12,99 €
Was ist stärker: Schuldgefühle oder Liebe?
Augenscheinlich genießt Gracie Jones ihr Leben als Kunststudentin in Blossom Lake. Doch als ihre Schwester Stella in die Stadt zurückkehrt, wird Gracie gezwungen, sich ihren Dämonen zu stellen. Die Schuldgefühle wegen der schicksalhaften Nacht, in der ihr Vater bei einem Brand ums Leben kam, werden immer stärker. Gracie greift schließlich zum Alkohol – und baut einen Autounfall. Im Krankenhaus findet sie Trost bei Fynn, ihrem besten Freund aus Kindertagen, der dort als Pflegekraft arbeitet. Je öfter er an ihrem Krankenbett sitzt und mit ihr in Erinnerungen schwelgt, desto tiefer wird die Verbindung zwischen ihnen. Doch Fynn hat keine Ahnung, dass ausgerechnet er Gracies Schuldgefühle noch steigert. Kann sie die Vergangenheit loslassen und sich selbst verzeihen? Oder wird das Feuer zwischen Fynn und ihr unter der Last der Reue erstickt?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 424
Veröffentlichungsjahr: 2025
Gracie Jones genießt ihr Leben als Kunststudentin in Blossom Lake. Doch als ihre Schwester Stella in die Stadt zurückkehrt, wird sie gezwungen, sich ihren Dämonen zu stellen. Die aufkommenden Erinnerungen an die Nacht, in der ihr Vater ums Leben kam, begraben ihren Optimismus. Als Gracie auf einer Party auch noch Fynn, ihrem besten Freund aus Kindertagen, begegnet, greift sie zum Alkohol – und baut einen Autounfall. Im Krankenhaus muss sie feststellen, dass Fynn dort als Pflegekraft arbeitet. Je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto stärker werden ihre Gefühle füreinander. Doch Fynn hat keine Ahnung, dass ausgerechnet er Gracies inneres Chaos noch steigert und Schuldgefühle in ihr wachruft, die sie lange verdrängt hat. Kann sie die Vergangenheit loslassen? Oder wird das Feuer zwischen Fynn und ihr unter der Last der Reue erstickt?
Sarah Stankewitz lebt mit ihrem Freund in einer kleinen Stadt am Rande von Brandenburg. Schon in ihrer Kindheit liebte sie es, Worte aneinanderzureihen und Geschichten zu erschaffen. Seit ihrem Debütroman lässt sie ihrer Fantasie freien Lauf und ist immer wieder auf der Suche nach neuen Inspirationsquellen. Musik, Kerzen und ein bequemer Arbeitsplatz dürfen im Hause der Autorin ebenso wenig fehlen wie ein leckerer Cappuccino. Ihre Geschichten spiegeln das wider, was sie sich stets von einem guten Roman erhofft: Liebe, Leidenschaft und eine Prise Humor. Unter ihrem offenen Pseudonym Sara Rivers schreibt sie prickelnde Erotikromane.
SARAH STANKEWITZ
ROMAN
Band 2 der Love Burns-Reihe
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
Liebe Leser*innen, in diesem Buch werden Themen angesprochen, die für einige Menschen emotional sehr belastend sein können. Auf Seite 378 findet ihr für ein sicheres Leseerlebnis eine genaue Auflistung. Passt gut auf euch auf!
Sarah Stankewitz und der Heyne VerlagDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Originalausgabe 02/2025
Copyright © 2025 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 Mü[email protected](Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)Redaktion: Michelle Stöger
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-31247-3V002
www.heyne.de
Für alle Sonnen, die ihre Strahlen mit der Welt teilen (und sich dabei manchmal ein bisschen selbst verbrennen). Danke!
Emotionen sind für mich wie Farben auf meiner Lieblingspalette. Wut zum Beispiel schillert in den meisten Fällen ziegelsteinrot, egal ob Lucy Simons vom Friseurladen Hairy Styles ihren Partner gerade in flagranti erwischt hat oder die verbitterte Mrs. Palm sich über die steigenden Lebensmittelpreise in Sams Supermarkt beschwert. Zum dritten Mal in einer Woche. Als könnte sie mit ihrer anhaltenden Wut die Inflation stoppen.
Hoffnung hingegen zeigt sich fast immer in einem satten Grasgrün, während Neid wie dunkle Schokolade von einem warmen Toastbrotrand tropft. Und dann ist da noch Traurigkeit. Traurigkeit ist meine zweitliebste aller Farben. Sie erinnert mich immer an den Blossom Lake weit nach Sonnenuntergang, wenn Abertausende Sterne wie Glühwürmchen auf der Wasseroberfläche tanzen und vom dunklen Mitternachtsblau getragen werden.
Ich weiß noch ganz genau, wann ich angefangen habe, das Leben, die Menschen auf dieser Erde und ihre Gefühle in Farben zu sehen.
Es war ein sonniger Samstagmorgen, an dem ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Fynn Larsson strahlte das wärmste und schönste Gelb aus, das ich je an einem Menschen gesehen habe. Vielleicht lag es an den tiefen Grübchen in seinen Wangen, vielleicht an seiner verschmitzten Art, nur einen, anstatt beide Mundwinkel nach oben zu ziehen, wenn er lächelt. Vielleicht auch daran, dass er mir wie ein Held von seinen wilden Schnitzeljagden in und um Blossom Lake erzählt hat, die vermutlich allesamt an seinen honiggoldenen Haaren herbeigezogen waren.
So oder so, egal woran es auch gelegen haben mag, ich habe diesen Jungen sofort in mein Herz geschlossen. In den kommenden fünf Jahren haben wir uns unzählige Waffeln im Little Stories geteilt, er war mein Beschützer vor den fiesen Jungs in der Schule, die meinten, es wäre völlig okay, meine geliebten erdbeerblonden Zöpfe mit einer stumpfen Bastelschere abzuschneiden. Karma gets everyone, ihr Schurken!
Fynn war ein guter Zuhörer und gleichzeitig der witzigste Geschichtenerzähler, dem ich je begegnet bin. Aber allen voran ist er innerhalb eines Wimpernschlags mein bester Freund geworden. Mein Partner in Crime. Meine Konstante. Und ganz tief in meinen Träumen bin ich wohl schon als fünfjähriger Regenbogen-Wirbelwind davon ausgegangen, dass ich eines Tages mit Fynn Larsson zum Altar schreiten würde.
Natürlich im Frühling, weil die Jahreszeit der aufblühenden Natur meine allerliebste ist, und mit einem gigantischen Schokoladenspringbrunnen, der nie versiegt.
In meiner kindlichen Vorstellung haben wir an meinem achtzehnten Geburtstag das Tierheim seiner Großmutter übernommen, in dem wir tagtäglich süße Hundewelpen streicheln, bis wir abends vor Müdigkeit kaputt ins Bett fallen.
Mit ineinandergehakten kleinen Fingern, weil Fynns kleiner Finger schon immer mein Rettungsanker war. Ich habe meine kunterbunten Zukunftsvorstellungen stets mit einer Extraportion Glitzertopping versehen, weil Glitzer alles auf der Welt so viel besser macht.
An diesem alles verändernden Samstagmorgen war ich überglücklich, weil ich da noch nicht wusste, dass Fynn Larsson weder mein bester Freund bleiben noch mein Ehemann werden würde. Er sollte zu einer Erinnerung werden, deren Konturen von Tag zu Tag mehr verblassen.
Das war, bevor mein Vater auf tragische Weise von uns gegangen ist, meine große Schwester lange Zeit im Krankenhaus um ihre Genesung kämpfte und bevor Fynn Larsson schließlich aus meinem Leben verschwand.
Jetzt, fast zehn Jahre nachdem meine Familie und unsere Freundschaft vom Universum in traurige Konfettifetzen zerrissen wurde, ist er zurück in der Stadt.
Und an ihm haftet eine Farbe, der ich nur wenige Male in meinem Leben begegnet bin und von der ich gehofft habe, sie nie wiedersehen zu müssen: das dunkle Gelb einer sterbenden Sonnenblume. Mit anderen Worten: die Farbe geplatzter Kindheitsträume und gebrochener Herzen.
Flammen. Überall.
Ich weiß nicht, woher sie kommen, aber sie werfen fiese Muster aus Schatten und Licht an die Wände unseres Hauses. Ich weine, weine, weine, kann nicht mehr damit aufhören, weil ich weiß, dass Paps und Stella noch oben sind.
Ich schreie den Namen meiner großen Schwester, schreie nach meinem Paps, so laut es bei all dem Rauch eben geht. Aber der ist inzwischen überall und steigt an die Decke.
»Gracie, da bist du ja!« Paps taucht am Ende der Treppe auf. Auf seinem Arm meine Schwester, die ihr Gesicht in seiner Schulter vergraben hat. Um uns herum so viele Flammen, Flammen, Flammen. Geht es Stella gut? Wieso sieht sie mich nicht an? Mir laufen noch mehr Tränen über das Gesicht, ich will die Treppe hinaufstürmen, zu meiner Familie, aber das Feuer ist viel zu heiß. Ich habe Angst. So fürchterlich viel Angst im Bauch.
»Gracie, Schatz. Lauf in den Vorgarten!« Paps klingt gehetzt. Er hustet. Ich schüttle panisch den Kopf.
»Ich kann nicht ohne euch gehen!« Auf keinen Fall verlasse ich dieses Haus ohne die beiden. Unser Vater drückt Stellas Kopf noch etwas fester an seine Schulter, versucht, sie vor den Flammen und dem Rauch zu beschützen.
»Du musst mir helfen, alleine schaffe ich es nicht, Kleines. Geh in den Vorgarten und hol Hilfe. Ich bringe deine Schwester hier raus, das verspreche ich dir.«
Im selben Moment kracht hinter mir etwas zu Boden. Ein Holzbalken, der brennend auf die abgewetzten Dielen donnert. Erschrocken springe ich zurück, verbrenne mir beinahe den Arm.
Überall Feuer, Feuer, Feuer.
Und Tränen.
Meine, Stellas, Paps’.
»Los, Gracie!«, ruft mein Vater mit Nachdruck und nimmt die erste Treppenstufe. Wie will er hier runterkommen, ohne sich zu verletzen?
Ich schluchze, stolpere zurück, falle beinahe hin. Paps und Stella verschwinden hinter dem Flammenmeer, während ich mich bis zur Haustür durchkämpfe. Wir schließen nie ab, weil Menschen in Blossom Lake ihren Nachbarn vertrauen, also öffnet sich die Tür zum Glück sofort.
Immer wieder blicke ich hinter mich, in der Hoffnung, Paps und Stella würden mir folgen. Aber ich sehe sie nicht. Da ist nur das grelle Orange der Flammen. Ich werde diese Farbe für immer hassen.
»O Gott, Gracie!« Unsere Nachbarin Libby stürmt im Vorgarten auf mich zu, zieht mich in ihre Arme und drückt mich so fest es geht an sich. Ich liebe Libby. Sie ist wie eine Mama für mich, obwohl sie eben nicht meine Mama ist. Die ist schon vor langer Zeit verschwunden.
»Geht es dir gut, Süße?«
Ich nicke, aber es ist gelogen. Wie soll es mir denn gut gehen, wenn Paps und Stella noch da drin sind?
»Wo ist dein Vater?«
»N-noch im H-Haus«, schluchze ich und vergrabe mein Gesicht an ihrer Brust in dem weichen dunkelblauen Bademantel, den sie trägt. Sie duftet wie immer. Nach Vanillekeksen. »Mit S-Stella.«
»Um Himmels willen. Ich habe schon die Feuerwehr angerufen. Sie müssten jeden Moment da sein.« Sie sind zu spät!
»Was ist mit deinem Bruder, Gracie? Wo ist Isaiah?«
»E-er ist bei seinem F-Freund.« Isaiah ist der Älteste von uns, und gerade wünschte ich, er wäre hier. Weil ich in seiner Nähe immer das Gefühl habe, sicher zu sein.
Libby nimmt mich auf den Arm und trägt mich Richtung Straße, weg von unserem Haus, weg von Paps und Stella. Ich habe aufgehört zu weinen. Nicht, weil ich nicht mehr traurig bin, sondern weil die Angst mich lähmt. Immer wieder schüttelt mich ein keuchender Husten, den ich nicht zurückhalten kann. Meine Lunge schmerzt.
»Alles wird gut, Gracie. Dein Vater schafft es. Er schafft es.« Libby streichelt beruhigend durch mein Haar. Immer mehr Leute unserer Siedlung eilen aus ihren Häusern und leisten uns auf der Straße Gesellschaft. Die Flammen werden immer höher. Glas zerspringt, Rauch steigt in den Himmel, direkt zu den Sternen. Ob die Sterne auch Angst vor dem Feuer haben? Auch Angst um Paps und Stella, so wie ich?
Ich spüre meinen Bruder, noch bevor ich ihn sehe. Isaiah ist erst vierzehn, und doch überragt er schon den ein oder anderen Erwachsenen, während er auf uns zustürmt. Sein Freund Philipp wohnt nur wenige Häuser entfernt von unserem. Unserem Haus, das niemals aufhören wird zu brennen.
»Isaiah!«, rufe ich und stürme los. Meinem Bruder entgegen, der atemlos zu den Flammen blickt. Dann zu mir. Erleichterung flutet ihn, als er auf die Knie fällt und ich mich mit voller Wucht gegen ihn werfe.
»Bruderkeks, es ist überall!«
»Ich hab dich, Kiddo. Ich hab dich.«
Kiddo. So nennt er mich immer. Mein Bruder hält mich. Sein Herz wummert furchtbar schnell an meiner Wange.
»Wo sind sie?«
Mit einer Hand zeige ich zum Haus, mit der anderen kralle ich mich in seinen schwarzen Pulli. Isaiah springt auf die Füße, will zur Eingangstür rennen, aber ich lasse seinen Arm nicht los.
»Nein!«, schreie ich.
»Ich muss da rein, Gracie.« Auch er weint jetzt. Und mein Bruder weint selten. »Ich muss ihnen helfen!«
»B-bitte n-nicht.« Wenn Isaiah jetzt auch noch in die Flammen geht … dann bin ich allein. Ganz allein. Isaiah zögert. Er weiß nicht, was er tun soll. Ich weiß es auch nicht. Aber ich werde ihn nicht loslassen, ich werde ihn niemals loslassen.
Sekunden später ertönt eine Sirene. Die Feuerwehr biegt in unsere Straße ein. Alles geht schnell und doch nicht schnell genug. Mehrere Feuerwehrmänner springen aus dem riesigen Wagen, rennen durch unseren Vorgarten, während ich mich weiterhin an Isaiah festhalte.
Gemeinsam sehen wir zu unserem Zuhause hinüber, das mir noch nie so viel Angst eingejagt hat wie in diesem Augenblick. Das hier ist ein Albtraum. Nur ein Albtraum, wie ich ihn so oft nachts habe. Und gegen meine Albträume hilft nur eins: mein Mantra. Ich presse das Gesicht gegen Isaiahs Brust und flüstere meine vier Rettungssätze in den Stoff.
Alles wird gut.
Ich bin hier sicher.
Niemand wird mich verlassen.
Ich bin nicht allein.
Ich warte. Darauf, dass Paps und Stella endlich aus der Haustür kommen. Ich warte. Darauf, dass sie es schaffen. Ich warte. Darauf, dass sie diesen Albtraum überleben. In diesem Moment weiß ich noch nicht, dass ich mein Leben lang darauf warten werde. Noch in dieser Nacht zerfällt mein Mantra zu Asche. Aus meinem »Niemand wird mich verlassen« wird ein »Er hat mich verlassen«. Und zwar für immer.
»Falls du es vergessen haben solltest: Ich bin neunzehn und keine neun mehr, Isaiah!« Ich verdrehe theatralisch die Augen, während ich eine Strähne um meinen heißen Lockenstab wickle und dem besorgten Blick meines Bruders im Spiegel begegne. Er lehnt mit seiner breiten Schulter am Türrahmen, stößt sich dann ab und tritt hinter mich. »Sollen wir das Maßband holen, Kiddo? Denn das sagt definitiv etwas anderes«, neckt er mich und legt anschließend sein Kinn auf meinem Scheitel ab, wobei ich ihm beinahe mit dem Lockenstab den markanten Kiefer verbrenne. Mein großer Bruder hat so ein Gesicht, das man in Metropolen wie New York auf Modemarken-Plakaten erwarten würde.
»Pass doch auf, du Tollpatsch!« Ich stoße ihm mit dem Ellbogen liebevoll in die Rippen, um meine Worte zu untermauern.
»Moment mal. Ich soll der Tollpatsch von uns beiden sein? Als ich das letzte Mal nach dem Begriff gegoogelt habe, tauchte dein Bild in den Suchergebnissen als Erstes auf!« Isaiah nimmt mir den Lockenstab ab, und als die erste, perfekt geformte Locke auf meine Schulter fällt, greift er nach der nächsten Strähne und wickelt sie akribisch um den Stab. Ja, mein vier Jahre älterer und fast dreißig Zentimeter größerer Bruder steht wirklich hinter mir und hilft mir bei meinem heutigen Hairstyling. Verrückte, wunderschöne Welt. Danke, dass ich auf dir leben darf.
»Ich bin nur Teilzeittollpatsch. Ob du es glaubst oder nicht, ich kann auch anders.«
»Das will ich ja nicht abstreiten, aber ich mache mir trotzdem Sorgen, wenn du allein auf irgendeine schäbige Hausparty gehst. Sei ein wenig nachsichtig mit mir.«
»Halt, stopp. Erstens: Das Haus von Bellas Familie ist nicht schäbig, sondern super fancy. Zweitens: Ich bin nicht allein da, weil Bella, ergo die Gastgeberin, meine Mitbewohnerin auf dem Campus ist. Und drittens: Du schmorst gerade meine schönen Haare an!« Dampf steigt von meinem Kopf ab, als wäre ich eine menschgewordene Teekanne.
»Scheiße!« Sofort zieht Isaiah den Lockenstab nach unten, und ich bin heilfroh, dass er meine Strähne mit seiner Unachtsamkeit nicht komplett verkohlt hat. Auch wenn es schon ein wenig nach angesengten Haaren im Badezimmer riecht.
»Das kannst du laut sagen. Nur weil du bei der Feuerwehr arbeitest, heißt es nicht, dass du meine schönen Haare in Brand stecken sollst!« Obwohl ich wütend auf ihn sein will, kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich liebe meinen großen Bruder fast genauso sehr wie diesen arschteuren Lockenstab, den ich bei einem meiner zahlreichen Praktika im Hairy Styles geschenkt bekommen habe. Okay, ich liebe ihn mehr, aber das weiß Isaiah längst. Ich spare nicht mit Komplimenten und Liebesbekundungen. Viel eher verteile ich sie großzügig mit beiden Händen.
»Noch mal zurück zum Thema: Ich komme heute Abend bestens klar, Bruderkeks. Ich bin erwachsen und kann sehr gut auf mich allein aufpassen. Tief in deinem Herzen weißt du das, oder?«
»Hmm«, brummt er und fährt sich durch das wuschelige braune Haar, bevor er sich etwas verlegen am Hinterkopf kratzt.
»Wie wäre es, wenn du einfach mitkommst?«, schlage ich vor und bin von der Idee ziemlich angetan. »Da sind bestimmt ein paar süße Mädels, die gerne mal deinen Feuerwehrschlauch im Einsatz sehen würden.«
»Gott, Gracie! Hör sofort auf damit!« Isaiah hält sich lachend die Ohren zu und schließt gequält die Augen. »Ich will solche Sachen nicht aus deinem Mund hören, egal, wie erwachsen du sein willst.«
Mein Lachen nimmt neue Ausmaße an, weil es einfach zu viel Spaß macht, ihn zu foppen. Strähne für Strähne verwandle ich meine erdbeerblonde Mähne in eine wahre Lockenpracht. Isaiah hat sich inzwischen auf den Badewannenrand gesetzt und sieht mir bei meinem Styling für die heutige Party zu.
»Ich mein ja nur. Du solltest auch mal ein bisschen rauskommen aus dieser stickigen Bude hier.«
»Geht leider nicht, ich muss heute Abend für Jimmy auf der Wache einspringen.«
»Schon wieder? Langsam glaube ich, dass du auf der Feuerwache wohnst. Hast du überhaupt noch Schlüpfer in deinem Schrank?«
»Erstens«, äfft er mich nach. »Trage ich keine Schlüpfer! Zweitens: Jimmys Tochter wurde heute Morgen geboren, er hat also eine ziemlich gute Ausrede. Und drittens: Wenn die Pflicht ruft, ruft die Pflicht. Ich kann mir gerade keine Ablenkungen erlauben. Und Partys lenken mich ab. Genau wie Frauen.«
»Ich sage ja nicht, dass du von einem Date zum nächsten hüpfen sollst. Nur, dass es sicher nicht schadet, auch mal andere Luft zu schnuppern, als die in eurer vollgefurzten Männerhöhle.«
»Schon vergessen, dass unsere Schwester jetzt auch hier wohnt? Es ist also keine reine Männerhöhle mehr.«
»Zu zwei Dritteln schon! Also, bist du dabei oder bist du dabei?«
Isaiah hebt seine Brauen, bevor er sie nachdenklich zusammenzieht. »Wieso glaube ich, dass du ganz andere Hintergedanken hast, du kleines Monster? Worum geht es dir hier wirklich? Sicher nicht um mein Wohlbefinden!«
»Jaja. Hast mich erwischt. Ich habe vielleicht die Hoffnung, dass du meine Leine ein wenig lockerer lässt, wenn du jemand anderen hast, um den du dich vierundzwanzig sieben sorgen kannst. Das ist alles. Du könntest deine Aufmerksamkeit gerne mal auf ein hübsches Mädchen verlagern und einfach ein wenig Spaß haben.«
»Gib mir Ratschläge in Sachen Liebe, wenn du nicht mehr grün hinter den Ohren bist.« Isaiah steht auf und knufft mir in die Wange. »Außerdem kann ich dir direkt den Wind aus den Segeln nehmen. Ich werde nämlich nie aufhören, mich um euch zu sorgen.«
Damit meint er unsere Schwester Stella und mich. Nach allem, was unsere Familie nach Paps’ Tod durchgemacht hat, verstehe ich ihn. Ich verstehe ihn so gut! Aber manchmal zerquetscht Isaiah einen auch zwischen seinen tiefen Sorgenfalten. Die hat er definitiv von unserem Vater geerbt. In wenigen Wochen ist sein zehnter Todestag, und beim Gedanken daran würde ich mich gern allein in diesem Bad einschließen und die fiese Realität draußen lassen. Vorhin war die Welt noch wunderschön, und innerhalb eines Augenblicks ist sie bedrückend geworden.
»Wo ist Stella, wenn man sie braucht? Ich fühle mich ein bisschen von ihr im Stich gelassen!«
»Stella ist gerade in Bar Harbour, um ihre letzten Sachen aus dem Tierheim zu holen. Mit ihrer Hilfe kannst du in dieser Debatte also nicht rechnen.«
Das Furry Angels – oder Curry Angels, wie die Autokorrektur meines Handys immer zu schreiben pflegt – ist ein Shelter für Hunde, in dem meine große Schwester bis vor Kurzem gearbeitet hat. Letzte Weihnachten hat sie schließlich entschieden, nach Blossom Lake zurückzukehren. Genauer gesagt in diese WG. Und der Hauptauslöser dafür ist ein gewisser Austin Lakefield, Mitbewohner meines großen Bruders und ehemaliges Football-Sternchen, das jetzt im Blossom Daily als Fotograf Karriere macht. Und seit Neuestem ist er zudem Stellas erster fester Freund. Jedes Mal, wenn ich die beiden zusammen sehe, bekomme ich Herzen in den Augen und Schmetterlinge im Bauch.
Mein Bruder verschwindet aus dem Badezimmer, während ich meinen Look vervollständige. Olivfarbener Lidschatten, der das Grün in meinen gescheckten Augen verstärken soll, ein wenig Blush und zarter Lipgloss landen auf meinem Gesicht. Dann schüttle ich meine Locken ein letztes Mal auf und zwinkere mir im Spiegel zu. Ich sehe aus wie Erdbeerzuckerwatte, und nach zwei Spritzern meines Notparfüms namens Cotton Candy, das ich in der WG meiner Geschwister deponiert habe, rieche ich auch genauso. Nach Jahrmarkt, nach Frühling, nach Süßigkeiten, nach Gracie Jones eben.
Outfittechnisch habe ich mich heute für ein schwarzes Latzkleid entschieden, das mir bis zur Mitte der Oberschenkel reicht. Darunter trage ich eine gelbe Strumpfhose und ein ebenfalls gelbes bauchfreies T-Shirt. Seit einigen Tagen ist der Frühling so richtig in Blossom Lake angekommen, und ich bin unendlich froh, wieder luftigere Klamotten tragen zu können, ohne zu erfrieren. Der letzte Winter war echt verflucht kalt, und ich bin einfach nicht für die tristen Jahreszeiten gemacht. Ich brauche Sonne, saftig grünes Gras und bunte Blumen um mich herum!
Mein Bruder hat sich inzwischen auf das Sofa im Wohnzimmer fallen lassen, um vor seiner Schicht auf der Wache noch ein wenig bei ein paar Folgen Brooklyn Nine Nine zu relaxen. Im Hintergrund höre ich das einmalig ansteckende Lachen von Jake Peralta.
Als Isaiah mich sieht, grinst er. Und verdammt, wie sehr ich dieses Grinsen liebe! Generell gibt es für mich nichts Schöneres als Menschen mit einem ehrlichen, breiten Lächeln im Gesicht.
»Du siehst echt toll aus, Kiddo.« Isaiah begleitet mich zur Tür, wo ich mir meine liebste Jeansjacke mit den bunten Aufnähern überziehe und in meine schwarzen Boots schlüpfe.
»Danke, Bruderkeks. Viel Spaß auf der Wache! Und richte Jimmy die herzlichsten Glückwünsche zur Geburt seiner Tochter aus! Vielleicht male ich ein Welcome-to-our-family-Bild für ihn und seine Frau?«
»Das wäre schön.« Isaiah will mir zum Abschied durch die Haare wuscheln, aber ich weiche in letzter Sekunde elegant aus. »Und du meld dich, wenn etwas ist, okay? Ich lasse mein Handy an. Wenn du von der Party abgeholt werden willst, ruf mich jederzeit an. Egal, wie spät es ist.«
»Kein Bedarf. Ich fahre mit meiner Red Lady zur Party und trinke ohnehin keinen Alkohol, also brauche ich auch kein Taxi.«
»Bist du dir sicher? Deine Rostlaube fällt fast auseinander, wenn man nur die Tür zuschlägt.«
»Rede nicht so über mein Auto, okay? Es hat Gefühle, und die können verletzt werden. Außerdem werde ich dich nicht anrufen, weil du heute wieder einmal die Welt retten musst, schon vergessen?«
»Nope«, erwidert er mit einem fröhlichen Pfirsichton in der Stimme. »Aber für deine Rettung nehme ich mir immer Zeit.«
Auf einmal wird seine Stimme ernst, und aus dem Pfirsichton wird ein dunkles, fast schwarzes Violett. Die Furchen in seiner Stirn werden tiefer. Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange und fahre mit dem Daumen über seine Stirn, um sie zu glätten. Mein Daumen ist sein Sorgenfalten-Bügeleisen, denn sie verschwinden sofort.
»Ich hab dich lieb, Bruderkeks. Wir schreiben uns!«
»Ja, wir schreiben uns.« Er schenkt mir ein ehrliches Lächeln, welches dem Violett wieder die Dunkelheit nimmt. »Und jetzt ab mit dir. Diese phänomenalen Locken wollen ausgeführt werden!«
»Da bist du ja endlich!« Bella packt mich am Arm und zieht mich zuerst in den überfüllten Hausflur, dann in eine überschwängliche Umarmung. Wir rudern ungelenk von links nach rechts, als hätten wir uns nicht erst vor zwei Tagen im Wohnheim der UMaine gesehen. »Und du siehst umwerfend aus. Wie eine wunderschöne, kleine Hummel!«
»Ich nehme das mal als Kompliment«, erwidere ich lachend und drücke meiner Freundin einen Kuss auf die Wange. »Du siehst aber auch nicht übel aus. Nur eher Typ Fledermaus statt Hummel.«
Im Gegensatz zu mir hält Bella nämlich nicht sonderlich viel von knalligen Farben in ihrem Kleiderschrank und hat sich heute Abend in eine schwarze Korsage geworfen, die man auch auf einer Gothic-Messe tragen könnte. Ihre goldbraunen Augen sind komplett schwarz umrandet, und ihre Lippen strahlen in einem blutigen Rot. Mit ihren geflochtenen schwarzen Zöpfen, die ihr bis zum Bauchnabel reichen, könnte sie auch als große Schwester von Wednesday durchgehen.
Hi, Tuesday!
Bella Wilson studiert seit einem Jahr Informatik an der UMaine, und somit ist der größte Unterschied zwischen uns – abgesehen vom Kleidungsstil – die Aktivität unserer Gehirnhälften. Während ich mich mit meiner Kunst eher auf die rechte Seite in meinem Kopf verlasse, übernimmt bei Bella stets die linke das Steuer. Dafür ist sie auch so kreativ wie ein Stück Brot. Einmal habe ich sie dazu gezwungen, mit mir gemeinsam zu malen, und am Ende sah ihr Bild aus, als hätte ein Dämon seine schwarze Seele auf die Leinwand gekotzt. Sie war mächtig stolz auf das Ergebnis, während ich es einfach nur deprimierend fand.
»Ich wusste gar nicht, dass du so viele Leute kennst. Mein letzter Stand war, dass du unsere Spezies nicht sonderlich ausstehen kannst.«
»Stimmt ja auch«, sagt sie und verzieht den Mund zu einem vielsagenden Grinsen. »Eigentlich habe ich die ganzen Leute nur eingeladen, um sie später im Keller zu opfern. Aber psst. Das bleibt hoffentlich unter uns.«
Sie hakt sich bei mir unter und zieht mich durch einen Pulk fremder Partygäste. Ich schenke jedem einzelnen ein nettes Lächeln, schließlich bin ich für meine Freundlichkeit bekannt. Ich habe für jede Seele auf diesem Planeten ein Lächeln übrig, selbst für die fiesen.
»Willst du was trinken? Bier, Schnaps, Blutorangen-Bowle?«
»Wie wäre es mit einer Cola? Ich muss nachher noch fahren.«
Bella zeigt einem Kerl in ebenfalls schwarzer Kluft und leichenblasser Haut im Vorbeigehen den Mittelfinger.
»Dann eine Cola für dich.« Wir landen in der Küche, in der mir meine Freundin eine eiskalte Coke eingießt, drei Eiswürfel in Rosenform reinplumpsen lässt und das Ganze am Ende mit einer Zitronenscheibe garniert.
»Et voilà. Lass es dir schmecken, Bumblebee.«
»Fun Fact: Ich konnte das Wort früher nie richtig aussprechen. Immer, wenn wir auf Isaiahs Wunsch hin Transformers gesehen haben, hab ich Bumblebee Barnaby genannt. Wir haben uns jedes Mal totgelacht!«
Paps war dabei immer am lautesten. Gott, wie sehr er mir fehlt. Sein Lachen, seine warme Ausstrahlung, seine flachen Witze, die unter jeden Teppich passten. Ich nippe an meinem Getränk, in der Hoffnung, mit ihm auch meine Gedanken an ihn herunterschlucken zu können. Wenigstens für ein paar Stunden.
Bella zieht ihr Kleid hoch, fischt ihr Handy aus dem Bund ihrer Strumpfhose und öffnet meinen Kontakt. Dann löscht sie meinen Namen und tippt wild auf die Tastatur.
»Okay, dann heißt du jetzt ›Barnaby‹«, erklärt sie lachend, greift sich eine Bierdose aus dem Kühlschrank und ext sie in wenigen Zügen. Himmel, ich hätte dabei schon fünfmal Luft holen und wie ein Bauarbeiter rülpsen müssen. Nachdem Bella die Dose zerknüllt und in den Müll geworfen hat, wischt sie sich mit dem Handrücken über den Mund.
»Bells, du solltest mal im ersten Stock nachsehen!«, ruft ein Kerl in die Küche, der aussieht, als hätte er seinen Tag in einem Sarg verbracht.
»Ich unterhalte mich aber gerade mit meiner Freundin Barnaby!«
»Is’ ja echt cool, Bells, aber Lennox nimmt oben die Badezimmereinrichtung auseinander. Wollt’s nur gesagt haben. Nicht, dass du dich morgen zu Tode erschreckst oder so.«
»Mistkacke!«, flucht meine Freundin. »Kann ich dich kurz allein lassen?«
»Geh ruhig. Ich komme klar.«
»Sicher?« Bella sieht mich an wie einen Welpen, den sie gleich vorm Tierheim absetzen will.
»Na klar! Ich bin eine offene, selbstbewusste Hummel, die fliegen kann, obwohl es die Schwerkraft eigentlich nicht erlauben sollte. Also geh schon. Ich misch mich derweil ein wenig unter die Leute.« Schließlich bin ich nur aus diesem Grund ihrer Einladung gefolgt. Mir ist im Wohnheim die Decke auf den Kopf gefallen, und da gerade keine Prüfungen anstehen, wollte ich die freie Zeit nutzen. Stella und Austin sind nicht in der Stadt, und wie unternehmungslustig Isaiah ist, hat er mir heute Abend ja wieder bewiesen.
»Okay, gut. Ich bin sofort wieder bei dir!« Sie stapft aus der Küche, um das Bad vor dem Typen namens Lennox und seiner Zerstörungswut zu bewahren, und ich gehe ins Wohnzimmer. Ich frage mich wirklich, woher Bella so viele Leute in unserem Alter kennt, und wie viele von den Anwesenden wie wir an der UMaine studieren. Ein paar Gesichter kann ich sofort zuordnen, aber die meisten sind mir fremd. Und das in einem kleinen Ort wie Blossom Lake, in dem jeder jeden kennt.
Wie von Bells zu erwarten, dröhnt rotziger Punk-Rock aus den großen Boxen neben den Fenstern dieses mehr als schönen Einfamilienhauses. Ich streife durch die untere Etage, winke völlig fremden Menschen zu und nippe derweil an meiner Cola. Gerade als ich mir vornehme, mich einer der kleinen Grüppchen vorzustellen, höre ich plötzlich einen Namen, den ich schon ewig nicht mehr gehört habe. Fast zehn Jahre, um genau zu sein.
»Freya! Jetzt gib mir endlich den fucking Joint!«
Freya.
Früher hat mir dieser Name immer ein positives Gefühl vermittelt, genau wie seiner. Freya und Fynn waren zwei der schönsten Aneinanderreihungen von Buchstaben dieser Welt für mich, bis sie von einem Tag auf den anderen aus meinem Leben verschwunden sind und ich sie nur noch in meinen Erinnerungen hören konnte. Und auf den Umschlägen der Briefe lesen konnte, die jetzt in einer kleinen Box unter meinem Bett im Wohnheim einstauben.
Neugierig und gleichzeitig ängstlich drehe ich mich in die Richtung, aus der die Stimme kam, und entdecke eine Gruppe auf dem schicken Ledersofa hinter mir. Drei groß gewachsene Typen mit zerrissenen Jeans und irgendwelchen Bandshirts flankieren zwei blonde Mädchen, deren Gesichter ich dank des Weedqualms nicht sehen kann.
Geh einfach weiter, Gracie!
Freya ist ein ganz normaler Name, den es sicher Tausende Male in den USA gibt, und doch wachse ich am Boden fest, während ich darauf warte, dass dieses Mädchen zu einer Antwort ansetzt.
»Vergesst es, ihr gierigen Säcke. Ich habe für den Joint gezahlt, also besorgt euch gefälligst selbst Stoff!«
Als die Larssons aus Blossom Lake weggezogen sind, waren Fynn und Freya gerade erst dreizehn geworden, weshalb ich an ihrer Stimme nicht wirklich ausmachen kann, ob tatsächlich das Mädchen vor mir sitzt, das damals zwei Pferde stehlen und mit mir nach Mexiko reiten wollte. Lediglich mit ein paar Schokoriegeln und einem Sechserpack blauem Powerade bewaffnet.
»Hey, Rotschopf. Was glotzt du so?« Einer der Typen reißt mich aus meinen Gedanken, und damit ich mich nicht völlig zum Deppen mache, halte ich lediglich mein Glas in die Höhe und proste ihnen zu.
»Coole Party, oder?«
Jetzt ruhen alle Augenpaare auf mir, auch das des Mädchens mit dem Joint zwischen den Lippen. Der Rauch hat sich inzwischen verzogen, sodass ich ihr Gesicht sehen kann. Ein Gesicht, das mit ein wenig Fantasie wirklich meiner ehemals besten Freundin gehören könnte. Umgehend beginnt mein Herz zu rasen, und ich verspüre den dringenden Wunsch nach etwas Hochprozentigerem als einem Softdrink mit Zitrone.
Abschätzig wandert ihr Blick über mein Outfit, und als er an meiner knallgelben Strumpfhose hängen bleibt, verengt sie ihre Augen. Augen, die dieselbe silbergraue Färbung haben wie die der Larsson-Zwillinge.
Verdammt, ich muss es einfach wissen, und zwar jetzt sofort. Egal, für wie seltsam mich diese Leute auch halten. Auffallen ist mir schließlich noch nie sonderlich schwergefallen. Genauer gesagt, ist das meine Königsdisziplin. Olympia, ich komme!
»Die Frage ist jetzt vielleicht ein bisschen merkwürdig, aber bist du zufällig Freya Larsson?«, frage ich mit angehaltenem Atem, in der Hoffnung, dass sie einfach mit einem Nein antwortet und ich weitergehen kann.
Das Mädchen neben ihr stupst sie mit dem Ellbogen an. »Ja, sag mal, Sweetheart, bist du die einzig wahre Freya Larsson? Kann ich ein Autogramm auf meinen Titten haben?« Übertrieben klimpert sie mit ihren Fake-Lashes, die genauso bunt sind wie ihre Haarspitzen, und zieht den Kragen ihres Tops provokant mit dem Zeigefinger nach unten, bis ihr schwarzer BH hervorblitzt.
»Ach, halt die Klappe, Jewel.« Dann steht sie auf und ist im nächsten Moment so dicht vor mir, dass ich instinktiv zurückweichen will. Aber hinter mir befindet sich ein Couchtisch, und bei meinem Talent zerstöre ich noch vor versammelter Mannschaft mit meinem Hintern das Glas. Dann lande ich in der Notaufnahme und muss mir von einem zittrigen Assistenzarzt Splitter aus dem Hintern ziehen lassen – nein danke!
»Weiß nich. Kommt drauf an, wer das wissen will.« Sie legt den Kopf schief und betrachtet mich wie eine Obszönität. Ihre Wangen zaubern eine weiche Wölbung in ihr Gesicht, das sonst eher spitz nach unten zuläuft. Ihre blond-pinke Mähne trägt sie toupiert, wodurch sie aussieht wie Avril Lavigne auf dem Cover von »the best damn thing«.
Noch bevor sie mehr sagen kann, weiß ich bereits, dass es Freya ist. Meine Freya. Fynns Freya. Das Mädchen, das ich seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen und das ich trotzdem wie verrückt vermisst habe. Etwas, das ich ihr nie gesagt, nie geschrieben habe. Genauso wenig wie ihrem Bruder. Aber gefühlt, gefühlt habe ich die Sehnsucht jeden einzelnen Tag wie einen Schleier aus Bordeauxrot auf meiner hellen Haut.
»Hallo? Bist du noch da?« Sie schnippt vor meinem Gesicht mit den Fingern, wodurch mein Blick auf ihre schwarz lackierten Nägel fällt. Ich entkomme meiner Starre nur langsam.
»Sorry. Ich … ähm. Gracie?« Überrumpelt halte ich ihr meine Hand hin, in der Hoffnung, mich mit dieser Geste nicht völlig zu blamieren. Als Freya schließlich ein Licht aufgeht, klart ihre Miene für einen Moment auf, bevor sie sich am ganzen Körper verspannt.
»Scheiß die Wand an. Gracie Jones?« Sie spuckt meinen Namen aus wie damals die grünen Gummibärchen, die sie nie leiden konnte, und ich umklammere daraufhin mein Colaglas wie einen Rettungsring. »Hätte mir bei der hässlichen Strumpfhose gleich denken können, dass du es bist.«
»Autsch«, entflieht es mir.
Freya hatte schon immer ein loses Mundwerk, doch damals hat sie mich niemals beleidigt. Sie war ein nettes Mädchen gewesen, das mich genau wie ihr Bruder vor allen Gefahren dieser Welt beschützt hat.
»Was willst du hier?«
»Das Haus gehört meiner Freundin. Wie lange bist du schon zurück?« Seitdem die Zwillinge von einen Tag auf den anderen von ihrer Mutter nach Schweden mitgenommen wurden, habe ich versucht, die Erinnerungen an die beste Zeit meines Lebens zu verdrängen. Gemeinsam mit meinen Gefühlen, die jedes Mal an die Oberfläche brodeln, wenn ich an Fynn denke. Der Mensch, der mir die schönsten fünf Jahre meines Lebens geschenkt hat, steht gleichzeitig sinnbildlich für den schwärzesten Tag meines neunzehnjährigen Lebens.
»Wüsste nicht, was es dich angeht. Und komm ja nicht auf die dämliche Idee, mich nach ihm zu fragen, verstanden? Du hast meinem Bruder das verdammte Herz gebrochen! Allein dafür müsste ich dir eigentlich eine scheuern.«
»Hey, Freya. Sei mal nicht so eine Bitch.« Das Mädchen mit den Regenbogenspitzen steht jetzt neben ihr und zieht sie am Arm zurück.
Tränen treten mir in die Augen, und ich wünschte, mir würde ein guter Konter einfallen. Etwas, das ich sagen kann, um mich zu erklären. Mein Verhalten zu erklären. Aber der Kloß in meiner Kehle ist viel zu gigantisch, um ihn zu überwinden. Meine Entschuldigung bleibt irgendwo zwischen Herz und Zunge stecken, erschwert mir das Atmen ungemein.
»Verpiss dich einfach, okay?« Mit diesen Worten lässt sie sich wieder auf das Sofa zwischen ihre Freunde fallen und überkreuzt die Beine in der schwarzen Netzstrumpfhose.
»Jesus. Die Kleine fängt gleich an zu heulen! Musst du immer so unausstehlich zu jedem sein?«, fragt einer der Kerle.
Ich taumle zurück, falle beinahe wirklich über den Couchtisch und schaffe es nur mit Mühe und Not aus dem Zimmer. Im Hausflur stolpere ich Bells in die Arme.
»Hey, Barnaby. Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Was ist los?«
»N-Nichts.«
Vergeblich versuche ich mich an einem Lächeln. Weil ich Gracie Jones bin und die Sonne normalerweise aufgeht, wenn ich einen Raum betrete. Nur habe ich gerade das Gefühl, dass meine Sonne von einem schwarzen Loch verschluckt wurde. »Ich brauche doch etwas Stärkeres als Cola!«
Weil mich eine Frage nicht loslässt, seit ich ihren Namen gehört habe. Wenn sie zurück in Blossom Lake ist … ist Fynn es dann auch?
»Du kannst nicht einfach alles in Gelb malen, Gracie!« Wendy greift nach einem unbenutzten Stück blauer Kreide und hält es demonstrativ in die Höhe. »Siehst du? Das ist blaue Farbe und der Himmel ist nun mal blau. Also musst du ihn auch blau malen. Alles andere ist nicht richtig!« Das Mädchen mit den rabenschwarzen Zöpfen und dem gepunkteten Kleid wohnt im Haus nebenan und wir spielen oft zusammen, aber gerade wird mir klar, dass ich sie eigentlich gar nicht leiden kann. Sie geht mir mit ihren blöden Farbregeln ziemlich auf die Nerven!
»Du bist viel zu engstirnig, Wendy!«, antworte ich und zucke mit den Schultern. Dann male ich weiterhin mit gelber Kreide auf dem Asphalt vor unserem Haus, weil Gelb meine absolute Lieblingsfarbe für immer und ewig ist. Egal, was sie dazu sagt.
»Engstirnig?« Sie ballt die Hand zur Faust, und die blaue Kreide zerbröselt dabei zwischen ihren kleinen Fingern. Ein paar Krümel davon rieseln auf mein gigantisches Straßenkunstwerk. »Was bedeutet das denn?«
Wieder zucke ich mit den Schultern. Ich habe keine Ahnung, was dieses Wort bedeutet, aber Paps sagt es manchmal, wenn er mit anderen Erwachsenen spricht. Meist zieht er dabei seine Stirn kraus, bis diese witzigen Falten auf ihr entstehen. Dieselben Falten, die jetzt auch auf Wendys Stirn zu sehen sind.
»Weiß ich nicht, aber ich glaube, es ist wie für dich gemacht! Und ich will meinen Himmel nicht blau malen, nur weil du engstirnig bist!« Um es dieser Kuh so richtig zu zeigen, male ich den ganzen Himmel knallgelb aus und habe dabei den ultimativen Spaß meines Lebens. »Gelb ist viel schöner als Blau. Viel fröhlicher!«
»Du hast doch keine Ahnung!« Mit diesen Worten springt sie auf die pinken Sandalen und stemmt die Hände in die Hüfte. Ihr Kopf läuft rot an, weil sie so wütend auf mein gelbes Gemälde ist. Aber das ist mir egal. Dann soll sie doch woanders malen und meckern und motzen! Ich kann auch gut mit mir allein spielen.
»Weißt du, was meine Mommy immer über dich sagt, Gracie?« Sie verengt ihre Augen. Fehlt nur noch, dass Laserstrahlen aus ihnen rausschießen. »Dass du Chaos auf zwei Beinen bist! Und sie hat recht damit!« Sie stapft mit einem Fuß auf die Straße, dann dreht sie sich um und verschwindet weinend in Richtung ihres Vorgartens.
Vermutlich geht sie jetzt ihrer Mommy petzen, dass ich meinen Himmel anders male als er sein sollte. Chaos auf zwei Beinen. Das soll ich sein? Mein Blick huscht über das Bild, das ich gemalt habe. Gelbes Gras, gelbe Häuser, gelber Himmel. Ich liebe, liebe, liebe es! Das hier ist das schönste Bild, das ich je gemalt habe, und ich kann es kaum erwarten, es Paps zu zeigen, wenn es später fertig ist. Sicher wird er es genauso toll finden wie ich, denn Paps findet alles toll, was ich mache. Das ist ein Gesetz in unserem Haus, eines, das ich im Gegensatz zu Wendys Farbregeln mag.
»Also, wenn du mich fragst, ist dein Bild ziemlich cool.« Erschrocken drehe ich mich um. Das Erste, was ich sehe: ein knallgelbes Shirt mit einem süßen Pikachu auf der Brust. Dann wandert mein Blick höher, in das Gesicht eines Jungen, den ich hier in dieser Straße noch nie gesehen habe. Es gibt nur zehn Häuser in unserer Siedlung, und ich bin mir sicher, dass ich mich an sein Gesicht erinnern würde, wenn ich es schon einmal gesehen hätte.
»Findest du?« Meine Wangen fühlen sich auf einmal superheiß an. »Wendy sagt, mein Bild ist blöd, weil der Himmel blau sein muss.«
»Wendy klingt nach einer Langweilerin.« Der Junge legt sein schwarzes Fahrrad auf der Straße ab und setzt sich im Schneidersitz neben mich. Er ist größer als ich, aber das ist auch nicht schwer, weil ich echt klein bin. Er ist cool. Und wenn ein cooler Junge wie er sagt, dass mein Bild toll ist, dann glaube ich ihm! Ich strahle ihn an, er strahlt zurück. Dabei entstehen zwei kleine Grübchen in seinen Wangen, wie bei meinem großen Bruder Isaiah, wenn er lacht.
»Stimmt. Sie ist genauso langweilig wie das Buch über Mister Moppelmond!« Paps liest es mir seit Jahren immer wieder vor, und ich kann schon jedes Wort mitsprechen. Ich glaube, er liest es mir nur noch vor, weil er die Geschichte über den Mond, der zu viele Sterne verputzt hat, selbst liebt.
»Wie heißt du?«, frage ich den Jungen mit den Honighaaren und dem Pikachushirt. Ich muss Paps fragen, ob ich auch so eins haben kann.
»Mein Name ist Fynn Larsson. Und deiner?«
»Gracie«, sage ich und quieke dabei komisch. »Jones.« Was ist mit meiner Stimme los? Ich spreche gern mit anderen Kindern, vor allem wenn sie so cool wie Fynn Larsson sind.
»Wohnst du auch hier?« Ich umklammere die gelbe Kreide in meiner Hand, während ich gebannt auf seine Antwort warte.
»Ein paar Straßen weiter, mitten in einem Sonnenblumenfeld. Ist ziemlich toll da.«
»Du wohnst in einem Sonnenblumenfeld?« Jetzt kreische ich, setze mich auf meine Fersen und sehe Fynn mit großen Augen an. »Aber die Sonnenblumen blühen doch noch gar nicht! Ich weiß das, weil Sonnenblumen meine allerliebsten Blumen auf der ganzen Welt sind und ich alles über sie weiß!« Stolz recke ich mein Kinn.
Fynn hebt nur einen Mundwinkel, wodurch sein Lachen schief aussieht. Und witzig. Und so, so, so cool! Ich versuche auch so zu lachen, aber bei mir ziehen sich immer beide Mundwinkel hoch. »Es sind magische Sonnenblumen. Die kann man nur mit einer speziellen Brille sehen.«
»Oh. Wie schade.« Ich lasse enttäuscht die Schultern hängen und drehe die Kreide in meiner Hand. Meine Fingerspitzen sind inzwischen ganz gelb, und ich hoffe, dass ich mir meine Hände nicht waschen muss, wenn ich ins Haus gehe. Die Farbe soll so lange wie möglich auf meiner Haut haften bleiben. »Darf ich mir deine Brille mal ausleihen? Ich liebe Sonnenblumen wirklich sehr.«
»Klar, wenn deine Eltern es erlauben. Und wenn du mein Geheimnis für dich behalten kannst. Kannst du das, Gracie?«
»Na klar! Ich bin super darin. Einmal hat meine große Schwester Stella pinke Kaugummis aus Sams Supermarkt geklaut und ich habe es niemandem erzählt! Nicht einmal unserem Vater.«
»Jetzt hast du es mir erzählt. Oder?«
»Oh, Mist!« Ich schlage mir die Hand vor den Mund und sehe panisch zu unserem Haus hinüber. Die dunkelblaue Eingangstür ist geschlossen, die Fenster zur Küche auch. Paps kann das unmöglich gehört haben. Hoffe ich. »Du darfst es keinem verraten, Fynn! Hörst du? Sonst bringt meine Schwester mich um!«
»Und das wäre ja schade, jetzt, wo wir zwei Freunde sind.« Fynn stützt sich nach hinten auf die Handflächen und legt den Kopf schief. Blonde Strähnen fallen in seine Stirn. In seine sehr glatte Stirn, die ganz ohne Falten ist. Fynn Larsson ist absolut nicht engstirnig! Ich mag ihn sofort.
»Wir sind Freunde?«
»Also …« Er wirkt auf einmal verlegen. »Wir könnten Freunde sein, meine ich. Wir haben beide dieselbe Lieblingsfarbe.« Er zupft an seinem Shirt. »Und dieselbe Narbe auf der Hand. Siehst du?« Er hält mir seine rechte Hand unter die Nase, und tatsächlich: Über seinem kleinen Finger befindet sich eine weiße Linie, die meiner super ähnlichsieht. Nur, dass es bei mir die linke Hand ist.
»Woher hast du deine?« Ich will alles über diesen Jungen wissen! Das Bild und der Streit mit Wendy sind vergessen.
»Das ist auch ein Geheimnis, das du für dich behalten musst, okay?« Er beugt sich vor und legt seine Hand an mein Ohr, um mir dieses Geheimnis zuzuflüstern. »Ich war letzten Sommer auf einem Piratenschiff unterwegs.«
»Einem Piratenschiff?«
»Gracie, du sollst doch leise sein!« Er lacht. Er ist also nicht böse auf mich, weil ich meinen Mund nicht halten kann. Nicht wie Wendy, die blöde Ziege. Am liebsten würde ich Fynn zu Wendys Haus zerren, an ihrer Tür klingeln und ihr gemeinsam mit meinem neuen Freund den Stinkefinger zeigen!
»Tschuldigung. Aber das ist einfach soooo cool! Meine Geschichte ist nicht so toll wie deine. Sie ist lahm«, seufze ich und fahre mit dem Daumen über meine Narbe. Gelbe Kreide ziert jetzt meinen Handrücken. Sofort finde ich ihn hübscher. »Ich bin nur von der blöden Schaukel in unserem Garten gefallen.«
Fynn fischt sich ebenfalls ein Stück Kreide – natürlich gelbe – aus der Packung und beginnt mein Kunstwerk zu verschönern. Sein Knie in der blauen Jeans stößt gegen meins in der weißen Latzhose. »Bist du dir sicher? Vielleicht wurdest du auch von geheimnisvollen Feenwesen entführt und sie haben deine Erinnerungen mit einer Lüge überschrieben. Vielleicht bist du ja gar nicht von der Schaukel gefallen, sondern sie wollen dich nur in dem Glauben lassen. Weil keiner wissen darf, dass es sie gibt.«
»O Gott«, fiepse ich. »Meinst du wirklich?« Ich sehe meine Hand mit einem breiten Grinsen an. Die Vorstellung von Feenwesen mag ich! Viel lieber als diese langweilige Schaukel in unserem Garten, die bei jeder Bewegung quietscht und überall rostet.
»Klar. Deine Narbe ist viel zu aufregend für eine so langweilige Geschichte!«
»Bin ich dadurch auch eine Fee?«
»Möglich ist alles«, antwortet Fynn. »Aber das wissen nur sie.«
Lachend springe ich auf die Füße und hüpfe wie ein Flummi auf der Stelle. »Ich wurde von Feenwesen entführt! Von Feenwesen!« Auf einmal fängt es an, wie aus Eimern zu regnen. Dicke Tropfen verwischen mein Bild auf dem Asphalt, bis nur noch eine gelbe Pfütze zu sehen ist. Aber das stört mich nicht, weil ich gerade viel zu glücklich bin, um traurig zu sein. Fynn sitzt immer noch auf dem Boden, seine Haare sind im nassen Zustand viel dunkler und locken sich leicht an den Enden.
»Gracie!« Paps taucht an unserer Haustür auf und sieht besorgt in den dunklen Himmel. »Komm lieber rein, sonst wirst du wieder krank!«
»Aber ich bin jetzt eine Fee, Paps! Eine echte Fee! Die erkälten sich nicht!« Ich drehe mich im Kreis, höre Fynns Lachen und ziehe ihn ebenfalls auf die Füße. Dann umarme ich ihn, so fest ich kann. Fynn und ich, wir sind jetzt Freunde! Und ich kann es kaum erwarten, diese magischen Sonnenblumen zu sehen, von denen er mir erzählt hat.
»Paps, darf ich bald wieder mit Fynn spielen?«
Mein Vater tritt in den Vorgarten und sieht meinen neuen Kumpel mit einem Stirnrunzeln an. Engstirnige Stirn. Aber ich liebe Paps trotzdem. Nicht so wie Wendy, denn die mag ich seit heute noch viel weniger.
»Wer ist dieser Junge?« Paps klingt besorgt.
»Mein Name ist Fynn Larsson, Sir. Meiner Familie gehört das neu eröffnete Tierheim die Straße runter.«
»Euch gehört das Tierheim? Es wird ja immer besser!«, quieke ich. »Also, Paps? Darf ich mit Fynn befreundet sein? Biiiiitte!«
»Erst einmal würde ich gern Fynns Eltern kennenlernen, dann sehen wir weiter.«
»Meine Großmutter würde sich freuen«, sagt Fynn freundlich.
»Okay, aber jetzt komm erst mal rein, Gracie-Schatz. Da wollen ein paar Zitronenmuffins gebacken werden.« Paps winkt mich zu sich, und ich renne ihm entgegen, auch wenn ich am liebsten noch stundenlang mit Fynn über die Sonnenblumen und das mysteriöse Piratenschiff reden würde.
»Bis ganz bald, Fynn!«
»Bis ganz bald«, ruft er mir hinterher. »Und Gracie?«
Atemlos drehe ich mich zu diesem abenteuerlustigen Jungen mit dem honigblonden Haar und dem gelben Shirt, das jetzt vom Regen nass an seiner Haut klebt, um.
»Ja?«
»Ich mag dein Chaos.«
Mein Herz macht einen gigantischen Hüpfer. Denn wenn Fynn Larsson mein Chaos mag, dann mag ich es auch.
Alkohol ist keine Problemlösungsmaschine, kein Allheilmittel für Sorgen. Das weiß ich. Zumindest wusste ich es bis zu dem unschönen Zusammentreffen mit meiner Vergangenheit in Form von Freya Larsson und ihrer scharfen Zunge. Bella hat mich Gott sei Dank nicht über meinen plötzlichen Meinungswechsel ausgefragt, stattdessen hat sie mir eine Piña Colada gemixt, die es gewaltig in sich hatte. Ich würde nicht sagen, dass ich betrunken bin, aber die Welt fühlt sich wie ein in Kokosnuss getränkter Wattebausch an. Wolke sieben in der Partyvariante, sozusagen.
Der Großteil der Gäste hat sich inzwischen nach oben ins erste Stockwerk und somit ins Spielzimmer der Wilson-Villa verzogen. Es haben sich mehrere Zweiergrüppchen am Kickertisch gebildet, und der Rest wechselt fröhlich zwischen Billard und Dart hin und her.
Nur ich bin irgendwie nicht in Spiellaune, schlürfe stattdessen an meiner zweiten Piña Colada und feuere meine Freundin von Weitem beim Kicker-Turnier an. Sie und Mr. Corpse sind in einem Team, und vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber die beiden berühren sich etwas zu häufig an Stellen, die etwas zu intim für eine Freundschaft ohne ein Plus dahinter sind.
Sobald wir wieder an der Uni sind, muss ich sie dringend zu diesem Typen und ein paar schmutzigen Details befragen. Ich gönne meiner Mitbewohnerin diese kleine Romanze von ganzem Herzen, schließlich vergräbt sie ihre Nase meistens in ihrem Computer, während sie League of Legends zockt und sich als Master Yi kopfüber in den Jungle stürzt. Ein wenig Real-Life-Romantik kann niemandem schaden – mir übrigens auch nicht. Aber gerade habe ich den Kopf nicht für irgendwelche Typen frei, mein Kontingent an Gedanken ist bis aufs Letzte ausgeschöpft.
Als ich den Boden meines Cocktailglases schon wieder viel zu früh erreiche und nur noch Kokosschaum inhaliere, wird mir plötzlich heiß. Immer mehr Leute strömen ins Zimmer, und ich werde von mehr als einem Gast unsanft zur Seite gedrängelt. Bis einer direkt vor mir stehen bleibt und mich mit einem schelmischen Blick von oben bis unten mustert.
»Oh, wen haben wir denn da?« Ich erkenne die Stimme des Typen sofort wieder. Er war es, der Freya vorhin so liebevoll eine Bitch genannt hat. Während er immer näher kommt und ich mich mit dem Rücken gegen die Wand lehne, bete ich dafür, dass Freya nicht ebenfalls hier auftaucht. Was sie Sekunden später natürlich tut. Danke für nichts, Schicksal!
»Nimm es Freya nicht übel. Sie ist der Teufel höchstpersönlich.«
»Josh, beweg deinen Arsch hier rüber, und lass den Freak allein!«
Freak, wow. Scheinbar haben wir die unterste Schublade längst erreicht. Unsere Blicke treffen sich über die Distanz, und während ich meiner ehemals besten Freundin ins zerknirschte Gesicht sehe, füllen sich meine Augen erneut mit Tränen. Weil ich trotz der knappen zehn Jahre, die vergangen sind, noch immer den Drang verspüre, mich in ihre Arme zu werfen. An ihrer Schulter um all das zu weinen, was ich verloren habe. Sie eingeschlossen. Im Grunde habe ich damals nicht nur meine beiden besten Freunde verloren, sondern mit ihnen auch einen Teil meiner zweiten Familie. Die Larssons waren Heimat in Menschengestalt für mich. Sie waren der Inbegriff von Kindheit.
»Sorry, der Boss ruft. Lass dich nicht von Freya herumschubsen, okay? Sie kommt gerade einfach nicht mit ihrem Leben klar.« Josh schenkt mir ein entschuldigendes Lächeln, das irgendwie echt aussieht, bevor er zu Freya schlendert. Und ich? Ich brauche dringend frische Luft! Da Bella ohnehin in ihr Kicker-Spiel vertieft ist, wird sie mich wohl kaum vermissen. Ohne ein Wort an sie verschwinde ich aus dem Raum in den Flur.
Im Obergeschoss gibt es einen Balkon, auf dem zu meinem Glück niemand zu sehen ist. Ich mag Stille nicht sonderlich, aber gerade steigt mir die Lautstärke hier drin, gepaart mit dem Rum, etwas zu Kopf. Eilig schiebe ich die Glastür auf und husche in die kühle Abendluft hinaus.
Sofort entspannen sich meine Schultern, genau wie meine Ohren, die endlich nicht mehr unter Dauerfeuer stehen. Aber mein Herz, es schmerzt noch immer, als hätte Freya mit ihrer kohlrabenschwarzen Wut auf meine Brust eingedroschen.
Eine einsame Träne kullert über meine Wange. Langsam gehe ich auf das Geländer zu, nehme einen tiefen Atemzug und sitze urplötzlich wieder als kleiner Knirps mit Paps im Bett, während ich ihm von meinen größten Ängsten erzähle. Von meinen Albträumen, die mich jahrelang nachts geplagt haben und mich auch heute noch heimsuchen. Die mich sogar jetzt, in hellwachem Zustand, nicht in Frieden lassen wollen.