Nixen, Wichtlein, Wilde Frauen - Gertrud Scherf - E-Book

Nixen, Wichtlein, Wilde Frauen E-Book

Gertrud Scherf

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Beschreibung

Als bildhafte Symbole für die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, der sozialen Umwelt und mit sich selbst erfüllten die Naturgeister einst wichtige Funktionen. Im Alltagsleben heute kaum mehr spürbar haben sie doch ihre Spuren hinterlassen, sind in andere Gewänder geschlüpft, leben in veränderter Gestalt weiter und können auch in der Gegenwart über ihre kulturgeschichtliche Bedeutung hinaus wirken. Durch allerlei Merkmale und Verhaltensweisen sind die Naturgeister miteinander verbunden über Lebensräume, Regionen sowie die Grenzen Bayerns hinweg. Andererseits sind es gerade die von ihnen bevorzugten oder ausschließlich bewohnten Lebensräume, die diese Wesen prägen. So unterscheiden sich die Wassergeister von den Waldgeistern oder den geisterhaften Bewohnern anderer Räume wie Moor oder Hochgebirge. Die Autorin stellt Nixen und Wichtlein, wilde Frauen, Bergmännlein und den Hehmann vor sowie weitere wundersame Gestalten in ihren bayerischen Lebensräumen mit Namen, Aussehen, Vorlieben, Aversionen und mancherlei Besonderheiten. Dabei zeigt sich immer wieder die Neigung der wilden Dämonen zu nicht nur geografischen Grenzüberschreitungen. Als Grundlage für ihre Untersuchungen dienen der Autorin Sprache, Alltagskultur und Brauchtum, Kunstdarstellungen, tradierte Gelehrtenäußerungen, Märchen und vor allem Volksglauben und Volkssagen.

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Gertrud Scherf

NIXEN

WICHTLEIN

WILDE FRAUEN

Eine Kulturgeschichte

der Naturgeister in Bayern

Allitera Verlag

Informationen über den Verlag und sein Programm unter:

www.allitera.de

November 2017

Allitera Verlag

Ein Verlag der Buch&media GmbH, München

© 2017 Buch&media GmbH, München

Layout und Umschlaggestaltung: Johanna Conrad

Umschlagbild: Moritz von Schwind: Der Mittag © Bayer&Mitko - ARTOTHEK

ISBN 978-3-96233-043-9

Printed in Europe

Inhalt

WILDE GRENZGÄNGER UND TREUE BEWAHRER

WESEN UND UNWESEN DER NATURGEISTER (NICHT NUR) IN BAYERN

NATURGEISTER – EINE ANNÄHERUNG

Entstehung

Überlieferung

Funktionen

Dämonische Verwandtschaften

Erscheinungsorte

Erscheinungsweisen

Eigenschaften

NATURGEISTER – IHR WEITERLEBEN

Verborgen in anderen Gestalten

Präsent im Alltag

Wirkend in Bildern

NATURGEISTER MIT ZUKUNFT?

DIE NATURGEISTER IN IHREN BAYERISCHEN LEBENSRÄUMEN

WASSERGEISTER

Gewässer

Gestalten

WALDGEISTER

Wälder

Gestalten

MOORGEISTER

Moore

Gestalten

UNTERIRDISCHE GEISTER

Unterirdische Räume

Gestalten

BERGGEISTER

Gebirge

Gestalten

VEGETATIONSGEISTER

Agrarlandschaft

Gestalten

HAUSGEISTER

Siedlungslandschaft

Gestalten

ANHANG

Literaturverzeichnis

Abbildungsnachweis

Ortsregister

Sachregister

WILDE GRENZGÄNGER UND TREUE BEWAHRER

Die Naturgeister sind aus unserem Alltagsleben nahezu verschwunden. Nixen oder Almgeister, Salige Frauen oder der Hehmann, Riesen, Zwerge, Bergmännlein – wer weiß noch etwas über die meist menschenähnlich gestalteten Wesen, wer glaubt gar, dass sie in unserer Welt existieren, dass sie die Erscheinungen der belebten und unbelebten Natur beseelen, darin wohnen und wirken? Auch wenn sich die Menschen unserer Zivilisation in ihren Vorstellungen und Handlungen durchaus nicht nur von rationalen Überlegungen beeinflussen oder leiten lassen, liegt der Bereich des Mythischen heutzutage vielen fern. Die Welt der heimatlichen Sagen, die noch vor einigen Jahrzehnten Bestandteil des Schulunterrichts war, ist im Bewusstsein verblasst. Sagen gelten vielfach als veraltet und unzeitgemäß, allenfalls interessant, wenn sie aus fremden Kulturen stammen.

Bei genauerer Betrachtung allerdings gibt es Zeichen, dass die alten Naturgeister vielleicht doch noch tätig sind. Zunehmender Beliebtheit erfreuen sich Bücher, Vorträge und Führungen zu mythischen und magischen Orten oder Kräuter- und Baumwanderungen, die auch Sagenhaftes vermitteln. Woher kommt die seit einigen Jahren zu beobachtende Faszination, die Naturgeister-Bräuche ausüben? Ist es nur das Verlangen nach einem Event oder werden die Menschen von Buttnmandln, Klausen oder Perchten im Inneren angerührt?Warum sterben die seit Jahrzehnten als Kitsch diffamierten Gartenzwerge nicht aus? An welches Bedürfnis rühren die vielen Bücher über Elfen und Feen? Worin gründet, außer in ihrer christlichen Bedeutung, die Beliebtheit von Engeln?

Naturgeister sind weltweit verbreitet. Baumgeister, so berichtet etwa der schottische Ethnologe James George Frazer (1854–1941) in seinem Werk »Der goldene Zweig«, gab es nicht nur in Europa, sondern etwa auch bei den Hidatsa-Indianern und den Irokesen, bei den Wanika Ostafrikas sowie in China. In chinesischen Märchen erscheinen Berggeister, Blumenelfen oder Wassergeister. Interkulturelle Vergleiche ergeben ungeachtet mancher Unterschiede grundlegende Gemeinsamkeiten. Diese mögen als Folge der Wanderung von Kulturerscheinungen entstanden sein, aber auch aus Vorstellungen, die allgemein-menschlichen Grundstrukturen entstammen, wie sie Adolf Bastian (1826–1905) als Elementargedanken oder Carl Gustav Jung (1875–1961) als archetypische Bilder postuliert haben.

Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit Naturgeistern und zwar vor allem mit Vertretern, die in Bayern – gemeint sind in erster Linie die Regionen innerhalb der heute bestehenden Grenzen des Freistaats – beheimatet sind. Allerdings interessieren sich Naturgeister als aus alter und teilweise vorchristlicher Zeit stammende Gestalten nicht für neuere politische Grenzen; allenfalls respektieren sie Sprach- und Kulturgrenzen sowie natürliche Grenzen wie Gebirge oder Flüsse. Deshalb zeigen sich in landschaftlich-kulturell zusammengehörenden Gebieten wie dem bayerisch-böhmischen Grenzgebirge oder dem bayerisch-österreichischen Alpenraum diesseits und jenseits der Grenzen dieselben oder ähnliche Naturgeister. So kommen beispielsweise die Saligen Frauen im gesamten deutschsprachigen Alpenraum vor, und es wäre künstliche Einengung, wenn nur über die im heutigen Bayern wohnenden Vertreterinnen berichtet würde. Auch wenn sie sich in bayerischen Regionen durchaus unter anderen Namen und mit manchen Besonderheiten zeigen können, sind einige Naturgeister wie Zwerge oder Nixen überall in Mitteleuropa und darüber hinaus daheim. Das Hinausschauen über die heutigen bayerischen Grenzen ermöglicht besseres Verstehen von Gestalten und Phänomenen, Erkennen von Unterschieden und Gemeinsamkeiten. Dies gilt auch für die Beispiele von Kunstdarstellungen im Porträtteil (Bildende Kunst, Literatur, Musik). Es werden vor allem Werke von Künstlern genannt, die zumindest zeitweise in Bayern gelebt und gearbeitet haben oder deren Werke sich in Bayern befinden, aber hingewiesen wird auch auf Arbeiten, die aus anderen (mittel)europäischen Gegenden stammen.

Grenzgänger sind die Naturgeister nicht nur beim Überschreiten politischer und geografischer Grenzen, sondern sie neigen überhaupt dazu, sich unseren Denkgewohnheiten, Kategorisierungen, Beschränkungen zu entziehen und sind deshalb schwer zu fassen. Mit unserer Tendenz, strikt in Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Richtig und Falsch einzuteilen, werden wir den Naturgeistern meist nicht gerecht: Fast alle diese Gestalten sind ambivalent, das heißt sie haben eine helle und eine dunkle Seite, wobei Licht und Schatten je nach Gestalt unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Erst mit der Christianisierung kam es zu einer deutlicheren Aufspaltung in gute und böse Geister, wobei im Volksglauben die Gestalten vielfach ihre Doppelnatur bewahren konnten.

Auch die Trennung in »Naturgeister« und »Kulturgeister« lehnen diese Grenzgänger ab. Sie vermitteln, dass die Grenzen zwischen Natur und Kultur fließend sind, dass letztlich jede Kultur sich auf Natur zurückführen lässt und dass schließlich auch der Mensch ein Natur-Kultur-Wesen ist. So sehen wir Holzweiblein, Wildfrauen, Wichtlein, Wasserfrauen und sogar -männer, die in Häusern allerlei hilfreiche Arbeiten verrichten, dazu auch, dass sie oft nur vorübergehend als Kulturgeist tätig sind und irgendwann wieder in ihren ursprünglichen Naturlebensraum zurückkehren. Wegen solcher Überschneidungen wurden auch die Hausgeister in das Buch aufgenommen.

Ohnehin gefällt es vielen Naturgeistern, zwischen Lebensräumen hin und her zu wechseln. Wasserfrauen kommen an Land und in die Siedlungen, um an Tanzveranstaltungen teilzunehmen, die Zwerge wandern aus ihren unterirdischen Lebensräumen in die Wälder, die Berge, die Häuser oder anderswohin. Es gibt keinerlei Garantie dafür, dass man außerhalb des Waldes vor dem Hehmann sicher ist.

Schließlich gibt es bei den Naturgeister-Gestalten auch Vermischungen mit anderen Geistern. So sind die Zwerge auch Totengeister, ebenso wie die Percht sich nur in einigen ihrer Funktionen als Vegetationsgeist zeigt, in anderen als Seelendämon.

Obwohl also Grenzüberschreiter in mehrfacher Hinsicht, lassen sich die Naturgeister nicht einmal auf diese Zuschreibung so ganz festlegen, denn es gibt auch beharrende und bewahrende Wesen. So beschränken sich manche Geister auf einen bestimmten kleineren oder größeren Raum und zeigen keinerlei Neigung, diesen zu verlassen. Der koboldartige Gebirgsgeist Stilzl beispielsweise treibt sich nur im Bayer- und Böhmerwald herum, die Untersberger wohnen im Untersberg zwischen Berchtesgaden und Salzburg, der Moorriese Huidingerle verlässt nicht das Premer Filz bei Steingaden. Die Hausgeister zeigen oft sehr entschlossenes Beharrungsvermögen und lassen sich nicht oder nur mit viel Aufwand und Mühe vertreiben. Beim Umgang mit Menschen, im sozialen Bereich, sind manche Naturgeister von entschiedener Kompromisslosigkeit. Die Wildfrau, die erfährt, dass der Mensch-Geliebte bereits verheiratet ist, befiehlt ihm, sich ihr nicht mehr zu nähern, sondern seiner Frau treu zu bleiben. Der Hehmann erschreckt Holz stehlende Leute, der Almgeist bestraft den hartherzigen Bauern. Schließlich fordern die Naturgeister die strikte Einhaltung von Tabus.

Es erstaunt wenig, dass sich die bayerischen Naturgeister-Gestalten – ungeachtet mancher Eigenheiten – in Wesen, Merkmalen, und Strategien grundsätzlich nur wenig von denen im übrigen Mitteleuropa unterscheiden, haben doch in dessen Regionen Kelten und ihre Vorfahren ebenso wie Römer, Germanen und Slawen ihre kultur- und geistesgeschichtlichen Spuren hinterlassen. Deshalb ist auch immer wieder – obwohl nicht explizit Gegenstand – auf die antike mittelmeerische Naturgeisterwelt der Griechen und Römer hinzuweisen, deren Überlieferungen in die Schriften der Gelehrten und Dichter, in die Volksbücher und den Volksglauben in Mitteleuropa und damit auch in Bayern eingegangen sind und in starkem Maß die Aussagen mitteleuropäischer Künstler angeregt und beeinflusst haben.

Begegnen können wir den Naturgeistern vorrangig in den Volkserzählungen. Ganz besonders in den Volkssagen erscheint der ganze Reigen und Reichtum dieser Gestalten. Auch wenn Volkssagen der Anpassung an allgemeine Gesinnung und herrschendes Lebensgefühl unterliegen, wenn sich bisweilen Zweifel an der Authentizität einer Erzählung oder einer Gestalt aufdrängen: Die Grundaussagen sind meist erhalten, auch wenn sich bisweilen dem Zeitgeist geschuldete Züge und sagenuntypische sprachliche Ausschmückungen eingeschlichen haben. Volkssagen-Sammlungen sind die wichtigsten Quellen zur Kulturgeschichte der Naturgeister, und deshalb wurden, ungeachtet möglicher quellen- und editionskritischer Bedenken, Volkssagen aus gesamtbayerischen Sammlungen und aus Regional-Sammlungen des 19. und 20. Jahrhunderts herangezogen.

Auch in Volksmärchen, der anderen großen Gattung der Volkserzählungen, erscheinen Naturgeister. Aber das Personal ist beschränkt – vor allem Zwerge, Riesen, Nixen – und die Naturgeister haben in den Märchen eine andere Bedeutung als in den Sagen. Der Literaturwissenschaftler Max Lüthi (1909–1991) stellt wichtige Unterschiede heraus, unter anderem: In der Sage gilt das Hauptinteresse den Gestalten, das Märchen ist mehr auf die Handlung gerichtet. In der Sage lösen die Jenseitigen im Menschen Schauder, Erregung und Verwirrung aus, im Märchen fehlt den jenseitigen Gestalten das Jenseitige, und der Mensch verkehrt selbstverständlich und unerschüttert mit ihnen.1 Die Sage nennt Ort2 und Zeit des Geschehens, beides hat im Märchen keine Bedeutung und wird nicht genannt.3 Das Märchen kann deshalb für die Verdeutlichung von Wesen und Unwesen der Naturgeister viel weniger beitragen als die Sage. In Bayern sind im Vergleich zu den Sagensammlungen nur wenige Märchensammlungen entstanden.4 In »Märchen aus Bayern« von Karl Spiegel (Würzburg 1914) gibt es nur wenige Naturgeister. Ludwig Bechstein ordnete in »Deutsches Märchenbuch« (1847) nur 14 der 150 Märchen eine bayerische Herkunft (Franken) zu. Viele der Geschichten in Alfons Schweiggerts »Bayerische Märchen« (2. Aufl., Regenstauf 2016) tragen Sagenmerkmale. Da auch die bayerischen Märchen vor allem allgemein bekannte (mitteleuropäische, europäische, außereuropäische) Märchenstoffe und -motive enthalten, werden die Märchen in der Fassung der Brüder Grimm zugrunde gelegt, um die Schilderung mancher Naturgeister-Gestalten zu bereichern – auch wenn diese Erzählungen von außerbayerischen Zuträgern stammen (vor allem aus Hessen, Niedersachsen, Westfalen) und Märchensammlungen aus Frankreich, Italien und anderen Ländern Europas die Arbeit der Brüder Grimm angeregt und beeinflusst haben.

Neben den Volkserzählungen, insbesondere den Volkssagen, gibt es noch weitere schriftliche, gesprochene, bildnerische oder anders vermittelte Spuren der Naturgeister. Gelehrte bemühten sich von der Antike bis in die frühe Neuzeit, Wesen und Unwesen der Naturgeister zu ergründen, sie zu ordnen und zu klassifizieren, wobei die christlichen Autoren Naturgeister meist als negative Erscheinungen beschrieben haben. In allen Bereichen der Kunst haben sich Menschen mit Naturgeistern befasst, sich mit der Überlieferung auseinandergesetzt, sie auf ihre Weise gedeutet und Eigenes hinzugefügt. Auch Sprache, Alltagskultur und Brauchtum bringen Hinweise.

Möge das Buch dazu beitragen, einst in bayerischen Regionen lebendige, heute vielfach verblasste oder verschüttete Traditionen wieder ins Bewusstsein zu bringen und damit dem Interesse für Naturgeister eine konkrete Grundlage zu geben.

1 Vgl. Lüthi 1968; 1975; 2004.

2 Wegen der Ortsbezogenheit der Volkssage wird möglichst bei jeder Sage auf ihre Lokalisierung hingewiesen und zwar mit den heute gültigen Namen und Zuordnungen, sodass Ort oder Region auch in der Gegenwart real und auffindbar sind.

3 Wörterbuch der deutschen Volkskunde 1981: 530.

4 Vgl. Drascek/Wagner 1990: 46f.

WESEN UND UNWESEN DER NATURGEISTER (NICHT NUR) IN BAYERN

Zu den eindrucksvollsten, gleichzeitig aber auch zu den am schwierigsten zu deutenden Gestalten des Volksglaubens, zählen die Naturdämonen […].1

Diese Wertung des Erzählforschers Leander Petzoldt (*1934) können auch die in Bayern lebenden und wirkenden Naturgeister für sich in Anspruch nehmen.

NATURGEISTER – EINE ANNÄHERUNG

Was verbindet die schönen Wasserfrauen mit den eher unscheinbaren und unansehnlichen Zwergen, was die Gestalten in Bayern mit denen an der Nordseeküste oder in den Zentralalpen? Ungeachtet jeweils typischer Merkmale und Eigenheiten zeigen Naturgeister verschiedener Lebensräume und Regionen so manche gemeinsame Wesenszüge.

ENTSTEHUNG

Mit Naturgeistern lebt die Menschheit vermutlich seit ihrer Frühzeit. Die neuere Forschung2 geht nicht mehr davon aus, dass Geister als Vorstufen der späteren Götter zu erklären sind, wie dies etwa der Anthropologe Edward Burnett Tylor (1832–1917) (»Primitive Culture«) oder der Ethnologe James George Frazer (1854–1941) (»The Golden Bough«) versucht haben. Umgekehrtsind vermutlich einige vorchristliche Götter in das Gewand von Geistern geschlüpft und haben so ihr Überleben gesichert, wie unter anderem für Frau Holle und Frau Percht vermutet wird.3

Naturgeister sind in einem animistisch und magisch geprägten Weltbild als Schöpfungen des menschlichen Geistes entstanden.

In animistischer Denkweise hält der Mensch die Natur und ihre Erscheinungen, die Tiere und die Pflanzen von Geistern oder dämonischen Wesen beseelt und glaubt, dass die Vorgänge in der Natur von ihnen bewirkt werden. Der Ethnologe Lothar Käser, der sich mit dem Animismus4 in ethnischen Gesellschaften in Übersee befasst, formuliert: »In der vergleichenden Religionsethnologie und -wissenschaft versteht man unter Animismus den Glauben an die Existenz und Wirksamkeit von anthropomorph (menschenähnlich) und theriomorph (tierähnlich) gedachten geistartigen Wesen (Seelen und Geister)«.5

Eine Unterscheidung und Trennung von belebter und unbelebter Materie findet im Animismus weithin nicht statt. Auch der Animismus-Begriff des Schweizer Psychologen Jean Piaget (1896–1980) beinhaltet, dass unbelebten Objekten Lebendigkeit und Personhaftigkeit zugesprochen wird. Piaget beschreibt ein entwicklungspsychologisches Modell von mehreren Stufen, die das Kind durchläuft und ordnet den Animismus einer vom 2. bis zum 7. Lebensjahr postulierten Phase der präoperationalen Intelligenz zu. Die Kinder zeigen ein entsprechendes Verhalten gegenüber unbelebten Gegenständen wie einem Stein, einem Tisch, Wolken oder dem Wind.6

Animistische Vorstellungen sind wohl bereits auf einer frühen menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsstufe entstanden, sie kommen aber neben den religiösen und wissenschaftlichen Denksystemen weiterhin vor und haben sich im Volksglauben auch Mitteleuropas, etwa beim Baum- , Quellen- und Steinkult, teilweise bis in die Gegenwart erhalten.7

Sigmund Freud (1856–1939) nennt in seinem 1913 erschienenen Werk »Totem und Tabu« den Animismus die erste Weltauffassung, welche den Menschen gelang: »Der Animismus ist ein Denksystem, er gibt nicht nur die Erklärung eines einzelnen Phänomens, sondern gestattet es, das Ganze der Welt als einen einzigen Zusammenhang, aus einem Punkte zu begreifen.«8 Ungeachtet solcher respektvoller wissenschaftlicher Aussagen wurde Animismus in populärem Verständnis weithin mit einer primitiven Weltsicht verbunden, wurde zu einem Gegenbild moderner Wissenschaft und je nach Auffassung diskreditiert oder idealisiert.

Eine Allbeseeltheit der Natur zeigt sich in Märchen, Sagen und magischen Handlungen. So wird auch Unbelebtem wie dem Wind Beseeltheit zuerkannt, etwa dem als Windsbraut bezeichneten Wirbelwind, dem man beispielsweise in Straubing zurief; »Saudreck, Saudreck, Saudreck! Laßt du ’s net da, du schwarz Fankerl?«9 oder im Brauch des Windfütterns, beispielsweise in den Ostalpen.10

Freud nennt das praktische Bedürfnis des Menschen, sich der Welt zu bemächtigen, als Triebkraft für die Schöpfung des Welt- und Denksystems des Animismus. Denn mit dem animistischen System gehe eine Verfahrensanweisung einher, die bekannt sei unter dem Namen Zauberei und Magie.11

Im magischen Weltbild ist alles – die unbelebte Natur, die Pflanzen, die Tie-re, der Mensch, Diesseits und Jenseits – durch geheime Beziehungen miteinander verbunden. Allverbundenheit, wie sie Max Lüthi als wichtiges Merkmal der Gestalten im europäischen Volksmärchen beschreibt12, gibt es auch in den Volkssagen. Weil alles mit allem verbunden ist, sind etwa auch Ehen zwischen Mensch und Naturgeist möglich. Diese geheime Verbindung alles Seienden wird Sympathie genannt. Aus ihr ergibt sich, dass Gleiches Gleiches oder Ähnliches Ähnliches bewirkt. Beispielsweise zeigen Pflanzen mit gelben Blüten, wie die Königkerze, die Farbe des Blitzes und tun so kund, dass sie, ins Haus gebracht, den Blitz abwehren können. Die Sympathie ermöglicht es dem Menschen, aktiv in das Geschehen einzugreifen, statt sich nur passiv den Mächten auszuliefern. Dazu müssen die Zeichen richtig gedeutet und das Handeln einem Geschehen in analoger Weise angepasst werden. Auch die Beziehung zwischen Menschen und Naturgeistern trägt magische Züge, etwa in der Vorstellung, dass Aussprechen des Namens Macht über den Geist verleiht oder dass durch Beachten von Tabus gewünschte Ergebnisse herbeigeführt werden können. Der Volkskundler Rudolf Kriss (1903–1973) sieht allerdings in der Personifizierung der numinosen Kräfte als Natur- und andere Geister eine das magische Denken und Verhalten eindämmende Grundkategorie des menschlichen Denkens.13

Naturerscheinungen, soziale Welt, Erleben des Einzelnen: Auf der Grundlage animistischer und magischer Vorstellungen wirken diese drei Determinanten zusammen und durchdringen sich gegenseitig bei der Entstehung von Gestalt und Wesen der Naturgeister.

Naturgeister bewirken und lenken Naturerscheinungen und –vorgänge oder verkörpern sich in ihnen. Ihr Tun kann für die Menschen nützlich oder schädlich sein. Wälder und Berge, Bäume und Quellen, Flüsse, Bäche und Seen sind von Naturgeistern bewohnt und belebt, ebenso die unterirdische Welt sowie die Agrarlandschaft, die Siedlungsräume und Wohnungen der Menschen. Auch in meteorologischen Erscheinungen wie Wind, Nebel, Gewitter oder im Feuer sind Naturgeister verborgen und tätig.

Innerhalb des mitteleuropäischen Kulturkreises gibt es übereinstimmende Vorstellungen über Naturgeister, aber auch Verschiedenheiten, die durch geographische Gegebenheiten und die damit verbundenen Sozial-, Lebens- und Wirtschaftsformen sowie Traditionen bedingt sind. So unterscheiden sich die Naturgeister, die den Bauern im Alpenvorland oder in den Alpen begegnen, zumindest teilweise von denen in der bäuerlichen Welt der Küsten, zeigen sich den Handwerkern andere Gestalten als den Bergleuten unter Tage, den Seeleuten oder den Waldbauern und –arbeitern. Die Herrschaftsverhältnisse und ihre wirtschaftlich-sozialen Auswirkungen beeinflussten auch Naturgeister-Vorstellungen.

Naturgeister sind auch geprägt durch innere Verfasstheit und Erlebnisse des Einzelnen. Diese Erlebnisse hängen mit der Naturwelt und der sozialen Welt eng zusammen. Der Blick auf Naturgeister und Begegnungen mit ihnen mögen sich unterschiedlich gestalten, je nach der sozialen Stellung in einem Kollektiv. Der reiche Bauer und seine Bäuerin haben im selben Raum vielleicht andere Begegnungen mit Naturgeistern als ihre Mägde und Knechte, der Kranke andere als der Gesunde. Gefördert worden sein mag das Naturgeist-Erlebnis durch das Alleinsein in naturgeprägter Umwelt, wie es in früheren Zeiten häufig war. Diese Art von äußerer Einsamkeit, die mit einer starken sozialen Gebundenheit einhergehen konnte, gibt es heute bei der großen Mobilität im dicht besiedelten Mitteleuropa und des ständigen Inkontaktseins auch über die modernen Medien kaum mehr.

ÜBERLIEFERUNG

Die Vorstellungen über Naturgeister sind in Bayern und in (Mittel-)Europa insbesondere geprägt von den Traditionen der Kelten, der Antike, der Germanen und Slawen sowie der gemeinsamen Vorfahren, der Indoeuropäer. Diese kamen im Verlauf des 3. Jahrtausends v. Chr. nach Europa, verdrängten dort die alteuropäische Bevölkerung beziehungsweise vermischten sich nach und nach mit ihr.

In den Mythen der vorchristlichen Zeit wird nicht immer genau zwischen Naturgeistern und Göttern unterschieden. Da wirken Halbgötter wie etwa der griechische Hirten- und Vegetationsgott Pan, da erledigen die Götter oft selbst, was sonst den Naturgeistern obliegt. Manche Götter mögen später, insbesondere im Lauf der Christianisierung, zu Naturgeistern abgesunken sein.

Während wir über die Naturgeister der griechisch-römischen Mythologie durch antike Autoren einigermaßen gut Bescheid wissen, und durch mittelalterliche Epen nicht nur über die Welt des christlichen Mittelalters, sondern auch über Vorstellungen aus germanischer Zeit informiert werden, sind die keltischen Naturgeister viel weniger fassbar, weil die Kelten keine Schrift für die Tradierung ihrer Mythologie verwendeten. Einiges wissen wir von den antiken Schriftstellern, deren Aussagen aber nicht nur der Realität verpflichtet, sondern auch propagandistisch gefärbt sind (wie etwa Cäsars Bericht über die Eroberung Galliens »De bello gallico«). Weitere mögliche Hinweise auf Naturdämonen bei den Kelten ergeben sich aus archäologischen Befunden, etwa menschen- oder tiergestaltigen Amulettfigürchen. Der durch Weiheinschriften und Bildzeugnissen belegte, in weiten Teilen der von Kelten besiedelten Gebiete verbreitete zwergenartige Kapuzendämon (Genius cucullatus) wird als Schutzgeist interpretiert. Möglicherweise gibt es einen Zusammenhang zwischen ihm und der bayerischen Sagengestalt des Goggolore.14 (S. 97). Die im Mittelalter aufgeschriebenen irischen Sagen sind nur eingeschränkt für die vorchristliche Zeit aussagekräftig und lassen sich auch nicht einfach auf die Festlandskelten übertragen. Aber die Naturgeister der irischen Überlieferungen, die Zwerge, Riesen, Feen, die aus ihrer Welt in die der Menschen wechseln und in deren Leben eingreifen können, sind wie die heimischen ambivalent. Auch in unseren Sagen sind die Grenzen zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt fließend, liegt letztere inmitten des Diesseits oder in einem Wasser oder Berg, wird der Mensch von einer Begegnung mit Jenseitigen stark erschüttert.

In den germanisch-deutschen Heldensagen und den daraus entstandenen mittelalterlichen Heldenepen treten viele Naturgeister auf. Da begegnet beispielsweise König Ortnit seinem Vater, dem ihm im Kampf beistehenden Zwergenkönig Alberich. Wolfdietrich trifft auf die Raue Else, eine schrecklich anzusehenden Waldfrau, die sich schließlich in ein wunderschönes Wesen verwandelt. Auch mit Riesen und Zwergen hat es Wolfdietrich zu tun; er siegt im Kampf mit dem Riesen Drusian und den ihm untergebenen Zwergen. Diet-rich von Bern kämpft ebenfalls siegreich mit Riesen, etwa dem schrecklichen Geschwisterpaar Grim und Hilde, lässt sich von Zwergen wie Eggerich helfen und setzt sich mit dem Zwergenkönig Laurin auseinander. Im Nibelungenlied sagen Meerfrauen an der Donau (vielleicht beim heutigen oberbayerischen Großmehring) Hagen den Untergang der Nibelungen voraus.

Über die Glaubensvorstellungen der Slawen in vorchristlicher Zeit berichten etwa Prokopios von Caesarea (6. Jahrhundert), Dietmar von Merseburg (975–1018), Helmold von Bosau (um 1120–1177), Cosmas von Prag (um 1045–1125). Im slawischen Kulturkreis sind viele Naturgeister in Brauchtum und Volksglaube aktiv und lassen auch manche (vorsichtige) Rückschlüsse auf vorchristliche Naturgeister-Vorstellungen zu. Robert Reiter15 beschreibt auch Naturgeister in seinem Werk über slawische Glaubensvorstellungen, die er in einen gesamteuropäischen Kontext stellt.

Die Schriften der Bekehrungszeit16 (insbesondere die Verbotsliteratur) und noch des Hochmittelalters, teilen einiges mit über den vorchristlichen Geisterglauben in Mitteleuropa und dessen Weiterleben in christlicher Zeit. Die frommen Männer verurteilen und bestrafen diesen Glauben und stellen ihm die kirchlichen Vorschriften gegenüber. Beispielsweise hat Burchard von Worms (um 960–1025), Bischof seit dem Jahr 1000, in seinem Hauptwerk, »decretorum libri viginti«, eine umfassende Übersicht kirchlicher Vorschriften dargelegt. An verschiedenen Stellen, insbesondere aber in Buch X und Buch XIX, befasst er sich mit dem Aberglauben (z. B. Baumkult, Dämonen, Geister, Hulda, Waldfrauen). Bei Berthold von Regensburg (um 1210–1272) finden sich in seinen Predigten Beispiele aus Volksleben und Volksglauben, ebenso in der Aberglaubensliste in dem Lehrgedicht »Pluemen der Tugend« (1411) des Tiroler Dichters Hans Vintler.

Auch so manche fromme Lebensbeschreibung enthält Hinweise auf heidnische Naturgeister. Beispielsweise in der Vita des heiligen Gallus (um 550-um 640), deren älteste, bereits 680 erschienene Fassung im 9. Jahrhundert von Walahfrid Strabo und Wetti bearbeitet wurde, beklagen in ihrem Gespräch ein Berggeist und ein Wassergeist, dass sie von den eingedrungenen fremden Glaubensboten rüde behandelt und verdrängt worden seien.17

Gelehrte des hohen Mittelalters und der frühen Neuzeit schrieben über Natur- und Elementargeister Abhandlungen, die sich aber vor allem auf antike Philosophen beziehen und weniger auf den Volksglauben. Der Theologe und Philosoph Agrippa von Nettesheim (1486–1535) berücksichtigt in seiner Dämonologie auch Wasser-, Wald-, Berg- und Feldgeister, also Naturgeister. Auch Johannes Trithemius (1462–1516) versucht sich an einem System der Dämonen. Der Arzt, Naturforscher und Alchemist Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493–1541) ordnet den Elementen Luft, Wasser, Erde und Feuer die Elementargeister zu.

In christlicher Zeit haben sich die Naturgeister allmählich verwandelt. Sie wurden zurückgedrängt, verteufelt, entmachtet. Die interpretatio christiana setzte sie weitgehend mit dem Teufel gleich (Diabolisierung), ohne sie vollständig mit ihm identifizieren zu können, denn es bestand weiterhin ein Nebeneinander von alten und neuen Naturgeistvorstellungen. Ein Coup einiger Naturgeister war es, ins Gewand christlicher Heiliger zu schlüpfen.

In der Neuzeit setzte sich der Kampf gegen den »Aberglauben« mit mehr oder weniger großem Erfolg fort. Martin Luther (1483–1546) trieb Entmachtung und Diabolisierung voran. Angeregt durch gelehrte Abhandlungen und den Volksglauben, ging er von der Realität der Naturgeister aus, hielt sie aber für Erscheinungsformen des Teufels. So spricht er etwa vom »Wasserteufel« und meint, dass der Teufel in Gestalt der schönen Nixen auftrete, um die Menschen zu verderben.18 Nicht geschätzt waren diese Gestalten auch bei führenden Köpfen in der Zeit der Gegenreformation. Deren großer Förderer in Bayern, Kurfürst Maximilian I. (1597–1651) betrieb die Rekatholisierung mit Repression und Bekämpfung des als heidnisch gebrandmarkten und als Aberglaube bezeichneten Volksglaubens. 1611 erließ er ein »Landgebot gegen Aberglauben, Hexerei und andere sträfliche Teufelskünste«, das im Volk geübte magische Bräuche mit schweren Strafen bedrohte und das indirekt auch die Vorstellungen über Naturgeister und den Umgang mit ihnen betraf. Sein Sohn und Nachfolger Kurfürst Ferdinand Maria (1652–1678) gab 1665 das »Erneuerte Landgebot« heraus. Andererseits förderten manche Geistliche wie der an der Universität Ingolstadt lehrende Martin Eisengrein (1535–1578) im Zug der Gegenreformation auch den Volksglauben und dessen Äußerungen wie Wallfahrten oder Reliquienverehrung. Das Zeitalter der Aufklärung mit seinen segensreichen Fortschritten in Wissenschaft und Vernunft war für die Naturgeister eher negativ, sahen doch viele der Aufklärer den Volksglauben undifferenziert als grundsätzlich die Menschen verdummend und belastend. Die ebenfalls dem Geist der Aufklärung verpflichtete und in Bayern 1802/1803 radikal durchgeführte Säkularisation bekämpfte Äußerungen des Volksglaubens, wo immer sie welche vorfand. Dennoch dürfte das Volk weiterhin an den Gestalten des Volksglaubens festgehalten, parallel dazu auch die Heiligen mit Funktionen der Naturgeister ausgestattet haben. In der Kunst von Renaissance und Barock, die sich etwa zeitgleich mit Humanismus und Aufklärung entfaltete, wurden Naturgeister durchaus dargestellt, allerdings fast ausschließlich solche der wieder entdeckten Antike. Stärker als die weltlichen und geistlichen Bemühungen den Volksglauben einzudämmen, dürfte sich im 19. Jahrhundert auch in Bayern die Industrialisierung ausgewirkt haben, die nach und nach auch die ländlichen Regionen und Bereiche betraf. Symbolhaft hat diese Entwicklung Carl Spitzweg (1808–1885) mit seinem Bild »Gnom, Eisenbahn betrachtend« (1848) dargestellt.

Erst als viele Vorstellungen und Äußerungen von Volksglauben, Brauchtum und Tradition im Schwinden waren, nahmen sich Wissenschaft, Literatur und Bildende Kunst dieser Thematik an. Heinrich Heine (1797–1856) widmete den Elementargeistern eine Abhandlung. Darin nennt er Paracelsus als wichtige Quelle für die »Erforschung des altgermanischen Volksglaubens« und stellt als Elementargeister Kobolde, Zwerge, Elfen, Wassermänner, Nixen, Schwanenjungfrauen vor.19 König Ludwig I. von Bayern (Regierungszeit:1825–1848), nicht nur dem Klassizismus sondern auch der Romantik verbunden, holte Wissenschaftler und Künstler nach Bayern wie den Naturphilosophen Johann Joseph Görres (1776–1848), der sich auch mit Mystik und Mythen befasste und in der Volksüberlieferung ein Weiterleben des Mythos sah. Kunstschaffende der Romantik wie Clemens Brentano (1778–1842) oder Moritz von Schwind (1804–1871), die die heimischen Naturgeister neu entdeckten, wirkten auch in München. Volkskundler und Erzählforscher des 19. und 20. Jahrhunderts sahen im Volksglauben einen Kulturfaktor. Als frühe bayerische Sagensammlungen entstanden, beispielsweise: Adelbert Müller: Sagen und Legenden der Bayern (1833); Alexander Schöppner: Sagenbuch der bayerischen Lande (1852/1853); Friedrich Panzer: Bayerische Sagen und Bräuche (1848 / 1855); Karl von Leoprechting: Aus dem Lechrain: zur deutschen Sitten- und Sagenkunde (1855); Franz von Schönwerth: Aus der Oberpfalz: Sitten und Sagen (1857–1869); Adam Janssen: Die Sagen Frankens (1852); Anton Birlinger u. Michael Richard Buck: Volkstümliches aus Schwaben (1861/62). Volkskundliche Abhandlungen und Forschungsberichte wie »Bayerische Hefte für Volkskunde« (gegründet 1914 durch Friedrich von der Leyen und Adolf Spamer, 1943 eingestellt, heute durch das »Bayerische Jahrbuch für Volkskunde« ersetzt), hatten als Themen unter anderen auch den Volksglauben und die Geisterwelt.

In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die bereits in den Jahrzehnten davor herrschende Germanenlastigkeit der Volkskunde verstärkt. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschwerten die Verstrickung vieler Wissenschaftler in die nationalsozialistische Ideologie sowie deren thematisches Erbe die Forschung. Seit den 1960er-Jahren wandte sich die Volkskunde von Inhalten des Volksglaubens ab und vermeintlich unverfänglicheren modernen Themen zu. Zu diesen Forschungsproblemen gesellt sich, bedingt durch den Strukturwandel in der Landwirtschaft und dem Leben in der hochindustrialisierten Massengesellschaft, ein weiterer Schwund des Volksglaubens oder jedenfalls seine deutliche Veränderung. Seit einiger Zeit ist jedoch für weite Bevölkerungskreise ein neues Interesse an Heimat, Brauchtum sowie Sagen festzustellen und zugleich neue, unvoreingenommene Forschungsansätze in Geschichte, Volkskunde und Sprachwissenschaft – vielleicht neue Hoffnungen für die Naturgeister in einer veränderten Welt.

FUNKTIONEN

»Der Glaube an Dämonen trägt zum Verständnis dieser Welt bei, er erklärt die Welt und macht menschliche Erfahrungen verstehbar.«20 Was Leander Petzoldt über die Gesamtgruppe der Dämonen sagt, gilt in ähnlicher Weise für die Naturgeister: Sie helfen, die Natur zu begreifen und deren Phänomene einzuordnen. Sie haben Mittlerfunktionen, soziale Funktionen und psychische Funktionen.

Mittlerfunktionen: Die Naturgeister nehmen wie alle Dämonen eine Mittlerstellung zwischen Gott/Göttern und den Menschen ein. Sie ermöglichen den Umgang mit dem fernen, unnahbaren und gefährlichen Göttlichen.

Die Naturgeister sind Mittler zwischen der Natur und den Menschen. Ähnlich wie die Natur sind sie ambivalent – segenspendend und vernichtend. Was Sigmund Freud über die Funktion des Animismus schreibt, trifft zum großen Teil auch auf die Funktion der Naturgeister zu: Hilfe beim Bemühen, sich der Welt zu bemächtigen. Indem der Mensch die in der Natur wirkenden Erscheinungen Naturgeistern zuordnet und diese benennt, ist es ihm möglich, Regeln für den Umgang mit diesen Mächten zu formulieren. Oft äußern die Naturgeister Wünsche und Warnungen, beispielsweise die Saligen Frauen, wenn sie dem Jäger mit Strafe drohen, sollte er noch mehr Gämsen oder Steinböcke töten. Absichtliches oder unabsichtliches Fehlverhalten kann schwere Strafen nach sich ziehen. Sagen berichten auch vom Fernhalten von Unheil und von den Wohltaten, welche die Geister dem sich in der Natur richtig Verhaltenden zukommen lassen.

In ihrer doppelten Gestalt als Natur- und Kulturwesen sind Naturgeister Bindeglieder zwischen Natur und Kultur, wie es ihnen auch Leander Petzoldt21 zuschreibt.

Soziale Funktionen: Ähnlich anderen Geistern haben die Naturgeister ein Auge auf das Verhalten der Menschen untereinander. Wenn es ihnen nötig erscheint, greifen sie in die sozialen Beziehungen ein, regeln, warnen und ermahnen, belohnen richtiges und bestrafen falsches Verhalten. Naturgeister achten auf gutes Benehmen und bestrafen Leute mit schlechter Kinderstube, wie auch der Bergmönch, ein Berggeist in der Schneeberger Sankt-Georgs-Zeche (S. 141).

Naturgeister kümmern sich bisweilen um einen Ausgleich unverschuldeter sozialer Schieflagen. Gerade manche Bergwerksgeister sehen das als eine ihrer Aufgaben an, wie in einer Sage aus Sachsen der »Gevatter Berggeist in Geyer« das tat: Er übernahm die Patenschaft für das neugeborene Kind eines rechtschaffenen, fleißigen und dennoch armen Bergmanns. In Gestalt eines Häuers nahm der Berggeist an der Taufe teil und schenkte dem Vater Haue und Eisen. Von da an lohnten sich dessen Fleiß und Gewissenhaftigkeit und die Familie wurde wohlhabend.22 Strenge Strafen treffen bisweilen auch ungerechte und hartherzige Mächtige, dabei wird aber das feudale System als solches nicht kritisiert. In einer der Sagenfassungen um die Entstehung des Gebirgsmassivs Watzmann bei Berchtesgaden sind es zwergenhafte Erdmännchen, die dem König wegen seiner Grausamkeit gegen die Bauern ein furchtbares Ende bereiten.23

Sogar Bestrafungen wegen der Entweihung christlicher Feiertage durch Arbeit oder Jagd müssen die eigentlich unchristlichen Naturgeister bisweilen vornehmen.

Einer vielleicht noch späteren Schicht entstammen, dürfte die Reduktion mancher Naturgeister auf ihre Funktion als Kinderschreck. So wurde noch in den 1950er-Jahren beispielsweise in Berchtesgaden Mädchen angedroht, die Percht würde ihnen wegen ihrer Unordentlichkeit den Bauch aufschneiden und Schmutz und Gerümpel hineinfüllen. Auch die Korngeister aus dem Norden und der Mitte Deutschlands, ursprünglich Fruchtbarkeitsdämonen, mussten in späterer Zeit als Schreckgestalten für Kinder dahinvegetieren und diese abhalten, ins Getreidefeld zu laufen.

Psychische Funktionen: Naturgeister können Seelenzustände des Menschen repräsentieren, auch Unbewusstes abbilden, konkretisieren und aus dem Inneren ins Äußere verlagern. Sie bieten eine Projektionsfläche, was den Umgang mit diesen bewussten oder unbewussten Inhalten erleichtern kann. Je nach Person, psychischer Struktur und aktueller seelischer Verfassung erscheinen unterschiedliche Gestalten, und die gleichen Gestalten können Unterschiedliches bedeuten. Die Nixe versinnbildlicht je anderes, wenn sie sich verführerisch einem jungen Mann nähert oder wenn sie einem jungen Mädchen in Liebensnöten erscheint. Das Auftauchen eines Zwerges mag dem sich selbst Überschätzenden seine Unzulänglichkeit und Schwachheit vor Augen, einen anderen zu verborgenen Schätzen in der Seele führen.

Naturgeister sind meist ambivalente Wesen, wobei je nach Situation die helle oder die dunkle Seite vorherrschen kann. Manche Naturgeister sind vor allem furchterregend, andere zeigen in erster Linie ihre liebliche, hilfreiche Seite. Das Erscheinen von Naturgeistern ist häufig – allerdings nicht in den Märchen – mit Ängsten verbunden, sei es, dass sich beim Menschen bereits vorhandene Angstgefühle als Naturgeister und in Naturgeistern konkretisieren, sei es umgekehrt, dass deren Erscheinen Furcht und Angst auslösen. Manchmal betätigen sich Naturgeister wie Hehmann, Wassermann, Habergeiß oder Kasermandl sogar als Aufhocker, die einem Menschen auf den Rücken springen und sich mittragen lassen. Sie verkörpern damit vielleicht eine Last, die jemand als schwer erträglich empfindet, auch die Last eines schlechten Gewissens wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Untat.

Unverhofft oder weil sie sich gut und richtig verhalten haben, werden manche Menschen von Naturgeistern beschenkt – eine Vorstellung, die Wünsche und Hoffnungen spiegelt. Gerade die Wildfrauen oder Saligen und die Zwerge erweisen sich den Menschen gegenüber als besonders großzügig. Die einst bei Kelheim (Niederbayern) wohnenden Wichtlein halfen den Menschen nicht nur mit ihrer Arbeitskraft, sondern schenkten ihnen auch alte römische Goldmünzen und überraschten sie mit reich gedeckten Tischen.24

DÄMONISCHE VERWANDTSCHAFTEN

Die Naturgeister sind Teil der Geisterwelt, sie sind Geister oder Dämonen – übernatürliche Wesen, die mit übernatürlichen Kräften begabt sind. Die Be-griffe Geister und Dämonen werden oft, so auch in diesem Buch, weitgehend gleichsinnig verwendet. Doch kann man auch Unterschiede feststellen: Geister gehören eher in die Welt des Volksglaubens, Dämonen entstammen meist der gelehrten Welt und werden in christlicher Deutung im Allgemeinen als böse und den Menschen feindlich gesinnte Wesen verstanden.

Von der Antike bis in die frühe Neuzeit gibt es in Philosophie und Theologie Versuche, die Dämonen zu ordnen und in ein System zu bringen. In der Antike, etwa bei Platon (428/427–348/347 v. Chr.) sind Dämonen Mittlerwesen zwischen Göttern und Menschen.25 Der griechische neuplatonische Philosoph und Schriftsteller Plutarch (1./2. Jh. n. Chr.) erklärte, die Entdeckung eines zwischen den Menschen und den Göttern stehenden und beide miteinander verbindenden Geschlechts von Dämonen habe mehr und größere Schwierigkeiten gelöst, als Platon durch seine Theorie von der Materie.26 Im Neuplatonismus wird diese Stufe der Zwischenwesen um Engel und Heroen erweitert. Augustinus (354–430)hält die Dämonen für gefallene Engel. Bereits im Verlauf des Mittelalters werden sie häufig mit dem Teufel gleichgesetzt. Bei Thomas von Aquin (um 1225–1274)entspricht der Dämonenpakt, der bewusst oder unbewusst abgeschlossen werden kann, einem Teufelspakt.27 Die negative Einschätzung der Dämonen zeigte sich auch in Schriften aus der Zeit der Hexenverfolgung (ca. 1500–1800). Unabhängig von dieser Zweckdiabolisierung gab es bei Gelehrten der frühen Neuzeit verstärktes Interesse an den Dämonen und das Bemühen, Ordnung in die Dämonenwelt zu bringen. Solche Dämonologien finden sich etwa bei Johannes Trithemius (1462–1516) oder Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486–1535). Ab dem 17. Jahrhundert werden die dämonischen Erscheinungen von den Wissenschaftlern rational erklärt und entmythologisiert.

Länger gehalten als die Dämonen der Gelehrten haben sich die Geister des Volksglaubens, auch wenn sie, besonders in neuerer Zeit, bisweilen auf Gespenster und Spukerscheinungen reduziert werden.

Die Grenzen zwischen Naturgeistern und anderen Geistergruppen sind fließend. Will-Erich Peuckert unterscheidet vier Sagenbezirke und die ihnen zugehörenden Geister: 1. Welt des Zaubers und der Magie, 2. Sagenkreis um Tod und Tote, 3. Sagen von Dämonen und Elben, 4. Wilder Jäger und Seuchendämonen. Zu Gruppe 3, den Dämonen und Elben, zählt er Naturgeister in einem weiten Sinn, wie er auch diesem Buch zugrunde liegt – Waldgeister, Wassergeister, Unterirdische, Hausgeister, Gebirgsgeister, Felddämonen. 28

Elementargeister sind in Luft, Wasser, Erde und Feuer wirkende Kräfte einzuteilen. Sie werden oft mit Naturgeistern gleichgesetzt, aber der Begriff bezieht sich vor allem auf die gelehrte Systematik, insbesondere die des Arztes, Naturforschers und Alchemisten Theophrastus Bombastus von Hohenheim (1493–1541), genannt Paracelsus. In seinem ruhelosen Wanderleben hielt er sich auch immer wieder in Bayern auf, etwa in Amberg, Beratzhausen, Mindelheim, Nördlingen, Nürnberg und Regensburg. Er ordnet dem Wasser die Wassergeister oder Undinen zu, dem Feuer die Feuergeister oder Salamander, der Erde die Erdgeister oder Gnomen, der Luft die Luftgeister oder Sylphen. Diese Elementargeister sind keine Gestalten des Volksglaubens, sondern entstammen den spätantiken Dämonenlehren. Heinrich Heine (1797–1856) beruft sich in seiner Abhandlung über Elementargeister29 auf Paracelsus, stützt sich bei seinen Beispielen aber vor allem auf den Volksglauben.

Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) lässt Faust (Teil I) in der Studierstube die Elementargeister beschwören: Salamander, Undene, Sylphe und Kobold. Mit letzterem ist wohl der Erdgeist oder Gnom gemeint, den er auch als Incubus anruft.

Der Volksglaube kennt Geister des Windes und anderer Wettererscheinungen wie Frau Holle oder Frau Percht, den Wilden Jäger und das Wilde Heer, die vor allem in den oft stürmischen Raunächten umgehen. Der Wind selbst wird auch als weiblicher oder männlicher Dämon gedacht, den man mancherorts etwa mit Mehl fütterte, um ihn zu besänftigen. In der Oberpfalz soll es den Volksglauben gegeben haben, dass ein Sonntagskind den zerstörerischen Wind bannen kann, indem es eine Handvoll Mehl durch das Fenster wirft und spricht: »Windsgebraus, geh in dein Haus!«30. Windfrauen gibt es beispielsweise in Graubünden,31 Windhans und Windin in Schlesien.32 Auch Nebel (Nebelmännchen am Bodensee), Regen33 und Schnee sind mancherorts im Volksglauben personifiziert.

Totengeister sind wohl ebenso alt wie die Naturgeister. Die Vorstellung, dass Verstorbene sich als Geisterwesen weiterhin unter den Lebenden aufhalten oder aus einem Jenseits zurückkehren, gibt es in fast allen Kulturkreisen. Die Einstellung des Menschen zu diesen Geistern ist ambivalent: Man verehrt in ihnen die Ahnen und fürchtet zugleich ihre Unberechenbarkeit oder Bösartigkeit. Besonders gefährlich sind die Geister gewaltsam und damit vorzeitig zu Tode gekommener Menschen.

Wie Volkssagen berichten, sind Totengeister häufig nachts unterwegs, mit oder manchmal ohne Kopf, in Menschengestalt oder tiergestaltig. Gern kommen die Toten auch in der Nacht auf Allerheiligen (1. November) oder in der Allerseelennacht (2. November) zurück zu den Lebenden. In diesen Nächten, so der Volksglaube, ist die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits durchlässig. Früher hat man zu diesen Zeiten auch für die Verstorbenen den Tisch gedeckt – um sie günstig zu stimmen und ihre Unterstützung zu erlangen.

Man trifft nicht selten auf Geister, die qualvoll für sich (und leider oft auch für andere) damit beschäftigt sind, im Leben begangenes Unrecht zu sühnen. So muss mancher Grenzsteinversetzer den Grenzstein ständig tragen und dabei fragen, wo er ihn denn hintun solle, bis ihm ein mitleidiger Lebender rät, ihn wieder dorthin zu tun, woher er ihn genommen hat, und so den Frevler erlöst. Überhaupt zeigen sich in christianisierter Sicht Totengeister oft als erlösungsheischende Arme Seelen. Diese können auch in das Gewand von Naturgeistern schlüpfen und dazu verdammt sein, etwa als Baumgeist, Waldgeist oder Almgeist Sünden abzubüßen, ehe sie in die ewige Seligkeit eingehen können. Eine Abgrenzung der Naturgeister von den Totengeistern ist somit nicht immer einfach und nicht immer möglich.

Die Vorstellung eines Totenheers äußert sich in Sagen-Erscheinungen, die als Wilde Jagd, Wildes Heer, Wütendes Heer, Wilde Fahrt, Wildes Gejäg, Muetasheer, Nachtgloid und mit verschiedenen anderen Namen bezeichnet werden. Im Geisterheer ziehen Menschen und Tiere wie Pferde und Hunde mit, angeführt wird es vom Wilden Jäger, von Wode, Rübezahl, Frau Holle, Frau Perchta, Hackelberg, Rodensteiner oder historisch begründeten Gestalten wie Dietrich von Bern34