Noch ein Wunder bitte - Stephanie Glass - E-Book

Noch ein Wunder bitte E-Book

Stephanie Glass

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Beschreibung

Die fünfzehnjährige Jule ist mit ihrem Leben überfordert. Seitdem ihre drei Jahre jüngere Schwester Anni durch einen Autounfall gelähmt ist, muss Jule von heute auf morgen ihr Leben nahezu alleine meistern. Schuldgefühle, für den Autounfall verantwortlich zu sein, ihr Perfektionismus als Nachwuchspianistin, Einsamkeit und Liebeskummer lassen sie immer tiefer in die Bulimie rutschen. Jule verstrickt sich zusehends in ein verzweifeltes Netz aus Lügen, um ihre Essstörung zu verheimlichen. Kann sie ihren großen Traum, den anstehenden Klavierwettbewerb zu gewinnen, dennoch verwirklichen? Und gibt es Hoffnung auf ein Leben frei von der Bulimie, nachdem sich Jule so sehr sehnt?

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Über die Autorin

Stephanie Glass lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in Stuttgart. Die gelernte Industriekauffrau investiert ihre Zeit aktuell in ihre Familie, widmet sich leidenschaftlich dem Schreiben und engagiert sich als Lobpreisleiterin in ihrer Gemeinde. Stephanie litt selbst jahrelang unter Bulimie. Heute brennt ihr Herz dafür, Mädchen und jungen Frauen Hoffnung zu machen auf ein Leben frei von Essstörungen. Einblicke in ihren Alltag gibt sie auf ihrem Instagram-Kanal @fuerzeitenwiediese. Noch ein Wunder bitte ist ihr Debütroman.

Impressum

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung ­sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Fotografie, Mikrofilm oder an ein anderes bildgebendes Ver­fahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter ­Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Für die Bibelzitate wurde, wenn nicht anders vermerkt, die Hoffnung für alle®, ­Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica Inc.TM, verwendet.

© 2022 für Zeiten wie diese, Stuttgart

Stephanie Glass, Käthe-Kollwitz-Weg 5d, 70569 Stuttgart

1. Auflage 2022

ISBN 978-3-9824783-0-2

Umschlaggestaltung und Satz: Sina-Maria Pöck, SaM – Sascha Müller-Harmsen, www.samkomm.de

Umschlagmotiv: ingimage

Produktion und Lektorat: SaM – Sascha Müller-Harmsen, www.samkomm.de

Druck und Verarbeitung: ColorDruck Solutions, Leimen, www.colordruck.com

Printed in Germany

für Zeiten wie diese

(Onlinehandel für Buch und Kosmetik)

Inhaberin: Stephanie Glass

https://stephanieglass.de

Für alle Gesehenen und nicht Gesehenen.

Gott sieht dich!

In seinen Augen bist du kostbar, wertvoll und geliebt.

Vorwort

Liebe Leserin!

In diesem Roman wird Bulimie deutlich thematisiert. Bitte sei achtsam, wenn dich das Thema betrifft. Dies ist keine Anleitung und vor allem keine Einladung zum Nachmachen! Stattdessen möchte ich dir durch Jules Geschichte aufzeigen, welche Hoffnung es inmitten der Bulimie gibt, und wie du den Weg der Heilung einschlagen kannst.

Herzlichst,

deine Stephanie

1

Das unbarmherzige Piepen des Weckers reißt mich unsanft aus dem Schlaf. Stöhnend taste ich nach der Stopptaste, mache den Wecker aus und ziehe mir die Decke über den Kopf.

Nur noch ein paar Minuten dösen, denke ich noch, bevor ich erneut im Schlaf versinke.

„Jule, bist du wach? Der Schulbus fährt in 30 Minuten.“

Mama steht in der Tür. In letzter Zeit bin ich mehrere Male nach dem Alarm wieder eingeschlafen. Dadurch habe ich den Schulbus verpasst und Mama musste mich fahren. Nun kontrolliert sie immer, ob ich aufgestanden bin.

„Ja“, sage ich genervt, stoße die Decke mit den Füßen von mir und stehe mit einem lauten Gähnen auf. Müde greife ich im Kleiderschrank nach einem Shirt und der erstbesten Jeans, die ich finden kann, und verschwinde im Bad.

Als ich kurze Zeit später in der Küche erscheine, ist Papa schon fort. Er arbeitet als Ingenieur in einer größeren Automobilfirma und verlässt sehr früh am Morgen das Haus. Dafür hat er am Abend Zeit für uns, meint Papa. Aber so ganz stimmt das auch nicht. Papa ist oft geschäftlich für mehrere Tage unterwegs. Und wenn er dann mal daheim ist, ist er entweder müde, oder er muss Mama wegen Anni unterstützen.

„Setz dich und iss dein Müsli. Ich muss mich jetzt um Anni kümmern.“

Mama eilt aus der Küche und lässt mich allein zurück. Typisch. Ein Gefühl des Alleinseins kriecht in mir hoch und verschlägt mir den Appetit. Nach drei Löffeln Müsli schiebe ich die Schüssel von mir und stehe auf. Ich laufe die Treppe hoch und gehe ins Bad.

Als ich in den Spiegel schaue, blicken mich zwei ernste Augen an. Das Lächeln ist mir schon seit einiger Zeit vergangen. Ich fühle mich so … ach, für Gefühlsduselei ist jetzt keine Zeit. Rasch beginne ich, meine Zähne zu putzen, streiche anschließend meine widerspenstigen Locken hinter die Ohren und verlasse das Bad. In meinem Zimmer greife ich nach meinem Schulrucksack und laufe die Treppe wieder nach unten.

„Ciao!“, rufe ich.

Keiner reagiert. Hat Mama mich überhaupt gehört? Ich ziehe die Haustür hinter mir zu und laufe zur Bushaltestelle.

Die Busfahrt zur Schule dauert 20 Minuten. Genug Zeit, um die Englischvokabeln für den Vokabeltest zu pauken. Gestern hatte ich dazu keine Lust mehr. Ich hole mein Englischheft aus meinem Rucksack und fange an, die Vokabeln runterzurasseln. Das Lernen fällt mir zum Glück leicht und nach wenigen Minuten verstaue ich das Heft wieder.

Als der Schulbus das Gymnasium erreicht, wartet Emma schon auf mich. Emma und ich gehen seit der Grundschule in eine Klasse. Sie ist meine allerbeste Freundin, obwohl wir ziemlich unterschiedlich sind.

Emma ist eher klein und hat lange blonde glatte Haare. Ich bin eher großgewachsen und habe braune lockige Haare. Emma ist immer gut gelaunt und quasselt ununterbrochen, während ich eher der ruhigere Typ bin. Emma tut sich im Lernen etwas schwerer, während ich eigentlich immer gute Noten mit nach Hause bringe.

„Ich kann mir die Englischvokabeln einfach nicht merken!“, jammert Emma drauflos, als wir uns beieinander einhaken und in Richtung unseres Klassenraums laufen.

„Du kannst bei mir abschreiben“, biete ich ihr an. „Aber pass bloß auf, dass Frau Sanders dich nicht erwischt, sonst bin ich womöglich auch dran.“

„Alles klar. Danke Jule. Du bist die Beste! Was würde ich nur ohne dich tun?“

Sie gibt mir einen Knutscher auf die Wange. Ach, Emma ist immer nett zu mir. Im Gegensatz zu Mama. Seit Annis Unfall ist Mama nur noch gereizt und schimpft ständig mit mir. Ich kann ihr gar nichts mehr recht machen. Und Papa? Der ist andauernd unterwegs in seinem Ach-so-wichtigen-Job.

Mein Gedankenkarussell dreht sich immer weiter, als Frau Sanders das Klassenzimmer betritt. „Stopp jetzt!“, befehle ich mir.

Ich muss mich auf den Test konzentrieren. Vielleicht freut sich Mama ja mal wieder über mich, wenn ich eine Eins nach Hause bringe. Ich versuche meine Gedanken auf Frau Sanders Anweisungen zu lenken und reiße ein leeres Blatt Papier vom Block ab.

Sieben Schulstunden später laufe ich mit Emma zu ihr nach Hause. Emma hat es gut. Sie muss nie mit dem Schulbus fahren, denn sie wohnt nur fünf Minuten zu Fuß von der Schule entfernt und kann morgens viel länger schlafen als ich. Sofort unterdrücke ich ein aufkommendes Gähnen.

Bis vor einem halben Jahr haben Mama, Papa, Anni und ich auch in der Nähe der Schule gewohnt. Wir wohnten nur eine Querstraße von Emma entfernt, deshalb konnten wir uns jeden Nachmittag treffen. Das war echt nice.

Aber seit Annis Unfall ist alles anders. Papa hat für uns nach einem neuen Haus gesucht und schlussendlich auch eins gekauft, in dem Anni besser mit ihrem Rollstuhl zurechtkommt. Nun wohnen wir in einem anderen Ort. Sozusagen am Arsch der Welt und total auf dem Land. Gravenstedt nennt sich dieses Kaff. Andere Mädchen in meinem Alter sind dort Fehlanzeige.

Seufzend schlucke ich den Kloß in meinem Hals hinunter.

„Alles okay, Jule? Du siehst aus, als seist du mit deinen Gedanken meilenweit entfernt.“ Emma schaut mich kritisch von der Seite an.

„Ja, alles bestens.“ Mehr sage ich nicht.

Zum Glück stehen wir bereits vor der Haustür von Familie Holzenburg. Jeden Mittwoch kann ich mit Emma nach Hause gehen. Ich darf dann dort zu Mittag essen und wir machen zusammen Hausaufgaben. Anschließend gehen wir zu Alive & Free, unserem Jugendkreis.

Das ist praktisch, denn unsere Gemeinde ist auch nur wenige Gehminuten von Emmas Zuhause entfernt. Wenn ich Glück habe, holt Papa mich heute von dort ab.

„Hey, ihr beiden, kommt rein. Das Essen steht schon auf dem Tisch.“ Sabine, Emmas Mama, begrüßt uns freundlich und lässt uns durch die geöffnete Haustür eintreten.

„Hallo Mama! Hallo Sabine!“, antworten Emma und ich gleichzeitig.

Schnell waschen wir unsere Hände und setzen uns anschließend in der Küche an den gedeckten Tisch. Oh, wie das duftet. Sabine hat Spaghetti Bolognese gekocht. Mir läuft das Wasser im Munde zusammen. Seit den drei Löffeln Müsli am Morgen habe ich nichts mehr gegessen und mein Magen knurrt.

„Ich bete noch, und dann können wir starten!“, sagt Sabine. „Lieber Vater im Himmel, danke, dass du bei Emma und Jule in der Schule warst. Danke für das gute Essen und dass du uns mit allem versorgst, was wir brauchen. Danke, dass du uns liebhast und wir dir nicht egal sind. Amen.“

Wir befüllen nacheinander unsere Teller und beginnen zu essen. Währenddessen unterhalten wir uns. Ich merke, wie ich mich entspanne und das Essen genießen kann. Hier ist die Stimmung total relaxt. Während sich daheim alles nur um Anni dreht, interessiert sich Sabine sogar für mich.

„Wie lief denn der Vokabeltest bei euch beiden?“, fragt sie, nachdem wir unsere Teller leergegessen haben.

„Ach, die Vokabeln waren easy, ich habe sicher alles richtig“, antworte ich.

Emma schaut konzentriert auf ihren Teller, als würde dort die Antwort auf die Frage stehen.

„Und bei dir, Emma?“ Sabine zieht vorsichtig die Augenbrauen hoch, als sie ihre Tochter mustert.

„Ach, geht so. Englisch ist einfach nicht mein Fach.“ Emma kaut auf ihrer Unterlippe. Dann beichtet sie: „Ich… ich… also ich hab ein paar Vokabeln bei Jule abgeschrieben. Sonst hätte ich garantiert ‘nen Fünfer kassiert.“

Emma starrt weiterhin auf ihren leeren Teller. Ihre Mundwinkel zucken verräterisch.

Bitte nicht schimpfen, Sabine, denke ich und mustere verstohlen Emmas Mutter von der Seite. Streit kann ich jetzt nicht auch noch vertragen. Auf einmal merke ich, wie ich innerlich ganz gestresst bin.

Aber Sabine antwortet ganz ruhig: „Emma, ich bin froh, dass du mir erzählt hast, dass du bei Jule abgeschrieben hast. Dass das nicht okay ist, das weißt du selbst. Deshalb muss ich dazu auch nichts mehr sagen. Wie wäre es, wenn ihr mittwochs die Zeiten vor Alive & Free nutzt und gemeinsam lernt?“

„Mmh, weiß nicht“, beginnt Emma, „eigentlich chillen wir da, damit Jule auch mal auf andere Gedanken kommt.“

„Ach, kein Problem!“, widerspreche ich. „Ich lerne gern mit dir, Emma. Komm los, lass uns gleich anfangen, dann haben wir nachher vor Alive & Free noch Zeit, um zu chillen.“

Dankbar schaut Sabine mich an. „Toll, Jule! Das freut mich! Dann dürft ihr gern aufstehen und loslegen. Ich kümmere mich um die Küche.“

Es ist 19 Uhr, als Alive & Free zu Ende ist. Papa steht tatsächlich mit dem Auto vor der Gemeinde, als ich rauskomme. Schnell laufe ich auf ihn zu.

„Hey Papa! Cool, dass du mich abholst!“

„Hallo meine Große!“

Papa lächelt mich an. Ich lasse mich auf den Beifahrersitz plumpsen und schnalle mich an.

„Wie war dein Tag?“, fragt Papa.

„Nice. Der Vokabeltest war echt easy. Ich hab bestimmt ‘ne Eins.“

„Wow, das ist ja toll, Jule!“ Er streicht mit seiner rechten Hand über meine Wange. „Und wie war’s bei Alive & Free?“

„Auch gut“, erwidere ich.

Die Autofahrt vergeht wie im Flug. Nach 20 Minuten parkt Papa das Auto in der Garage.

„Bitte sei leise, wenn du ins Haus gehst. Anni schläft schon, hat mir Mama vorhin geschrieben. Sie ist nach der Therapie ganz fertig.“

Toll. Schlagartig sinkt meine Stimmung auf den Nullpunkt. Schon wieder muss ich Rücksicht auf meine Schwester nehmen. Dabei wollte ich mich noch ein paar Minuten ans Klavier setzen und eine neue Melodie ausprobieren, die mir heute durch den Kopf gegangen ist. Seelenmusik sozusagen. Aber daraus wird nun nichts.

Alles dreht sich nur um Anni. Blöde Anni. Blöder Unfall. Blödes Haus. Auf einmal ist alles blöd. Ich lasse meinen Schulrucksack im Vorflur fallen, schmeiße meine Schuhe in die Ecke und beginne, die Treppe zu meinem Zimmer hochzulaufen.

„Hallo Jule!“, ruft Mama leise hinter mir her. „Willst du denn nichts zu Abend essen?“

„Hab keinen Hunger mehr, es gab vorhin Hotdogs!“ Ich drehe mich nicht um, während ich die gelogenen Worte durch meine Zähne hindurchquetsche.

Ich mache hinter mir die Tür zu und lasse mich auf mein Bett fallen. Warum fühle ich mich auf einmal wieder so allein? Mein Magen knurrt vor Hunger. Aber runtergehen will ich nicht, sonst würde ja meine Lüge auffliegen. Außerdem habe ich keinen Bock mehr, mit Mama zu reden. Mama interessiert sich ja eh nicht für mich. Für sie gibt es nur noch Anni. Anni hier und Anni da.

Trotzig setze ich mir meine Kopfhörer auf und mache mir mein Lieblingslied „Trost“ von O’Bros an.1

Nun kann ich einige erstickte Schluchzer nicht länger zurückhalten. Ich starre an die Decke und lasse die Tränen ungehindert an meinen Wangen hinablaufen, während ich mich auf einmal völlig verloren fühle in meiner Welt. Trost kann ich irgendwie keinen in mir spüren.

Zwei Stunden später knurrt mein Magen noch lauter vor Hunger. Ich stehe von meinem Bett auf und schleiche mich leise die Treppe runter in die Küche.

Mama hat vor einer halben Stunde an meine Tür geklopft und in mein Zimmer geschaut. Sie wollte mir gute Nacht sagen, doch ich habe mich schlafend gestellt, denn ich hatte einfach keine Lust mehr, mit ihr zu reden. Seitdem ist alles still im Haus. In der Küche angekommen mache ich den Kühlschrank auf, und ich sehe, dass noch Schokopudding übrig ist. Lecker.

Ich nehme die Schüssel aus dem Kühlschrank, hole einen Löffel aus der Schublade und esse im Stehen die Schüssel leer. Schon besser. Aber ich habe immer noch Hunger. Also hole ich mir einen Joghurt aus dem Kühlschrank und verschlinge ihn. Und anschließend noch einen.

Dann finde ich noch eine Packung Schokokekse. Oh, sind die lecker. Einen nach den anderen verdrücke ich und kann einfach nicht aufhören. Bald ist die halbe Packung leer. Und mein Bauch ist voll. Sehr voll.

Als ich schließlich die Treppe zurück in den oberen Stock hochlaufe, merke ich, wie ich mich immer elender fühle.

Vollgestopft. Dick. Eklig.

Wie gerne würde ich das ganze Zeugs in mir wieder loswerden. Ein Gedanke blitzt in mir auf. Ich könnte doch … oh nein, das geht nicht … oder doch? Wenn ich jetzt zur Toilette gehen würde, würde ich mich gleich wieder besser fühlen … und leichter …

Meine Beine machen sich selbstständig und ich finde mich im Badezimmer wieder. Ich schließe die Tür und knie mich vor die Toilette und öffne den Deckel.

Das geht bestimmt ganz einfach, denke ich mir und versuche zu würgen. Aber dann bleibt mir die Angst im Hals stecken.

Das darfst du nicht!, flüstert eine Stimme in mir drin.

Schnell mache ich den Klodeckel wieder zu und stehe auf. Mein Blick bleibt im Spiegel hängen. Müde und frustrierte Augen schauen mir entgegen und meine Locken fallen mir widerspenstig ins Gesicht. Schnell streiche ich sie mir hinter die Ohren zurück. Dann putze ich mir die Zähne und widerstehe dem Drang loszuheulen.

Ich fühle mich elend. Nachdem ich die Zahnbürste wieder zurück in den Becher gestellt habe, wasche ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser und trockne es anschließend ab. Dann stelle ich mich seitlich zum Spiegel hin und hebe mein Shirt etwas hoch. Bäh, habe ich einen dicken Bauch. Kein Wunder nach dem Schokopudding, den Joghurts und den vielen Keksen.

Eigentlich steht mir das Essen bis zum Hals. Wie schön wäre es, all das wieder loszuwerden und mich wieder leicht zu fühlen. Soll ich noch einen Versuch wagen? Unschlüssig stehe ich vor dem Klo. Aber dann traue ich mich doch nicht.

Schnell verlasse ich das Badezimmer, bevor ich es mir doch noch anders überlege. In meinem Zimmer angekommen, verkrieche ich mich unter meiner Bettdecke und starre an die Decke. Ich fühle mich schlimmer als vorher. Mit den Gedanken an meinen vollen Magen versinke ich viel zu spät am Abend in einen unruhigen Schlaf.

2

Völlig gerädert wache ich am nächsten Morgen vom Alarm des Weckers auf. Dieses Mal stehe ich sofort auf. Als ich in der Küche erscheine, sitzt auch Anni in ihrem Rollstuhl bereits am Küchentisch.

„Guten Morgen!“, sage ich leise.

„Guten Morgen, mein Schatz!“, sagt Mama und gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Ich wollte gestern Abend noch mit dir reden, aber du hast schon geschlafen.“

„Ich war müde“, murmle ich vor mich hin und schaue konzentriert auf meinen Kakao. Mit langsamen Schlucken trinke ich ihn, während ich mich von Anni beobachtet fühle.

„Ist was?“ Ich schaue sie gereizt an.

„Mmh, schon irgendwie“, antwortet Anni. „Ich habe mich gefragt, warum du kaum noch mit mir chillst. Gestern haben wir uns, glaube ich, gar nicht gesehen.“

„Na und?“, pampe ich gereizt zurück. „Hier dreht sich doch eh alles nur um dich.“

Wütend stehe ich auf. Dabei fällt mein Stuhl mit einem Krachen rücklings zu Boden. So schnell ich kann, verlasse ich die Küche.

„Jetzt warte doch mal!“, ruft Mama. Sie nimmt meine Brotdose und eilt mir hinterher. „Anni hat es doch nur nett gemeint. Sie vermisst ihre Schwester!“

„Und ich vermisse mein altes Leben!“, schreie ich meine Mutter an.

In Windeseile schnappe ich mir meinen Rucksack, schmeiße die Brotdose hinein, schlüpfe in meine Sneaker und renne aus dem Haus. Mama steht wie angewurzelt an der Tür und schaut mir nach.

In der Schule kann ich mich nur schlecht konzentrieren. Mein schlechtes Gewissen nagt an mir. Ich habe Mama angeschrien und Anni angegriffen. Dabei kann sie wirklich nichts dafür, dass sie nun im Rollstuhl sitzt. Mama hat recht.

Stattdessen ist es genaugenommen meine Schuld, dass Anni nicht mehr laufen kann und auf ewig an diesen Rollstuhl gefesselt ist. Schnell versuche ich, die Gedanken von mir zu drängen. Aber schon bekomme ich einen Knoten in meinem Bauch.

Das passiert immer, wenn ich an den Autounfall denke. Der Knoten in mir wird immer größer und tut weh. Und so quäle ich mich durch den Vormittag. Obwohl wir heute zwei Stunden Musik haben, kann ich mich auf mein Lieblingsfach gar nicht richtig einlassen. Ich bin mit meinen Gedanken ganz weit weg.

„Jule, beantwortest du bitte meine Frage?“ Herr Baumann schaut mich irritiert an. Die anderen in der Klasse fangen an zu kichern.

„Na, Jule, als Klassikfreak solltest du das doch wissen!“, spottet Tom, und einige aus der Klasse fallen in sein Gelächter mit ein.

Ich spüre, wie ich im Gesicht rot anlaufe. Mist. Was hat Herr Baumann gefragt? Ich kann mich an seine Frage nicht erinnern.

„Entschuldigung. Könnten Sie die Frage bitte wiederholen?“ Noch mehr Gelächter.

„Jule, die Streberin, hat nicht aufgepasst“, posaunt Lukas von der Sitzreihe hinter mir. Das Gelächter wird immer lauter.

Ich glaube, nun bin ich endgültig rot wie eine Tomate. Und mein Knoten im Bauch ist mindestens auf die Größe einer Wassermelone angewachsen. Verschämt schaue ich auf meinen Füller und beiße mir auf die Unterlippe.

„Ich habe dich gefragt, in welcher Epoche der Musikgeschichte die Komponisten Chopin und Schumann einzuordnen sind“, wiederholt Herr Baumann seine Frage.

„In die Romantik“, antworte ich schnell.

„Sehr gut, Jule.“

Puh. Den Rest der Stunde lässt Herr Baumann mich zum Glück in Ruhe und meine Klassenkameraden machen sich über andere Mitschüler lustig. Nur Emma schaut hin und wieder zu mir rüber. Sie ist bestimmt irritiert über mein Schweigen und meinen starren Blick.

In der Pause zieht sie mich von den anderen ein Stück weg und fragt: „Jetzt sag mal, was geht denn heute bei dir? Du bist so still und siehst ganz blass aus.“

„Nichts. Alles easy!“, antworte ich und schaue zu Boden.

„Echt jetzt, das kannst du mir nicht erzählen. Irgendwas stimmt doch nicht. Komm schon, ich bin deine Freundin. Erzähl mir, was los ist.“

„Jetzt chill mal Emma, es ist alles bestens. Ich bin nur müde.“

Das stimmt sogar. In der letzten Stunde musste ich gefühlt ununterbrochen gähnen. Aber über meinen Stress mit Mama und Anni will ich einfach nicht reden und über das Thema im Badezimmer gestern Abend erst recht nicht.

„Komm, lass uns wieder zu Maja und Emily gehen.“ Zielstrebig steuere ich auf die zwei Mädchen aus unserer Klasse zu.

Den restlichen Vormittag überstehe ich ohne weitere Zwischenfälle. Die Lehrer lassen mich in Ruhe und Emma hat es auch aufgegeben, noch mal nachzuhaken.

Auf der Rückfahrt im Schulbus überlege ich, wie ich mich bei Mama und Anni entschuldigen kann. Anni heißt eigentlich Ann-Katrin, aber alle nennen sie nur Anni. In zwei Wochen wird sie 12 Jahre alt. Dann feiert sie ihren ersten Geburtstag im Rollstuhl.

Schon bei dem Gedanken tut mein Bauch wieder weh. Der Autounfall, in den Mama, Anni und ich verwickelt waren, ist nun neun Monate und 16 Tage her. Jeden Tag kommt ein Tag dazu, an dem ich mich verantwortlich fühle für das, was passiert ist.

Die Ärzte sagen, dass Anni richtig Glück gehabt hat. Sie hätte tot sein können oder vom Hals an gelähmt. Aber tatsächlich kann Anni nur ihre Beine nicht mehr bewegen und ist von der Hüfte an gelähmt.

Mama und Papa und die Leute aus unserer Gemeinde sagen, dass das ein Wunder ist. Aber wenn es ein Wunder ist, warum hat Gott Anni dann nicht total bewahrt? Mama und ich haben doch auch nur ein paar Kratzer abbekommen…

Ich verstehe Gott einfach nicht. Warum hat er zugelassen, dass Anni nie wieder laufen kann? Bei dem Gedanken kann ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Verstohlen wische ich mir mit meiner Hand übers Gesicht. Hoffentlich schaut mich jetzt keiner an. Sonst werde ich nach Klassikfreak von heute morgen auch noch als Heulsuse abgestempelt. Das hat mir gerade noch gefehlt.

Ich schaue konzentriert zum Fenster raus. Oben am Himmel stapeln sich graue Wolken übereinander. Die passen perfekt zu meiner Stimmung – und zu Annis Leben. Oder eher zu meinem?

Eigentlich ist Anni die Fröhlichste bei uns daheim. Das ist auch etwas, das ich nicht verstehen kann. Dabei hat Anni doch so viel verloren.

Sie hat vor ihrem Unfall geturnt und war sogar im Leistungskader. Bei den Landesmeisterschaften hat sie den zweiten Platz in ihrer Altersgruppe belegt und sich damit für die norddeutschen Meisterschaften qualifiziert. Alle waren so stolz auf sie. Ihr Trainer sagte, Anni sei ein Naturtalent und sie könnte es weit bringen.

Tja, daraus wird nun nix. Zwei Wochen vor den norddeutschen Meisterschaften geschah der Unfall, und jetzt wird Anni nie wieder turnen. Nie wieder! Aber klagen tut sie deswegen nicht. Das versteh ich nicht.

Wenn ich das aufgeben müsste, was mir am meisten Spaß macht, würde ich schreien, schimpfen und bestimmt nie wieder glücklich werden. Aber Anni ist die meiste Zeit fröhlich. Okay, ein paar Mal hab ich sie schon dabei erwischt, dass sie geweint hat. Aber das war nur ganz zu Anfang im Krankenhaus. Und danach hat Anni eher Mama getröstet. Obwohl doch eigentlich Mama diejenige sein müsste, die Anni tröstet. Das soll einer verstehen.

Ich habe mich bei den Krankenhausbesuchen immer schnell verzogen, denn ich konnte es kaum ertragen, Anni so bewegungslos in ihrem Bett liegen zu sehen. Oft bin ich dann in die Cafeteria runtergegangen und hab dort gelesen. Bei Annis Anblick tat mir einfach ständig der Bauch weh und ich hatte das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können.

Mama meinte abends dann immer, dass ich doch wenigstens etwas mehr Zeit bei Anni am Krankenbett verbringen könnte, und dass sie nicht verstehen konnte, dass ich mich jedes Mal verdrückt habe. Mama hatte gut reden, denn ihr konnte man ja auch keine Schuld an dem Autounfall geben, obwohl sie am Steuer saß, aber mir schon …

Nach ein paar Wochen haben die Ärzte gesagt, dass Anni nun entlassen werden könnte und einige Zeit in einer Rehaklinik verbringen müsste. Dort könnte man sich besser um sie kümmern und sie würde an den Rollstuhl gewöhnt werden. Insgesamt war Anni drei Monate fort und in dieser Zeit war ich daheim viel allein, denn Mama hat ihren Job als Ergotherapeutin an den Nagel gehängt und war so oft wie es ging bei Anni in der Reha. Zum Glück war die Klinik nur 45 Minuten von uns daheim entfernt. Deshalb kam Mama immer zum Schlafen nach Hause, aber tagsüber war ich die meiste Zeit allein oder bei Emma.

Papa hat sich in dieser Zeit um ein neues Haus für uns gekümmert. Vorher hatten wir eine große Wohnung im ersten Stock mitten in der Stadt und ganz in der Nähe von Emma. Schließlich hat er ein Haus für uns gefunden, dass rollstuhlkompatibel ist. Denn die Türen sind alle breit genug, damit der Rollstuhl hindurchpasst.

Außerdem hat Anni nun ein großes Zimmer im Erdgeschoss, und das Bad ist gleich daneben. Papa und Mama schlafen auch im Erdgeschoss, damit sie immer sofort bei Anni sind, wenn sie nachts ruft. Ich schlafe im ersten Stock.

Irgendwie ist es schon cool, den oberen Stock für mich allein zu haben. Aber auf der anderen Seite fühle ich mich auch dorthin abgeschoben. Da Papa so viel geschäftlich unterwegs ist, nutzt er das Arbeitszimmer auf meiner Etage recht wenig, und ich bin die meiste Zeit allein dort oben.

Nun wohnen wir also seit einem halben Jahr in Gravenstedt, in einem totalen Kuhkaff. Ernsthaft – es stinkt dort nach Bauernhof, und wenn die Traktoren auf der Straße unterwegs sind, weiß man sofort: Es ist Gülle im Anmarsch. Ekelhaft.

Dabei liebe ich das Stadtleben über alles. Es war mega, morgens nur mal eben aus dem Bett zu fallen und die Schule so dicht vor der Nase zu haben. Nun muss ich jeden Tag Bus fahren, und auch zur Musikschule komme ich nicht mehr allein. Entweder fährt Mama mich mit dem Auto oder ich muss auch dorthin den Bus nehmen. Und der braucht ewig und fährt nur einmal pro Stunde an unserer Bushaltestelle ab. Ich sag ja: Kuhkaff.

Aber immerhin kann Anni jetzt wieder zu Hause sein und Mama kümmert sich den ganzen Tag um sie. Ich weiß echt nicht, wie sie das schafft.

Seit ihrem Unfall kann Anni nicht allein aufstehen und nicht allein ins Bett gehen. Sie braucht Hilfe beim Aufsklogehen und muss von Mama geduscht werden. Anni kann wirklich fast gar nichts allein. Aber Mama sagt, sie kriegt das mit ihr gut hin. Außerdem unterrichtet sie sie sogar dieses Schuljahr daheim, denn durch die lange Zeit im Krankenhaus und in der Reha hat Anni viel Schulstoff verpasst.

In der Schule müsste Anni eine Jahrgangsstufe wiederholen, was sie auf keinen Fall will, denn Anni ist eine Kämpferin und will unbedingt im kommenden Schuljahr zurück in ihre alte Klasse. Aber wie soll das gehen? Soll Mama dann auch mit in ihre Klasse? Das geht doch nicht.

Ich finde, Mama sieht sowieso schon mega müde aus. Und in letzter Zeit reagiert sie immer schneller gereizt und schimpft schon wegen Kleinigkeiten mit mir. Früher war das nie so. Da war Mama ausgeglichen und freundlich zu mir. Vielleicht ist Mama einfach fertig mit der Welt, aber zugeben tut sie es natürlich nicht.

Der Schulbus hält. Ich steige aus und gehe langsam die letzten 200 Meter in Richtung unseres neuen Zuhauses. Innerlich überlege ich, wie ich gleich Mama und Anni begegnen kann. Als ich den Hausschlüssel aus meiner Hosentasche holen will, öffnet mir Mama bereits die Tür.

„Hey Jule. Schön, dass du wieder da bist.“

Mama nimmt mich in den Arm und ich lasse sie gewähren. Es tut gut, mich in diesem Moment wenigstens etwas geliebt zu fühlen. Ich erwidere die Umarmung, bevor ich mich von Mama löse.

Jetzt oder nie, denke ich und sage: „Mama, es tut mir leid, dass ich dich heute Morgen angeschrien habe.“

„Schön, dass du es ansprichst, Jule. Alles gut. Jeder hat mal einen schlechten Morgen.“ Bei diesen Worten wird mein Herz leichter und ich vergrabe mich wieder in Mamas Arm.

„Magst du dir die Hände waschen, damit wir gleich essen können? Ich hab dir dein Lieblingsessen gekocht. Es gibt Lasagne.“

Ich nicke und löse mich langsam aus der Umarmung. Mama hat extra für mich etwas Besonderes gekocht und das an einem Donnerstag. Normalerweise gibt es Lasagne bei uns nur am Wochenende.

„Das ist ja sehr nice. Ich komme gleich“, erwidere ich und schaue Mama mit einem zaghaften Lächeln an.

Als ich in die Küche komme, sitzt Anni bereits am Tisch. Nun muss ich die nächste Hürde überwinden. Ich hole tief Luft und sage: „Anni, tut mir leid wegen heute Morgen. Ich war ätzend zu dir. Sorry.“ Ich starre auf meinen leeren Teller und warte auf eine Reaktion von Anni.

„Ist schon okay, Jule. Hast du Bock, heute Abend mit mir ‘ne Serie anzuschauen? Die neue Staffel „You are a star“ ist jetzt auf Netflix verfügbar, und die will ich unbedingt anschauen.“

Das ist eindeutig ein Friedensangebot.

„Okay, ich habe nachher Klavierunterricht, aber danach können wir das gern tun.“ Anni hält mir die Hand zum High five hin und ich schlage ein.

„Also, meine Lieben, wenn das jetzt geklärt ist, würde ich gern vor dem Essen noch beten.“

Mama spricht ein kurzes Dankgebet, und anschließend legt sie mir ein großes Stück Lasagne auf meinen Teller. Erst jetzt merke ich, wie hungrig ich bin und beginne zu essen. Nachdem ich mehrere Bissen gegessen habe, kann ich mich endlich entspannen.

Mama war nett zu mir und hat mir mein Lieblingsessen gekocht. Außerdem hat Anni ohne Weiteres meine Entschuldigung angenommen und mir sogar ein Friedensangebot gemacht. Mein Knoten in meinem Bauch löst sich langsam auf, und ich schaue Mama und Anni nacheinander an. Vielleicht wird ja doch noch alles wieder gut bei uns.

3

Nach dem Essen erledige ich schnell meine Hausaufgaben, denn gestern konnte ich kein Klavier üben, da Anni abends schon geschlafen hat. Nun muss ich Gas geben, weil in wenigen Wochen der Landeswettbewerb von Jugend musiziert ist. Ich nehme zum zweiten Mal daran teil. Letztes Mal habe ich in meiner Altersstufe den 1. Preis erhalten. Dieses Jahr ist mein Ziel der 1. Preis mit Weiterleitung zum Bundeswettbewerb. Deshalb übe ich seit Monaten darauf hin.

„Was habe ich doch für talentierte Töchter!“, hat Papa immer staunend gesagt.

Mama und er waren als Kinder weder ausgesprochen musikalisch noch sportlich. Er konnte es kaum glauben, dass Anni so erfolgreich geturnt hat und ich in seinen Augen die Meisterpianistin von morgen bin.

„Das müsst ihr von Oma und Opa haben“, hat Mama dann immer lachend ergänzt.

Bis zu dem schrecklichen Autounfall haben sie uns immer in unseren Hobbys unterstützt. Keinen Wettkampf von Anni und keinen Wettbewerb von mir haben sie verpasst. Im Notfall haben sie sich aufgeteilt, damit zumindest ein Elternteil dabei sein konnte.

Nun ist alles anders. Anni wird nie wieder Wettkämpfe turnen. Manchmal erwische ich Anni dabei, wie sie sich heimlich alte Videoaufnahmen von ihren Wettkämpfen ansieht. Dann sehe ich doch tatsächlich auch mal ein paar Tränen in ihren Augen. Aber sobald sie mich sieht, lächelt sie wieder. Ob sie einfach ‘ne Show vor mir abzieht? Ich hab echt keine Ahnung.

Bei meinem letzten Teilwettbewerb von Jugend musiziert vor vier Wochen waren weder Mama noch Papa dabei. Papa war an diesem Wochenende im Ausland auf Geschäftsreise, und Mama konnte Anni nicht allein lassen, denn meine Schwester war erkältet und Mama wollte nicht, dass sie in einer fremden Umgebung mit anderen Menschen noch mehr Viren ausgesetzt wird. Also spielte ich zum allerersten Mal einen Wettbewerb, ohne dass meine Familie am Start war.

Immerhin kam Emma mit, obwohl sie eigentlich gar keine klassische Musik mag. Sie findet, dass Klassik keine Musik mehr fürs 21. Jahrhundert und total uncool ist. Aber für ihre beste Freundin würde sie alles tun, meinte sie. Auf Emma ist Verlass – auf meine Familie nicht.

Zum Glück ging dennoch alles gut und ich habe mich nicht verspielt. Zum Schluss erhielt ich meinen 1. Preis, war eine Stufe weiter und war auch ohne meine Familie im Schlepptau glücklich.

Nun sitze ich am Klavier und übe mein Programm für den nächsten Wettbewerb. Zuerst jage ich meine Finger die Tonleitern rauf und runter, übe dann verschiedene Passagen eines Präludiums von Johann Sebastian Bach und versinke zum Schluss im Fantaisie-Impromptu von Fréderic Chopin. Mein absolutes Lieblingsstück. Ich werde Frau Kleinschmidt, meiner Klavierlehrerin, auf ewig dankbar sein, dass sie dieses Stück für mich ausgesucht hat. Es ist ein Meisterwerk, in das ich all meine Gefühle hineinlegen kann. Hier können meine Finger über die Tasten fliegen und ich fühle mich innerlich frei wie ein Vogel.

Eine Stunde später springe ich vom Klavierhocker auf. Ich muss los.

„Fährst du mich zur Musikschule?“, frage ich Mama, während ich mir ein Glas Mineralwasser in der Küche einschenke.

„Ja, heute kann ich dich fahren. Papa holt dich dann nachher ab.“ Perfekt. Geht doch. Heute scheint das Leben halbwegs in Ordnung zu sein.

30 Minuten später beginnt mein Unterricht. Frau Kleinschmidt erwartet mich schon und die Stunde vergeht wie im Flug. Zum Schluss hat meine Lehrerin noch ein paar Tipps für mich. Sie ist in Summe aber sehr zufrieden mit mir.

„Jule, du wirst den Landeswettbewerb rocken. Da bin ich mir ganz sicher.“

Rocken. Sicher. Und das, obwohl ich klassische Musik spiele. Ich grinse in mich hinein. Frau Kleinschmidt benutzt manchmal merkwürdige Wörter, um ihrer Begeisterung Ausdruck zu verleihen.

Papa holt mich pünktlich an der Musikschule ab, und ich genieße es, meinen Vater die paar Minuten während der Heimfahrt ganz für mich allein zu haben. Hier bin ich einfach seine Große, und wir reden über dies und das und nicht über unsere Probleme.

Daheim mache ich es mir auf der Couch gemütlich. Mama hat Anni aus ihrem Rollstuhl herausgehoben und ebenfalls auf die Couch gelegt. Wir dürfen sogar auf dem Sofa zu Abend essen, denn meine Mutter hat vor uns auf den Wohnzimmertisch Saftschorle und belegte Brote bereitgestellt. Während wir die Serie schauen und nebenher essen, sitzen Papa und Mama auf der Terrasse und genießen ein Glas Wein.

Es ist fast so wie früher. Anni und ich chillen, und Mama und Papa lassen es sich bei einem Glas Wein gut gehen. Aber es ist eben nur fast so wie früher. Anders ist, dass Anni nicht mehr laufen und nicht mehr turnen kann.

Ich versuche, die aufkommende Schwere in meinen Gedanken zu verdrängen. Heute nicht, ermahne ich mich innerlich. Heute Abend soll einfach mal alles gut sein. Ich kuschle mich in eine Wolldecke ein und lehne mich zurück. Aber so sehr ich mich auch anstrenge, ich kann mich einfach nicht mehr auf die Serie konzentrieren.

Als der Abspann auf dem Fernseher erscheint, kommt Mama ins Wohnzimmer.

„Na, war’s schön?“

„Ja.“ Anni seufzt zufrieden und gähnt. „Aber jetzt muss ich glaub ins Bett.“

„Alles klar. Dann legen wir hier mal los.“ Mama legt ihren einen Arm geübt unter Annis Rücken und den anderen Arm unter ihre Kniekehlen, hebt sie vorsichtig hoch und setzt sie in den Rollstuhl.

„Ich geh auch hoch. Gute Nacht“, sage ich und erhebe mich ebenfalls.

„Okay, Jule. Ich schaue später noch mal nach dir.“ Mama lächelt mich an und ich lächle zaghaft zurück.

Als ich in meinem Zimmer bin, plumpse ich auf mein Bett. Anschließend lasse ich den Tag in Zeitlupe an mir vorüberziehen. Der Vormittag in der Schule war scheiße. Warum müssen sich die anderen in der Klasse so über mich lustig machen, nur weil ich mal nicht aufgepasst habe?

Außerdem hasse ich es, wenn sie Klassikfreak zu mir sagen. Ja, ich gebe zu, dass ich klassische Musik mag, weil ich durch den Klavierunterricht einfach damit aufgewachsen bin. Aber in meiner Freizeit höre ich eigentlich gar keine klassische Musik. Ich steh eher auf den ganz normalen Mainstream, der in den Charts rauf und runter läuft.

Ich setze mir meine Kopfhörer auf und öffne Spotify auf meinem Handy. Während ich mir meine Playlist anmache, denke ich zurück an heute Mittag. Gut, dass es mit Mama und Anni besser lief als noch am Morgen und ich mich entschuldigen konnte. Und auch der Klavierunterricht lief super. Außerdem haben Anni und ich mal wieder zusammen gechillt. So schlecht war der Tag doch gar nicht.

Wenige Minuten später merke ich, wie müde ich bin und mache mich zügig fürs Bett fertig. Kaum liege ich unter meiner Decke, fallen mir auch schon die Augen zu. So kommt es, dass ich tatsächlich schon schlafe, als Mama die Tür öffnet und nach mir schaut.

Als ich am nächsten Tag vom Nachmittagsunterricht komme, steht Mamas Auto nicht in der Einfahrt. Komisch. Zum Glück habe ich den Haustürschlüssel dabei. Ich krame ihn aus der Hosentasche und öffne die Tür. Es ist still. Mama und Anni scheinen wirklich nicht da zu sein. Dabei hat Mama heute morgen gar nichts gesagt.

Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel: Bin mit Anni beim Arzt. Sie hustet und bekommt nicht so gut Luft.

Na toll. Schon wieder dreht sich alles nur um Anni. Sofort bekomme ich bei meinen Gedanken ein schlechtes Gewissen. Anni kann ja nichts dafür, dass es ihr dauernd schlecht geht. Ihr Immunsystem ist einfach viel anfälliger geworden, seitdem sie gelähmt ist.

„Sie gehört jetzt zur Risikogruppe“, sagt Mama immer wieder.

Frustriert drehe ich mich in der Küche um. Mama hatte wohl keine Zeit, etwas zu kochen. Also öffne ich den Kühlschrank und finde noch Reste von der Lasagne. Schnell mache ich mir ein großes Stück in der Mikrowelle warm und beginne zu essen. Als mein Teller leer ist, spüre ich zwar, dass ich satt bin, aber ich nehme mir trotzdem noch ein weiteres Stück.

Frustessen nenne ich es und stelle den Teller wieder in die Mikrowelle. Anschließend esse ich zügig den zweiten Teller leer und überlege, ob Mama noch Eis in der Gefriertruhe hat.

Ich gehe in den Keller und schaue nach. Eine angebrochene Packung mit Vanilleeis schaut mir entgegen. Kurz entschlossen nehme ich die Packung, gehe damit wieder nach oben und schlage mir eine ordentliche Portion in ein Schälchen. Die Eispackung bringe ich gleich wieder in die Gefriertruhe im Keller. Zurück in der Küche setze ich mich auf meinen Stuhl und esse das Eis in einem Rutsch auf. Doch kaum bin ich fertig, überkommt mich ein schlechtes Gewissen.

Boah, hab ich viel gegessen. Mein Bauch fühlt sich unglaublich voll und dick an. Warum hab ich nur nicht früher aufgehört zu essen?

---ENDE DER LESEPROBE---