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Kann Liebe die Dunkelheit vertreiben?
Addisons Leben war noch nie einfach. Als Neugeborene wurde sie in einem Wäschekorb vor einer Feuerwehrstation ausgesetzt und wuchs in verschiedenen Pflegefamilien auf. Erst ihre Ankunft im Kerrighan House – einem Ort der Liebe und des Zusammenhalts – ändert alles. Jahre später läuft Addisons Karriere als Model gut, und ihre Schwestern geben ihr ein Gefühl von Sicherheit. Bis sie sich einem Mann anvertraut, der sich als Monster herausstellt. Gerade als sie versucht, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, trifft sie auf den Fotografen Killian. Er scheint ihren Schmerz zu verstehen und hilft ihr, Licht zu sehen, wo vorher nur Dunkelheit war. Doch kann er Addison vor dem beschützen, was auf sie lauert?
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Seitenzahl: 468
Das Buch
Mir schwanden die Sinne, die Schwärze drohte mich in die Tiefe zu ziehen. Doch dann war ich plötzlich von Wärme umgeben. Sie sickerte in meine eiskalte Haut und durchflutete mich mit Hitzewogen. Ich gab mich dem Gefühl ganz und gar hin. Ich blinzelte ein paarmal und sah einen stecknadelkopfgroßen Lichtpunkt. Helles, weißes Licht. Das sich immer weiter ausbreitete. Die Stimme in meinem Ohr war sanft und beruhigend … beinahe heiter. Als stiege ich zum ersten Mal in eine heiße Quelle. Erdiger Duft hüllte mich ein, das weiße Licht wurde heller, und ich entdeckte erste Spuren des blauen Himmels.
»Genau so, Baby. Komm zurück. Ich bin hier. Ich beschütze dich, Addy. Ich lass dich nicht los.«
»Halt mich fest.« Ich klammerte mich an seine warme Gestalt, als hinge mein Leben davon ab, presste meine Brust an seine, schlang meine Arme noch fester um ihn.
Die Autorin
Audrey Carlan ist eine international erfolgreiche Bestsellerautorin. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre prickelnden Romance-Reihen Calendar Girl,Trinity und Dream Maker. Ihre Bücher wurden weltweit in über 30 Sprachen übersetzt. Audrey Carlan lebt gemeinsam mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern im California Valley. Wenn sie nicht schreibt, gibt sie Yoga-Unterricht, trinkt mit ihren »Seelenschwestern« Wein oder steckt mit ihrer Nase in einem sexy Liebesroman.
Lieferbare Titel
978-3-453-42430-2 – My Wish – Breite deine Flügel aus
978-3-453-42456-2 – My Wish – Strahle wie die Sonne
978-3-453-42457-9 – My Wish – Genieße jeden Moment
978-3-453-42458-6 – My Wish – Greife nach den Sternen
Audrey Carlan
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Aus dem Amerikanischen vonNicole Hölsken
Wilhelm Heyne VerlagMünchen
Die Originalausgabe Wild Beauty (Soul Sisters 2) erschien erstmals 2021.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
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Deutsche Erstausgabe 08/2024
Copyright © 2020 by Audrey Carlan, Inc.
Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Anita Hirtreiter
Umschlaggestaltung: bürosüd, München, unter Verwendung von Motiven von © www.buerosued.de
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-29086-3V001
www.heyne.de
Für alle Frauen da draußen, die sich hässlich finden – ihr seid wunderschön, und zwar genau so, wie ihr seid. Einschließlich aller Narben.
Kapitel 1
»Kinn hoch, Brust raus, Rücken gerade, Kopf gerade. Ich schaff das«, sprach ich mir selbst Mut zu und zog tief und schnell die Luft ein, während ich mein Konterfei im Flurspiegel meines Elternhauses betrachtete.
Des Kerrighan House.
Einem Zuhause für verwaiste Mädchen. Na ja, das war es jedenfalls früher. Heute war es bloß noch ein Zuhause. Jener Ort, an dem wir »Schwestern« regelmäßig zusammenkamen – wie ganz normale Geschwister, die ihre Eltern besuchten. In unserem Fall war es jedoch nur ein Elternteil – Singular. Aber die Liebe, die Mama Kerri jeder einzelnen von uns schenkte, war tausendmal mehr wert als die jedweder Familie, die ich je erlebt hatte oder in der ich vor meiner Ankunft vor beinahe zwei Jahrzehnten untergebracht gewesen war. Damals war ich acht gewesen, ein verängstigtes, verstörtes kleines Mädchen. Heute, mit sechsundzwanzig, wohnte ich wieder in meinem alten Zimmer, war genauso durch den Wind wie damals und zudem halb wahnsinnig vor Angst.
»Er ist tot«, sagte ich zu meinem Spiegelbild. »Er kann dich nicht mehr kriegen.« Ich beobachtete mein Mienenspiel, zwang mich, das Kinn zu lockern, meine Züge zu entspannen und in den Spiegel wie in eine Kamera zu schauen. Genauso pflegte ich mich auf Shootings vorzubereiten. Als Model musste ich meine Gefühle unter Kontrolle behalten. Und normalerweise beherrschte ich diese Kunst meisterlich. Aber als ich jetzt in den Spiegel blickte, sah ich nicht nur die unzähligen Narben an den Innenseiten meiner Unterarme, sondern auch die Furcht, die ich selbst nach drei Monaten noch nicht hatte abschütteln können.
Von meinen Eltern, die ich nie kennengelernt hatte und deren Bekanntschaft ich selbst irgendwann nicht machen würde, hatte ich das dunkelbraune Haar mit den wunderbaren natürlichen karamellfarbenen und rötlichen Akzenten geerbt, das mir bis zur Mitte des Rückens hinabfiel. Smaragdgrüne Augen, die ein wenig ins Blaue spielten, starrten mich an. Volle Lippen in einem herzförmigen Gesicht, das Frauen und Männer auf der ganzen Welt gleichermaßen bewunderten. Ich fuhr mit den Händen über meine großen Brüste, dann weiter an der Taille entlang bis hinab zu meinen Hüften, die früher einmal sehr üppig gewesen waren. Meine beneidenswerte Sanduhrfigur hatte ein wenig gelitten, denn nach jenem Martyrium hatte ich zunächst ziemlich abgenommen, immerhin aber danach durchaus wieder ein wenig zugelegt. Als Plus-Size-Model für Bademoden und Unterwäsche bevorzugte mich meine Kundschaft in Kleidergröße 42 bis 46. Nachdem ich drei Monate lang körperlich gesundet war, aber seelisch die Hölle durchgemacht hatte, saß Größe 42 immer noch ein wenig locker. Doch ich wusste, dass mein Körper umso heißer und sinnlicher aussah, je fülliger er war. Natürlich hatte ich deshalb noch lange nichts gegen schmal gebaute Frauen. Jede einzelne meiner sieben Pflegeschwestern wog weniger als ich, aber trotzdem waren alle äußerst attraktiv und fühlten sich wohl in ihrer Haut. Genauso war es mir früher auch gegangen, bis ein Teil ebenjener Haut bis zur Unkenntlichkeit verbrannt worden war.
»Addy! Kleines, bist du endlich fertig?«, fragte meine Pflegeschwester und beste Freundin Blessing, während sie auf ihren schwindelerregend hohen Stilettos die Treppenstufen hinabstolzierte.
Ich warf meinem deprimierten Spiegelbild noch einen letzten Blick zu. Ich konnte nur hoffen, diesem neuen Auftrag gewachsen zu sein. Das Honorar würde sehr großzügig ausfallen, obwohl ich eigentlich gar nicht darauf angewiesen war. Dennoch beruhigte mich der Gedanke, eine beträchtliche Summe auf der hohen Kante zu haben, falls ich selbst oder eine meiner Schwestern mal in der Patsche saß. Bevor ich im Kerrighan House aufgenommen wurde, hatte ich nie gewusst, woher ich meine nächste Mahlzeit kriegen sollte. Damals musste ich mich stets fragen, ob ich mich in den zahllosen Pflegefamilien, in denen ich untergebracht gewesen war, gegen andere hungrige Kinder würde zur Wehr setzen müssen oder nicht. Das hatte sich erst an jenem Tag geändert, an dem Mama Kerri und meine neuen Schwestern mich mit offenen Armen empfangen hatten. Nach meiner Ankunft im Kerrighan House gab ich mir selbst das Versprechen, eines Tages etwas ganz Besonderes aus mir zu machen. Genug Geld zu verdienen, um für mich selbst und für alle, die ich liebte, zu sorgen. Also vor allem für Mama Kerri, die weltbeste Pflegemutter aller Zeiten, und für meine sieben Pflegeschwestern: Blessing, Sonia, Simone, Liliana, Genesis, Charlie und die vor Kurzem verstorbene Tabitha.
Tabby.
Meine Augen füllten sich mit Tränen, und mein Herz pochte wie eine laute Basstrommel gegen meine Brust, denn plötzlich zuckten mir Bilder von Tabby durch den Kopf. Wie sie mich neckte, wie sie mich fotografierte, wie sie lachte.
»Hey, Süße, ich habe dich gefragt, ob du bereit bist? Das sind wichtige Kunden von mir und jetzt auch von dir. Wenn du dem Auftrag noch nicht gewachsen bist, hätten sie sicher Verständnis, aber dann müssten sie ein anderes Model buchen. Du weißt, dass ich am liebsten dich in meinen Klamotten und meiner Unterwäsche sehe, aber dieser Kunde ist so einflussreich, dass er meine Entwürfe in die großen Kaufhäuser bringen kann. Wir reden von Macy’s, Nordstrom, Dillard’s und so weiter. Im Augenblick verkaufe ich eher an hochpreisige Boutiquen, doch auf lange Sicht will ich so richtig absahnen. Du weißt, was ich meine.«
Ich schloss die Augen, schluckte und nickte. »Ja, klar, Blessing. Ich verstehe dich, und ich bin bereit. Ganz bestimmt. Trotzdem macht es mir Angst, zum ersten Mal wieder vor der Kamera zu stehen.«
Blessing legte mir einen Arm um die Schultern und betrachtete uns beide im Spiegel. Sie war ein paar Zentimeter kleiner als ich, aber durch die High Heels überragte sie meine eins achtzig heute durchaus. Ihre schwarzen, perfekt gestylten Afrolocken wippten um ihren Kopf herum. Ihre seidige schwarze Haut schimmerte wie Flusskiesel und fühlte sich auch genauso weich an. Wie üblich duftete sie nach einer Mischung aus Kokosöl und einem großzügig aufgetragenen leichten, beschwingten Parfüm, das mich an den Frühling am Kiesstrand von Cannes in Südfrankreich erinnerte. Dort hatten bereits häufiger Shootings von uns stattgefunden.
»Ich bin an deiner Seite. Rund um die Uhr. Du wirst nie allein sein, okay?«, versicherte mir ihr Spiegelbild, und ihre espressofarbenen Augen musterten mich mit eindringlichem Ernst. Seit jenem Tag, da Simone und ich den Anschlag eines Verrückten überlebt hatten, ließ sie die große Schwester raushängen. Selbst an guten Tagen war Blessing stets bestrebt, ihre Wahlfamilie, bestehend aus uns Pflegeschwestern und Mama Kerri, zu behüten. Aber nachdem unser Leben in Gefahr gewesen war und wir Tabby verloren hatten, hatte ihr Beschützerinstinkt extreme Ausmaße angenommen. Ein schiefer Blick reichte, und schon machte sie den Betreffenden nach Strich und Faden fertig. Leider war das im Hinblick auf die Paparazzi nicht sonderlich hilfreich.
Nachdem durchgesickert war, dass Simone, die leibliche Schwester von Senatorin Sonia Wright-Kerrighan, ebenso in den Backseat-Strangler-Fall verwickelt gewesen war wie zwei ihrer Pflegeschwestern, spielte die Presse verrückt. Ich selbst war gekidnappt worden, Tabitha war sogar gestorben. Als dann auch noch meine Identität ans Licht kam – Addison Michaels-Kerrighan, internationales Haute-Couture-Model für Übergrößen – und sich herausstellte, dass ich in meiner Branche durchaus über einen gewissen Bekanntheitsgrad verfügte, wurde es noch schlimmer. Die Paparazzi gaben überhaupt keine Ruhe mehr. Sie kampierten sogar vor dem Kerrighan House in der Hoffnung, einer von uns aufzulauern, wenn sie das Haus verließ, um ihren täglichen Aufgaben nachzugehen. Inzwischen wohnten bloß noch Blessing und ich bei Mama Kerri. Unsere restlichen Schwestern waren in ihr jeweiliges Domizil und ihren Alltag zurückgekehrt und kamen nur zu unserem allwöchentlichen Familiendinner zu Besuch.
Ich biss die Zähne zusammen und schnappte mir meine riesige Sonnenbrille vom Tisch unter dem Spiegel, wo ich auch meine Tasche abgestellt hatte. Dann setzte ich sie auf. Blessing tat es mir gleich – die ihre war modisch rund mit Goldrand und passte perfekt zu ihrem atemberaubenden blauen Pullover und dem goldenen Gürtel, der ihre zierliche Taille umspannte. Ihr Hintern hingegen war wohlgerundet und prall wie ein Medizinball. Blessing trainierte beinahe genauso viel wie Sonia, aber vornehmlich, um ihren geradezu unstillbaren Appetit auszugleichen. Letzterer gehörte zu den Gemeinsamkeiten, auf denen unsere innige Verbundenheit beruhte und die uns sofort auffielen, als Mama Kerri mich vor all den Jahren im selben Zimmer wie sie einquartierte.
»Wollen wir danach zusammen zum Mittagessen gehen?« Ich schlang mir die Tasche über die Schulter und legte die andere Hand auf den Türknauf.
Ihre Lippen verzogen sich zu einem schwachen Grinsen. »Klaro. Und jetzt gönnen wir diesen Aasgeiern einen tollen Schnappschuss, was? Zeigen wir ihnen, wie gut es uns geht. Vielleicht hauen sie dann ab und lassen uns endlich in Ruhe.«
»Man soll die Hoffnung nie aufgeben.« Ich lachte leise und öffnete die Tür.
Sofort blitzten unzählige Kameras auf, und man bestürmte uns mit lauter Fragen.
»Ms. Michaels, wie fühlt es sich an, den Backseat Strangler überlebt zu haben?«
»Wie steht die Senatorin zu den Ereignissen?«
»Können Sie uns irgendetwas über Wayne Gilbert Black sagen?«
Blessing packte mich fest am Ellbogen und führte mich zu dem von ihr gemieteten schwarzen Escalade hinüber, dessen Fahrer uns zu unserem Job und später wieder nach Hause bringen sollte.
»Was hat er Ihnen angetan?«
»Werden Sie nach einem solchen harten Erlebnis wieder arbeiten?«
»Wurden Sie gefoltert?«
Hinter mir versuchte eine fremde Hand, mich festzuhalten, und in nackter Panik schrie ich auf. Ich konnte kaum mehr klar sehen, und kalter Schweiß benetzte meine Schläfen und meinen Nacken.
Blessing wirbelte herum und stieß den Reporter so heftig zurück, dass er über seinen Kameramann stolperte und rücklings gegen einen anderen Paparazzo fiel, der ihn auffing. »Wagen Sie es ja nicht, meine Schwester anzurühren!«, brüllte sie aus Leibeskräften. »Sie sollten sich allesamt schämen. Mir und meiner Familie auf Schritt und Tritt zu folgen. Ein Mitglied unserer Familie wurde getötet! Viele Frauen und ein paar Männer haben durch diesen Mistkerl ihr Leben verloren. Lassen Sie uns endlich in Frieden! Wir haben schon genug durchgemacht.«
Sie legte mir den Arm um die Schultern. Der Fahrer schob sich durch die immer dichter werdende Menge auf uns zu und geleitete uns zum Auto.
»Verdammt. Das nächste Mal engagiere ich ein paar Bodyguards«, schnaubte Blessing und plusterte ihren Afro auf. »Alles klar mit dir?«
Ich zitterte immer noch, beruhigte mich aber allmählich, je weiter wir den Mob der aufdringlichen Reporter hinter uns ließen. »Ja, wird schon.«
Blessing nahm meine Hand und verschränkte unsere Finger ineinander, um sie dann auf ihren Schenkel zu legen. »Ich passe auf dich auf, Addy. Und solange ich dabei bin, wird niemand meiner Schwester etwas zuleide tun. Darauf kannst du dich verlassen.«
Ich lächelte und drückte mit leisem Lachen ihre Hand. »Meine große Hardcore-Schwester steht hinter mir.«
»Ganz genau. Und zwar immer.«
Ich lehnte mich an sie und legte den Kopf auf ihre Schulter. »Was täte ich nur ohne dich?«
»Die gute Nachricht ist, dass du das nie herausfinden wirst«, verkündete Blessing, als sei das eine unumstößliche Tatsache. Und für sie war es das auch. Aber ich wusste es besser.
Das Böse fand immer einen Weg, um das Gute in der Welt zu besudeln. Dieses Böse hatte meine Pflegeschwester Tabby bereits das Leben gekostet. Jeder einzelnen von uns Frauen konnte jederzeit alles Mögliche zustoßen, und man konnte nichts dagegen tun.
***
Klick. Die Kamera blitzte, und ich war wieder dort.
Auf diesem Stuhl.
Im dunklen, eiskalten Keller mit Ratten und anderem Ungeziefer, das mir um die Beine wuselte.
Meine Brust war mit dicken, unnachgiebigen Seilen gefesselt. Meine Arme mit Kabelbindern fixiert, die Unterarme nach oben, um ihm besseren Zugang für seine Folter zu gewähren.
Geistesabwesend, beinahe ausdruckslos sah ich auf das blasige, zerstörte Gewebe meiner Unterarme herab. Betrachtete die zerfetzten, blutenden schwarzen Wunden auf meinen Armen auf die einzige Weise, die ich ertrug – als gehörten sie nicht mir. Der Geruch nach verbranntem Fleisch versengte mir die Nase. Verzweifelt kämpfte ich gegen das Erbrechen an, während sich Speichel unter dem Stoffknebel sammelte. Er saß so fest, dass er mir in die Mundwinkel schnitt und jedes Mal, wenn ich versuchte, mich irgendwie davon zu befreien, meine empfindliche Haut einriss.
Noch ein Kamerablitz.
»Addison …« Irgendwie kam mir die Stimme bekannt vor, die in dem höhlenartigen Raum widerhallte. Meine Gedanken wirbelten wild in meinem Kopf umher. Ich versuchte mich auf ihre Worte zu konzentrieren. Sie war freundlich. Mitfühlend. Und gehörte jemandem, den ich liebte.
Blessing.
Klick.
Ich erbebte und begann zu zittern, im Geiste immer noch auf diesem gefürchteten Stuhl.
Der maskierte Angreifer kehrte zurück.
Er würde mich weiter quälen.
Und mich dann umbringen, genau wie all die anderen Frauen.
Meine einzige Hoffnung bestand darin, dass man ihn finden würde, bevor er meine Schwester Simone erwischte. Wenn sie verschont wurde, war meine Seele frei. In dem Wissen, dass sie in Sicherheit war, würde ich ruhig sterben können.
Als ich aus diesem Flugzeug gestiegen war und den Fahrer vor dem Flughafen entdeckt hatte, der ein Schild mit meinem Namen in die Höhe hielt, hatte ich keine Ahnung gehabt, dass ich mich freiwillig geradewegs in meine persönliche Hölle begab. Er sah aus wie ein ganz normaler Fahrer. Ganz in Schwarz. Vor einer Limousine. Er kannte meinen Namen, wusste, wann ich landen würde. Alles.
Ein kluges Mädchen wäre nicht darauf hereingefallen.
Doch eigentlich war ich das, ein kluges Mädchen. Mama Kerri hatte dafür gesorgt, dass all ihre Pflegetöchter gut erzogen wurden und brav für die Schule lernten. Ich hatte einen Traum und arbeitete hart, um ihn nach meinem Highschool-Abschluss zu verwirklichen. Sie hatte uns immer wieder versichert, dass kein Lebensziel zu hoch war, um es zu erreichen. Ich glaubte ihr. Hielt alles, was sie sagte, für das Evangelium und riss mir für meinen Job den Hintern auf … oder besser, ließ ihn ablichten.
Ich war eines der begehrtesten Plus-Size-Models in der Branche. Ich hatte Millionen auf dem Konto. Aber kein Geld der Welt konnte mich vor dem Backseat Strangler retten.
»Addison, Liebes, du jagst mir Angst ein!« Blessings Stimme riss mich aus den entsetzlichen Erinnerungen und holte mich wieder in die Gegenwart zurück. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn, und ich zitterte wie Espenlaub, obwohl ich unter unnatürlich heißen Scheinwerfern vor einer Kulisse stand.
»Wo bin ich?«, fragte ich immer noch bebend, als meine Schwester mich in die Arme nahm.
Blessing legte mir ihre kühlen Hände an den Hals. Ich erschauerte. Dann schob sie ihr Gesicht genau vor meines und fixierte mich mit dunklem Blick.
Ich sah in ihre vertrauten liebevollen Augen wie auf einen Talisman. Die einzige Verbindung zu meinem sicheren Refugium.
»Addy, du bist mitten in einem Fotoshooting«, sagte sie ruhig.
Ich schüttelte den Kopf. »Er ist hier …«, würgte ich heiser flüsternd hervor.
Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre schwarzen Locken hüpften. »Ist er nicht. Er ist tot. Du bist bei einem Shooting in downtown Chicago. Hinter mir stehen deine Kunden und der Fotograf.«
Ich sah über ihre Schulter hinweg auf die unzähligen Menschen, die uns anstarrten. Verlegen biss ich die Zähne zusammen, als mir klar wurde, dass ich wieder so einen Moment gehabt hatte. So nannten wir diese Vorkommnisse. Momente. Was nichts anderes als eine freundliche Umschreibung für meine kleinen Ausraster war. Dann verlor ich jegliches Gefühl für Raum und Zeit, wusste nicht mehr, wo ich war, und war wieder mit einem Serienmörder in diesem Keller eingesperrt. An jenem Ort, an dem Simone und ich hatten zusehen müssen, wie unsere Schwester Tabitha sich geopfert hatte, um uns zu retten.
Meine Augen füllten sich mit Tränen, die mir sogleich über die Wangen liefen.
»Okay. Wir machen eine Pause. Bring mir ihren Morgenmantel.« Blessing schnippte mit den Fingern nach der jungen Modedesign-Studentin, die sie als Mentorin betreute.
Das Mädchen brachte meinen Morgenmantel, und Blessing half mir, ihn über die feine pinkfarbene Unterwäsche, bestehend aus BH und Höschen, zu streifen.
Ich wickelte meinen eiskalten Körper in die wunderbar weiche, behagliche Chenille, die mich wieder in der Gegenwart verankerte. In diesem Moment schien irgendetwas in der Luft zu knistern, eine Art Stromstoß, der mich zwang, den Blick zu heben.
Klick.
Der Fotograf machte einen Schnappschuss. Sein Gesicht war beinahe vollkommen hinter der Kamera verborgen. Bislang hatte ich keinen Gedanken an denjenigen verschwendet, der mich ablichten würde, sondern mich ausschließlich auf die Tatsache konzentriert, dass dies mein erster Auftrag seit dem Vorfall war. Doch nun musste ich mir den Mann unbedingt genauer ansehen, anderenfalls riskierte ich, dass wieder meine Fantasie mit mir durchging und ich mir einbildete, es wäre er, der Fotos von mir machte oder mich gar filmte.
Aber ich konnte lediglich das sandfarbene Haar des Mannes erkennen, das ihm bis auf die Schulter fiel. Immerhin blickte er kurz darauf hinter der Kamera hervor und musterte mich mit seinen braunen Augen.
Und es war, als ob er in dieser Sekunde bis auf den Grund meiner Seele blickte und dort die völlig kaputte und verängstigte Frau hinter dem perfekten Erscheinungsbild entdeckte.
Klick.
Ich zuckte zusammen und bekam eine Gänsehaut. Doch solange ich in diese sanften braunen Augen sah, fühlte ich mich geerdet. Nicht mehr ziellos über eine endlose Weite aus tiefem rabenschwarzem Wasser dahingleitend, ohne jegliche Hoffnung, jemals die Küste zu erreichen. In diesen Augen fand ich Halt. Ich krümmte die Zehen auf dem kalten Boden, um zu spüren, wo ich gerade stand.
Dieser Mann, dieser Fotograf mit dem gepflegten Vollbart brachte mich mit einem einzigen Blick dazu, ganz bei mir zu sein. Ohne dass ich in die düsteren Erinnerungen an jene Nacht zurückgezogen wurde, die mein Leben verändert hatte.
Ich schälte mich wieder aus dem Morgenmantel, sah ihm erneut in die Augen und reichte das Kleidungsstück Blessing. »Mir geht es gut. Wir machen weiter.«
»Wirklich? Das musst du nicht. Deine Kunden haben Verständnis für das, was du durchgemacht hast. Sie haben sich einverstanden erklärt, dass die Narben an deinen Armen mit Photoshop bearbeitet werden. Ich kenne sie gut. Sie würden sogar verstehen, wenn du es noch nicht hinkriegst«, versicherte sie mir.
Ich schüttelte den Kopf, ohne den Blick von dem Fotografen abzuwenden.
Einer seiner Mundwinkel zuckte, und um seine Lippen spielte ein kaum merkliches, aber dennoch verführerisches Lächeln. »Ich bin neu in der Modebranche. Und wenn es Ihnen gut genug geht, würde ich mit dem Shooting gern weitermachen.« Er sah kurz auf seine Kamera herab. »Ein paar tolle Schnappschüsse haben wir schon im Kasten. Die meisten davon sind nach Ihrer Verschnaufpause entstanden. Sie sind eine Wild Beauty – eine wilde Schönheit. Die Kamera liebt Sie.«
Ich lächelte. »Das sagen sie alle, wenn eine halb nackte Frau vor ihnen steht.«
Er gluckste, und sein volltönender Bariton wärmte meinen Körper von innen heraus.
»Ich bin Addison Michaels-Kerrighan. Und wie heißen Sie?«
»Killian Fitzpatrick.«
Ein interessanter Name für einen faszinierenden Mann.
»Können wir weitermachen, oder wollen Sie doch lieber eine Pause einlegen?«, fragte er, ohne dass seine Stimme auch nur im Mindesten abfällig klang.
Ich schürzte die Lippen. »Solange Sie sich nicht hinter der Kamera verstecken«, antwortete ich mit leicht zitternder Stimme und fügte dann leise hinzu: »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich Sie hin und wieder sehen könnte. Anscheinend sind gesichtslose Männer hinter Kameras ein neuer Trigger für meine Momente.« Sofort bereute ich meine eigene Dummheit. Keine Ahnung, warum ich jemandem, den ich gar nicht kannte – auch wenn er tausendmal sanfte Augen und ein verführerisches Lächeln hatte –, etwas so Persönliches anvertraute.
»Ich bin für Sie da. Egal, was es ist.«
Zu meiner eigenen Überraschung musste ich lachen. »Auch das sagen sie alle«, neckte ich ihn, holte tief Luft und versuchte, außerdem noch den Rest meiner Furcht abzustreifen. Ich schüttelte Arme und Beine aus, wie um Wassertropfen loszuwerden. Im Grunde aber war es die Tragödie, die ich niederzuringen versuchte und die mich in jeder wachen Minute meines Lebens heimsuchte. »Machen Sie einfach nur ein paar tolle Aufnahmen.«
»Mit Ihnen, Addison, kann es doch eigentlich gar keine schlechten Fotos geben. Obwohl ich glaube, dass wir beide mit ein wenig Zeit und Konzentration etwas Magisches entstehen lassen könnten.« Seine Stimme klang warm und tröstlich und war nicht ohne einen gewissen Unterton.
Mit glühenden Wangen legte ich bloß den Kopf schief und lächelte.
Klick.
Er machte einen weiteren spontanen Schnappschuss, warf einen Blick auf den Monitor seiner Kamera und grinste. »Unglaublich«, flüsterte er.
Während der darauffolgenden halben Stunde konzentrierte ich mich ausschließlich auf den Mann hinter der Kamera. Eigentlich wollte ich gar nicht mit ihm flirten, aber angesichts dieses geheimnisvollen muskulösen Kerls, der mich mit seinem Schokoladenblick fixierte und dazu seine wunderschönen kussbereiten Lippen verzog, konnte ich nicht anders.
Gerade als ich mich vornüberbeugte, um der Kamera einen verführerischen Luftkuss zuzuwerfen, regte sich etwas am Eingang zu dem großen, offenen Raum. Ich sah hinüber und entdeckte eine Anzahl uniformierter Polizisten in Begleitung des Freundes meiner Schwester Simone, Jonah Fontaine. Er ließ seine FBI-Dienstmarke blitzen und stürmte zu mir hinüber.
Dann zog er mich an sich, umarmte mich fest und vergrub das Gesicht in meinem Haar. »Mein Gott, was bin ich froh, dass es dir gut geht!«, hauchte er, gleichermaßen angstvoll und erleichtert.
Ich tätschelte seinen Rücken und sah mich nach Blessing um. Ryan Russell, Jonahs Partner beim FBI, flüsterte ihr etwas zu. Ihre Augen hatten eine unnatürliche Größe angenommen, und sie nickte.
»Entschuldigung. Was geht hier vor?« Killian kam auf uns zu, während Jonah mich weiterhin festhielt.
Er löste sich von mir, legte mir die Hände auf die Schultern und ließ den Blick über meinen spärlich bekleideten Körper wandern. »Shit, Addy. Tut mir leid«, sagte er ganz verlegen.
Blessing nutzte den Moment, um eilig mit dem Morgenmantel in der Hand zu uns herüberzueilen. »Hier.« Sie streckte ihn mir entgegen.
Killian nahm ihn ihr ab. »Gestatten Sie?« Er öffnete ihn, sodass ich hastig die Arme hineingleiten und ihn mit dem Gürtel zubinden konnte.
»Danke«, murmelte ich, doch er entfernte sich nicht. Tatsächlich war er sogar noch näher getreten und hatte mir die Hände von hinten auf die Schultern gelegt – eine sehr liebevolle Geste, die so weit davon entfernt war, akzeptabel zu sein, dass ich ihn normalerweise abgeschüttelt und ihm die Hölle heißgemacht hätte, weil er mich angerührt hatte. Aber irgendetwas in meinem Innern wusste die Wärme seiner Hände auf meinen Schultern zu schätzen, die mich in dieser unsicheren Situation beruhigte. Statt ihm also sein Gegrapsche vorzuwerfen, konzentrierte ich mich wieder auf Jonah.
»Geht es Simone gut? Und Mama Kerri auch?«, fragte ich eilig.
»Was ist los? Warum tauchen FBI und Polizei bei unserem Fotoshooting auf?«, unterbrach mich Killian mit besorgter Stimme.
Jonah runzelte die Stirn. Die besitzergreifende Art, mit der Killian meine Schultern umfasste, war ihm nicht entgangen. »Wer ist der Kerl?«
Killian umrundete mich und streckte ihm die Hand entgegen. »Mein Name ist Killian Fitzpatrick, aber meine Freunde nennen mich ›Fitz‹. Ich bin der Fotograf.«
Jonah verengte die Augen, als versuche er, die Motive des muskulösen Fotografen zu ergründen. Doch dann schüttelte er nur den Kopf und wandte sich wieder an mich. »Du brauchst eventuell wieder Personenschutz. Trommelt die Familie zusammen. Es gab eine, äh, Entwicklung im Backseat-Strangler-Fall, und die ist leider nicht allzu gut, Liebes.«
Ich schnappte nach Luft und wich einen Schritt zurück. Sofort begann ich wie Espenlaub zu zittern. Killian beobachtete mich wie ein Habicht mit jenem aufmerksamen Fotografenblick und erkannte vermutlich genau, in welcher Sekunde die Angst mein Sprachzentrum und sogar meinen gesamten Körper gelähmt hatte. Meine Knie wurden weich. Ich wäre umgekippt, hätte Killian nicht den Arm um mich gelegt, sodass mein Gesicht dem seinen ganz nah war.
»Sie sind in Sicherheit«, beruhigte er mich. »Was immer geschehen ist, im Moment sind Sie in Sicherheit. Sie müssen nur atmen, ja?«
Er sah mir in die Augen, und ich konzentrierte mich darauf, wie das hübsche Braun seiner Iris dunkler wurde, während er hörbar ein- und ausatmete. Wie selbstverständlich passte ich meine Atmung der seinen an, bis die Benommenheit und die Schwäche nachließen und auch das Zittern verebbte.
»Besser?«, fragte er.
Ich nickte.
Blessing kam zu uns herüber und warf uns einen vielsagenden Blick zu, bevor sie mich in den Arm nahm. »Alles klar mit dir, Kleines?«
Ich sah Killian an, wünschte, er hielte mich immer noch fest, fühlte mich aber auch in den Armen meiner Schwester sicher. »Was meinst du damit, es habe eine Entwicklung gegeben?«, fragte ich Jonah.
»Eine Frau wurde ermordet. Sie hatte nicht nur Ähnlichkeit mit dir, sondern hielt auch ein zerknülltes Foto von dir aus einer Zeitschrift in der Hand. Auf den Innenseiten ihrer Unterarme fanden sich Verbrennungen, die deinen sehr ähnlich sind, und sie wurde erdrosselt.«
»Was? Nein!« Meine Augen füllten sich mit Tränen. »Was hat das zu bedeuten? Er ist tot. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er von Tabbys Hand starb. Er ist in diesem Keller verblutet. Er kann nicht mehr am Leben sein!«, stieß ich mit erstickter Stimme hervor.
Jonah streckte die Hand aus und strich mir tröstend über den Oberarm. »Ich weiß, Addy, aber bis wir mehr wissen, dürfen wir kein Risiko eingehen. Deshalb war ich eben so erleichtert, als wir dich fanden. Ihr hattet beide die Handys ausgeschaltet. Ich musste bei deiner Agentur anrufen, um herauszufinden, wo du dich aufhältst. Simone ist außer sich, Liebes. Wir müssen dich nach Hause schaffen. Über das alles reden und überlegen, wie wir jetzt weiter vorgehen.«
Ich schloss die Augen und dachte an das letzte Mal, als man uns alle zusammen ins Kerrighan House gebracht hatte. Man hatte uns erklärt, dass Simone um ein Haar dem Backseat Strangler entkommen und eine Leiche in ihrer Wohnung gefunden worden war. Doch damit nicht genug. Es hatte noch viel schlimmer kommen sollen.
Ich nickte dumpf. »Ich muss mich umziehen. Blessing, könntest du, hm, mit den Kunden reden? Das hier ist erst das erste von zwölf Shootings, die wir für die neue Produktlinie machen wollten. Es tut mir so leid.«
Blessing holte tief Luft und schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Gedanken. Ich regele das schon«, sagte sie und wandte sich ab, um sich dieser Aufgabe sofort zu widmen.
»Ich bin jederzeit verfügbar, egal wo. Ich arbeite als Freelancer und habe sogar zu Hause mein eigenes kleines Studio«, bot Killian an, als Jonah sich umwandte, um ein paar Worte mit Ryan zu wechseln. »Wenn Sie die Unterwäsche haben, können wir Sie, wenn Sie wollen, überall ablichten.«
Das Gewicht auf meinen Schultern drückte mich beinahe zu Boden. Ich hatte keine Ahnung, was mir bevorstand oder wie ich mich verhalten sollte.
Er zückte eine Karte. »Auf der Rückseite steht meine Handynummer. Rufen Sie mich an. Wir können jederzeit was vereinbaren … Sie können auch einfach nur anrufen, um zu reden.«
Ich griff nach der Karte, aber er ließ sie nicht los. »Reden?«, fragte ich.
Seine Lippen verzogen sich zu einem verhaltenen Lächeln. »Reden, schreiben. Einander übers Handy kennenlernen, bis ich Sie richtig ausführen kann.«
»W-wie bitte? Mich ausführen? Etwa auf ein Date?«, fragte ich, als habe er diese Bitte in einer fremden Sprache vorgetragen.
Bei dieser Reaktion musste er grinsen. »Ja, Addison, auf ein Date. Wenn Sie Lust haben und sich alles ein wenig beruhigt hat. Aber vorläufig kann es helfen, einfach nur über eine angespannte Situation mit jemandem zu reden, der nichts damit zu tun hat. Klingt, als hätten Sie nicht nur schon viel mitgemacht, sondern auch, als ob Ihnen noch einiges bevorstünde. Ich weiß, wie sich so etwas anfühlt. Man ertrinkt förmlich in den eigenen Gedanken, fürchtet sich aber zu sehr davor, sie den Menschen, die man liebt, anzuvertrauen.«
Ich nickte. Genauso war es. Ich musste aufhören, meinen Schwestern und Mama Kerri meine Ängste und Phobien aufzubürden. Sie hatten schon genug gelitten.
»Rufen Sie mich an«, wiederholte er.
»Ähm …«
»Addison?«
Ich benetzte die Lippen und blinzelte unsicher. Die Situation überforderte mich.
»Melden Sie sich einfach. Ich warte auf Ihren Anruf. Falls ich nichts von Ihnen hören sollte, mache ich mir Sorgen.«
»Sorgen sollten Sie sich lieber darüber machen, dass ich Ihnen eins überziehe«, knurrte Jonah, der unsere Unterhaltung mitbekommen hatte und dem Killians Verhalten offensichtlich missfiel. Er zog mich an seine Seite. »Komm, Addy. Bringen wir dich heim.«
»Okay. Und Killian, ich werde anrufen.« Ich befingerte seine Visitenkarte.
»Ich freu mich schon. Passen Sie auf sich auf.«
Nur mit Mühe brachte ich ein trauriges Lächeln zustande.
Sicherheit war eine Illusion. Wahrscheinlich würde ich mich nie wieder sicher fühlen können.
Kapitel 2
Acht Frauen, die ich über alles liebte, starrten mich gleichermaßen zärtlich und besorgt an. Simone rückte so nah an mich heran, dass unsere Oberschenkel einander komplett berührten, und umfing meine Hand mit beiden Händen. Auf der anderen Seite tat Mama Kerri es ihr gleich. Sonia tigerte wie üblich auf und ab. Getrieben von ihrem Tatendrang und ihrem herausragenden Intellekt, bemühte sie sich offensichtlich, die Hintergründe zu durchschauen und Lösungen zu ersinnen. Jonah und Ryan standen abwartend auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Liliana, Charlie und Genesis hatten schweigsam auf einer Seite der riesigen, U-förmigen Couch Platz genommen. Blessing saß genau in der Mitte, die Beine überkreuz, während ihr mit einem sexy Stiletto beschuhter Fuß wütend auf und ab wippte und sie sich mit vor der Brust verschränkten Armen zurücklehnte.
»Das FBI hat uns versichert, dass der Backseat Strangler erledigt ist. Geschichte. Auf frischer Tat ertappt. Aber jetzt müssen wir davon ausgehen, dass es möglicherweise einen Nachahmungstäter gibt – oder schlimmer noch, einen Komplizen.« Sonia blieb abrupt stehen, wirbelte herum und funkelte Jonah und Ryan wütend an.
Ryan hielt beschwichtigend die Hände in die Höhe. »Senatorin Wright, ich verstehe, dass diese Entwicklung äußerst beunruhigend ist, aber das FBI ist an der Sache dran. Jonah und ich und das gesamte Team verfolgen jede mögliche Spur, um herauszufinden, ob eine Verbindung zu Ihrem Fall besteht oder nicht.«
»Nur um eins klarzustellen: Sie können nicht sicher sagen, ob es sich um einen Nachahmungstäter oder einen Komplizen handelt?«
Jonah seufzte. »Sonia, so einfach ist die Sache nicht. Nach aktuellem Ermittlungsstand ist beides möglich.«
»Seid ihr überhaupt sicher, dass es eine Verbindung gibt? Vielleicht ist es irgend so ein Psycho, der von Addys Foto in einer Zeitschrift besessen ist. Sie sieht fantastisch aus. Viele Männer begehren sie.« Schnaubend deutete sie mit dem Finger auf mich. »Schau sie dir doch an. Im Moment ist sie außer sich vor Furcht, hat ganz geschwollene Augen vom Weinen und wäre immer noch schön genug, um für Victoria’s Secret zu posieren, die mithilfe der Fotos ganze Lagerhallen von Unterwäsche abverkaufen würden.«
»Ich liebe dich auch, SoSo«, sagte ich, um ihr auf meine Art für das Kompliment zu danken. Insbesondere, da diese Frau selbst ebenfalls eine elegante Schönheit war. Mit ihrem weißblonden Haar und dem roten Lippenstift wirkte sie ebenso königlich wie entschlossen.
»Auch solche Überlegungen schließen wir keineswegs aus, Senatorin«, sagte Ryan nachdenklich.
Sein respektvoller Ton besänftigte Sonia ein wenig.
»Wir versuchen uns lediglich nach allen Seiten abzusichern«, fuhr er fort. »Dennoch machen wir uns Sorgen, weil diesem Opfer vor seinem Tod mithilfe von Zigaretten Brandwunden an den Innenarmen zugefügt wurden. Dass es Addy während ihrer Entführung genauso erging, ist nie an die Öffentlichkeit gelangt. Die Presse erfuhr lediglich, dass Addison gekidnappt und verletzt wurde, sonst nichts. Außerdem ist das Opfer weiß, Ende zwanzig, hat braunes Haar, grüne Augen, eine füllige Figur und eben eines von Addisons Fotos in ihrer Hand, das wir finden sollten.«
»Dios mío«, keuchte Liliana und machte das Kreuzzeichen. Dann schloss sie die Augen. Ihre gestuften braunen Locken reichten ihr bis zu den Schultern. Ihre Lippen bewegten sich in stummem Gebet, mutmaßlich für die verlorene Seele. Liliana, meine Latina-Schwester, glaubte fest an den Allmächtigen. Sie war die Religiöseste unserer Familie, ging sonntags regelmäßig in die Kirche und besuchte mittwochs gelegentlich sogar den Bibelkreis. Ich selbst hingegen hielt mich eher für spirituell angehaucht – genau wie die restlichen von uns Schwestern.
»Warum Addy?«, fragte Blessing.
Ryans Blick wandte sich Blessing zu und wurde weich. »Eine Theorie lautet, der Mörder wäre wütend darüber, dass sie davonkam. Eine andere geht ebenfalls davon aus, dass es sich ursprünglich um ein Verbrecher-Duo handelt. Einer hatte das Sagen, der andere war der Untergebene. Der Dominante starb, weshalb der andere nun Rache sucht. Oder vielleicht das Gefühl hat, die Aufgabe noch nicht vollständig zu Ende gebracht zu haben. Was wiederum bedeutet, dass Simone ebenfalls nicht sicher ist. Ehrlich gesagt ist keine von Ihnen das. Denn auch einen Nachahmungstäter können wir nicht ausschließen. Aber wie ich schon sagte: Die Öffentlichkeit wusste nichts über die Verbrennungen an Addisons Armen, weswegen wir zu der Überzeugung gelangt sind, dass wer immer diese Frau ermordete, dieses intime Detail kannte. Mithin scheint es plausibel, dass auch für die ursprünglichen Morde mehr als nur eine Person verantwortlich ist.«
Jonah stieß sich von der Wand ab, kam zu mir herüber und kniete vor mir nieder, um mir in die Augen sehen zu können. Er legte mir die Hand aufs Bein. »Okay, meine Liebe, jetzt muss ich dir noch etwas abverlangen. Es ist schlimm, gleichzeitig aber der Hauptgrund, warum wir euch hier zusammengetrommelt haben.«
Ich runzelte die Stirn und schluckte trocken. »Wieso?«, krächzte ich.
»Während deiner Entführung warst du beinahe den ganzen Tag mit dem Killer zusammen. Hast du je zwei Männer gleichzeitig gesehen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich …« Ich dachte an meine Zeit in diesem dunklen, rattenverseuchten, widerlichen Keller zurück. Unwillkürlich schauderte ich.
Mama Kerri legte mir den Arm um die Schultern und schob mein Kinn zu sich nach oben. Ihre Berührung war warm und tröstlich. »Du musst dich nicht wieder voll und ganz in deine damalige Situation hineinversetzen, Liebes. Tu so, als seiest du eine unbeteiligte Beobachterin. Stell dir den Raum vor. Wie sah er aus?«, fragte sie mit sanfter Stimme und blickte mich mit ihren blaugrünen Augen freundlich an.
»Hmmm …« Ich benetzte die Lippen und versuchte so zu tun, als sähe ich mich von außen. »Es war dunkel. Grau. Kalt. Hin und wieder spürte ich, wie eine Ratte an meinen Füßen und Beinen entlangstreifte, dort, wo sie an den Stuhl gefesselt waren.«
Charlie gab ein leises Wimmern von sich, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Liliana nahm ihre Hand.
Auch Mamas Augen wurden feucht, aber sie weinte nicht. Ihre Kraft legte sich wie ein magischer Balsam über meine verwundete Seele. »Woran erinnerst du dich noch?«, fragte sie mit belegter Stimme.
»An tropfendes Wasser, wahrscheinlich aus lecken Rohren.«
»Daran erinnere ich mich auch. Dieses Geräusch verfolgt mich auch jetzt noch bis in meine Träume.« Simone drückte meine Hand. »Es gab dicke Rohre, riesige Wassertanks und der Boden war aus Beton.«
»Was hast du gerochen, Mäuschen?«, fragte Mama weiter.
Ich runzelte die Stirn und überlegte. Die Erinnerung an den durchdringenden Gestank war so heftig, dass ich husten musste. Sie rieb mir den Rücken, während ich ein paar tiefe Atemzüge tat und mir ins Gedächtnis rief, dass ich an einem sicheren Ort war, umgeben von Menschen, die mich liebten.
»Etwas wie Schimmel. Es war ein geschlossener Raum. Feucht und nasskalt. Ohne jede Frischluftzufuhr«, antwortete ich.
»Okay, das ist gut. Und jetzt denk an den Mann.«
Entschlossen schüttelte ich den Kopf. »Ich will nicht«, flüsterte ich von Panik überwältigt. Noch mehr Tränen traten mir in die Augen und liefen mir über die Wangen.
Jonah musterte mich mit gequältem, dunklem Blick. »Ry, ich finde, wir sollten hier abbrechen …«
Diese Männer zählten auf mich. Die Sicherheit meiner Familie hing von mir ab. Jede Kleinigkeit konnte ihnen weiterhelfen. »Nein, nein. Mir geht’s gut. Ich muss mich den Erinnerungen stellen, und wenn es dazu beiträgt, die Person zu fassen, die diese Frau umgebracht hat, und meiner Familie Sicherheit zu gewähren, dann werde ich tun, was immer notwendig ist.«
»Bist du sicher?« Jonah rieb mir unermüdlich übers Knie.
»Ja, aber ich weiß nicht, ob es irgendetwas gibt, womit ich euch helfen kann. Der Mann, der mich gefoltert hat, war definitiv Wayne Gilbert Black. Seine Hände würde ich überall wiedererkennen. Ich habe immer wieder zugesehen, wie er die Zigarette in mein Fleisch presste. Es gab keinen zweiten Mann. Jedenfalls habe ich keinen gesehen. Aber vielleicht gab es Kameras? Auf jeden Fall hat er mich mit dem Handy gefilmt.«
Jonah nickte. »Ja. Wir haben uns die Filme angesehen. Du warst so tapfer.« Er drückte mein Knie. »Wir werden diesen Kerl kriegen, aber so leid es mir tut: Zunächst einmal müsst ihr von der Bildfläche verschwinden. Wir dürfen kein Risiko eingehen.«
»Wieder mal ein gefundenes Fressen für die Presse.« Sonia stöhnte und holte ihr Handy heraus. »Quinn? Ja, wir müssen uns unterhalten. Ich glaube, wir brauchen noch einmal diese Wohnung, die wir vor drei Monaten angemietet hatten. Es läuft schon wieder ein Verrückter frei herum«, sagte sie und verließ das Zimmer in Richtung Küche.
Ich ließ mich gegen Mama Kerri sinken. »Warum ich?«
Sie schüttelte den Kopf und streichelte meinen Rücken. »Keine Ahnung, Baby, aber das finden wir schon noch heraus. Jonah und Ryan sind hervorragende Ermittler. Sie werden jeden Stein umdrehen. Nicht wahr, Gentlemen?«
»Darauf kannst du Gift nehmen.« Jonah streckte Simone die Hand entgegen und zog sie in die Höhe. »Aber bis wir mehr wissen, solltet ihr allesamt erst mal untertauchen.«
»Können wir hierbleiben?«, fragte ich.
»Ich habe eine hervorragende Alarmanlage und hatte noch nie irgendwelche Probleme. Außerdem wohnen Jonah und Simone gleich um die Ecke. Ein Anruf genügt, und ihr wäret in ein oder zwei Minuten hier, nicht wahr? Überdies stehen wir ohnehin unter ständiger Beobachtung, weil die Presse uns belagert.« Mamas Stimme klang klug und beherrscht.
Ryan rieb sich den Nacken. »Ich weiß nicht so recht. Wir könnten regelmäßige Patrouillen am Haus vorbeischicken und für polizeiliche Präsenz in der Gegend sorgen. Ich denke, die meisten von Ihnen sind hier gut aufgehoben. Sonia genießt ohnehin Personenschutz durch ihr privates Team. Zudem wurden nach Abzug der Polizei die Sicherheitsmaßnahmen in Ihrem Wohnhaus verdoppelt. Natürlich wäre es besser, wenn wir einen noch sichereren Ort für Sie alle fänden, aber am gefährdetsten von Ihnen allen sind Addison und Simone, denn sie hatten eine direkte Verbindung zum Backseat Strangler.«
Genesis erhob sich und schlug sich gegen die Beine. »Na gut, ich hole Rory von Tante Delores im Blumenladen ab, fahre zu mir nach Hause zurück und packe mal wieder Klamotten für ein paar Tage ein.«
»Mir wäre es lieber, wenn du nicht allein führest«, bemerkte Jonah. »Wenn einer von euch aus irgendeinem Grund das Haus verlassen muss, sei es, um zur Arbeit zu kommen oder sonst irgendwas, wäre es das Beste, wenn ihr es nur paarweise tätet und euch regelmäßig beieinander meldet.«
»Ich begleite Gen und helfe ihr beim Packen«, bot Liliana an.
»Charlie und ich können es genauso halten, denn unsere Apartments sind nicht allzu weit voneinander entfernt. Außerdem wohne ich ohnehin seit drei Monaten mit Addy hier«, verkündete Blessing. »Mir doch egal, wenn ich noch länger bleiben muss. Ich werde den Kunden anrufen und das Shooting abblasen.«
Bei dieser Bemerkung horchte ich auf und schüttelte den Kopf. »Kommt nicht infrage. Ich lasse den Job nicht sausen. Endlich bin ich wieder im Geschäft. Wenn ich mir das Leben weitere drei Monate von diesen Mistkerlen beschneiden lasse, bin ich endgültig raus. Immerhin bin ich schon sechsundzwanzig, beinahe siebenundzwanzig, und meine besten Jahre sind bald vorbei. Im Übrigen ist das unsere Riesenchance, um deine Plus-Size-Unterwäsche in die großen Ladenketten zu bringen. Ich werde mich nicht länger verkriechen. Ich will endlich wieder ein Leben haben.«
Simone nickte, verschränkte die Arme vor der Brust und rieb sich den Bizeps. »Verstehe ich. Voll und ganz. Wenn wir jetzt aufgeben, hat der Killer gewonnen. Trotzdem müssen wir auf unsere Sicherheit achten.«
»Ich bezweifele dennoch, dass sie wieder arbeiten sollte …«, warnte Jonah.
Ich stand auf und hakte die Daumen in die Gesäßtaschen meiner Jeans. Meine Finger streiften die Visitenkarte, die ich vorhin hineingesteckt hatte. Ich zog sie heraus und las die Aufschrift.
Killian Fitzpatrick, Fotograf und Fotojournalist.
Ich hielt die Karte in die Höhe. »Dieser Fotograf heute hat mir versichert, den Job unbedingt fertigstellen zu wollen. Außerdem sei er Freelancer und könne nicht nur überall arbeiten, sondern habe auch ein eigenes Studio. Vielleicht können wir uns ja mit den Kunden einigen und die Fotos privat aufnehmen?«
Blessing schnippte mit den Fingern und deutete auf mich. »Das ist gar keine schlechte Idee. Zumal du dich bei ihm ja ganz wohlgefühlt hast.«
Tatsächlich sogar mehr als wohl, was mich selbst überraschte. Ganz zu schweigen davon, dass er auch mit mir ausgehen wollte. Plötzlich fingen meine Wangen an zu brennen, und Blessings Lippen zuckten.
»Du magst ihn«, rief sie anklagend.
Stirnrunzelnd zuckte ich mit den Schultern. »Er war nett.«
»Nett«, schnaubte sie.
»Ja.«
»Und mit seinem Man-Bun ist er ein echt scharfer Künstlertyp.« Sie schenkte mir ein strahlendes Lächeln.
»Blessing … wie redest du denn, Schatz!«, sagte Mama tadelnd. Sie verabscheute vulgäre Ausdrücke. In ihren Augen war das gewöhnlich und undamenhaft.
»Sorry, Mama«, entschuldigte Blessing sich sofort und wandte sich dann wieder an mich. Ihre dunklen Augen blitzten mutwillig. »Okay, okay. Überlass mir unseren Kunden. Ich erkläre ihm, dass es nicht anders geht und wir das Shooting offsite erledigen müssen, ihnen aber sämtliche Fotos beschaffen werden, die sie benötigen, damit meine Entwürfe praktisch von allein aus den Läden hinausspazieren. Wird schon schiefgehen.«
Ich schenkte ihr ein breites Lächeln, das erste echte seit Monaten. Es fühlte sich ein wenig mühsam und seltsam an, aber dennoch gut. Als trüge man ein altes, bequemes Paar Schuhe, das man immer noch heiß liebte, obwohl es in dieser Saison out war.
»Soll ich den Fotografen anrufen, oder machst du das lieber selbst?«, fragte sie und verzog ihre vollen, schimmernden Lippen zu einem Grinsen.
»Ich erledige das«, stürzte ich mich auf diese Gelegenheit wie auf eine Portion Street Tacos, nach denen ich bekanntermaßen süchtig war. Dafür war bei mir immer Platz.
Außerdem hatte Killian mich darum gebeten, ihn anzurufen. Beinahe schon angebettelt. Nun ja, angebettelt war vielleicht übertrieben, doch er hatte immerhin behauptet, sich Sorgen zu machen, falls er nichts von mir hörte, und nun hatte ich einen guten Vorwand, um mich tatsächlich bei ihm zu melden.
Ich befühlte die Karte und schob sie wieder in meine Gesäßtasche zurück. Mama begab sich in die Küche, um etwas zu essen zuzubereiten, was sie jedes Mal tat, wenn sie sich Sorgen machte. Sämtliche Schwestern außer Simone umarmten mich und gaben mir ermutigende Worte mit auf den Weg, bevor sie sich verabschiedeten. Ich wiederum entschuldigte mich bei ihnen für die Scherereien, die sie meinetwegen hatten. Doch sie winkten ab. Man konnte eine Kerrighan-Schwester vielleicht niederschlagen, aber am Boden halten konnte man sie nicht.
Mannomann, was hatte ich doch für eine tolle Familie!
»Addy, Baby, ich habe hier frisch gebackene Cookies und Tee«, rief Mama aus der Küche. Cookies und Tee, ihre Antwort auf jegliches Leiden.
Mit leisem Lachen wandte sich Simone an Jonah. »Ich bleibe erst mal bei Addy und Mama Kerri. Meinst du, dein Dad und Luca haben etwas dagegen, wenn ich heute nicht mehr zur Arbeit komme?«
Er senkte den Kopf und gab ihr schnell einen liebevollen Kuss. »Bestimmt nicht. Ich rufe sie auf dem Rückweg ins Büro an. Bleib hier. Wag dich keinesfalls aus dem Haus. Ich hole Amber und bringe sie vorbei, bevor ich wieder losfahre.«
»Das wird nicht nötig sein, Liebling.« Simone legte den Kopf schief.
Er legte ihr die Hand in den Nacken. »Dieser Hund würde seine Mama mit seinem Leben beschützen. Ich wünsche mir zusätzlichen Schutz für meine Freundin und ihre Familie, ja? Lass mich einfach gewähren. Dann fühle ich mich besser, wenn ich da draußen diesem Ungeheuer hinterherjage.«
Sie verdrehte die Augen, doch dann lächelte sie und gab ihm einen Kuss auf die Lippen. »Okay, Baby. Dann bring den Hund her.«
»Ich liebe dich«, flüsterte er und küsste sie erneut.
Ich wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster. In ihrer Nähe kam ich mir häufig wie ein Eindringling vor, auch wenn ich mich noch so sehr bemühte, ihre Privatsphäre nicht zu verletzen. Hoffentlich war mir so jemand eines Tages ebenfalls vergönnt. Ein Mann, der mich liebte und sich um mich sorgte. Doch vorläufig freute ich mich darüber, dass zumindest eine meiner Schwestern einen solchen Mann gefunden hatte.
»Tschüss, Addy«, rief Jonah noch.
»Tschüss und danke!«, antwortete ich und winkte ihm hinterher.
Jonah lächelte mir zu, anschließend sah er Simone an und zwinkerte.
Wir beide seufzten gleichzeitig, dann sahen wir einander an und lachten los. Simone legte mir den Arm um die Taille. »Komm mit. Mama hat Cookies für uns, und ich hatte kein Mittagessen.«
»Ich auch nicht.«
»Meine Mädchen haben noch nicht zu Mittag gegessen?«, polterte Mama. »Dann mache ich euch zuerst ein paar Sandwiches! Erst was Vernünftiges, dann was zum Naschen«, mahnte sie, als wir die Küche betraten und uns an den Picknicktisch setzten, den wir noch aus unserer Jugend kannten.
»Und jetzt erzähl mir von diesem Fotografen!« Simone wackelte mit den Augenbrauen und grinste.
***
»Fitz hier«, meldete sich die warme Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Hallo, Mr. Fitzpatrick?«, fragte ich sicherheitshalber nach.
»Ja, am Apparat.«
»Hi, ähm, hier ist Addison Michaels-Kerrighan … Sie waren der Fotograf bei meinem Shooting heute Morgen.«
»Addison, hey, schön, dass Sie anrufen. Alles okay mit Ihnen, nachdem das FBI Sie abgeführt hatte?«, scherzte er.
»Das FBI hat mich nicht abgeführt. Aber nachdem ich nun schon zum zweiten Mal in so eine Lage geraten bin, hat mein Schwager in spe einen etwas übertriebenen Beschützerinstinkt entwickelt.«
»Der Anzugträger war Ihr Schwager?«
»Noch nicht offiziell, aber es wird wohl irgendwann darauf hinauslaufen. Er und meine Schwester sind vor ein paar Monaten zusammengezogen, und mittlerweile arbeitet sie als Büromanagerin in dem Bauunternehmen, das seinem Vater und seinem Bruder gehört.«
»Starke Familienbande«, vermutete er.
»Auf beiden Seiten, ja.«
»Und die ermordete Frau? Inwiefern haben Sie mit ihr zu tun?«, fragte er im Plauderton.
Ich holte tief Luft und stieß sie wieder aus.
»Sie müssen es mir nicht erzählen, wenn Sie nicht wollen«, fügte er sanft hinzu.
Ich schloss die Augen. »Es liegt nicht daran, dass es zu persönlich ist, es ist nur allzu … beängstigend. Jedenfalls hätte ich nie gedacht, jemals in eine solche Lage zu geraten. Von meinem letzten traumatischen Erlebnis habe ich mich bislang kaum erholen können.«
»Ich muss zugeben, dass ich Sie nach unserer morgendlichen Sitzung gegoogelt habe. Sie wurden vom Backseat Strangler gekidnappt.«
»Ja. Meine Schwester Simone war zur falschen Zeit am falschen Ort. Der Kerl hat sich auf dem Rücksitz ihres Wagens verborgen. Das FBI hielt sie an, wodurch sie ihren jetzigen Freund Jonah kennenlernte – den Anzugträger, wie Sie es formulierten. Der Killer schoss auf beide, aber keiner von beiden wurde ernsthaft verletzt. Danach legte der Verbrecher allerdings erst richtig los.«
»Standen Sie den anderen Opfern nahe?«
Sofort hatte ich wieder Tabbys tote, ins Leere starrende Augen in diesem Drecksloch im Sinn. »Also, es ist wirklich nett von Ihnen, mit mir darüber reden zu wollen, aber eigentlich möchte ich das gar nicht. Deshalb habe ich nicht angerufen.«
»Okay. Schon gut. Obwohl ich hoffe, dass Sie sich jemand anders anvertrauen können. Die Dinge laut auszusprechen, hilft oft dabei, sie zu verarbeiten, und nimmt ihnen die Macht, einen emotional und seelisch zu verletzen. Und ich erkenne eine Überlebende, wenn ich eine sehe. Ich stecke sozusagen in Ihrer Haut.«
»Und was ist Ihnen zugestoßen?«, fragte ich sofort.
Er lachte leise. »Darüber reden wir lieber ein anderes Mal. Vielleicht beim Abendessen und einer guten Flasche Wein.«
»Sind Sie immer so forsch?«, platzte ich, ohne nachzudenken, heraus.
»Wenn ich mich mit einer schönen Frau unterhalte, über die ich gern mehr erfahren würde, ja. Obwohl es schon eine Weile her ist, seit ich das letzte Mal jemanden interessant gefunden habe.«
»Ganz schön glattzüngig.« Ich lachte. »Sie fotografieren Models und sind ein echt heißer Typ. Ich bin überzeugt, dass Sie eine Menge hübscher Gesichter interessant finden«, neckte ich ihn.
»Sie wären überrascht. Und ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass das Fotografieren von Models eher ein neueres Projekt ist.«
»Was haben Sie denn davor gemacht?«
»Ich war Kriegsfotograf«, sagte er plötzlich knapp.
»Oh, wow. Das hätte ich nicht erwartet.«
»Das geht vielen anderen genauso. Es ist ein besonderer Job, und die guten Fotojournalisten haben einen sehr speziellen Werdegang. Ich selbst habe zuerst in der Armee gedient. Brachte meine Kamera mit. Habe Fotos gemacht und das, was wir sahen, und viel von dem, was wir dort taten, dokumentiert. Von da an war es ein Selbstläufer. Nach vierjährigem Dienst als Soldat war ich zehn Jahre als Fotojournalist tätig.«
»Und jetzt?«
»Jetzt fotografiere ich nur noch die schönen Dinge des Lebens. Dinge, die mir Freude bereiten, nicht Schmerz.«
»Ich verstehe. Respekt. Vor allem, was Sie gemacht haben.«
»Danke. Sie rufen aus einem bestimmten Grund an, sagten Sie?«
»Genau. Sie erwähnten, dass Sie das Fotoshooting auf freiberuflicher Basis fortführen könnten und dass Sie ein eigenes Studio besäßen?«
»Stimmt, ja. Und ich wäre definitiv daran interessiert, Sie noch einmal zu fotografieren. Die Kamera liebt Sie.«
Ich biss mir auf die Unterlippe, denn ich hatte Schmetterlinge im Bauch. »Na ja, um die Wahrheit zu sagen, wir müssten sogar das gesamte Shooting ohne die normalen Arbeitsbedingungen abwickeln.«
»Sie meinen wegen des Mordes, den Ihr Schwager erwähnte?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es gar nicht genau. Ich weiß nur, dass der Backstreet Strangler eventuell die Tat nicht allein begangen hat. Vielleicht gibt es auch einen Nachahmungstäter. Auf jeden Fall läuft da draußen ein weiterer Mörder frei herum. Er hat eine Frau getötet, die mir sehr ähnlich sieht und die, als man sie fand, ein aus einem Magazin herausgerissenes Foto von mir in der Hand hatte.«
»Herrje, Addison. Das tut mir leid. Sie sind sicher vollkommen außer sich vor Angst.«
»Zugegeben: Ich war schon mal besser drauf.« Ich lachte trocken, aber es fühlte sich falsch und unaufrichtig an.
»Ich mache alles, was nötig ist. Und freue mich, wenn ich Ihnen helfen kann.«
»Nun ja, genau darum geht es teilweise. Wir müssen dieses Projekt extrem geheim halten. Nur die wenigen Menschen, die uns helfen, dürfen, wenn überhaupt, davon wissen. Ich will andere keinesfalls gefährden. Wenn Sie sich auf die Sache einlassen, muss Ihnen klar sein, dass Sie ebenfalls unter Personenschutz stehen und vielleicht sogar in Gefahr sind.«
»Zuerst einmal bin ich ausgebildeter Soldat und habe vierzehn Jahre aktiven Kriegsdienst überlebt. Vier in der Army und die anderen zehn als Kriegsfotograf. Ich habe also mehr Jahre meines Lebens in Gefahr verbracht als in Sicherheit. Außerdem habe ich mein Heim mit ein paar Schutzmaßnahmen ausgestattet, wie einer Alarmanlage und einem außerordentlich aggressiven Rottweiler. Am liebsten fotografiere ich oldschool. Wenn man uns freie Hand lässt, verspreche ich Ihnen, dass die Bilder anders werden als alles, was man je von Ihnen gemacht hat.«
»Ich weiß nicht so genau, welchen Umfang das Projekt ursprünglich haben sollte und ob es genaue Vorgaben gab. Von ein paar Vorstellungen müssen wir uns wahrscheinlich definitiv verabschieden. Doch der Kunde besteht darauf, das Produkt durch mich repräsentiert zu sehen – was hervorragend ist, denn das entspricht auch den Wünschen der Designerin. Bei der ganzen Produktlinie handelt es sich um Unterwäsche inklusive Morgenmäntel, Bodys und so weiter. Hochwertig, hochpreisig. Die Stücke müssen wirklich atemberaubend aussehen. Sie wurden von meiner Schwester Blessing entworfen, die Sie heute ebenfalls kennengelernt haben, und sie braucht diesen Vertrag dringend, um ihr Unternehmen weiterzubringen.«
»Ihre Schwester? Blessing Jones, die Modedesignerin?«
»Ja?«
»Sie ist Ihre Schwester?«
»Ja.« Ich runzelte die Stirn. »Wieso?«
»Baby, sie ist schwarz, und Sie sind weiß.«
Bei dem Wort »Baby« schmolz ich förmlich dahin. Dann wurde mir die Bedeutung seiner Worte klar, und ich lachte schallend. Was für mich selbstverständlich war, musste einem Außenstehenden tatsächlich merkwürdig vorkommen.
»Wir sind Pflegeschwestern.«
»Na, jetzt wird mir so einiges klar.«
Ich kicherte. »Dann ist es ja gut.«
»Wann fangen wir an?«
»Ich richte mich da ganz nach Ihnen. Blessing regelt die Angelegenheit mit den Kunden, die sie zweifellos überreden wird, sich auf die neuen Modalitäten einzulassen. Es liegt also ganz an Ihnen, wann Sie sich meiner erbarmen können.«
»Oh Addison, ich kann mich Ihrer definitiv erbarmen …«
Als er lachte, fühlte ich, wie meine Wangen heiß wurden. Die Röte wanderte an meinem Hals hinab und weiter über mein Dekolleté, sodass auch meine Nippel Notiz davon nahmen und unter meinen Klamotten hart wurden.
»Killian«, flüsterte ich heiser, als liefe mehr zwischen uns, als momentan eigentlich zur Debatte stehen sollte. Mein Leben war dabei, vollends im Chaos zu versinken, und niemand hatte es verdient, mit hineingezogen zu werden. Schon gar kein Kriegsveteran, der sich offensichtlich bereits mit genug eigenen Dämonen herumschlagen musste.
»War doch nur Spaß. Ich verspreche Ihnen, dass ich ganz professionell sein werde … zumindest beim Shooting. Aber wenn wir nicht arbeiten, ist alles möglich.«
Ich stöhnte, und er lachte wieder.
»Sagen Sie Bescheid, sobald Sie grünes Licht haben. Ich sorge dafür, dass das Studio bereit ist und wir alles haben, was wir brauchen. Ihrer Schwester schicke ich eine Mail, um mich über den vollen Umfang des Projekts zu informieren. Sie gab mir ihre Karte, bevor Sie beide heute abfuhren. Der Kunde hat mir bei meiner Ankunft vorhin nämlich keinerlei Anweisungen gegeben, außer, dass Sie vor der ersten Kulisse stehen sollten, die ich ehrlich gesagt übrigens ziemlich langweilig fand. Uns fällt sicher noch etwas Besseres ein, das am Ende alle begeistert.«
»Danke, Killian, dass Sie bereit sind, sich darauf einzulassen. Die Umstände sind ungewöhnlich, ich weiß …«
»Fitz. Nennen Sie mich Fitz.«
»Okay, dann nennen Sie mich Addy.«
»Addy, das gefällt mir. Passt zu Ihnen«, murmelte er.
Als er mit seiner warmen Honigstimme meinen Namen aussprach, überlief mich ein Schauer der Erregung.
»Ich schreibe Ihnen, sobald ich mehr weiß. Danke, Fitz.«
»Gern geschehen, Addy. Bis bald.«
»Ja. Bis bald.«
Kapitel 3
Neun Frauen unter einem Dach – das war für mich normal, denn so war ich aufgewachsen. Heute, im Erwachsenenalter, waren nach Tabbys Tod nur noch acht von uns übrig. Dafür hatten wir Rory bei uns, Genesis’ dreijährige Tochter, ebenso wie Jonah, Simones Mann, Amber, ihren Hund, und Ryan. Anscheinend brauchte Jonah als einziger Mann in diesem riesigen Haus voller Frauen dringend Verstärkung, weshalb sein Partner vom FBI auf der Couch übernachtete. Im Obergeschoss herrschte also Hochbetrieb, weshalb ich froh darüber war, Frühaufsteherin zu sein. Auf diese Weise war in der Dusche niemand vor mir, und ich konnte mich als Erste an den frisch gebackenen Cookies bedienen, die Mama Kerri in Alufolie gewickelt auf der Küchentheke stehen gelassen hatte.