No Matter What - Sarah Stankewitz - E-Book

No Matter What E-Book

Sarah Stankewitz

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Beschreibung

»Du warst mein Wunder, Stella Jones. Jetzt lass mich deines sein.«

Seit dem Brand, bei dem ihr Vater ums Leben gekommen ist, trägt Stella Jones Narben – körperliche und seelische. Berührungen anderer Menschen kann sie nicht ertragen, nur bei ihrer Arbeit in einem Hundeshelter kann sie ganz sie selbst sein. Als ihre Pflegemutter stirbt, kehrt Stella zurück in ihre Heimatstadt Blossom Lake. Sie kommt in der WG ihres großen Bruders unter, ohne zu ahnen, wer dessen neuer Mitbewohner ist: Austin, dem sie vor Jahren das Leben gerettet und der sich nun zu einem egoistischen Playboy entwickelt hat. Doch hinter der kühlen Fassade steckt ein anderer Austin: einfühlsam, liebevoll, leidenschaftlich. Geduldig hilft er Stella, die Schatten der Vergangenheit zu bekämpfen, und entfacht ein Feuer in ihr, das sie lange unterdrückt hat. Doch ist Stella bereit für so viel Nähe? Oder wird sie sich neue Brandnarben zuziehen?

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Seitenzahl: 456

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Das Buch

Seit dem Brand, bei dem ihr Vater ums Leben gekommen ist, trägt Stella Jones Narben – körperliche und seelische. Berührungen anderer Menschen kann sie nicht ertragen, nur bei ihrer Arbeit in einem Hundeshelter kann sie ganz sie selbst sein. Als ihre Pflegemutter stirbt, kehrt Stella zurück in ihre Heimatstadt Blossom Lake. Sie kommt in der WG ihres großen Bruders unter, ohne zu ahnen, wer dessen neuer Mitbewohner ist: Austin, dem sie vor Jahren das Leben gerettet und der sich nun zu einem egoistischen Playboy entwickelt hat. Doch hinter der kühlen Fassade steckt ein anderer Austin: einfühlsam, liebevoll, leidenschaftlich. Geduldig hilft er Stella, die Schatten der Vergangenheit zu bekämpfen, und entfacht ein Feuer in ihr, das sie lange unterdrückt hat. Doch ist Stella bereit für so viel Nähe? Oder wird sie sich neue Brandnarben zuziehen?

Die Autorin

Sarah Stankewitz lebt mit ihrem Freund in einer kleinen Stadt am Rande von Brandenburg. Schon in ihrer Kindheit liebte sie es, Worte aneinanderzureihen und Geschichten zu erschaffen. Seit ihrem Debütroman lässt sie ihrer Fantasie freien Lauf und ist immer wieder auf der Suche nach neuen Inspirationsquellen. Musik, Kerzen und ein bequemer Arbeitsplatz dürfen im Hause der Autorin ebenso wenig fehlen wie ein leckerer Cappuccino. Ihre Geschichten spiegeln das wider, was sie sich stets von einem guten Roman erhofft: Liebe, Leidenschaft und eine Prise Humor. Unter ihrem offenen Pseudonym Sara Rivers schreibt sie prickelnde Erotikromane.

SARAH STANKEWITZ

NO MATTER

ROMAN

Band 1 der Love Burns-Reihe

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Liebe Leser*innen, in diesem Buch werden Themen angesprochen, die für einige Menschen emotional sehr belastend sein können. Hier findet ihr für ein sicheres Leseerlebnis eine genaue Auflistung. Passt gut auf euch auf!Sarah Stankewitz und der Heyne VerlagDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 11/2024

Copyright © 2024 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Michelle Stöger

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31246-6V001

www.heyne.de

Für alle, die sich am liebsten in den Schatten der Nacht verstecken. Ihr seid für das Licht gemacht.

PROLOGStella

12 Jahre alt

»Stella!« Benommen schlage ich die Augen auf und weiß im ersten Moment nicht, wo ich bin. Wieso jemand panisch meinen Namen schreit. Verschlafen sehe ich mich um und erkenne die Umrisse des kleinen Kinderzimmers, das ich mir mit meiner Schwester Gracie teile. Nur das schwache Restlicht der Straßenlaterne fällt durch das Fenster in den Raum hinein und leuchtet auf Mister Teddy, den ich, wie jede Nacht, fest an mich gepresst halte. Wieder schreit jemand meinen Namen, und dieses Mal weiß ich, zu wem die Stimme gehört.

»Paps?«, nuschle ich und muss im nächsten Augenblick husten, weil es sich anfühlt, als würde ich Rauch einatmen. Aber hier ist kein Rauch, oder? Vermutlich träume ich nur. In meinen Träumen sind schon immer die verrücktesten Dinge passiert. So wird es sein. So muss es sein.

Sekunden später wird die Tür zu unserem Zimmer mit solcher Wucht aufgerissen, dass sie gegen die Kommode mit meinen Lieblingsspielsachen kracht. Ängstlich kauere ich mich in meinem Bett zusammen, drücke Mister Teddy fester an mich und sehe Paps an, der mit einem Tuch vor dem Mund in den Raum stürzt.

»Stella-Bär. Wir müssen hier raus! Wo ist deine Schwester?« Er ist so schnell an meinem Bett, dass ich ihn gar nicht fragen kann, warum wir mitten in der Nacht das Haus verlassen sollen. Draußen ist es kalt und ungemütlich, und mein Bett ist warm und weich. Ich will jetzt nicht da raus.

»Paps, träume ich?«, frage ich leise und muss schon wieder husten.

Er greift unter meinen Rücken und hebt mich vom Bett. Ganz automatisch schlinge ich meine Arme um seinen Hals und kuschle mich fest an ihn.

»Alles wird gut, mein Schatz. Wir müssen deine Schwester finden und aus dem Haus raus, dann wird alles gut.« Seine Worte machen mir furchtbare Angst, und als er mit mir auf dem Arm in den Flur stürmt, wird aus Angst blanke Panik. Jetzt sehe ich ihn, den Rauch. Er ist überall. Am Boden, an der Decke, um uns herum. Von der Treppe dringt orangefarbenes Licht in das oberste Stockwerk, und noch bevor ich es sehen kann, weiß ich bereits, was uns unten erwarten wird.

»Paps, wieso brennt es im Erdgeschoss?«

»Ich habe keine Ahnung, woher das Feuer kommt, aber ich bringe dich in Sicherheit.« Er hält mich fest an sich gepresst, so wie ich bis eben noch Mister Teddy. Eben, als alles noch gut war.

»O Gott, Paps. Wir müssen Mister Teddy holen!«

Mein Vater zögert, sieht zwischen unserem Zimmer und dem Treppenhaus hin und her. »Bitte, Paps. Er darf nicht verbrennen!« Ich kann ihn nicht hier zurücklassen.

Während Paps mit mir auf dem Arm zurück ins Kinderzimmer rennt und sich Mister Teddy schnappt, beginne ich zu weinen. Ich weine und schreie, bis meine Kehle brennt, und rufe nach meiner kleinen Schwester.

»Gracie!«, schluchze ich. »Wo ist sie, Paps?«

»Ich weiß es nicht.« Paps weint selten, aber gerade laufen ihm dicke Tränen über die stoppeligen Wangen. »Aber ich werde nach ihr suchen, das verspreche ich dir. Sobald ich dich in Sicherheit gebracht habe.« Die Flammen sind mittlerweile überall. Ich kann ihre Hitze durch meinen gestreiften Lieblingspyjama spüren.

»Hör mir jetzt ganz genau zu, okay?« Seine Hand streicht über meine Wange. »Mach die Augen zu und öffne sie erst, wenn ich es dir sage. Ich bringe uns hier raus!« Umgehend schließe ich die Augen, drücke mein Gesicht an Paps’ Hals und Mister Teddy an die Knöpfe meines hellblauen Pyjamas. Paps trägt mich die Treppe herunter, und mit jeder Stufe, die wir Richtung Erdgeschoss gehen, wird die Hitze unerträglicher. Wieder schreie ich. Aus Angst um Paps und Gracie und Mister Teddy.

Ich schreie lauter, schreie vor Schmerz, weil die Haut an meinem Hals furchtbar brennt.

Paps trägt mich wie ein Superheld durch die Flammen. Er hat versprochen, Gracie und mich zu retten, und er hält seine Versprechen immer. Ich vertraue ihm.

Noch während mir schwarz vor Augen wird, bete ich, dass all das nur ein Albtraum ist. Dass ich gleich aufwache und die Flammen verschwunden sind, genau wie der Rauch. Aber ich wache erst Stunden später im Krankenhaus wieder auf. Und ich höre einen Satz, der mir das Herz aus der Brust reißt.

Paps hat es nicht geschafft, Stella.

KAPITEL 1 Stella

Meine größte Erkenntnis aus den letzten sechs Jahren ist folgende: Tieren ist es egal, ob du in eine XS oder eine XL passt. Ob du Männer oder Frauen liebst. Ob du überhaupt liebst. Lieben willst. Nicht lieben kannst, weil du viel zu oft verletzt wurdest. Sie verurteilen niemanden, und das ist nur einer der vielen Gründe, wieso ich meine Zeit inzwischen lieber mit ihnen als mit Menschen verbringe.

Hunde sind die besseren Menschen, hat Paps immer gesagt, und die Fellnasen hier beweisen mir jeden Tag aufs Neue, dass er mit dieser Aussage recht hatte. Wie gern würde ich ihm genau das sagen.

Ach, Paps. Du mit all deinen schrägen Lebensweisheiten. Mit all deinen Tipps, die ich erst jetzt im Erwachsenenalter richtig zu schätzen weiß.

Seit ich hier bei den Furry Angels in Bar Harbor arbeite, hat mich kein Hund je schief angesehen. Meine Schützlinge haben mir nie das Gefühl gegeben, nicht richtig zu sein. Nicht gut oder schön genug.

In meinem Leben ist mir mehr als eine ganze Fußballmannschaft an Leuten begegnet, die mich kleingehalten haben, aber hier gibt es eine ganze Armee an Vierbeinern, die mich Tag für Tag wieder aufbaut. Zu denen ich mich flüchten kann, wenn ich mitten in der Nacht schweißgebadet aufwache und vor lauter Gedankenchaos nicht mehr einschlafen kann. Mehr als einmal bin ich weit nach Mitternacht aus dem Haus geschlichen, um mir einen der Hunde zu schnappen und mit ihm bei Wind und Wetter spazieren zu gehen. Mit jedem Schritt, jedem Streicheln, jedem Blick aus den treuen Augen des Tieres wurde ich innerlich ruhiger. Man könnte also sagen, dass die Hunde und ich uns gegenseitig aufpäppeln, sobald sie bei uns sind.

Als mir meine Therapeutin Dr. Bernard vor drei Jahren zum ersten Mal vorgeschlagen hat, mehr Zeit mit Tieren zu verbringen, um mich langsam wieder an das Gefühl von Berührungen zu gewöhnen, wäre ich am liebsten schreiend aus ihrer Praxis gestürmt.

Gedankenversunken schiebe ich das knarzende Tor zu den Zwingern auf und werde sofort von einem ohrenbetäubenden Bellkonzert empfangen, das inzwischen meine Lieblingsmusik geworden ist. Es ist verrückt, wie schnell man sich an die lautesten Geräuschkulissen gewöhnen kann. Umgehend durchflutet pure Freude mein Herz, und ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, das sogar der Herbstsonne am Himmel Konkurrenz macht.

Ich streichle Bounty, Snickers und Milkyway – mein Boss Frank hat eine ungesunde Obsession für Schokoriegel – durch die Gitterstäbe und mache mich auf den Weg zum Ende des schmalen Ganges. Er beherbergt auf beiden Seiten mehrere geräumige Zwinger für die Hunde, die Frank aufnimmt.

Als ich vor Heros Zwinger am Ende des Ganges stehen bleibe, trottet er schon auf mich zu, schiebt seine graue Schnauze durch das Gitter und schleckt freudig über meine Hand.

»Hey, mein Schöner. Darf ich reinkommen?« Ich fahre mit dem Daumen über seine feuchte, schwarz-pink gescheckte Nase. Anschließend öffne ich seinen Zwinger, setze mich neben seinem Körbchen auf den Boden und warte darauf, dass er sich zwischen meine Beine kuschelt. Das hier ist in den letzten Monaten unser persönliches Ritual geworden: Ich statte ihm frühmorgens einen Besuch ab und gebe ihm die Liebe, die er sein ganzes Leben lang nicht bekommen hat, während er meinen Liebesspeicher mit seinen treuen honigbraunen Augen auffüllt. Wenn Hero mich mit schräggelegtem Kopf ansieht, vermittelt er mir das Gefühl, genau richtig zu sein, so wie ich bin. In der Gegenwart anderer Menschen würde ich mich oft am liebsten verstecken, doch mit ihm in meinem Schoß fühle ich mich für die Welt da draußen gewappnet. Allein dafür bin ich ihm unheimlich dankbar.

Er kam vor drei Monaten zu uns, nachdem mein Boss ihn an der stark befahrenen Eagle Lake Road gefunden hat. Er war abgemagert, voller Parasiten und in einem so miserablen und verängstigten Zustand, dass es mehrere Tage gedauert hat, sein Vertrauen zu gewinnen. Was bei den Dingen, die er erlebt haben muss, auch kein Wunder ist.

Hero war nicht nur ausgehungert, sondern auch am ganzen Körper verwundet, als wäre er durch die Hölle gegangen. Die folgenden Wochen waren ein reiner Überlebenskampf, den der kleine Kerl Gott sei Dank gewonnen hat. Als ich mir einen Namen für ihn überlegen sollte, musste ich nicht lange nachdenken. Ich wusste sofort, dass er ein waschechter Held auf vier Pfoten ist.

Mit dem Finger zeichne ich die kleine Kerbe in Heros linkem Ohr nach, woraufhin es unkontrolliert zuckt. Anschließend fällt mein Blick auf die Brandnarbe über seinem rechten Auge, und sofort entsteht ein Kloß in meinem Hals. Ich weiß nicht, was ihm zugestoßen ist, aber ich fürchte, dass in seinem Fall selbst das Best-Case-Szenario schrecklich ist.

Hero ist ein vierzig Zentimeter großer Mischlingsrüde, der schätzungsweise zehn Jahre alt ist und mich mit seiner bloßen Anwesenheit erdet. Wenn ich mit ihm zusammen bin, fühle ich mich beängstigend normal, weil wir uns so ähnlich sind. Beide verwundet, beide voller Angst, beide extrem vorsichtig. Es ist, als hätten wir dasselbe Schicksal geteilt, nur in unterschiedlichen Körpern.

Ich ertaste geistesabwesend die vernarbte Haut an meinem Hals, die sich über meine linke Schulter bis zu den Ellenbogen zieht. Die Tage, an denen ich in den letzten Jahren einen Zopf getragen habe, kann ich an einer Hand abzählen. Meistens habe ich mich nur getraut, meine dichten braunen Haare hochzustecken, wenn ich mir stattdessen einen dicken Schal als Schutzschild umbinden konnte. Damit niemand sieht, was ich jedes Mal als Erstes sehe, wenn ich in den Spiegel schaue. Inzwischen ist dieser Schal zu einem festen Bestandteil meines Körpers geworden, und ich lege ihn nur ab, wenn ich abends erschöpft ins Bett falle.

Mein Boss hat mich glücklicherweise nie danach gefragt, und er ist der Einzige, zu dem ich in den letzten Monaten eine zwischenmenschliche Beziehung hatte. Beim Gedanken daran, dass ich in den nächsten Wochen nicht hier, sondern in meiner Heimat sein werde, vermisse ich den wortkargen Riesen von einem Mann beinahe, der bereits so viele Tiere aufgenommen und anschließend in die Hände liebevoller Menschen gegeben hat. Es soll sie ja geben, die Menschen, die das Herz am rechten Fleck haben. Einigen bin ich in meinem Leben schon begegnet, aber die meisten davon haben mich mit ihrer Fürsorge und ihrem Mitgefühl erdrückt. Sie haben mich mit ihrem Mitleid, ohne es zu wissen, aus der Stadt gejagt. Spätestens heute Abend werde ich ihnen wieder begegnen müssen. Bei der Vorstellung rieselt ein Kribbeln über meine komplette Wirbelsäule. Keines der guten Sorte.

Meine Gedanken schweifen wieder zu Frank ab, den ich der Einfachheit halber einfach »Boss« nenne, weil ich auch nach zwei Jahren nicht weiß, ob ich ihn mit seinem Vornamen oder mit Mr. Woodford ansprechen soll. Wir haben uns über eine etwas seltsame Jobanzeige in der Zeitung kennengelernt.

Leite einen Shelter für kranke und verwahrloste Hunde am Rand von Bar Harbor. Suche engagierten Mitarbeiter. Sollte kein Problem damit haben, sich die Hände schmutzig zu machen. Und keine Allergie gegen Erbsen. Keine Bezahlung. Dafür kostenlos ein Dach über dem Kopf und warmes Essen auf dem Tisch.

PS: Jeglicher Small Talk ist unerwünscht.

Beim letzten Punkt hatte er mich am Haken, denn für mich gibt es kaum etwas Schlimmeres als Small Talk. Seitdem lebe ich bei den Furry Angels, oder besser gesagt, unter einem Dach mit Frank Woodford, dem Einsiedlerkrebs von Bar Harbor, der in der ganzen Stadt als Grumpy Frank bekannt ist.

Zwar habe ich in den letzten zwei Jahren kein Geld verdient, musste mir dafür aber auch nie Gedanken um einen Schlafplatz oder einen leeren Kühlschrank machen. Frank fährt jeden Donnerstag einkaufen, kocht dreimal die Woche denselben leicht versalzenen Erbseneintopf und lässt mich in Ruhe, so wie ich ihn in Ruhe lasse. Wir haben wie ein altes Ehepaar unsere Routinen entwickelt. Dabei könnte Grumpy Frank mein Großvater sein.

Hero reißt mich aus meinen Gedanken, indem er mir seine Pfote auf den Oberschenkel legt, damit ich ihn weiterstreichle. Aus seinen treuen Augen sieht er zu mir auf, und ich bilde mir ein, eine gewisse Sehnsucht in ihnen zu erkennen. Dieselbe Sehnsucht, die seit einer Woche auch in meinem Magen rumort und mich nachts um den Schlaf bringt.

»Ich weiß«, seufze ich. »Ich vermisse euch auch schon.« Hinter vorgehaltener Hand verrate ich ihm, dass ich ihn ganz besonders vermissen werde, wenn ich heute Nachmittag in den schlecht belüfteten Bus steigen und die etwa zweistündige Heimreise nach Blossom Lake antreten werde. Umgehend rumpelt mein Magen noch stärker, weil ich genau weiß, was mich erwarten wird. In Orten wie Blossom Lake ändert sich nie etwas. Aber ich, ich habe mich verändert. Und ich habe keine Ahnung, ob wir noch zusammenpassen, meine Heimat und ich. Früher war dieses idyllische Fleckchen Erde in Maine das Paradies für mich, mittlerweile ist da diese gigantische Regenwolke, die über allem hängt.

»Du versprichst mir, dass du dich in den nächsten Wochen benimmst, okay, Kumpel?«

Hero schnauft als Antwort. Im selben Augenblick höre ich Franks schlurfende Schritte hinter mir, genau wie das Klappern seines übervollen Schlüsselbundes. Er treibt ihn jedes Mal an den Rand des Wahnsinns, weil er ewig braucht, um den passenden Schlüssel zu finden. Eins steht fest: Im Anschleichen ist mein Boss eine Niete, er schafft es einfach nie, die Beine richtig zu heben.

Ich werfe einen Blick zu ihm. Frank trägt sein typisches rotes Flanellhemd über einer schwarzen Hose, dazu schwarze Latschen und die braune Lederarmbanduhr, die schon, seit ich ihn kenne, falsch geht. Sie muss einen emotionalen Wert für ihn haben, sonst hätte er sie sicher längst weggeschmissen. Die wenigen Flusen auf seinem Kopf stehen wüst in alle Richtungen ab, als hätte er heute Morgen in eine Steckdose gefasst.

»Wolltest du nicht schon weg sein?«

Dir auch einen guten Morgen, Boss.

»Erst heute Nachmittag.«

»Ach so. Na dann.« Darf ich vorstellen: Mr. Wortkarg höchstpersönlich. Andere würden ihn vielleicht als unhöflich und ungehobelt bezeichnen, ich bin einfach nur dankbar, dass Frank sich nicht gezwungen sieht, lange Gespräche mit mir zu führen oder mich zu fragen, wieso ich an Freitagabenden nie ausgehe, um mich mit Leuten in meinem Alter zu treffen. Wir koexistieren, und das funktioniert seit zwei Jahren ausgezeichnet.

»Willst du vorher noch was essen?«, will er heiser wissen. Das passiert eben mit deiner Stimme, wenn du am Tag zwei Packungen Marlboro rauchst. Frank hat vorgestern wieder einen riesigen Pott Erbseneintopf gekocht, und er versteht nicht, dass ich ihn keine drei Tage am Stück essen kann, ohne dass er mir aus den Ohren kommt. Ich drücke Hero einen Kuss auf die Schnauze und stehe auf. Mit den Händen klopfe ich mir den Dreck von meiner blauen Latzhose.

»Ich esse heute Abend mit meinen Geschwistern.« Einen größeren Einblick in mein Leben habe ich Frank bis jetzt noch nicht gewährt. Beim Gedanken daran, dass ich Gracie und Isaiah heute Abend wiedersehen werde, verspüre ich zum ersten Mal Vorfreude auf meine Fahrt nach Blossom Lake. In den letzten Jahren haben wir uns meistens nur per Facetime gesehen, weil ich viel zu selten zu Hause war. Zuhause. Anstatt aufgeregtes Herzklopfen bereitet mir das Wort lediglich Kopfschmerzen.

»Na dann«, sagt Frank, als wäre er eine kaputte Schallplatte. Na dann sind seine absoluten Lieblingswörter. Mehr als einmal habe ich überlegt, ob ich daraus nicht mal ein Trinkspiel machen sollte. Na dann, geh ich mal einkaufen. Shot. Na dann, iss eben keinen zweiten Teller Erbseneintopf. Shot. Na dann, schlaf schön. Shot. »Wie lange wirst du wegbleiben?«

Wenn ich das wüsste … Vor einer Woche haben mich meine Geschwister völlig aufgelöst angerufen und mir gesagt, dass Libby verstorben ist. Unsere ehemalige Nachbarin Libby, die nach Moms Verschwinden ganz selbstverständlich in die Rolle einer Art Ersatzmutter geschlüpft ist und sich nach Paps’ Tod rührend um uns gekümmert hat. Tränen schwimmen in meinen Augen, die ich am liebsten wieder dorthin zurückschicken würde, wo sie hergekommen sind.

Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist, vor meinem Boss in Tränen auszubrechen. Bis jetzt habe ich noch nicht realisiert, dass die Frau, die jahrelang neben uns gewohnt hat und die beste Nachbarin der Welt war, nicht mehr da ist. Vermutlich werde ich es erst verstehen, wenn ich in einer Woche vor Libbys Grab stehe, direkt neben dem von Paps. Die Vorstellung, dass die beiden auch im Himmel Nachbarn sind, lässt mich schlucken.

»Erde an Stella«, murmelt Frank. »Wie lange wirst du wegbleiben?«

»Vielleicht drei, vier Wochen.«

»Na dann. Schöne Weihnachten.«

»Weihnachten ist erst in zwei Monaten, Boss«, erwidere ich augenrollend. »Bis dahin bin ich längst wieder zurück.« Denn auch wenn ich gern mit meinen Geschwistern Weihnachten feiern würde, möchte ich ungern in Blossom Lake sein, wenn die ganze Stadt in Lichter und bunten Glitzer getaucht wird. Die Weihnachtszeit war früher meine liebste Zeit im ganzen Jahr, weil mein Dad während der Vorbereitungen für das spektakuläre Blossom Winter Festival immer richtig aufgeblüht ist. Heute erdrückt mich der bloße Gedanke an die gigantischen Lebkuchenhäuser, die wir damals jedes Jahr gemeinsam für das beliebte Stadtfest gebaut haben.

»Wart mal ab. Manchmal kommt doch alles ganz anders, als man denkt.« Wem sagst du das, Frank? Als Kind konnte ich mir nicht vorstellen, dass mein Paps je sterben würde. Ich dachte, dass er da sein würde, wenn ich eines Tages einen Mann heirate, den ich liebe, ein Haus baue und selbst Kinder bekomme. Jetzt bin ich von diesem Leben weiter entfernt als Frank von einem Vielschwätzer.

Ich schlüpfe aus Heros Zwinger, schließe die Tür hinter mir und gehe mit gesundem Abstand zu Frank nach draußen. Die Herbstsonne gibt heute alles und küsst nicht nur meinen Scheitel, sondern auch die Baumkronen der umliegenden Ahornwälder.

Franks Shelter liegt etwas abseits von Bar Harbors Stadtkern, weil er den Platz für die Hunde braucht und so wenig menschlichen Kontakt wie möglich haben will.

Schweigend gehen wir über den Kiesweg zu dem großen weißen Landhaus, das dringend einen frischen Anstrich nötig hätte. Gedanklich setze ich es auf die Liste an Dingen, die ich nach meiner Rückkehr angehen möchte. Es gibt auf dem Gelände noch einiges zu tun, aber die Hunde benötigen den ganzen Tag lang unsere Aufmerksamkeit, sodass viele Arbeiten seit mehreren Monaten liegengeblieben sind. Im Haus empfängt mich der vertraute Geruch von Franks Eintopf, der sich mittlerweile in alle Möbel gefressen hat.

Bevor ich die Eichenholztreppe ins Obergeschoss nehme, um in meinem Zimmer meine Reisetasche zu packen, räuspert Frank sich. Ich halte auf der ersten Stufe inne und sehe meinen Boss an. Er kratzt sich leicht unsicher am Hinterkopf und starrt Löcher in den alten Dielenboden, während die Falte zwischen seinen buschigen grauen Augenbrauen immer tiefer wird.

»Komm gut zu Hause an, Stella. Ich brauche dich in einem Stück wieder. Jemand muss ja die Hundekacke aus den Zwingern schaufeln.«

Wärme durchströmt meine Brust, weil das Franks Art ist, »Danke« zu sagen. Es sind Kleinigkeiten wie diese, die mir zeigen, dass er es nicht allzu schlimm findet, mich hier zu haben. Der Kaffee mit zwei Stück Würfelzucker beispielsweise, der jeden Morgen auf der schmalen Kommode im Flur vor meinem Zimmer bereitsteht. Die frischen Handtücher, die er mir alle zwei Tage vor die Tür legt. Frank ist kein Mann großer Worte, aber er hat einen durch und durch guten Kern. Ich schenke ihm ein Lächeln. Mist, ich werde ihn echt vermissen, und irgendwie glaube ich, dass es ihm ähnlich ergehen wird.

»Ich gebe mein Bestes, ganz zu bleiben, Boss.« Was ich ihm nicht sage, ist: Ich kehre in die Stadt zurück, in der ich vor neun Jahren in tausend Teile zerbrochen bin. Und ich habe höllische Angst davor, dass die Rückkehr in das kleine Nest meine kaum verheilten Narben wieder aufreißen wird.

KAPITEL 2 Stella

Nachdem ich meine Sachen für die nächsten Wochen gepackt habe, stehe ich eine gefühlte Ewigkeit vor dem Spiegel meines Kleiderschranks und probiere ein Outfit nach dem anderen an.

Normalerweise mache ich mir nicht viele Gedanken über meine Klamotten, da sich die Hunde ohnehin nicht für mein Aussehen interessieren und mich täglich mit Sabber, Dreck und anderen undefinierbaren Flüssigkeiten schmutzig machen. Aber man ist schließlich nicht jeden Tag mit seinen Geschwistern, die man seit einem Jahr nicht mehr gesehen hat, zum Essen verabredet. Also suche ich nach einem Outfit, das mir genug Selbstbewusstsein verleiht, um mich bei ihnen zu entschuldigen, dass ich so selten zu Hause war. Doch wirklich fündig werde ich nicht.

Am Ende entscheide ich mich für eine meiner schicksten Blusen in Kakaobraun und eine schwarze Jeans. Dazu weiße Turnschuhe und natürlich meinen Loopschal. Zu guter Letzt werfe ich mir meinen olivfarbenen Parka über, der mir zwei Nummern zu groß ist und mich wie ein schwarzes Loch verschluckt. Genau das, was ich brauche, wenn ich vor den neugierigen Blicken zu Hause geschützt sein will. Am liebsten würde ich unter dem Radar bleiben, bis zu Libbys Beerdigung am Freitag Zeit mit Gracie und Isaiah vor dem Fernseher mit mehreren Runden Mario Party verbringen und dann unauffällig wieder abreisen. Doch meine Geschwister haben es nach einem Jahr ohne mich verdient, dass ich mich zusammenreiße und das Beste aus meinem Besuch mache.

Ich schultere meine mit Klamotten und Sorgen vollgepackte Tasche, verlasse das Haus und sehe schon von Weitem den knallgelben Bus, der sich in weniger als zehn Minuten mit mir als Passagierin auf den Weg in den stark bewaldeten Norden machen wird. Er steht rechts in der Wendeschleife unter zwei gigantischen Ahornbäumen, deren Kronen in den letzten Tagen deutlich bunter geworden sind. Die Natur verändert sich rasend schnell, vor allem in den Herbstmonaten.

Der grauhaarige Busfahrer sitzt hinter dem Lenkrad, hat den Kopf zurückgelegt und macht ein Nickerchen, wie jedes Mal, bevor er die Tour nach Blossom Lake beginnt. Da sich die Bushaltestelle direkt neben dem Eingang zu den Furry Angels befindet, konnte ich ihn schon des Öfteren bei seinen Powernaps beobachten. Mir soll es recht sein. Ein ausgeschlafener Busfahrer ist mir definitiv lieber als ein chronisch übermüdeter.

Mein Herz beginnt zu rasen, als ich die Bushaltestelle ansteuere, die eigentlich nur aus einer morschen Holzbank und einem mickrigen Schild besteht, auf dem man die wenigen Abfahrtzeiten nachlesen kann. In Bar Harbor gibt es nicht viele Busverbindungen, und nur einmal in der Woche ist Blossom Lake das Ziel. Frank hat mir nach meinem Telefonat mit meinen Geschwistern zwar angeboten, mich zu fahren, aber ich wollte ihm keine Umstände machen.

Ich lasse mich auf die niedrige Sitzbank fallen, stelle meine schwarze Reisetasche neben mir am Boden ab und überkreuze die Beine. Nervös knete ich meine feuchten Hände, lasse meinen Blick über die blätterbenetzte Straße gleiten und zucke innerlich zusammen, als ein lautes Bellen erklingt. Eines, das in den letzten drei Monaten zu meinem allerliebsten Song wurde. Mein Blick schnellt zum grünen Tor, das die Straße von Franks hektargroßem Land trennt, und meine Mundwinkel verselbstständigen sich Richtung Nachmittagshimmel.

»Hero, verdammt!« Frank hechtet unserem sonst eher trägen Schützling hinterher, der jetzt mit einem Affenzahn auf mich zugerannt kommt, wie ich es so noch nie an ihm gesehen habe. Seine grauen Ohren wackeln wie Fähnchen im Wind, während mir bei seinem Anblick ganz warm ums Herz wird. Diese Wärme hat nichts mit den dicken Stoffschichten zu tun, die ich trage, sondern einzig und allein mit dem zuckersüßen Mischling, der ein klares Ziel zu haben scheint: mich.

»Hey, mein Kleiner. Was wird das denn?«, begrüße ich Hero lachend, als er abbremst und hechelnd vor mir zum Stehen kommt. Seine Zunge hängt seitlich aus seiner Schnauze heraus, und in diesem Moment wirkt er direkt fünf Jahre jünger. Ich knie mich vor ihn, lasse mir einmal quer über das Gesicht schlecken und drücke ihm einen Kuss zwischen die Honigtopfaugen.

»Dieser verrückte Kerl!« Frank hat seine Verfolgungsjagd aufgegeben und trottet jetzt mit schlurfenden Schritten auf uns zu. Auf seiner Stirn glitzern Schweißperlen, und seine Raucherlunge pfeift bei jedem Atemzug, als hätte er gerade einen Marathon hinter sich. »Hat einfach das Tor aufgemacht und ist dir nachgerannt, als hättest du Leberwurst unter den Schuhsohlen!«

»Hero hat allein das Tor aufgemacht?«, frage ich erstaunt und plumpse auf meinen durch den Parka gepolsterten Hintern, weil mich der Hundeopi anspringt, als sei ich schon seit Wochen weg gewesen und nicht eben erst durch das Tor verschwunden.

»Wenn ich’s doch sage«, murrt Frank und stemmt die Hände in die Hüften.

»Wusste gar nicht, dass du so schnell rennen kannst, Kleiner.« Wieder ist da dieses warme Kribbeln in meiner Brust. Vor drei Monaten wussten wir nicht, ob er eine weitere Woche schaffen würde, und jetzt ist er fit wie ein kleiner, etwas lädierter Turnschuh. Wir sind beide lädierte Turnschuhe, aber langsam, ganz langsam, lernen wir wieder, ohne Schmerzen zu rennen.

»Bis jetzt hatte er ja auch noch keinen Grund abzuhauen, oder?« Frank schürzt die rissigen Lippen und starrt auf einen Fleck zwischen uns am Boden, der scheinbar besonders spektakulär ist. Umgehend wird mein Herz schwer und meine Augen feucht, weil es mir in der Seele wehtut, Hero zurückzulassen. Auch wenn ich weiß, dass er bei meinem Boss in den besten Händen ist.

»Wolltest mich wohl aufhalten, hm?«, frage ich meinen Schützling, kraule seine weichen Ohren und würde am liebsten mit meiner Tasche wieder zurück ins Haus gehen, um meine Sachen auszupacken. Ich will nicht fort, aber ich weiß auch, dass mich meine Geschwister brauchen. Wir sollten in unserer Trauer zusammen sein. Libby hätte es so gewollt, genau wie Paps.

»Ich bin bald wieder zurück, okay?«

»Komm jetzt, mein Junge.« Mein Boss klopft sich auf den Oberschenkel. »Stella ist bald wieder zurück.« Im selben Moment fährt der gelbe Bus an, stoppt direkt vor meiner Nase und öffnet die vordere Tür. Der Knoten in meinem Magen wird fester und größer, sodass er sich nicht mehr ignorieren lässt. Ich muss jetzt einsteigen, auch wenn mich der Gedanke, mir dieses monströse Gefährt mit irgendwelchen fremden Menschen teilen zu müssen, in Panik versetzt.

Ein Schritt nach dem anderen, Stella. Du musst nicht immer sofort das große Ganze sehen. Schneid es in Häppchen und nimm den Kampf gegen die Panik in Etappen auf, dann ist es gar nicht mehr so beängstigend.

Der Tipp meiner Therapeutin beruhigt meine flatternden Nerven ein wenig, sodass ich seufzend aufstehe, die Tasche über meine Schulter werfe und Hero einen letzten Kuss auf die Schnauze drücke. »Warte hier auf mich, kleiner Held.« Könnten Augen sprechen, würden mich seine anflehen, nicht in diesen Bus zu steigen. Die Angst, dass Hero in den Wochen meiner Abwesenheit adoptiert werden könnte, schnürt mir die Kehle zu. Natürlich wünsche ich ihm ein liebevolles Zuhause, in dem er seinen Hunderuhestand genießen kann, aber die Vorstellung, dass ich ihn heute vielleicht zum letzten Mal sehe, lässt meine Organe Twister spielen.

Ein weiteres Mal sehe ich meinen Boss an, der sich nur verlegen am Nacken kratzt und an Heros Seite tritt. »Na dann. Meld dich mal. Und wenn du das Rezept für den Eintopf haben willst … ich kann es dir per Mail schicken.« Gott, nein! Die Aussicht auf ein paar erbsenfreie Wochen ist viel zu verlockend.

»Mach ich, Boss.«

Die Tränen kitzeln an meinem Wimpernkranz, während ich mir innerlich Mut zuspreche und anschließend in den zum Glück noch leeren Bus steige. Der Fahrer kassiert meine Karte nach Blossom Lake ab und winkt mich durch. Wie immer steuere ich die letzte Reihe an, werfe meine Tasche auf den mittleren Sitz und rutsche anschließend auf den Fensterplatz in der Ecke. Mein Blick heftet sich umgehend an Heros, der winselnd neben Frank sitzt und darauf zu warten scheint, dass ich wieder aussteige.

Die Tür schließt sich mit einem kleinen Seufzer, dann setzt sich das riesige Gefährt wackelnd und ächzend in Bewegung. Frank hebt unbeholfen seine Hand zu einem letzten Gruß, bevor er an Heros Seite immer kleiner und kleiner wird, genau wie das grüne Tor der Furry Angels, meinem sicheren Hafen.

Glücklicherweise steigen während der gesamten Fahrt nur fünf Leute in den Bus, und alle setzen sich in den vorderen Bereich, als wüssten sie, dass ich keine sonderlich große Lust auf einen Sitznachbarn habe. Während ich mit dem Finger unsichtbare Bilder auf die dreckige Fensterscheibe male, fällt mein Blick auf das dünne Perlenarmband an meinem rechten Handgelenk. Es ist potthässlich, weil es aussieht, als hätte es jemand unter Einfluss von zu viel LSD geknüpft. Die Tatsache, dass es Gracie war, die es für mich gebastelt hat, macht es dennoch zu dem schönsten Schmuck, den ich besitze. Meine Geschwister haben ebenfalls Armbänder, und selbst Isaiah hat seins nie abgelegt, nicht mal als Teenager.

Im Grunde genommen waren wir drei dadurch in den letzten Jahren immer miteinander verbunden, auch wenn wir nicht in derselben Stadt gelebt haben. Warum zum Teufel habe ich dann trotzdem so ein furchtbar schlechtes Gewissen? Gracie und Isaiah wissen, wie schwer es mir fällt, aus meinen gewohnten Mustern auszubrechen, und sie würden mir deshalb niemals Vorhaltungen machen. Die einzige Person, die mir Schuldgefühle einredet, bin ich selbst. Und verdammt, darin bin ich einsame Spitze.

Die Landschaft verändert sich von Meile zu Meile immer mehr. Die Wälder werden dichter, die Ahornbäume durch dunkelgrüne Tannen ersetzt, und die Straßenverhältnisse schlechter. Der Bus rumpelt über die kurvigen Wege, schlängelt sich wie ein gelber Tennisball durch die grünen Wälder. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sich eine weiße Puderzuckerdecke über die Landschaft legt, Maine in ein absolutes Winterparadies verwandelt und zahlreiche Touristen mit seiner Schönheit anlockt.

Blossom Lake ist ein Traum für jeden Winterfan wie mich. Ein liebenswertes Nest, das von vier größeren und kleineren Seen umarmt wird. Seen, die sich spätestens in einem Monat in spiegelglatte Eisflächen verwandeln werden. Ich bin froh darüber, dass mein Bruder mir einen Schlafplatz in seiner Wohnung angeboten hat, denn Susies Bed and Breakfast im Ort ist sicher schon seit Wochen ausgebucht.

Nervös zupfe ich an meinem Perlenband, und als hätte ich meinen Geschwistern damit ein Zeichen gesendet, piept mein Handy. Dank des Klingeltons weiß ich, dass jemand in unsere Familiengruppe geschrieben hat. Eine Familiengruppe, die ich seit einer Woche aus Angst vor einem Nervenzusammenbruch wie einen Erzfeind gemieden habe.

Libby war in dieser Gruppe. Noch immer steht ihr Name in der Teilnehmerliste, aber sie wird nie wieder eine Nachricht mit viel zu vielen Emojis schreiben. Nie wieder Tippfehler machen, über die Gracie, Isaiah und ich uns noch Wochen später krummlachen. Die Nachricht meiner kleinen Schwester vertreibt die dunklen Wolken in mir und macht ihr, dem personifizierten Sonnenschein, Platz.

Gracie: Schwesterkeks!!! Wann kommt dein Bus endlich an? Habt ihr euch verfahren? Oder warte … hat dich der Busfahrer entführt???

Gracie: Wir sitzen uns schon seit einer halben Stunde den Hintern im Little Stories platt. Wenn Morah noch einmal fragt, ob wir mehr Cookies haben wollen, platzen wir.

Ich grinse wie ein Honigkuchenpferd, während ich meiner Schwester antworte.

Stella: Bin gleich in BL. Der Busfahrer fährt heute im Schneckentempo.

Isaiah: Wird wirklich Zeit, dass du kommst. Morah erkundigt sich schon im Minutentakt nach dir.

Morah ist, genau wie Libby es war, das Herz von Blossom Lake. Sie leitet das gemütliche Café am Marktplatz, backt die weltbesten Zimtschnecken und serviert die leckersten Kakao- und Kaffeekreationen der Nordküste. Ach was, der gesamten Vereinigten Staaten! Und nebenbei ist sie neben meiner kleinen Schwester die liebevollste Quasselstrippe, die man sich nur vorstellen kann. Kurz male ich mir aus, wie ich sie meinem wortkargen Boss vorstelle. Beide sind ungefähr im selben Alter, beide sind verwitwet und beide lieben Gebäck. Frank würde vermutlich noch weniger zu Wort kommen als ohnehin schon, der Arme wäre sicher vollkommen überfordert.

Gracie: Isaiah hat recht. Also schwing deinen Arsch her, sobald du da bist. Ich habe heftigen Schwestern-Entzug.

Grinsend schicke ich ein GIF in die Gruppe, in der sich drei füllige Labradore umarmen, stecke mein Handy zurück in meine Tasche und schlucke schwer, als ich das Ortseingangsschild meiner Heimat in der Ferne entdecke. Jetzt ist es offiziell: Ich bin zu Hause.

KAPITEL 3 Stella

Die rosafarbene Fassade des Little Stories leuchtet wie eine bunte Reklametafel und beißt sich mit dem gelben Bus, der gerade seine Türen schließt und quietschend davonfährt.

Ich lasse meinen Blick über den Markplatz von Blossom Lake – dem Herzstück des Ortes – schweifen, und ein vertrautes Gefühl macht sich in meinem Bauch breit. Zwischen den Laternen sind unsere berühmt-berüchtigten Halloween-Girlanden gespannt, deren kleine Plastik-Kürbisse die Kinder aus der Stadt Jahr für Jahr in akribischer Handarbeit mit ihren Eltern verzieren. Ich bin mir sicher, dass einige der Kürbisse noch von Isaiah, Gracie und mir stammen. Vielleicht ist sogar noch einer von Paps dabei. Überall in der Stadt hat er seine Spuren hinterlassen, genau wie in unseren Herzen.

Ich schlinge meine Jacke enger um mich, vergrabe mich in dem gefütterten Stoff und steuere das wohl schönste Café in ganz Maine an. Morah Stevens hat den Laden vor fünfzehn Jahren von ihrer Mutter übernommen und einer Rundumerneuerung unterzogen. Das Little Stories ist seitdem mehr Wohnzimmer als Lokal und macht seinem Namen alle Ehre. In diesen vier bezaubernden Wänden werden tagtäglich Geschichten erzählt. Manchmal sind es nur kleine Geschichten, an die man sich Jahre später mit einem nostalgischen Lächeln erinnert. Und dann gibt es noch die groß angelegten Stories, die sich ins kollektive Gedächtnis der Stadt brennen und für ein paar Lacher bei den Bewohnern sorgen. Oder für Tränen.

Wie sehr ich diesen Ort vermisst habe, wird mir erst klar, als ich die Tür aufstoße und von einer Wolke der Geborgenheit empfangen werde. Im Little Stories riecht es das ganze Jahr über nach Zimt und Weihnachten, auch in den warmen Sommermonaten.

Seit meinem letzten Besuch vor über einem Jahr scheint sich hier drin rein gar nichts verändert zu haben. Noch immer hängen dieselben hellen Holzleitern von den Decken herab, die Morah zu Lampen umfunktioniert und mit grünem Fake-Efeu umwickelt hat. Der Boden besteht aus schönem Echtholzparkett, in dem unsere Familie mehr als eine Kerbe hinterlassen hat. Einmal meinte Isaiah, dass er seine Schlittschuhe wie einen Hund an der Leine hinter sich herziehen müsse, und dabei haben sich die Kufen leicht ins Holz geschnitten.

Mit der Spitze meines Schuhs fahre ich die kleine Rille nach und folge ihr, bis ich von einem hellen Quieken unterbrochen werde, das mir allzu vertraut ist. Sekunden später knallt Gracie mit voller Wucht gegen mich, sodass ich ein paar Schritte nach hinten taumle. Zum Glück hält mich der Holzbalken in meinem Rücken davon ab, zum zweiten Mal an diesem Tag auf dem Hintern zu landen. Schließlich lautet meine Devise: nicht auffallen.

»Da bist du ja endlich!« Meine Schwester vergräbt ihr Gesicht in meinem Schal und drückt mich so fest an sich, dass mir jeglicher Sauerstoff aus der Lunge entweicht. Mein gesamter Körper versteift sich, weil ich es einfach nicht gewohnt bin, derart fest umarmt zu werden. Überhaupt umarmt zu werden. Bei meinen Geschwistern fällt mir Körperkontakt zwar deutlich leichter als bei Fremden, aber ein riesiger Fan bin ich davon trotzdem nicht. Keine Ahnung, ob sich das jemals wieder ändern wird, aber im Augenblick bin ich einfach nur froh, mit meiner Familie in einem Raum und nicht Hunderte Meilen von ihr getrennt zu sein. Es ist etwas anderes, einen Menschen nicht nur sehen, sondern auch riechen und spüren zu können.

»O Gott. Ich. Habe. Dich. So. Vermisst!« Gracie umklammert mich noch fester und wiegt mich von links nach rechts, als würden wir gerade zu einem alten Folk Song tanzen. Sie lässt erst etwas lockerer, als Isaiah zu uns kommt und seine Hand auf ihre Schulter legt, um den Wirbelwind zu bremsen. »Erdrück sie nicht gleich, Gracie. Lass sie atmen.«

»Fuck.« Meine zierliche Schwester sieht aus ihren grüngrauen Kulleraugen zu mir auf. Im nächsten Moment flackert Schuld über ihr schönes Gesicht, das bei meinem letzten Besuch noch etwas jünger und weicher ausgesehen hat. Kindlicher. Gracie ist viel zu schnell erwachsen geworden und hat dieses Jahr ihr Kunst-Studium an der UMaine – der University of Maine – angefangen. Dieser Gedanke versetzt mir einen Stich, weil ich in den letzten Jahren so viel aus ihrem Leben verpasst habe. »War das zu stürmisch? Es tut mir leid, Schwesterkeks. Ich habe mich nur seit Monaten darauf gefreut, dich wiederzusehen. Die Freude ist wohl mit mir durchgegangen … Ich wollte nicht … Also ich wollte dich nicht … Du weißt schon.«

»Hör auf, dich zu entschuldigen, Gracie«, unterbreche ich ihre Selbstgeißelung lachend und inhaliere ihren unverkennbaren Duft nach Vanille und Kokos. Gott, wie sehr ich diese Mischung liebe. Der Geruch meiner kleinen Schwester ist definitiv mein Lieblingsduft. »Ich freu mich auch, dich zu sehen.«

»Hallo? Was ist mit mir? Zähle ich gar nicht, oder was?« Unser großer Bruder hat die Hände in den Taschen seiner dunkelblauen Chino vergraben und sieht mit einem warmen Lächeln dabei zu, wie Gracie und ich zu einer Person verschmelzen. Ich bette mein Kinn auf ihrem erdbeerblonden Lockenschopf und sehe meinen Bruder augenzwinkernd an.

Im Vergleich zu Gracie hat er sich kaum verändert. Seine dunkelbraunen Haare trägt er immer noch so wüst, dass mein innerer Monk gern einmal mit einem Kamm Ordnung ins Chaos bringen würde. Lediglich seine karamellbraunen Augen sehen müder und trauriger aus als beim letzten Mal. Weil er dabei war, als Libby mit plötzlichen Brustschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert wurde und anschließend um ihr Leben kämpfen musste. Natürlich sind die letzten Wochen nicht spurlos an unserem Bruder vorbeigegangen, aber er versucht, sich nichts anmerken zu lassen.

Alles wie immer, hm?

»Deine Haare sind ja noch länger geworden!«, stellt Gracie fest. Erst jetzt bemerke ich, dass sie mich an den Schultern gefasst und von sich geschoben hat, um mich eingehend zu mustern. Anschließend zupft sie an meinen braunen Wellen, die mir mittlerweile bis zum Bauchnabel reichen, und gräbt ihre Schneidezähne in die Unterlippe. Meine Schwester wirkt mit ihrer überschwänglichen Art nicht wie eine Neunzehnjährige, und genau das liebe ich an ihr. Sie lässt sich nicht sagen, wie man sich als »Erwachsene« verhalten sollte, und zieht einfach ihr Ding durch. Ihr macht es im Gegensatz zu mir nichts aus, aufzufallen. Sei es durch ihre quirlige Art oder ihre bunten Klamotten.

»Damit kann ich dir so geile Frisuren machen, Schwesterkeks. Ich habe schon einen ganzen Ordner mit Inspirationen von TikTok auf meinem Handy gespeichert. Manche werden eine Herausforderung, aber mit deinen Haaren kann man so viel anstellen! Du solltest sie nicht immer nur als Vorhang tragen.« Gracie hat es schon früher geliebt, mir die Haare zu flechten, und inzwischen ist sie so gut darin geworden, dass all ihre Freundinnen zu ihr kommen, wenn sie eine schöne Frisur für einen besonderen Anlass haben möchten.

»Ich werde wohl immer dein Versuchskaninchen bleiben, was?«, antworte ich mit einem gequälten Lächeln.

Sie hüpft auf die mit braunem Stoff bezogene Sitzbank am Fenster und lässt mir somit etwas Raum zum Atmen und Ankommen. Das war seit jeher unser Stammplatz. Damals saßen wir hier jeden Sonntag zu viert mit Paps. Irgendwann kam Libby dazu, und wir haben noch einen Stuhl dazugeschoben. Unser Vierertisch wurde zu einem Fünfertisch, so wie unsere Viererfamilie wieder zu einer Fünferfamilie wurde. Ich blicke von einem Ende des Tisches zum anderen. Zwei leere Plätze. Jetzt gibt es nur noch uns drei.

»Schön, dass du endlich da bist.« Isaiah zieht die Hände aus den Taschen, tritt auf mich zu und drückt mir zur Begrüßung einen Kuss auf den Scheitel. Anschließend setzt er sich neben Gracie, während ich auf der gegenüberliegenden Seite Platz nehme.

»Wie geht es euch?«, frage ich meine Geschwister und schäle mich aus meiner Jacke, weil es hier drin bullenheiß ist. Im Little Stories wird noch ganz traditionell mit Kamin geheizt, und Morah legt gerne mal ein paar Holzscheite zu viel ins Feuer. Ich ignoriere das Knistern der Flammen, so gut es geht, auch wenn es mich hin und wieder aus dem Konzept bringt und ungute Erinnerungen in mir hervorruft.

»Ganz okay, schätze ich.« Isaiah kratzt sich am Hinterkopf und senkt den Blick auf die herbstliche Tischdecke vor uns. Er hatte zwar nie Probleme damit, seine Gefühle zu zeigen, aber er wollte für Gracie und mich schon immer der große, beschützende Bruder sein. Er war unsere Schulter zum Anlehnen, als Paps von uns gegangen ist, und diese Rolle hat er bis heute nie abgelegt. Auch nicht, als ich meine Sachen gepackt habe und abgehauen bin, weil mich hier alles erdrückt hat. Ich habe meinen Geschwistern nie gesagt, wie leid es mir tut, dass ich einfach fort bin, aber sie haben mir dennoch nie das Gefühl gegeben, etwas falsch gemacht zu haben. Sie waren schließlich dabei, als meine fragil errichtete Schutzmauer brach. Damals, auf dem Abschlussball, vor der gesamten Klasse. Die Härchen in meinem Nacken stellen sich auf, als wittere mein Körper eine Gefahr.

»Es ist schwer ohne Libby.« Gracie kräuselt ihre Stupsnase, wobei die Spitze von links nach rechts tanzt. Man sieht ihr an, wie viel sie in den letzten Tagen geweint hat. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie nicht mehr da ist. Nie mehr. Dass sie nicht einfach nur im Urlaub ist oder so.« Ihre Kulleraugen füllen sich mit Tränen, und sofort verspüre ich den Wunsch, sie noch einmal in den Arm zu nehmen und für den Rest des Tages nicht mehr loszulassen. Wie gerne würde ich ihr den Halt geben, den sie braucht.

»Ich kann es auch nicht glauben«, flüstere ich. »Und ich fühle mich miserabel, weil ich sie so lange nicht angerufen habe.«

»Libby war nicht böse auf dich, Stella.« Isaiah schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. Da ist sie wieder: Die Schulter, an die ich mich so gern kuscheln würde, wenn ich im Inneren nicht so verkorkst wäre.

»War sie wirklich nicht. Außerdem wusste sie, dass du mit der Arbeit im Shelter total ausgelastet bist. Apropos Shelter: Was macht dein neuer Schützling? Wie war sein Name noch gleich? Hero?« Gracie trommelt aufgekratzt mit den Fingern auf die Tischplatte, bevor sie beginnt, den Rand ihres Colaglases nachzufahren, an dem eine quietschgelbe Zitrone steckt.

»Er ist mir hinterhergerannt und wollte am liebsten mit in den Bus springen. Es geht ihm mittlerweile schon viel besser, und ich glaube, er erlebt gerade mit mir seinen zweiten Frühling.«

»Wie süß! Ich würde ihn so gerne mal kennenlernen! Beim nächsten Mal musst du ihn mit herbringen.« Eine Weile unterhalten wir uns noch über die Furry Angels, über Isaiahs Arbeit bei der städtischen Feuerwehr und Gracies Studium an der UMaine. Und je länger ich mit meinen Geschwistern an unserem Stammtisch sitze, desto mehr komme ich an. Hier, in meinem Lieblingscafé, mit meinen Lieblingsmenschen, in meiner einstigen Lieblingsstadt – die mir alles genommen hat. Hin und wieder huschen Leute über den Marktplatz vor dem Little Stories, und jedes Mal, wenn jemand einen Blick in meine Richtung wirft, würde ich am liebsten auf der Bank nach unten rutschen und mich vor der Welt verstecken.

»Und es ist wirklich okay für dich, wenn ich bei dir wohne, solange ich hier bin?« Ich schüttle den fiesen Gedanken ab, ihm zur Last zu fallen, und sehe meinen großen Bruder an. Er hat sich lässig zurückgesetzt, beide Arme auf den Lehnen der Bank ausgebreitet und nickt mit einem Lächeln auf den Lippen, das Eisberge schmelzen lässt. Mein Bruder hat mit diesem Lächeln schon mehr als einem Mädchen in Blossom Lake den Kopf verdreht.

»Denkst du echt, ich lasse dich in Susies überfülltem Bed and Breakfast wohnen? Kurz vor der Weihnachtssaison? Außerdem habe ich ohnehin gerade ein Zimmer frei. Das ist echt kein Ding, Stella. Solange du kein Problem damit hast, dass die Leitungen alt sind und es ein paar Minuten dauert, bis heißes Wasser kommt. Mi casa es su casa.« Er macht eine einladende Handbewegung.

»Das macht mir nichts. In Franks Landhaus gab es manchmal tagelang kein heißes Wasser. Ich bin also abgehärtet.«

»O mein Gott. Stella Sophia Jones!« Morah erscheint in ihrer süßen weiß-pink gepunkteten Schürze an unserem Tisch und sieht mich aus großen Augen an. Sie ist Anfang sechzig, könnte aber locker als Mitte vierzig durchgehen. Mehr als einmal hat Libby sie nach ihrem Schönheitsgeheimnis gefragt, und ihre Antwort war immer dieselbe: Vertrauen, Liebes.

Vertrauen ist die Antwort auf alles und das beste Anti-Aging-Mittel. Sich zu sorgen gibt dir keine Kontrolle über das Leben, sondern macht nur fiese Falten.

Morah ist die pure Spiritualität auf zwei Beinen und tanzt damit durch ihr Leben. Wenn ihr Steine in den Weg gelegt werden, ist sie nicht böse darüber, sondern dankbar dafür. Weil sie der Meinung ist, dass jede Prüfung vom Universum ein Geschenk in sich birgt. Ich wünschte, ich hätte dasselbe Urvertrauen, das sie sogar nach dem Tod ihres Mannes vor zehn Jahren nicht verloren hat.

»Hi, Morah!« Ich winke ihr zu, woraufhin sie die gefalteten Hände über ihr Herz legt. »Wie hübsch du aussiehst, Stella. Deine Haare sind ein Traum!«

»Hab ich ihr auch schon gesagt. Auch wenn es mir echt schwerfällt, nicht sofort meine Schere aus dem Wohnheim zu holen«, wirft Gracie schnalzend ein und hält sich die rechte Hand ans Ohr. »Hört ihr das? Das sind Stellas ausgehungerte Spitzen, die um Erlösung und einen frischen Schnitt betteln.« Ich verdrehe die Augen über die ausgewachsene Abneigung meiner Schwester gegen Spliss. Aber natürlich hat sie nicht unrecht – mein letzter Friseurbesuch ist eine Ewigkeit her.

»Nun sag schon, Liebes. Was kann ich dir bringen? Eine heiße Schokolade, wie früher?« Umgehend läuft mir das Wasser im Mund zusammen, als hätte Morah einen Knopf in mir gedrückt, von dessen Existenz ich bislang nichts wusste.

»Gerne, aber nur, wenn du die bunten Marshmallows hast!«

»Was für eine Frage, Liebes. Es gibt kein Little Stories ohne bunte Marshmallows. Außerdem habe ich noch etwas vom Mittagstisch für dich übrig.«

»Das klingt perfekt, ich bin wirklich am Verhungern.« Nach weniger als fünf Minuten kommt Morah erneut an unseren Tisch, stellt erst die bauchige Tasse mit dem passenden Spruch »every story needs to be told« vor meiner Nase ab und anschließend eine mintgrüne Suppenschüssel, aus der Dampf aufsteigt. Noch bevor ich den Inhalt genauer begutachten kann, dringt mir ein altbekannter Geruch in die Nase. Daraufhin muss ich so laut lachen, dass mir der Bauch wehtut und meine Geschwister stutzig werden.

»Was ist los, Schwesterkeks?« Gracie sieht mich gespannt an, während Isaiah dreinschaut, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen.

»Ach nichts.« Ich schnappe mir den Löffel, rühre kopfschüttelnd in der Schüssel und beginne zu essen. Ausgerechnet heute gibt es im Little Stories Erbseneintopf!

KAPITEL 4 Stella

Isaiahs Wohnung befindet sich zwei Querstraßen vom Little Stories entfernt, sodass ich nur fünf Minuten für den Weg dorthin brauche. Mein Bruder hat mir seinen Ersatzschlüssel gegeben, weil er noch zur Nachtschicht bei der Feuerwehr muss und mich daher nicht begleiten kann.

Gracie ist mit ihrem rostroten Ford zurück ins Wohnheim an der UMaine gefahren, um für ihre morgige Prüfung in Medienkunst zu lernen. Und sosehr ich mich auch über das Wiedersehen mit den beiden gefreut habe, so dringend sehne ich mich jetzt nach einem ruhigen Abend ganz für mich allein. Vielleicht werde ich mir ein heißes Schaumbad einlassen, bevor ich mich mit ein paar Folgen Peaky Blinders ins Bett verziehe und zu Thomas Shelbys dunkler Stimme einschlafe.

Da ich vor einem Jahr schon einmal in Isaiahs Wohnung war, erkenne ich das dreistöckige Mehrfamilienhaus aus rotem Backstein vor mir direkt wieder. Die Wohnung meines Bruders befindet sich in der obersten Etage auf der rechten Seite.

Sobald ich die Wohnung betreten habe, stelle ich meine Tasche ab, hänge den Schlüssel an das kleine Brett neben dem bodentiefen Spiegel und ziehe meinen Parka aus. Anschließend wickle ich meinen Schal ab und kann zum ersten Mal seit meiner Ankunft hier frei atmen.

Mein Hals kribbelt an den Stellen, die viel zu lange keine Luft abbekommen haben, während ich meine Klamotten an die Garderobe hänge und aus meinen Turnschuhen schlüpfe. Mit meinem Handy bewaffnet, taste ich im Wohnzimmer nach dem Lichtschalter und schlurfe zu dem grau melierten Sofa hinüber, das in der Mitte des Raumes steht und Isaiah scheinbar seit Neuestem als Kleiderständer dient. Mein Bruder war früher immer wahnsinnig ordentlich, fast pedantisch. Einige Dinge ändern sich scheinbar doch.

Naserümpfend schiebe ich eine schwarze Jogginghose und ein Paar dreckige Tennissocken zur Seite, lasse mich auf das Polster plumpsen und lehne mich mit angezogenen Knien zurück. Einen Moment lang schließe ich die Augen und genieße die Stille. Auch wenn sich meine Kontakte heute auf eine Handvoll beschränkt haben, sind meine sozialen Akkus komplett leer.

Die wohlverdiente Ruhe währt jedoch nicht lange, denn auf einmal poltert es lautstark in der Wohnung. Innerhalb von Sekunden bin ich auf die Füße gesprungen. Was zur Hölle war das? Wieder poltert es, und als mein Blick zur Küchentür schießt, schlucke ich schwer. Sie ist angelehnt, und der helle Lichtschein, der mir bis jetzt scheinbar entgangen ist, verheißt nichts Gutes.

Jemand ist in der Küche!

Und es ist definitiv nicht mein Bruder!

Mein Herz beginnt wild zu poltern und würde am liebsten aus meiner Brust springen, um das Weite zu suchen. Mit zitternden Händen umklammere ich mein Handy, wähle Isaiahs Nummer und beiße mir kräftig auf die Unterlippe, während ich darauf warte, dass er endlich abnimmt.

»Nun komm schon, geh ran«, flüstere ich ungeduldig und behalte dabei die Tür im Blick. Was, wenn hier jemand eingebrochen ist, während wir ahnungslos im Café saßen? Aber ein Einbruch in Blossom Lake? Unwahrscheinlich. Die Kriminalitätsrate ist in unserer Stadt nahezu nicht existent. Das einzige Verbrechen, das ich je mitbekommen habe, war der große Brötchenklau in Carol’s Bakery vor fünf Jahren. Und selbst der war nicht sonderlich spektakulär. Schon nach einer Stunde hat sich herausgestellt, dass die leicht demente Mrs. Bloom lediglich ihr Portemonnaie vergessen hat und mit den Brötchen nach Hause geflitzt ist, um Geld zu holen.

»Hey, bist du gut angekommen?« Isaiah klingt vollkommen entspannt, während in mir alle Alarmglocken schrillen.

»Daisjemandindeinerwohnung«, überschlagen sich meine Worte. Instinktiv sehe ich mich bereits nach etwas um, das ich gegen den Eindringling als Waffe verwenden kann. Ich könnte ihn mit einem von Isaiahs Büchern attackieren, doch sonderlich effektiv stelle ich mir das nicht vor. Also schnappe ich mir die schwarz-weiß gemusterte Vase vom Couchtisch und drücke sie an meine Brust wie eine geladene Kalaschnikow. Wenn es hart auf hart kommt, werde ich das Teil schmeißen!

»Whoa, nicht so schnell, Stella. Was hast du gesagt?«

»Da ist jemand in deiner Wohnung.« Meine Stimme ist kaum mehr als ein ängstliches Krächzen, weil ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehe.

»Redest du von Austin?«

»Austin wer?« Ich stehe vollkommen auf dem Schlauch. Wieder poltert es in der Küche, gefolgt von einem rauen Fluchen.

»Mein Mitbewohner, Stella. Mach dir keine Gedanken, das ist kein Einbrecher, falls du das vermutet hattest. Du kannst dich entspannen und deine Waffe zur Seite legen, du John Wick für Arme.« Isaiah kennt mich viel zu gut.

»Moment mal – hast du gerade Mitbewohner gesagt?« Ich werde lauter, obwohl ich mich am liebsten totstellen oder in Luft auflösen würde. Gerade habe ich mich noch auf einen ruhigen Abend mit Cillian Murphy auf meinem Laptop gefreut, und jetzt erwähnt Isaiah ganz nebenbei, dass er einen verdammten Mitbewohner hat? Wann wollte er mir davon erzählen?

»Ja, Mitbewohner. Du weißt schon, jemand, mit dem man sich eine Wohnung und die Miete teilt?« Isaiah lacht, aber ich finde hier dran gar nichts witzig. Ich hätte vor Schreck beinahe einen Infarkt bekommen oder mir in die Hose gemacht!

»Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du einen Mitbewohner hast?«, frage ich mit enger Kehle. Ich bin nicht darauf vorbereitet, heute noch einem fremden Menschen in der realen Welt zu begegnen. Geschweige denn in den nächsten Wochen auf engstem Raum mit einem zusammenzuwohnen. Mir ein Bad mit ihm zu teilen! Einen Kühlschrank! Und Himmel, hat diese Wohnung überhaupt genug Zimmer, oder werde ich auf dem Sofa schlafen müssen? Nicht, dass ich mir dafür zu schade bin, aber dieser mysteriöse Mitbewohner soll mir nicht beim Schlafen zuschauen können. Niemand soll das.

»Ich hab dir von ihm erzählt, Stella. In unserem letzten Telefonat. Weißt du nicht mehr?«

»Ähm.«

»Er wohnt seit ein paar Monaten bei mir. Das kannst du unmöglich vergessen haben.«

Ich gehe panisch vor dem Sofa auf und ab, halte mir eine Hand vor meine inzwischen schweißnasse Stirn. »Scheinbar kann ich das sehr wohl. Ich hätte mich fast zu Tode erschrocken.«

»Keine Sorge, Austin beißt nicht. Sag ihm einfach, dass du deine Ruhe haben willst, und dann bemerkst du nicht mal, dass er da ist. Vermutlich verschwindet er eh gleich und geht auf eine Party. Er ist abends meist unterwegs.« Ja klar. Als wäre es für mich so leicht