich den dämlichsten jungen Vater genannt, der ihm in seiner ganzen Laufbahn untergekommen ist.
Können Sie jemanden herschicken oder selbst rüberkommen? Bitte lassen Sie mich durch meinen Bürolehrling, der diesen Brief überbringt, wissen, wann Sie wieder Licht in unser Leben bringen und mit mir den ersten Schnaps auf das Wohl meiner Tochter trinken können.
Mit freundschaftlichen Grüßen Dr. Walter Zweig
Brief vom 20. September von Walter Zweig an Fräulein Anna Kotzlik, Hennerwitz
Verehrtes Fräulein Anna, meine Frau ist gestern niedergekommen, also zweieinhalb Wochen früher, als der schlaue Doktor ausgerechnet hat. Mit einem Mädchen. Mutter und Kind sind Gott sei Dank beide gesund. Unsere Tochter heißt Steffi, sie wiegt knapp fünf Pfund, hat keine Haare und – jedenfalls bis jetzt – kein Gramm Verstand. Sie hatte nämlich die Nabelschnur dreimal um den Hals gewickelt, war ganz blau und hat nicht schreien wollen, als sie auf die Welt kam. Die Hebamme hat sie verprügeln müssen, damit sie sich zu Wort meldet. Dr. M. sagt, nur seiner Tüchtigkeit sei es zu verdanken, dass das Kind überhaupt lebe. Schwester Greta behauptet das auch.
Sie, liebe Anna, muss ich bitten, so schnell wie möglich aus Hennerwitz zurückzukommen. Sie wissen ja, wie meine Frau ist, wenn die Dinge nicht so gehen, wie sie geplant worden sind, und der Arzt sagt, sie braucht nach der schweren Geburt viel Ruhe. Bitte entschuldigen Sie mich bei Ihren Eltern. Ich weiß sehr gut, was ich Ihnen antue. Schließlich hat ja Ihre Mutter für den ganzen September fest mit Ihrer Unterstützung gerechnet.
Sobald Sie wieder bei uns sind, packe ich die verdammte Kinderschwester an ihrem albernen Zopf und werfe sie in hohem Bogen aus dem Mansardenfenster. Das freche Luder hat uns zum Freitagabend eine Suppe aus Hühnerknochen gekocht und dann noch dreist gefragt, woher sie habe wissen können, dass der Freitagabend für die Juden etwas Besonderes sei und dass sie dann keine Hühnerknochen essen wollen. Außerdem stopft sie so viel alte Semmel in die Fleischbrotel, dass es einen Hund jammert. Sie stammt aus Norddeutschland. Von Heringshäckerle und Mohnklößen zu Weihnachten hat sie noch nie etwas gehört.
Bitten Sie Ihren werten Herrn Vater in meinem Namen, Ihnen zwei seiner Suppenhühner mitzugeben. Natürlich gegen Bezahlung. Jeder weiß ja, dass er die besten Hühner in ganz Oberschlesien hat, und meine Frau braucht jetzt kräftige Kost. Ihr Mann ebenfalls. Er hat sich so aufgeregt, dass selbst seiner Frau aufgefallen ist, dass er ganz grün im Gesicht war. Wenn das Kind auch ein Mädchen ist, es gefällt uns beiden. Von der Nabelschnur um den Hals merkt man nichts mehr. Steffi kann schon so gut schreien, dass man es auf der anderen Straßenseite hört, aber ich glaube nicht, dass sie zur Oper wird gehen wollen.
Mit herzlichem Gruß Ihr Dr. Walter Zweig
Brief vom 20. September von Walter Zweig an Rechtsanwalt Dr. Siegfried Laska in Ratibor
Verehrter Kollege Laska, in der Aufregung über die Geburt meines ersten Kindes habe ich die Adresse des von Ihnen mir empfohlenen Mohel1› Hinweis verlegt. Ich weiß noch nicht einmal, wie er heißt und ob er überhaupt in Ratibor wohnt. Wären Sie so liebenswürdig, ihm ausrichten zu lassen, dass er seinen Besuch in meinem Haus aus Gründen, die ich nicht zu verantworten habe, auf unbestimmte Zeit verschieben muss. Meine Frau ist gestern nämlich mit einer Tochter (Stefanie Regina) niedergekommen. Sollten sich für den Mohel schon irgendwelche Kosten ergeben haben, die im Zusammenhang mit meiner Voreiligkeit und seiner präsumtiven Reise nach Leobschütz stehen, komme ich selbstverständlich dafür auf.
Wir drei würden uns sehr freuen, Sie und Ihre charmante Gattin wieder einmal bei uns in Leobschütz begrüßen zu dürfen. Bei dieser Gelegenheit erinnere ich Sie an den Umstand, dass ich Ihnen eine Flasche französischen Rotwein schulde. Bei unserer Wette über den Ausgang der Reichstagswahlen im Juli hatten Sie den großen Sieg der Nazis genau vorausgesehen, während ich Illusionist mich von meiner Zuversicht hatte treiben lassen, die Vernunft und die SPD würden siegen. Welch ein Glück, dass der braune Mob wenigstens nicht allein die Regierung stellen kann.
Mit kollegialen Grüßen Ihr Walter Zweig
Brief vom 21. September von Walter Zweig an die Weinhandlung Friedrich Michalsky in Gleiwitz
Sehr geehrte Herren, mit gleicher Post gehen die von Ihnen am 31. August mir zugesandten fünfzehn Flaschen Wein und die drei Flaschen Sekt an Sie zurück. Sie waren bei meinem Besuch in Ihrem Haus so freundlich, mir die Rücknahme für den Fall zu gestatten, dass meine Frau mit einem Mädchen niederkommen würde. Das ist vor zwei Tagen geschehen. Ich verpflichte mich indes schon heute, zur Hochzeit meiner Tochter Stefanie Regina Zweig sämtliche benötigte alkoholischen Getränke ausschließlich von Ihrer werten Firma zu beziehen.
Die drei Flaschen Kümmel, den Wodka und den Kroatzbeerenlikör habe ich hierbehalten. Schnaps kann ein Mann ja auch trinken, wenn es nichts zu feiern gibt.
Mit nochmaligem Dank für Ihre außergewöhnliche Kulanz Dr. Walter Zweig, Rechtsanwalt und Notar
Eilbrief vom 25. September von Fräulein Steffi Kohn, Breslau, Poststraße 4, an Jettel Zweig
Meine liebe Jettel, zur Geburt Deiner Tochter gratuliere ich Dir und dem lieben Walter von ganzem Herzen. Ich wünsche ihr ein langes und glückliches Leben in Zufriedenheit und Wohlstand. Möge sie so schön werden wie Du und so klug, tüchtig und liebenswürdig wie ihr Vater. Möge sie vor allem nie erleben, wie grausam das Leben mit den Träumen und Hoffnungen von Frauen umzugehen vermag.
Dass Du bereits zwei Tage nach der Geburt, die Dich ja sehr angestrengt haben muss, Deine alte Schulfreundin von dem freudigen Ereignis persönlich benachrichtigt hast, hat mich beglückt. Natürlich berührt es mich auch sehr, dass Deine Tochter und ich nun den gleichen Vornamen haben. Gäbe es bei den Juden Patentanten, würde ich die Verpflichtungen, die daraus erwachsen, freudigen Herzens übernehmen. Ein silberner Löffel und ein Schieber mit »unserem« Namen gehen morgen ab.
Ein Mädchen, das eine so glückliche Hand bei der Wahl ihrer Eltern bewiesen hat, wird bestimmt keine neidische alte Jungfer werden, wie es ihre Breslauer Namensschwester geworden ist. Auch das viele Geld, das ich eines Tages erben werde, kann mich nicht darüber hinwegtrösten, dass ich nur die Klagemauer meiner schwierigen Mutter sein darf. Wir haben dieses Jahr schon das dritte Hausmädchen und die zweite Köchin. Mama hat dem Schicksal nie verziehen, dass ihr einziges Kind eine Tochter ist, sie erzählt jedem, der es nicht hören will, dass die Mütter von Söhnen doch viel besser im Leben dastehen als die Mütter von Töchtern.
Obwohl ich Deine beste Freundin bin und nie missgünstig war, habe ich Dir schon in der zweiten Klasse Deine Schönheit und Deinen Charme geneidet. Und später Deinen Mann. Ich lasse ihn, der mich nie hat fühlen lassen, wie unattraktiv und langweilig ich bin, von Herzen grüßen. Ich kann mir vorstellen, wie glücklich Walter mit der kleinen Steffi ist. Mir fiel immer auf, wie kinderlieb er ist.
Walter und Jettel Zweig im Frühling 1932 in Leobschütz. Sie hatten am 27. Dezember 1931 geheiratet und meine Mutter war sofort schwanger geworden.
Gestern, in der Hutabteilung bei Wertheim, traf ich Deine Mutter. Sie sah blendend aus, hatte gerade eine wunderschöne, handbestickte Ausgehgarnitur für ihr erstes Enkelkind gekauft und ist schier vor Stolz geplatzt. Obwohl es elf Uhr früh war, war Deine Schwester Käthe, die ja gewöhnlich nicht vor dem Mittagbrot ihr Bett zu verlassen pflegt, bei ihr und ebenso hochgestimmt über die Leobschützer Neuigkeiten wie die frisch gebackene Oma. Käthchen – mit einer blauen Schleifenbluse und moderner schwarzer Samtkappe – war bildschön und, wie immer, sehr herzlich. Ich glaube, sie weiß gar nicht, was Eifersucht ist. Übrigens hat mir unsere gemeinsame Freundin Greta Bernstein erzählt, Arno Katschinsky, dessen Vater sich ja mit seinen Immobilien dumm und dämlich verdient, ohne dass er einen Finger rühren muss, bemüht sich neuerdings um Käthe. Da kann man ihr nur gratulieren. Arno soll ein hochanständiger Kerl sein und trotz seines vielen Geldes ausgesprochen bescheiden. Hauptsache, er kommt nicht zu früh dahinter, dass unser Käthchen noch fauler ist als die Pechmarie, die Frau Holles Bettzeug nicht ausschütteln wollte. Und eine Plaudertasche ist sie auch. Sie hat mir prompt erzählt, dass Dein Mann für Deine Schwester Suse das Schulgeld zahlt, damit sie das Abitur machen kann. Ich weiß nicht, ob das Deiner Mutter recht ist, dass andere das wissen. Von Suse ganz zu schweigen. Bekanntlich ist sie ja ein wenig schwierig.
Es grüßt Dich von Herzen und mit einem ganz ungehörigen, neidischen Seufzer Deine alte (und hoffentlich immer noch beste) Freundin Steffi, der es vorkommt, als wärst Du schon seit Ewigkeiten weg von Breslau. Dabei ist noch kein Jahr seit Eurer Hochzeit vergangen.
Telegramm vom 28. September von Dr. Martin Batschinsky, Breslau, an Walter Zweig
Bravissimo! Ankomme Freitagnachmittag mit Vater, Kalbszungen und Wein. Martin
Brief vom 1. Oktober von Emmy Redlich, Jüdisches Altersheim, Berlin, an Jettel und Walter Zweig
Meine liebe Jettel, mein lieber guter Neffe Walter, ich habe mich so sehr über Eure Geburtsanzeige und Walters persönliche Zeilen gefreut, dass ich sofort Herztropfen nehmen musste. Neuerdings verbieten einem ja die Ärzte auch freudige Aufregungen, und zum ersten Mal habe ich gemerkt, dass sie recht haben. Ich gratuliere Euch beiden zur glücklichen Geburt Eurer Tochter. Dem Kind wünsche ich ein Leben in Gottesfurcht, Vaterlandstreue und Gesundheit. Möge die Kleine so herzensfroh, hilfsbereit, fleißig und tüchtig werden wie ihre Tante Liesel in Sohrau, die ich nie länger als zehn Minuten hintereinander auf einem Stuhl habe sitzen sehen, und möge sie so resolut werden wie ihre Großmutter selig, meine so beklagenswert früh verstorbene Schwester Regina. Von ihr habe ich nie ein Wort der Klage gehört, obwohl doch jeder wusste, dass die Last des Lebens zum allergrößten Teil auf ihren Schultern lag – schon, weil ihr Mann entweder im Krieg seinen Heldenmut beweisen wollte oder in seinem Hotel die Honneurs gemacht hat. Lasst meinen verehrten Schwager in Sohrau bloß nicht diesen Brief sehen. Soweit ich in Erinnerung habe, schätzt er Kritik an seiner Person nicht. Und mich hat er nie geschätzt.
Wie in aller Welt seid Ihr auf den meschuggenen Namen Stefanie verfallen? Der passt nicht gerade gut in eine jüdische Familie. Jedenfalls in eine, die in Deutschland lebt. In Österreich mag das ja anders sein. Wie man an dem bekannten Schriftsteller Stefan Zweig sieht. Der ist zwar jüdisch, aber, wenn Ihr mich fragt, macht er nicht viel Gebrauch davon. Wenigstens habt Ihr Regina als zweiten Vornamen gewählt. Ihre selige Großmutter, der es – durch die Untüchtigkeit der Herren Ärzte – ja nicht vergönnt wurde, ihr erstes Enkelkind zu erleben, wäre hochzufrieden. Sie hat mir immer erzählt, dass sie in der Schule furchtbar unter dem Namen Regina gelitten hat. Ihre Mitschülerinnen und auch viele Lehrer nannten sie Königin Redlich, und ihre Schulhefte wurden mit Kronen und Wappen beschmiert, auf denen entsetzlich vulgäre Sprüche zu lesen waren.
Ganz bestimmt hätte meine geliebte Schwester Euch das gesagt, was ich nun für sie tue: Grämt Euch nicht, dass Euer erstes Kind nicht der Stammhalter geworden ist, den sich ein jeder Vater wünscht. Ihr seid ja beide noch jung und könnt in Ruhe und Geduld abwarten, dass Gott Euch mit einem Sohn segnet. Außerdem haben wir im Krieg erleben müssen, was es für eine Frau bedeutet, Mutter eines Sohnes zu sein und den in einem Alter hergeben zu müssen, in dem sein Leben erst anfängt. Hier im Altersheim sind viele Frauen (alles Witwen), die ihre Söhne an der Front verloren haben. Darüber hinweggekommen ist keine von ihnen. Viele sind so verbittert, dass sie ganz offen darüber sprechen, dass der Kaiser, für den ihre Söhne ihr Leben opferten, kein einziges seiner Kinder im Krieg hat hergeben müssen. Manchmal denke ich, dass der Herrgott es gar nicht so schlecht mit mir gemeint hat, als er bestimmte, dass die kecke kleine Emilie Wilhelmine Redlich, nach der die Buben ganz verrückt waren und die im Alter von elf Jahren beschloss, in die Familie des Grafen von Pless einzuheiraten, eine alte Jungfer werden sollte.
Der kleinen Steffi wünsche ich, sie möge die Worte Krieg, Antisemitismus, Inflation und Arbeitslosigkeit nur aus den Geschichtsbüchern kennenlernen. Und von Herzen wünscht ihr ihre Großtante, dass sie so liebenswürdig wird wie ihre reizende Mutter, deren Besuch bei mir in Berlin ich nie vergessen werde. Möge sie so loyal zu ihren Idealen stehen, wie ihr Vater es immer getan hat. Ich sehe ihn noch heute als fünfjährigen Burschen im Reitanzug vor der Bank seines Vaterhauses sitzen. »In Sohrau leben nur gute Menschen«, hat er gesagt. Und seine Mutter und seine Tante guckten sich an und sagten aus einem Mund »Nebbich«.
Meine oberschlesische Heimat kann ich nie vergessen, obwohl ich das manchmal durchaus will, denn im Alter tun auch die guten Erinnerungen weh. Allerdings bin ich in den Jahren meines Berliner Lebens (es sind jetzt genau fünfundfünfzig, und alles nur wegen einer geplatzten Verlobung) dahintergekommen, dass man in Berlin sehr viel besser einkaufen kann als in Sohrau. In den Mantel und die Gamaschen, die ich für Steffi ausgesucht habe, wird sie schnell hineinwachsen. Gamaschen braucht ein Mädchen ja immer. Das Goldkettchen mit dem Magen David möge sie später in dem Bewusstsein tragen, dass Gott vor allem die Menschen schützt, die ihrem Glauben treu bleiben.
Kommt Ihr nicht mal nach Berlin? Ich weiß, von Leobschütz aus muss das eine Reise zu einem fremden Kontinent sein, aber ich traue mich nicht mehr zu reisen. Die Leute werden immer rücksichtsloser. Sie kommen gar nicht auf die Idee, einer alten Frau den Koffer aus der Bahn zu heben. Trotzdem belästige ich Gott weiter mit Gebeten, er möge dafür sorgen, dass ich Euch wiedersehe.
Dieser Brief ist unverschämt lang geworden, ich sehe Euch schon die Stirn runzeln, weil Ihr wahrhaftig anderes zu tun habt, als Euch mit den Ergüssen einer alten Frau zu beschäftigen, doch mir ist, als ich anfing, an Sohrau und meine Jugend zu denken, das Herz ganz schnell übergelaufen. Verzeiht mir.
In großer Liebe und mit einer innigen Umarmung grüßt Euch von Herzen Eure sehr alte Tante Emmy
Brief vom 15. Oktober von Dr. Max Plaut in Hamburg an Walter Zweig
Mein lieber Walter, nun ist Dein Fräulein Tochter fast einen Monat alt, und Dein ältester Freund schreibt Dir erst heute. Als aber die freudige Nachricht aus Leobschütz in Hamburg eintraf, war ich unterwegs in Berlin. So komme ich erst heute dazu, Dir und der lieben Jettel (der ich noch gesondert schreiben werde) zu gratulieren. Ich tue das von ganzem Herzen. Möge Steffi der lautere Charakter ihres Vaters beschieden sein, den ich immerhin nun achtundzwanzig Jahre kenne, wenn ich auch bei seiner Brit2› Hinweis erst zwei Jahre alt war und laut der Familienchronik dort äußerst unangenehm auffiel – bekanntlich versuchte ich, dem acht Tage alten Knaben unmittelbar vor der Brit Schnaps mit einem Trichter einzuflößen, wofür ich von seinem Großvater Salo eine Ohrfeige verpasst bekam. Für seine Schlagfertigkeit war der Destillateur Salo Zweig ja ebenso berühmt wie für seinen ausgezeichneten Kümmel.
Ich kann mir vorstellen, wie stolz Steffis Eltern und ihre Breslauer Großmutter sind, und ich hoffe sehr, dass ihr Großvater in Sohrau es ebenso ist. Gerade er ist ja ein Mann, der die Frauen schätzt, wenn er auch seit jeher Schwierigkeiten hatte, dies denen der eigenen Familie zu zeigen. Deine selige Mutter hat sich oft bei meiner Mutter beklagt, dass es ihren Max drängte, aus fremden Schüsseln zu naschen. Und bei Deiner Schwester Liesel lässt er zu, dass sie sich für das Hotel Zweig und für ihn bis zur Erschöpfung abrackert und ihre besten Jahre in einem Kaff vergeudet. Immerhin ist sie schon fünfundzwanzig, und einen jüdischen Ehemann wird sie in Sohrau nicht finden. Das wäre in der überalterten Gemeinde auch keiner meiner Schwestern gelungen, obwohl sie alle schön, fleißig und fügsam sind.
Mein Großvater Max Zweig mit mir vor seinem Hotel in Sohrau.
Ich komme vom Thema ab. Dabei wollte ich nur taktvoll anregen, dass Du Deine Tochter umsichtiger und liebevoller behandeln sollst als Dein Vater die seinige. Mit dem Takt ist es wohl nichts geworden, und zum Themaverfehlen hatte ich laut Auskunft meines Vaters, der ja unser beider Lehrer war, eine frühe Neigung. Ihm geht es gut, er lässt seinen Lieblingsschüler ganz herzlich grüßen. Weißt Du eigentlich, dass Vater seit zwei Jahren Leiter des Deutsch-Israelitischen Waisenhauses in Hamburg ist?
Meine Mutter hat, als sie von der Geburt Deiner Tochter erfuhr, sofort gesagt: »Der Walter war dir schon immer einen Schritt voraus. Mut hat er ja immer gehabt.« Meine zwei Doktortitel und dass ich so jung schon so viele Ehrenämter habe, dass ich allgemein als netter Mensch gelte, nicht schlecht verdiene und auch recht gute Aussichten habe, es noch weiter zu bringen auf dem Weg nach oben, interessiert Muttchen nur am Rande. Mit dem Instinkt, für den jüdische Mütter berühmt sind, wittert sie nämlich, dass ich immer noch auf der Suche nach der ultimativen Erfüllung bin. Von der passenden Frau ganz zu schweigen.
In Berlin habe ich mir nicht nur eine fürchterliche Grippe geholt. Ich habe auch endgültig begriffen, dass die Zeit, in der wir leben, wenig Anlass gibt, Gutes von der Zukunft zu erwarten. Nirgends wird die Not der Deutschen so deutlich wie in der Hauptstadt. Immerzu Streiks, überall Junge und Alte mit Schildern um den Hals, die um Arbeit bitten, auf allen Straßen Bettlern, Krüppel, Kinder, denen der Hunger aus den Augen schaut, und braune Horden, die zu jeder Art von Gewalt bereit sind. Betritt dann ein Judenhasser aus Österreich die Bühne und verspricht dem deutschen Volk ein Drittes Reich in Wohlstand und mit Arbeit für alle, während sich die Demokratie ad absurdum führt, ist es weiß Gott nicht damit getan, das Ganze als das Geschwätz eines schnauzbärtigen Parvenü abzutun. Ich jedenfalls glaube nicht, dass der Kerl ebenso schnell verschwinden wird, wie er gekommen ist. Der Rattenfänger von Hameln wird auch ein paar Mal geprobt haben, ehe er die Kinder erfolgreich in den Tod führte.
Jetzt habe ich das Thema leider nicht verfehlt. Wie heißt es doch bei unserem gemeinsamen Freund Cicero: Wir aber, tapfere Männer, glauben, unsere Pflicht als Staatsbürger zu erfüllen, wenn wir nur dem tollkühnen Angriff dieses Menschen ausweichen … Ich bin immer wieder erstaunt, wie wenig sich die Welt seitdem verändert hat.
Richte Deiner Tochter aus, sie möge Verständnis dafür aufbringen, dass meine Eltern ihr ein Gebetbuch geschenkt haben, mache ihr klar, dass es uns auch nicht besser gegangen ist in unserer Kindheit. Gib Jettel einen Kuss von mir. Bist du eigentlich immer noch so eifersüchtig wie früher, oder gibt es in Leobschütz keine Versuchungen, die eine schöne junge Frau zu sündigem Tun verführen könnten? Und Du, Walter, bist Du endlich so weit, um zu begreifen, dass weder Sohrau noch Leobschütz Mittelpunkt der Welt sind? Wenn Gott gewollt hätte, dass wir immer zu Hause sitzen, hätte er uns nicht zu Menschen gemacht, sondern zu Schnecken.
Deine Frau weiß das. Erstens ist sie Breslauerin, und zweitens hat sie (das hat mir ihre Mutter bei Eurer Hochzeit erzählt) Hamburger Wurzeln. Vielleicht kann sie dafür sorgen, dass wir uns wiedersehen, ehe wir graue Haare und einen Buckel kriegen. Oder muss ich dazu erst heiraten und Euch zur Hochzeit einladen?
Herzlichst Dein alter Freund Max
Brief vom 27. November von Walter Zweig an seine Schwester Liesel Zweig, Sohrau
Liebe Liesel, am Buß- und Bettag sind mir schon immer die besten Ideen gekommen. Siehe 1912, als ich acht war und aus sämtlichen Taschentüchern meiner sechsjährigen Schwester die Blumen herausgeschnitten habe. Damals habe ich gelernt, was Büßen bedeutet. Diesmal aber habe ich eine wirklich gute Idee. Von Stattlers, die mich in einer beruflichen Angelegenheit angeschrieben haben, erfuhr ich, dass Vater zu Tante Emmy und den Wolfsohns nach Berlin reisen will, was mich besonders freut, weil ich in deren gastfreundlichem Haus die schönsten Ferien meines Kinderlebens verbringen durfte. Hättest Du nicht Lust, uns in dieser Zeit – es ist ja auch Chanukka – zu besuchen? Erstens könnte Dich meine Tochter, die Du ja bisher nur ein einziges Mal gesehen hast, davon überzeugen, dass sie ein besonders reizendes Kind ist. Und zweitens ist ihr Vater immer noch der Egoist, der er immer gewesen ist. Er setzt darauf, dass es seiner Schwester gelingt, seine Frau ein wenig aufzumuntern, was sie dringend nötig hat und ihr Mann nicht schafft. Jettel leidet weiter an den körperlichen und seelischen Folgen der Geburt; wir hatten eben ein Riesenpech mit dem Arzt.
Zum Glück hat Jettel nicht mitbekommen, dass es an der Universität Breslau zu schweren Übergriffen der Nazis auf ihre jüdischen Kommilitonen gekommen ist und dass die Universität zwei Wochen geschlossen wurde. Erwähne das nur nicht in Deinem Antwortbrief. Hoffentlich fällt er positiv aus. Dein Bruder ist nämlich auch malade. Vorerst nur im Kopf. Er ist überarbeitet und hat Sehnsucht nach Dir.
Dein Walter
Am 1. Dezember schreibt Jettel Zweig an ihre Mutter in Breslau
Meine liebe gute Mutti, gestern hat mir der Arzt die Reise nach Breslau verboten. Noch nicht einmal auf vier Tage wollte er sich einlassen. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie enttäuscht und traurig ich bin. Ich bin ja seit März nicht mehr aus Leobschütz herausgekommen. Vor allem seit Steffis Geburt habe ich das Gefühl, dass ich es nicht einen Tag länger in diesem Nest aushalten kann, ohne verrückt zu werden. Walter versteht das natürlich nicht. Er hat ja seine ganze Jugend in einem Kuhdorf verbracht, das noch viel kleiner ist als Leobschütz. Soweit ich mitbekomme, gab es in Sohrau in Walters Kindheit überhaupt keine Abwechslung außer dem Pferdewechsel, der ja unmittelbar vor dem Hotel der Familie stattgefunden hat. Mein Schwiegervater strahlt heute noch, wenn er davon erzählt. Ich glaube, es tut ihm leid, dass das Auto inzwischen erfunden wurde.
Sohrau 1933:Liesel Zweig, die Schwester meines Vaters, mit ihrer acht Monate alten Nichte.
Dr. Rother (obwohl er seine Praxis in Ratibor hat, kommt er jetzt noch jeden Mittwoch zu mir) sagt, mit einer Brustentzündung, wie ich sie hatte, und noch dazu mit einer total verschleppten, sei nicht zu spaßen. Und wenn ich mir auf der langen Bahnreise nach Breslau eine Erkältung oder gar eine Grippe holen würde, wäre es mit meiner Genesung ganz vorbei. Wie krank ich wochenlang war, habe ich Dir gar nicht zu schreiben gewagt. Erst recht nicht, weil mein lieber Mann ja immer weiter auf den Arzt hier in Leobschütz bestanden hat. Alle haben den Kopf geschüttelt, aber Du weißt ja, wie Walter ist. Trotz seiner Gutmütigkeit total unbelehrbar. Ich muss zugeben, dass Dr. M. in Leobschütz großes Ansehen genießt, doch er ist kein Frauenarzt, vom Kinderkriegen versteht er so viel wie eine Kuh vom Seiltanzen, doch mein rücksichtsvoller Gatte hat immer weiter auf den Leobschützer Medizinmann bestanden, denn er ist ein Bundesbruder von ihm und hätte ja gekränkt sein können, wenn wir einen zweiten Arzt hinzugezogen hätten.
Mir ging es von Tag zu Tag schlechter, Walter hat keine Nacht mehr geschlafen und sämtliche Mahlzeiten ausgebrochen, Steffi schrie die Nächte durch, weil sie die Flaschenmilch nicht vertrug. Ich habe nur noch geweint. Schließlich war es unsere energische Anna, die endlich Nägel mit Köpfen gemacht hat. Das werde ich ihr nie vergessen. Anna hat mit Kündigung gedroht, falls Walter nicht auf der Stelle einen zweiten Arzt holt. So ist es unserem treuen Dienstmädchen als Einziger gelungen, den starrsinnigen Dr. Zweig, dem die Gefühle seines Bundesbruders wichtiger waren als die Gesundheit seiner Frau, zur Räson zu bringen. Sämtliche Bekannten empfahlen Dr. Rother aus Ratibor, einen Frauenarzt mit einem ausgezeichneten Ruf und einem wirklich liebevollen Wesen. Er hat sogar Onkel Gustav noch gekannt und sagt, einen besseren Hautarzt habe es in ganz Breslau nicht gegeben. Deine Schwester und die liebe Else wird das freuen, wenn Du ihnen das erzählst. Siehst Du sie eigentlich noch oft, oder ist Else immer noch verbittert, weil ihre Cousine geheiratet hat und sie keinen Mann findet? Was nützt da ein abgeschlossenes Medizinstudium?
Dr. Rother ist noch am gleichen Tag hier angereist. Ihm allein habe ich es zu verdanken, dass ich heute wieder leidlich gesund bin, kurze Spaziergänge machen kann und auch wieder Appetit habe. Du wirst verstehen, dass ich mich nicht über seinen Rat hinwegsetzen kann. Allerdings habe ich Walter klipp und klar erklärt, wenn er mich noch einmal im Leben zu einem Arzt zwingt, nur weil der ein Bundesbruder von ihm ist und wie ein Honigkuchenpferd strahlt, wenn von der Studentenzeit die Rede ist, lasse ich mich auf der Stelle scheiden.
Wie mutlos ich bin, weil ich nun nicht reisen darf, kannst Du Dir ja vorstellen, liebe Mutter. Gerade die Vorweihnachtszeit in Breslau mit den schön geschmückten Geschäften und den Cafés mit dem wunderbaren Gebäck habe ich immer so geliebt. Dass ich voriges Jahr um diese Zeit noch unverheiratet war und in Breslau zu Hause, kann ich selbst schon nicht mehr glauben. Ich hatte mir in den schönsten Farben ausgemalt, wie es sein würde, mit Dir durch Wertheim zu spazieren und nach Herzenslust einzukaufen, ohne dass mein kleinbürgerlicher Mann nach dem Preis eines jeden Kleidungsstücks fragt und seufzt. Walter ist nämlich besessen von der Idee, dass wir demnächst am Hungertuch nagen werden und dass wir jeden Pfennig für Notzeiten sparen müssen. Es will einfach nicht in seinen Dickschädel, dass eine Frau nach der Schwangerschaft neue Garderobe braucht. Meine Hüte vom vorigen Jahr würden in Breslau noch nicht einmal die Zugehfrauen tragen, ohne sich zu genieren. Ich muss oft daran denken, wie Du früher gesagt hast, dass die Welt ganz anders aussehen würde, wenn die Männer die Kinder kriegen müssten. Erst jetzt verstehe ich richtig, wie Du das gemeint hast.
Am besten, ich vergesse auch, was Theater ist und wie schön das Leben für eine junge Frau sein kann, wenn sie in einer Großstadt lebt. Selbst im Kino kommt man in Leobschütz nicht auf seine Kosten. Die Filme sind oft so alt, dass man sie in Breslau schon vergessen haben dürfte, und der Ton ist eine wahre Zumutung. Die Schauspieler klingen alle, als hätten sie Halsentzündung, und die kann man sich dann auch selbst holen, weil es im Kino so miserabel geheizt ist.
Es bleiben, wenn einem die Decke nicht auf den Kopf fallen soll, also nur die Einladungen bei unseren jüdischen Freunden. Die nichtjüdischen Bekannten sind zwar alle sehr freundlich und hilfsbereit, aber auch recht reserviert. Unsere Gastgeberinnen, fast immer ältere Damen, geben sich eine rührende Mühe mit mir, sie überbieten einander mit ihren Backkünsten (allerdings kann keine einen so guten Käsekuchen backen wie meine Mutter), drücken und küssen Steffi so lange, bis sie wie am Spieß schreit, und haben für jede Lebenssituation einen Patentrat. Viele von den Frauen machen mir allerdings Angst. Sie weisen mich immerzu darauf hin, dass Steffi nicht so schnell zunimmt, wie es ihre eigenen Kinder getan haben, und reden in meiner Anwesenheit viel zu oft davon, dass es ein großer Nachteil für ein Kind ist, wenn eine Mutter es nicht stillen kann. Der liebe Dr. Rother muss mich immerzu beruhigen. Er sagt, das gleicht sich bis zum ersten Lebensjahr fast immer aus, ein Kind muss sich nicht kugelrund essen, um gesund zu sein.
Die hiesigen jüdischen Männer gefallen mir – die meisten sind Akademiker oder gut verdienende Kaufleute. Leider reden sie immerzu über Politik. Walter ist überhaupt nicht zu bremsen, sobald das Thema auf die Nazis kommt. Ich habe immer gedacht, das würde besser werden, nachdem die Nazis bei den Reichstagswahlen im November so viele Stimmen verloren haben, obwohl sie den Mund so voll genommen hatten, aber seitdem hat die wackere Leobschützer Männerrunde richtig losgelegt. Ich könnte schreien, wenn sie sich an Hindenburg, Schleicher und Papen festbeißen. Neuerdings auch immer mehr an Hitler.
Ich komme ganz vom Thema ab, wenn ich nur an die politischen Diskussionen denke, die man über sich ergehen lassen muss, dabei beschäftigt mich eine ganz andere Frage. Wie wäre es, wenn Du und Suse in ihren Weihnachtsferien nach Leobschütz kommen würdet? Schließlich hat meine kleine Schwester ihre Nichte noch kein einziges Mal gesehen. Wir drei könnten es uns hier schön gemütlich machen – wenigstens das kann man in Leobschütz. Zu Chanukka wird auch Walters Schwester Liesel aus Sohrau kommen. Ich freue mich. Ich habe sie sehr gern und sie mich auch. Das spürt man. Liesel hat eine ruhige Art und reagiert überhaupt nicht, wenn ihr hitzköpfiger Bruder aus dem Nichts einen Streit anfängt. Sie hat mir erzählt, er sei schon als Kind so wählerisch mit dem Essen gewesen. Wenn es ihm bei seiner Mutter nicht geschmeckt hat, ist er zum Vater ins Hotel gelaufen und hat sich Krautrouladen und Apfel im Schlafrock bestellt. Er war noch so klein, dass er auf Büchern sitzen musste, damit er an den Tisch herankam. Hoffentlich geht Steffi nicht nach ihm.
Ich verspreche, mich kein einziges Mal mit meiner Schwester Suse zu streiten, wenn Ihr kommt. Herr Greschek, Walters bester Mandant, dem ein großes Geschäft für Lampen und elektrischen Bedarf gehört, hat nicht nur ein gutes Herz. Er hat auch ein Auto und hat versprochen, uns herumzufahren, wenn Ihr kommt. Wenn Anna sonntags nicht freihat und also Steffi versorgen kann, macht er mit Walter und mir Ausflüge über die Grenze zum Kaffeetrinken in die Tschechei. Da ist nicht nur der Kuchen wunderbar und der Kaffee ein Genuss, die Klöße und die Wiener Schnitzel sind noch viel besser als die von Frau Kohns hoch gelobter böhmischer Köchin. Neulich waren wir im Kabarett. Ich war auf einen Schlag ein ganz neuer Mensch.
Ihr werdet staunen, wenn Ihr Steffi seht. Sie scheint täglich zu wachsen und weiß schon genau, was sie will. Keine Handschuhe, sich die Mütze vom Kopf reißen und ja nicht zu lange im Kinderwagen liegen. Da trommelt sie wie eine Besessene gegen die Wände. Schnuller lehnt sie zum Glück ab und nuckelt am Daumen. Ihre Augen glänzen, sobald ihr Vater auf der Bildfläche erscheint.
Ich warte sehnsüchtig auf Antwort. Bitte, bitte positiv! Für heute lasse ich Käthe und Suse von Herzen grüßen. Dich, liebe Mutter, küsse ich innig und mit allergrößter Hoffnung, dass wir uns bald in die Arme schließen können.
Deine treue Tochter Jettel
Zusatz von Walter
Geliebte Ina! Der Wahrheit die Ehre. Meine Tochter strahlt auch, wenn sie ihre Mutter sieht. Sie freut sich mit allem und jedem. Ich glaube, sie hält das Leben für ein Kinderspiel. Als sie gestern bei mir in der Kanzlei war, hat sie sich in Herrn Kowalsky verguckt. Er ist Ofensetzer und Quartalssäufer und hat ein Verfahren am Hals, weil er seine Frau so schwer verprügelt hat, dass sie zwei Wochen ins Krankenhaus musste. Spaß beiseite: Es wäre wirklich herrlich, wenn Du und Suse in ihren Weihnachtsferien kommen könntet. Jettel hat eine schwere Zeit hinter sich. Es wird ihr guttun, sich bei ihrer Mutter auszuweinen. Ihr Mann ist ein ungehobelter, egoistischer, langweiliger Bursche, der sich von seinem entzückenden Frauchen nicht von der Vorstellung abbringen lässt, dass ein junger Anwalt, der sich eine Existenz aufbauen muss, in seine Kanzlei gehört und nicht auf Reisen. Im Übrigen hat er nie Apfel im Schlafrock bestellt, sondern Hefeklöße mit Backpflaumen, Zucker und Zimt. Wusstest Du, dass er ganz vernarrt in seine Schwiegermutter ist?
In Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen Dein Walter
Postkarte von Ina Perls, Breslau, den 15. Dezember, an Walter und Jettel
Meine Lieben, soeben habe ich unsere Fahrkarten abgeholt. So Gott will, werden wir uns am 19. sehen. Suschen ist total aufgeregt. Man könnte meinen, sie sei sechs und nicht sechzehn. Ihr Weihnachtszeugnis war wieder mal ausgezeichnet. Sie sagt, das ist sie ihrem Schwager, der das Schulgeld bezahlt, schuldig. Ich habe für Jettel den englischen Königskuchen gebacken, den sie so gern isst, Walter bekommt sein geliebtes Leberhäckerle. Hoffentlich ist Eure gute Anna nicht so schnell beleidigt wie unsere Trude. Seit ihrer Verlobung mit einem Polizisten ist sie recht unleidlich geworden. Tausend Küsse. Mutter
Brief von Frau Rosa Kammer, Leobschütz, den 22. Dezember, an Walter Zweig
Sehr geehrter Herr Dr. Zweig, dieses schwierige Jahr soll nicht zu Ende gehen, ohne dass ich mich, auch im Namen meiner Kinder, für Ihre Loyalität und Ihre Freundschaft, die ich als eine so beglückend aufrichtige empfinde, von Herzen bedanke. Ich rede hier wahrhaftig nicht von Ihren so angenehm pünktlich eintreffenden Zahlungen aus dem Versorgungsvertrag mit meinem verstorbenen Mann. Immer wieder empfinde ich es als einen Glücksfall, dass Sie es waren, der die traditionsreiche Praxis Kammer übernommen hat. Wo immer ich hinkomme, singt man Ihr Loblied und preist Ihre Tüchtigkeit und Ihre Menschenfreundlichkeit.
Der Brief, den Sie mir nun am ersten Todestag meines Mannes schrieben, wird für immer einen Platz in meinem Herzen haben. Meine Tochter Elisabeth war sehr gerührt, dass Sie an Ihren Geburtstag dachten.
Vor ein paar Tagen traf ich Ihre bezaubernde Frau mit der Kleinen. Möge Gott Ihre kleine Familie segnen. Mir ist bewusst, dass in Ihrem Glauben Weihnachten kein Tag von Bedeutung ist, aber es drängt mich trotzdem, in diesem Brief des Danks Ihnen friedvolle Tage zu wünschen. Möge für uns alle 1933 ein Jahr werden, das den Pessimismus der Kleingläubigen Lügen straft.
In großer Verbundenheit Ihre Rosa Kammer
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Im Schwebezustand
Leobschütz im Jahr 1933
Am 4. Januar 1933 schreibt Jettel Zweig an ihre Freundin Steffi Kohn in Breslau
Meine treue Steffi! Vielen, vielen Dank für Deine guten Wünsche zum neuen Jahr. Ich erwidere sie von ganzem Herzen. Möge das Jahr 1933, in dem wir ja beide fünfundzwanzig und eigentlich schon ein bisschen betagt werden, Dir in jeder Beziehung Glück bringen. Deiner lieben Mutter wünsche ich, dass sie endlich wieder gesund wird.
Hoffentlich habt Ihr Silvester genießen können. Wenn man Einladungen annimmt, weiß man das ja leider erst hinterher. Wir waren bei sehr netten Leuten eingeladen. Er ist Kaufmann (aber sehr gebildet) und hat in Gleiwitz ein sehr gut gehendes Stoffgeschäft gehabt, sich jedoch mit seiner Frau (vier erwachsene Kinder) für seinen Lebensabend nach Leobschütz zurückgezogen, weil den beiden Gleiwitz zu groß war. Du kannst Dir denken, welche Mühe ich hatte, mir das Lachen zu verbeißen, als er das erzählte. Wir waren zehn Gäste. Eine Tochter mit einer langen Nase und einem entzückenden Baby, die in Hannover lebt und den ganzen Abend ihren Mann nicht erwähnt hat, fand ich besonders nett. Sie hat ein Jahr bei einer Tante in Nizza gelebt und mir den Mund ganz wässerig gemacht. Ich glaube, ich werde nie weiter reisen als bis nach Breslau und Sohrau. Ich habe ja einen Mann geheiratet, der Reisen für Luxus und Sünde hält.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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