Noch mehr Aufzeichnungen eines Dirty Old Man - Charles Bukowski - E-Book

Noch mehr Aufzeichnungen eines Dirty Old Man E-Book

Charles Bukowski

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Beschreibung

Erstmals als Taschenbuch - aus dem Nachlass von Charles Bukowski 1969 machten die ›Aufzeichnungen eines Dirty Old Man‹ Charles Bukowski von einem wohlgehüteten Geheimtipp des Undergrounds zu einem berüchtigten Kultautor. Auf der Spur seiner legendären Obsessionen – Sex, Alkohol und Glücksspiel – erkunden seine Texte die große Politik und die kleinen Dinge, sein flackerndes Verhältnis zu Frauen und seine Versuche, sich als Dichter im Zirkus der Lesereisen zu beweisen. Ein Leben auf Messers Schneide. »Der geniale Maulwurf hat uns weitere Texte hinterlassen, und sie sind Volltreffer - da kommen einem die Tränen.« Tom Waits

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Seitenzahl: 338

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Charles Bukowski

Noch mehr Aufzeichnungen eines Dirty Old Man

Aus dem Amerikanischen von Malte Krutzsch

FISCHER E-Books

Inhalt

1234567891011121314151617181920212223242526272829QuellenNachwortDank

1

Ich bin weiß Gott nicht gerade ein Hippie. Vielleicht schon wegen meiner Hippopotamushüften und weil mir Moden nicht geheuer sind, denn wie jeder andere finde ich es besser, wenn etwas Bestand hat. Außerdem strotzt die Hippie-Stiftung oder -Sprungschanze oder -Ruhestatt oder wie man das nennen will von Blendern, Betrügern und anderen bösartigen Leuten, die irgendeinen abscheulichen psychologischen Defekt zu kompensieren versuchen. Die gibt es allerdings überall, auch unter Nichthippies. Aber die paar Leute, die ich kenne, sag ich mal, sind entweder künstlerisch angehauchte Hippie-Sympathisanten oder Hippie-Versteher; von dem Stück Kuchen bekomme ich also am meisten ab, und das ist mir etwas zu SÜSS.

Neulich hatte ich es nun aber mit dem GEGENSTÜCK zu tun, und ich muss sagen, ich esse doch lieber Süßes als Scheiße. In einem großen Gebäude eingesperrt zu sein, wo 4000 Menschen stumpfsinnige, niedrige Arbeit verrichten, mag sein Gutes haben, aber es hat auch Nachteile – zum Beispiel kann man nie wissen, wer einem als Nebenmann zugeteilt wird. Schlechte Gesellschaft sorgt für eine schlimme Nacht. Zu viel schlechte Gesellschaft bringt einen um.

Er war angehend kahl, eckiges Kinn, maskulin???, mit einem Ausdruck von Hass und Frust im Gesicht. Schon seit Monaten hatte ich das Gefühl, dass er mit mir reden wollte. Jetzt war ich gespannt – man hatte ihm den Platz links neben mir zugeteilt. Er meckerte über die Klimaanlage und dies und das, dann flocht er die Frage ein, wie alt ich sei. Ich sagte ihm, ich würde im August 47. Er sagte, er sei 49.

»Alter ist relativ«, meinte er. »Es spielt keine Rolle, ob du 47 oder 49 bist, das ist ganz egal.«

»Hmm«, machte ich.

Dann dröhnte eine Ansage über den Lautsprecher: ALLE, DIE EINE L. S. M.-MASCHINE BEDIENEN KÖNNEN, BITTE MELDEN …

»Ich dachte schon, der sagt LSD«, meinte er.

»Hmm«, machte ich.

»LSD«, sagte er, »hat eine Menge Leute ins Irrenhaus gebracht – Hirnschaden.«

»Alles mögliche bringt die Leute ins Irrenhaus.«

»Soll das denn heißen?«

»Soll heißen, die LSD-Hirnschaden-Angstmache ist im Verhältnis wahrscheinlich übertrieben.«

»Aber nein, das sagen führende Ärzte, Labors und Krankenhäuser.«

»Okay.«

Wir arbeiteten eine Zeitlang schweigend, und ich dachte schon, ich wäre ihm entkommen. Er hatte so eine ruhige, weiche Stimme, die in ihrer eigenen Überzeugung badete und tirilierte. Aber er fing wieder an:

»Bist du für LSD?«

»Ich nehm keins.«

»Meinst du nicht, dass das bloß eine Modeerscheinung ist?«

»Nichts Verbotenes hört jemals auf.«

»Soll das denn heißen?«

»Vergiss es.«

»Was hältst du von den Hippies?«

»Sie tun mir nichts.«

»Ihre Haare stinken«, sagte er. »Sie baden nicht. Sie arbeiten nicht.«

»Ich arbeite auch nicht gern.«

»Alles Unproduktive ist schlecht für die Gesellschaft.«

»Hmm.«

»Einige Collegeprofessoren meinen ja, diese Jungspunde seien unsere neuen Anführer, wir sollten auf sie hören. WOHER WOLLEN DIE DENN IRGENDWAS WISSEN? DIE HABEN DOCH KEINE ERFAHRUNG.«

»Von Erfahrung kann man abstumpfen. Bei den meisten Leuten ist Erfahrung eine Aneinanderreihung von Fehlern; je mehr Erfahrung man hat, desto weniger weiß man.«

»Soll das heißen, du hörst auf irgendwas, was dir ein 13-Jähriger sagt?«

»Ich höre auf alles.«

»Ja, verstehst du denn nicht? Die sind doch nicht reif, die sind nicht REIF! Deswegen sind’s Hippies.«

»Und wenn sie einen Job haben? Wenn sie in die Fabrik gehen, wenn sie bei General Motors Schrauben drehen? Sind sie dann auch unreif?«

»Dann nicht, weil sie arbeiten«, sagte er.

»Hmm.«

»Außerdem, glaube ich, werden viele dieser Jungs BEREUEN, dass sie nicht in den Krieg gezogen sind. Die werden sich wünschen, sie hätten sich diese Erfahrung nicht entgehen lassen. Das wird ihnen noch leidtun.«

»Hmm.«

Wieder trat friedliche Stille ein. Dann sagte er: »Du bist doch kein Hippie, oder?«

»Ich arbeite, verdammt nochmal. Und bin wie gesagt 47.«

»Der Bart hat also nichts zu bedeuten?«

»Klar doch. Er bedeutet, dass ich mich im Moment mit Bart wohler fühle als ohne. Nächste Woche ist es vielleicht wieder anders.«

Stille, Stille. Dann drehte er seinen Hocker, kehrte mir so weit wie möglich den Rücken zu und arbeitete weiter. Ich stand auf, ging aufs Klo und streckte den Kopf aus dem Fenster, um frische Luft zu schnappen. Der Mann war eine Neuauflage meines Vaters: VERANTWORTUNG, GESELLSCHAFT, LAND, PFLICHT, REIFE, die ganzen langweiligen, steifen Wörter. Aber was machte ihnen so zu schaffen? Warum hassten sie so? Es kam mir vor, als hätten sie einfach große Angst, jemand könnte sich amüsieren oder nicht die meiste Zeit unglücklich sein. Als wollten sie, dass jeder den gleichen schweren Mühlstein um den Hals trug wie sie. Es war nicht GENUG, dass ich wie ein Irrer neben ihm schuftete; es genügte ihm nicht, dass ich die letzten schönen Stunden meines Lebens verschwendete – nein, ich sollte auch an seiner Geistseele teilhaben, an seinen dreckigen Socken riechen, mich mit seinem Zorn und seinen Abneigungen herumschlagen. Dafür wurde ich aber nicht BEZAHLT, verdammt nochmal. Und genau das brachte einen an dem Job um – nicht die körperliche Arbeit selbst, sondern das Eingepferchtsein mit den Toten.

Ich setzte mich wieder auf meinen Hocker. Er kehrte mir den Rücken zu. Armer, armer Kerl. Ich hatte ihn enttäuscht. Jetzt musste er sich anderweitig umsehen. Und ich war weiß, und er war weiß, und die meisten hier waren schwarz. Wie willst du in so einer Umgebung einen anständigen Weißen finden?, hörte ich ihn zu sich selber sagen.

Ich nehme an, er hätte auch die Schwarzenfrage angeschnitten, wenn ich die entsprechenden Schwingungen ausgesandt hätte. Das war mir erspart geblieben.

Er saß mit dem Rücken zu mir. Es war ein breiter, harter amerikanischer Rücken. Aber ich konnte sein Gesicht nicht sehen, und er sagte nichts mehr. Am meisten hatte ihn getroffen, dass ich ihm weder zugestimmt noch ihm widersprochen hatte. Sein Rücken war mir zugekehrt. Der Rest des Abends verlief friedlich und beinahe nett.

2

Tucson, Arizona, 29. 6. 67

Endlich, nachdem sie ein Jahr damit zugebracht haben, Henry Millers Order and Chaos Chez Hans Reichel Stück für Stück, Zauber für Zauber zusammenzusetzen, immer wieder aufgehalten von leeren Taschen und einer Stoßgebete klappernden, zittrigen 8x12 Chandler & Price, die 50 oder 60 Jahre alt war und mit der letzten Seite auseinanderfiel, können sie sich in dem pleitegegangenen alten Kaufladen einen Moment zurücklehnen und sich den nächsten Schritt überlegen in der Hoffnung, dass genug Geld für einen nächsten Schritt zusammenkommt – Jon und Louise (Gypsy Lou) Webb, die das Wunder dieses dritten Buchs der LOUJON PRESS vollbracht haben, das bei der 13. Preisverleihung des Type Directors’ Club in New York bereits für Typographie, Schriftgestaltung und Design ausgezeichnet worden ist.

Jetzt sitzen sie hier so gut wie blank in einem baufälligen ehemaligen Ladenlokal aus Adobeziegeln – ihrer »Wüsten-Druckwerkstatt«.

Wir befinden uns in Tucson, und ich interviewe Jon Webb bei 40° im Schatten, und wie man weiß, kann Kunst von überallher kommen: aus der heißesten Hölle und von den Geistern alter Bohnendosen. Ich beginne mit den Fragen:

»Ihr beide seid tolle Verleger und Büchermacher. Die Loujon Press ist oben bei den Göttern dank Euren Büchern und dem Outsider Magazine. Euer Miller-Buch ist vielleicht das revolutionärste Buchkunstwerk der letzten paar Hundert Jahre. Meine Frage nun: Glaubst du, dass ihr überlebt, oder stürzen die Wände ein und begraben euch unter sich?«

JON

»Wir werden überleben, aber die Wände stürzen trotzdem ein, das tun sie immer, wie bei Alan Swallow – nicht, dass wir uns mit ihm auf eine Stufe stellen wollten, davon sind wir weit entfernt.«

BUK

»Okay, wie seid ihr denn überhaupt auf die Idee gekommen, so einen Verlag zu machen?«

JON

»Nach zwei bis drei Millionen veröffentlichten Wörtern habe ich das Schreiben aufgegeben, weil ich der Meinung war, dass ich kreativ zu nichts komme, dass ich nie etwas veröffentlichen kann, ohne irgendwelche Kompromisse einzugehen. Es kann natürlich sein, dass ich damit nur Faulheit oder fehlendes Können bemänteln wollte, aber ich bin überzeugt, dass ich gut daran getan habe, vom Schreiben zum Verlegen zu wechseln. Ich glaube, als Verleger bin ich besser. Wenn ich weiterrede, lande ich aber nur in einem Sumpf von Rationalisierungen.«

BUK

»Na gut. Kommen wir zu etwas anderem: Die Inflationsrate bei Papier, Schriften, Druckerfarbe, bei allem, von der Heftklammer bis zum Hamburger, ist inzwischen irgendwie absurd. Habt ihr nicht, wenn ihr mit einem Projekt durch seid, das Gefühl, das nächste könnte unbezahlbar sein?«

JON

»Ich hatte wenig Ahnung von dem Geschäft, als ich anfing, bin dann aber zum ehrlichen Betrüger geworden, das heißt ich habe gelernt, herzliche Beziehungen zu Geschäftspartnern herzustellen – den Leuten, die mir diese Sachen zu so hohen Preisen verkaufen. Ich mache ihnen einfach weis, dass meine kleine Bestellung ein Testlauf ist, der erste Teil einer Riesenbestellung, und damit lege ich den Grundstein für einen Deal oder, auf gut Kaufmännisch, einen Preisnachlass. Mit anderen Worten, ich rede von Waggonladungen, bis sie mir Waggonfrachtpreise nennen. Das ist zwar eine schmutzige Methode, aber dass ich einen steifen Kragen und eine biedere Krawatte tragen muss, um damit durchzukommen, nimmt für mich irgendwie den Schmutz da raus.«

BUK

»Finde ich auch. Also, ihr beide macht ja die ganze Arbeit allein. Auf was für einen Stundenlohn pro Person kommt ihr, wenn ihr euren Gesamtgewinn durch die Arbeitszeit teilt?«

JON

»Wenn man überhaupt von Gewinn reden kann – für uns ist das alles, was die Unkosten übersteigt –, dann lag unser Nettoeinkommen noch nie über 8 Cent die Stunde.«

BUK

»Ist es das denn wert? Würdest du nicht lieber Rüben pflücken oder Fullerbürsten an der Haustür verkaufen? Und wie steht’s mit den Lektoren- und Buchgestaltungsangeboten aus der New Yorker Verlagswelt? Hast du den steinigen Weg nicht manchmal satt?«

JON

»Nein, wir arbeiten aus einem Zwang heraus, das war bei mir auch schon mit dem Schreiben so. Die Liebe hat sich übertragen, das ist alles. Der Gedanke ans Schreiben ist gestorben wie eine Geliebte. Ich habe die Liebe zum Schreiben einfach auf die Liebe zum Verlegen übertragen. Das könnte ich noch weiter ausführen, aber dann würde es nur noch flippiger. Denn dass man sich auf eine Arbeit verlegt, die wirtschaftlicher Selbstmord ist, darüber kann man logischerweise nicht reden, ohne in Prahlerei zu verfallen – indem man sich zum Beispiel als Künstler bezeichnet. Ich glaube, wir sind Künstler, es könnte aber auch sein, dass alles Gute, was wir machen, bloß Glücksgriffe sind. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

BUK

»Na gut. Reden wir jetzt aber mal über ›Engel‹. Wo sind die Engel mit der Kohle? Ich weiß, dass es sie GIBT. Zum Beispiel haben wir einen Dichter in Europa, einen Exilamerikaner, dem ein paar reiche Leute unter die Arme greifen, die kaum Fragen stellen oder ihn mit Forderungen traktieren, und so gut ist er einfach nicht. Ich finde ehrlich, ihr hättet einen Engel oder 2 oder 3 verdient. Glaubst du, dass euch jemals einer erscheint?«

JON

»Jeder, der unsere Bücher kauft, ist ein Engel. Im Grunde ist es aber so, dass man Engel suchen gehen muss, und dazu hatten wir noch keine Zeit. Irgendwann werfen wir auch die Netze nach einem Engel aus. Einem guten Engel. Angebote von schlechten Engeln, die Bedingungen daran knüpfen, hatten wir schon reichlich. Zum Beispiel von einer wohlhabenden Witwe aus Louisiana, die 1600 Hektar Tiefland besitzt, das rasant im Wert steigt, weil sich die Industrie aus dem Norden dafür interessiert. Sie hat uns 16 Hektar plus ein Plantagenhaus angeboten, wenn wir ihr im Stil des True Story Magazine gehaltenes Buch bei der Loujon Press herausbringen. Das Buch handelt davon, wie sie nach dem Tod ihres Mannes rausfindet, dass er mal eine Geliebte hatte. Sie drischt endlos auf ihm herum in dem Buch und hofft, dass er sich im Grab umdreht. Hat uns das Herz gebrochen, aber wir mussten ihr einen Korb geben.«

BUK

»Läuft das Miller-Buch?«

JON

»Wie könnte ein Buch von Miller nicht laufen?«

BUK

»Richtig gut, meine ich. Wie kann man den Leuten klarmachen, dass das Bücher sind, die man kauft, sobald man sie sieht? Dass die Bücher, die ihr macht, in spätestens 4, 5 Jahren als Sammlerstücke das 5- oder 10fache ihres Ladenpreises wert sind?«

JON

»Auf die Leute, denen wir erst sagen müssen, dass unsere Bücher mal Sammlerstücke werden, zielen wir zwar nicht besonders ab, doch viele aus dieser Ecke kaufen unsere Bücher und sind sozusagen Engel, ohne es zu wissen. Wir lieben sie, sie halten uns mit am Leben.«

BUK

»Wohl wahr. Aber was steckt denn bei euch hinter den Formaten, denen man das Sammlerstück auf den ersten Blick ansieht?«

JON

»Dahinter steckt, dass das Büchermachen in einer Sackgasse angekommen ist, besonders in Sachen Buchgestaltung. Mit unseren Mischformaten suchen wir lediglich einen Weg, der aus dieser Sackgasse wieder raus- oder über sie hinausführt. Wenn wir da nicht weiterkommen, steigen wir aus dem Fach wieder aus, so wie ich aus dem Schreiben ausgestiegen bin, und machen was anderes. Undergroundfilme vielleicht.

Aber zur Buchgestaltung noch mal, ich glaube mit McLuhan, dass das Medium die Botschaft ist. Und bisher hatten wir das Glück, Autoren herauszubringen, die zulassen, dass wir sie in unserem Stil in unsere speziellen Formate kleiden. Bei den Büchern, die wir bis jetzt gemacht haben, war das weder ihr noch unser Schaden.«

BUK

»Haben sich die Grundschriften im Stil geändert? Wie wählt ihr eure Schriften aus?«

JON

»Mit dem Auge. Je mehr man sich in Schriftarten-, Schriftmusterkataloge und so weiter vertieft, desto mehr gute Schriften findet man, und wenn man sich nach wochenlangem Studium schließlich für eine bestimmte Schrift entscheidet und ein Telegramm ins ferne Ausland schickt, erhält man zur Antwort, dass gerade diese Schrift seit 20 oder 30 Jahren nicht mehr gesetzt worden ist, und kann von vorne anfangen. Das passiert unserer Meinung nach hauptsächlich, weil auch die Schriftgestaltung in einer Sackgasse steckt. Also geht man in der Zeit zurück und sucht sich was Gutes. Bei der Buchgestaltung geht das nicht, denn da kann man nichts Neues schaffen, indem man die alten Meister kopiert. Aber Schriften zu kopieren ist okay. Das gehört einfach zum Handwerkszeug, mit dem man arbeitet.«

BUK

»Wie entscheidet ihr, ob ihr ein Buch herausbringt?«

JON

»Das ist schwierig, aber vor allem hat es mit Liebe zu tun, Liebe zu dem betreffenden Werk und auch zum Autor. Denn um das Werk, um den Autor herum muss man monatelang ein Format entwickeln, dass diesem Autor entspricht. Nicht uns entspricht, das wäre albern. Das ganze Format muss eine Erweiterung der Persönlichkeit des Autors und seines von uns herausgebrachten Werks sein. Und ohne Liebe zum Autor und seiner Kunst käme man da nicht hin. Die Leute meinen, wir müssten unsere Arbeit lieben. Irrtum. Arbeit ist immer ziemlich trist, sie kann die reinste Hölle sein. Aber was dabei herauskommt, lieben wir. Und wenn es fertig ist, besteht die Hölle prompt darin, dass wir die Liebe zu dem einen Buch auf das als nächstes geplante übertragen müssen. Auf den nächsten Autor. Komisch, was?«

BUK

»Überhaupt nicht. Aber was wäre denn für euch das ultimative Wunschprojekt in Buchgestaltung?«

JON

»Da gibt es etwas schwer Fassbares, das mir und auch Gypsy ständig im Kopf herumgeht. Das wäre die Herstellung eines Buchs von großer Schönheit und einmaliger Gestaltung, in das sich der Käufer auf der Stelle verliebt und in dem man sofort das teure Sammlerstück erkennt, das aber, wenn man es von vorn bis hinten gelesen hat, in den Händen des Lesers zerfällt, sich buchstäblich in seine Bestandteile auflöst und unmöglich wieder zusammengefügt werden kann.«

BUK

»Verstehe. Der Käufer kauft sofort ein neues Exemplar, um zu sehen, ob damit dasselbe passiert.«

JON

»Nein, das ist nicht der Grund. Aber da hast du mich auf eine Idee gebracht – danke.«

BUK

»Vom Grund mal abgesehen scheint mir das unfair gegenüber dem Autor, wenn seine ganze Arbeit mit eurer zum Teufel geht.«

JON

»Ja, natürlich würde ich mir einen Autor suchen, der nichts dagegen hat. Wie dich vielleicht.«

BUK

»Bei Licht besehen hätte ich wahrscheinlich nichts dagegen. Es könnte Spaß machen, für eine Nachwelt zu schreiben, die in den Händen des Lesers zerfällt statt in seinem Hirn. Aber das hier wird zu lang. Ein schönes Schlusswort noch für die Leser unserer Kolumne oder die Leser überhaupt?«

JON

»Na ja, selbst die Broadside-Werbung für das Miller-Buch, gedruckt auf Pergamentpapier, 50 × 60 cm, ist schon ein Sammlerstück. Aber wir schicken sie jedem, der uns eine Postkarte schreibt, und übernehmen sogar das Porto. Unsere Anschrift ist 1009 East Elm, Tucson, Arizona 85719. LOUJON PRESS.«

BUK

»Wieso ist es im Juni und Juli so verdammt heiß hier unten?«

JON

»Das weiß ich nicht, aber es kommt gleich nach der Hölle. Deswegen sind wir wahrscheinlich hier.«

BUK

»Ich glaube, das Interview ist vorbei.«

JON

»Ich auch.«

BUK

»Habt ihr noch Bier?«

JON

»Wir wussten ja, dass du vorbeikommst.«

Bukowski geht in die Küche der Wüstendruckwerkstatt und holt sich eins. Das Interview ist vorbei. Der große Dichter Bukowski und der große Verleger Webb sitzen einander gegenüber und schauen mit angenebeltem und vielleicht? unsterblichem Geist nach innen, nach außen und zum anderen hin. Das Leben geht so oder so weiter.

3

Schwer verkatert, zittrig, deprimiert sah ich meine alten Racing Forms durch, trank dabei ein Bier, rauchte und dachte ein wenig an Selbstmord, hoffte aber immer noch auf einen Glücksengel, da klopfte es so leise, dass ich es kaum hörte, an der Tür. Ich lauschte, und da war es wieder. Ich versteckte meine Chesterfields unterm Kamin und öffnete die Tür einen Spalt weit. »Bukowski?«, sagte die Stimme. »Charles Bukowski?«, und da stand eine Frau draußen im leichten Regen, im 9-Uhr-Abend-Regen zwischen 2 eingehenden Pflanzen auf der Veranda der Hofwohnung, in der ich mehr schlecht als recht zwischen Bier und Mäuseschatten und alten Schmökern von Upton Sinclair und Thomas Wolfe und Sinclair Lewis lebte, und ich schaute und schaute und schaute, und ES WAR EINE FRAU, und WAS FÜR eine Frau da im 9-Uhr-Abend-Regen – lange rote Haare den ganzen Rücken runter, Jesus: Tonnen roter Zauberei. Und das Gesicht unverhohlene Leidenschaft, wie eine Blüte aus einer mit den Fingern aufgerissenen Knospe, eine Art Brandstiftung, und der Körper, der Körper war nichts als SEX, stehender, springender, singender, schauender, fließender, summender Sex, der im 9-Uhr-Abend-Regen sagte: »Bukowski, Charles Bukowski?«, und ich sagte: »Kommen Sie rein«, und das tat sie, sie kam rein und setzte sich in den Sessel vorm Kamin, und die Wände des Zimmers zogen sich zusammen und dehnten sich wie auf einem Trip, und der Teppich sagte, mein Gott, oooh-ooooooooooh, was ist denn hier los, und sie SCHLUG DIE BEINE ÜBEREINANDER, und der Rock war oben, und ich sah an den Schenkeln hoch, frech, ich war von Sinnen, Schenkel, Knie, hohe Absätze, lange, enge Strümpfe, Hauch und Haut, o Gott, und sie wippte mit dem Fuß, drehte ihn im Gelenk, au-au-au, Gnade! Und die roten Haare, die roten Haare verteilten sich über die Sessellehne, die roten Haare flammten im Lampenschein, ich hielt es kaum aus, wusste kaum, wie mir geschah, ich hatte nicht mal verdient HINZUSEHEN und war mir darüber im Klaren.

»Möchten Sie ein Bier?«, fragte ich.

»Gern«, sagte sie.

Ich stand auf und konnte kaum gehen. Ich hatte genug Schlauch, um einen Napalmwaldbrand zu bekämpfen.

Ich kam mit dem Bier zurück, gab ihr kein Glas, sah zu, wie sie aus der Flasche trank, wie das Zeug in sie hineinlief, in die roten Haare, in den Körper, in alles, und ich sah an ihren Beinen hoch und bekam nicht genug und trank auch aus der Flasche.

Sie stellte ihre Flasche ab. »Sie sind ein toller Schreiber«, sagte sie.

»Das ist kein Grund, mich zu besuchen.«

»Doch, doch. Sie faszinieren mich eben, weil Sie so schreiben und weil Sie aussehen wie, weil Sie aussehen wie –«

»Der Müllmann?«

»Ja, oder wie ein kranker Gorilla, ein kleinwüchsiger alter Gorilla, der an Krebs eingeht. Und diese verdammten Augen, Augenschlitze, aber wenn Sie sie dann endlich mal kurz AUFMACHEN – Mensch, ich hab noch nie SOLCHE Augen gesehen, diese FARBE, so ein BÖSARTIGES FEUER –«

»Und Sie sind hergekommen, um zu sehen, wie ich bin, wer ich bin, ja?«

»Wahrscheinlich. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, warum ich hier bin. Nein. Ich weiß nur, dass ich hier bin. Ich kann nicht anders. Sie sind ein Gorilla. Eine Art Schlange. Irgendwas Schmutziges. Sie stinken. Ich kenne Sie nicht. Ich weiß, dass Sie nicht der Typ sind, der in Bryans Redaktionssitzungen Behinderte bedroht, herumtorkelt, alle beschimpft und dauernd noch etwas zu saufen sucht. Wie ein Schwein führen Sie sich auf!«

»Eine Frau will immer zum Innersten vorstoßen, es zähmen, es formen; ein kluger Mann zeigt einer Frau nie sein Innerstes. Er blendet sie kurz, schaltet ab, wird wieder er selbst. Eine Frau übt sich in Kindererziehung, indem sie zuerst den Mann zähmt. Ich habe keine Verwendung für Frauen außer zum Ficken. Ich tappe nicht in die Falle. Liebe ist eine Form von Selbstsucht. Liebe ist der Vorwand, unter dem Feiglinge sich aufgeben.«

»Schön gesagt. Hört sich gut an, Blödmann, aber was bedeutet es?«

Sie hob wieder die Bierflasche, legte die Beine anders übereinander, der Rock rutschte noch HÖHER, Erbarmen, Herr, so viel Bein, so viel Schenkel, so viel rote HAARE, Gott.

Ich stand auf, nahm ihr die Bierflasche vom Mund und drückte mein dreckiges Bartgesicht auf ihres, sog an ihren verknautschten Lippen, hart, völlig verrückt, sie stieß mich nicht weg, ich fasste ihr ins Kreuz, bis sie es durchbog, ihr Kopf drehte sich auf der Sessellehne hin und her, unsere Lippen klatschten, klebten aufeinander, meine Hand hinter dem STARKEN Körper, die Bierflasche kippte um und ergoss sich auf den Boden, und ich riss ihr mit der anderen Hand den Rock ganz HOCH, ogottogott, dann zog ich sie auf die Beine, ich führte sie, schob sie durch das ganze Zimmer, spürte diese roten Haare um die Ohren, auf meinem Gesicht, spürte Wunder und Wahnsinn, dann zerrte ich die Hose runter, und dann war ich IN IHR, IN IHR, IN IHR und arbeitete, ich packte die langen roten Haare und riss sie nach hinten. Sie bäumte sich auf, bäumte sich vor Schmerzen, und ich war IN IHR, ich arbeitete, und die Haare noch in den Händen packte ich die Arschbacken und spreizte sie, festgenagelt stand sie mitten auf dem Teppich, ich hatte sie am Kreuz, es war zu spät für sie, sie war aufgespießt, geschlitzt, geschlitzt, und das gelbe Licht der Lampen hüllte uns ein, und nichts war zu hören außer unserem Atmen und unserem Gezerre. Wer hätte das gedacht? Wer? Und dann WUMM wackelten die Wände, auf der Straße rutschte jemand auf einem Ölfleck aus, stürzte und brach sich den Knöchel, und wir glitten auseinander wie Gewürm in verschiedenen Richtungen, und sie stand da und sagte: »Ooooh ooooh ooooh, war das gut, das war gut, das war gut, du widerliches fettes Schwein«, dann drehte sie sich um und ging ins Bad und schloss die Tür. Ich ging in die Küche, nahm ein Geschirrhandtuch, wischte mich ab. Holte noch 2 Bier raus. Steckte mir eine an.

Sie kam wieder raus und sah besser aus denn je, strahlend, entflammt, sie war wirklich schön, da gab es nichts, sie war wirklich schön. Ich trank mein Bier und sah sie an, wir schwiegen beide. Ich steckte ihr eine Zigarette an. Dann musste ich pissen. Ich ging ins Bad, schloss die Tür, pisste, spülte, wusch mir die Hände, kam raus, und sie war … weg. Einfach so. Ohne ein Wort. Weg. Ich sah auf den Sessel, in dem sie gesessen hatte. Auf die Bierflasche am Boden. Doch, es war wirklich passiert. Ich fand einen Ohrring von ihr. Einen grünen Ohrring. Nur einen. Immer ist es EIN Ohrring. Was soll’s? So ein Ohrring war es noch nie.

Ich trank mein Bier in einem Zug, ging nach draußen. Es war kalt.

Auf der ganzen DeLongpre dasselbe. Alles verriegelt und verrammelt. Die Leute hinter Türen, hinter Fenstern. Alle bei ihren Siebensachen, ihrer Familie, ihrem Wahn, ihren Bankkonten, ihren Wagenschlüsseln, ihren Walnussvisagen, ihrer Verstopfung.

Ich sah nach Norden, wo sie vermutlich mit irgendeinem intellektuellen Prachtkerl zusammenlebte, der die großen Worte und den großen Sinn draufhatte; manche Jungs bekamen diese Puppen wie von selbst, ich konnte froh sein, wenn ich mal ihr Foto in der Zeitung sah. Ich nahm den Ohrring den grünen Ohrring und warf ihn gen Norden, steil in den dunklen Himmel hinauf, er verlor sich im Neongeflirr des Sunset Boulevard einen Block weiter, und ich sagte: »Baby, da hast du deinen Ohrring wieder, Baby, dein Leben und alles andere, Baby. Aber danke für den sagenhaften Fick.«

Dann ging ich wieder hinein, sah ihr noch unangerührtes Bier, nahm es mir, trank-trank-trank. Sah die Racing Form, setzte mich in IHREN Sessel und fing an, meine Wetten für den Renntag in Santa Anita zu sortieren, dann sah ich ein rotes Haar, ein sehr langes rotes Haar auf der Sessellehne, nahm es in die Finger und hielt es mit der Spitze an meine Zigarette; es knisterte und zog sich zusammen und rauchte ein klein wenig. Ich fuhr mit der Zigarette an dem Haar entlang, bis nur das winzige Stück zwischen meinen Fingern noch übrig war, dann warf ich das in den Aschenbecher und verbrannte es auch noch.

Charles Bukowski. Unsterblicher Schriftsteller. Unsterblicher Liebhaber. Du kannst nicht mehr nach Hause. Es ist längst zu spät.

Ich zog mir das Bier rein.

4

Es geht mir nicht gut. Herr Jesus, schmeiß doch die Bierdosen in den Müll. Ich hab nun mal Gott sei Dank keine Alte, die das Zeug für mich wegräumt. Vielleicht bin ich deshalb so ein Spanner und Wichskünstler. Ich kann nicht dauernd eine Frau um mich haben. Die rumsitzt und mich mit ihren Hochs und Tiefs und ihrem verrückten Kopf terrorisiert, meine ich. Noch ein Bier? Direkt neben deinem Fuß, ein halbes Sechserpack. Im Kühlschrank ist noch mehr. Hier in Amerika gilt ein Mann nur als Mann, wenn er drei, vier Nutten und ein neues Auto hat. Na gut, ich bin leicht angetrunken. Vielleicht mache ich mich deshalb über mich selbst lustig. Aber hängt mir einen neuen Wagen und 3 Frauen an, und ich bin am Arsch. Ich hab keinen Fernseher. Ich hab nicht mal ein Radio. Eine starke Brasilianerin, die mir so ein Ding aufdrücken will, nennt mich deshalb das letzte Monster. Einen Monster-Engel, was immer das heißen soll. Aber vor ihr flüchte ich auch, obwohl sie gut zu ficken war, unwahrscheinlich gut. Irgendwas in meinem Innern ist ein bisschen schlauer geworden. Wenn man aus dem Bad zurückkommt, steckt man auf einmal in einer kleinen Zweipersonenhölle. Ja, ich hab eine Geschichte dazu, aber lasst mich erst ein Bier holen. Klar bin ich ein degenerierter Spanner. Ich seh mir das lieber an. Ich will nicht draufsteigen. Kapiert? Hier also eine lustige Geschichte. Für Spanner. Okay, Frank, ich weiß, dass du kein Spanner bist. Aber tu mal so. Nein, ich bin kein Homo, verdammt, warum kommt das immer aufs Tapet?

Ich hab ja gesagt, dass es mir nicht gutgeht, also komm mir nicht blöd. Manchmal geht’s mir so schlecht, dass ich denke, ich drehe durch. Kennst du das auch, Frank? Nein? Na, du bist eben ein netter amerikanischer Biertrinker mit den gängigen amerikanischen Gefühlen. Du fühlst dich gern wie ein MANN. Geht’s dir nicht gut, wenn du dich wie ein MANN fühlst, Frankyboy? Nein, ich will mich nicht prügeln. Stell dir vor, ich gewinne. Dein ganzes Leben wäre im Eimer. Warum unterbrichst du mich? Ich versuche hier meine lustige Spannergeschichte an den Mann zu bringen, und als Spanner hast du dich ja sicher auch schon betätigt – im Bus, oder wenn die Schönen aus dem Auto steigen oder sich über Mülleimer beugen. Nein, ich habe keine schmutzige Phantasie; ich bin bloß gern so, wie ich bin. Lass mich. Ich hab dir ja gesagt, es geht mir nicht gut. Wirf mir noch ein Bier rüber. Scheiße. Ich kann nicht mal meine Wäsche abholen. Ich dreh durch. Ich hab sogar vergessen, wo ich sie HINGEBRACHT hab, meine Wäsche. Und wenn mir das wieder einfällt, kommt bestimmt irgendein anderer Mist dazwischen, der mich verrückt macht. Was seh ich denn da? Ich muss zum FRISÖR! Also Zahnärzte sind ein Klacks, aber Haarschneider TERRORISIEREN mich! Das sind ja solche Arschlöcher, Frank. Darum! Weißt du, was das SCHLIMMSTE ist? Hm? Wenn sie fertig sind, müssen sie mich unbedingt auf diesem Stuhl HERUMWIRBELN, PENG vor den SPIEGEL, und ich hab mein GESICHT vor der Nase und muss so tun, als gucke ich auf meine HAARE, dabei ist mir völlig schnurz, ob da irgendwo eins absteht! Wen kümmert das? Scheiße, Mann, ich will nur noch da RAUS! Und dieser Arsch von Haarschneider steht hinter mir, ich seh ihn im Spiegel, er gähnt, und ich bin in Rage und soll was von mir geben wie ›sehr gut‹ oder ›gut so‹. Ich weiß zwar nicht, wo die Hölle ist, aber sie dürfte ein Frisörsalon sein. Dieser beknackte, hohle, verlogene Scheiß, Himmel, wer hat die Menschen so gebaut? Da ist mir ein Zahnarzt, der sich schwitzend mit Schnapsfahne auf meinen Brustkorb stützt, zehnmal lieber. Er zieht das Ding – »Och, das hat doch jetzt nicht weh getan, oder?«, und du spuckst das Blut und den halben Kiefer aus: »Ach was, ach was, brrralles klar, bwäääh …« Du stehst seelisch nicht in seiner Schuld, und er fängt an zu pfeifen. Zahnärzte zweifeln immer so schön an ihren Fähigkeiten, im Gegensatz zu Frisören, egal wie schlecht die sind. Und die meisten sind sauschlecht, auch wenn es keine Rolle spielt. Dieser Hundesohn nimmt dir dann also den Umhang ab, und du sollst in aller Ruhe aufstehen, als wäre das Ganze furchtbar lieb und nett und du jetzt ein neuer Mensch, und dann musst du bezahlen und dem Blödarsch ein TRINKGELD geben! »Auf Wiederschaun«, sagt er, »man sieht sich.« »Wiedersehn«, sagst du. Wiedersehn, Wiedersehn, Wiedersehn.

Ich bin ja noch bei dieser Spannergeschichte. Was? Doch. Ich weiß, ICH WEISS! Ich weiß, dass viele Männer Frisöre mögen. Viele Männer sitzen stundenlang beim Frisör, obwohl sie noch gar nicht zum Frisör müssten. Sie müssen gar nichts. Sie spielen bloß Cribbage und reden über Sport. Sie können sich den dreckigen Linoleumfußboden mit den traurigen Haarbergen ansehen, ohne etwas dabei zu empfinden. Sie sind die normalen Menschen dieser Welt. Sie können einfach zusehen, wie die Zeit vergeht. Es sind Goldfische. Ich bin nicht normal. Mir setzen sie immer zu. Mit ›sie‹ meine ich jetzt die Muss-Leute. Mensch, schon bei dem Gedanken, dass ich mir einen neuen Führerschein besorgen muss, hätte ich mir beinah die Kehle durchgeschnitten. Die ganzen Leute da bei ihren beschissenen kleinen Tests. So simple Fragen, dass man es mit der Angst bekommt. Und die Leute kratzen sich am Kopf – »Pst, Junge, watisdenn die Antwort auf Frage 3? Gott, da kommichja überhaupt nich mit …« Schlange stehn, Schlange stehn, Schlange stehn – einsame Frauen von Ende vierzig, die am Schalter eine blöde Frage nach der anderen stellen, bloß damit jemand mit ihnen REDET … eine Viertelstunde halten sie den Laden auf, und der Mann am Schalter, faul und ebenfalls einsam, beantwortet lächelnd mit steifem Schwanz eine blöde Frage nach der anderen. Steifer Schwanz, heiß da drin, alle schwitzen und hängen am Kreuz. HERRGOTT NOCHMAL, ALLES IST SO HART, SO BLÖD! Schwänze, Frisöre, Cops, Vermieter, Einkommensteuer; Spiegeleier zum Frühstück … ein Irrsinn. Scheiße, verdammt, gib mir noch ein Bier, Mann. Ich komme nie zu dieser lustigen Spannergeschichte. Ich kann meine Gas- und Stromrechnung nicht bezahlen, meine Telefonrechnung auch nicht. Es ist, als wollte ich 1000 Kilo stemmen. Es haut einfach nicht hin. Wie dieser ewige Kleinkram an einem NAGT, die rotzigen kleinen Rechnungen, immer und immer wieder, ohne Sinn und Verstand. Du atmest durch, denkst scheiß drauf, und guckst vierzehn Tage in die Wolken. Eines Abends kommst du in dein Mietloch, das Gas ist abgestellt, der Strom ist abgestellt, das Telefon abgeschaltet – wozu? Alles in allem schuldest du ihnen $39; sie konnten’s nicht abwarten. Mensch, du hast $80 in der Tasche. Du konntest bloß nicht zur Post und drei blöde Postanweisungen aufgeben – die Schlangen sind lang, die Mädchen quälen sich oder sind dumm, und immer ist irgendein Idiot da, der einem in die Hacken tritt oder sich vordrängen will. Schwachköpfe, Irre! Ein SCHEISSUNIVERSUM, sage ich! ES GIBT SO VIEL BESCHEUERTES ZU TUN, DASS KEINE ZEIT BLEIBT, ETWAS NICHTBESCHEUERTES ZU TUN. Und fährst du eine Runde mit dem Wagen, verpasst dir ein Cop einen Strafzettel, weil du keine ZEIT hattest, das elende Rücklicht reparieren zu lassen, das dir jemand auf dem Parkplatz kaputtgefahren hat. Und wenn er schon dabei ist, findet er noch acht oder zehn Sachen, die nicht in Ordnung sind – die Bremse tut’s nie richtig, die Scheinwerfer sind schief, das Bremslicht streikt, die Scheibenwischer sind abgenutzt, und du hast sowieso nur einen und so weiter und so fort. Mann, damit bringen Sie sich ja um, gut, dass ich vorbeigekommen bin. Hier bitte, Ihr Strafzettel. Einmal unterschreiben; danke, Sir. Ich danke Ihnen, Officer. Mit meinem Verstand kann ich einfach nicht beurteilen, ob der Wagen verkehrssicher ist oder nicht – ich will mich nämlich wirklich umbringen.

Schmeiß mir noch ein Bier rüber, Frank. Alles zieht mich runter. Deswegen kann ich hier auch keine Fotze gebrauchen, die mich mit ihrem Gequassel und ihren Ansprüchen plattwalzt. Das Ganze ist ein Krieg, Frank, verstehst du? Und ich schwächele. Die Zeitungen von einer Woche liegen auf dem Boden. Ich krieg sie nicht aufgerafft. Ich kann nicht mal eine Rolle Klopapier auf den Halter stecken. Das ist Arbeit. Die Federung, das Drehen. Auch Arbeit. Ich stell die Rolle lieber auf den Boden. Meine Eingeweide sind kaputt, meine Seele ist kaputt. Glaub mir, mein Freund – meine Seele auch nur halbwegs wieder hinzubiegen ist ein ungeheuerliches, aussichtsloses Unterfangen.

Ich brauch LIEBE, sagst du? Quatsch mit Soße! Okay, ich bin ein Einzelgänger, und ein Einzelgänger hängt sich meistens auf; ein Liebender braucht Hilfe und bekommt sie meistens auch; aufs Aufhängen läuft beides raus. Klar bin ich krank. Schwindelanfälle und weiße Pusteln an den Händen, Furunkeln am Arsch, Kehlkopfentzündung, Herzflattern, Glassplitter in den Füßen, Neuritis und Bursitis, Zahnweh, Kopfweh, Magengeschwüre, eingewachsene Haare und Zehennägel, kaputte Finger, Schlaflosigkeit, Angst – weiß der Geier. Nenn irgendwas, ich hab’s. Und bin ein Spanner. Teufel, ja. So schließt sich der Kreis. Übers Spannen wollt ich doch noch was erzählen, verdammt!

Ich bin also beim Arzt im Wartezimmer. Weswegen? Ich sag’s ungern, aber ich habe so einen dünnen Strich am Hintern, ganz dünn und tief, als hätte ich auf einer scharfen Kante gesessen, und der dünne, eingekerbte Strich geht nicht weg. Natürlich ist das blöd. Ich hab mal eine Taube auf dem Gehsteig liegen sehen. Sie war krank oder so. Ihre Flügel taten’s nicht mehr. Ich sah die Taube atmen. Und über ihren noch lebendigen Körper krochen schon die Ameisen. Das eine Auge stand offen und sah mich an. Über das Auge krochen auch schon Ameisen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich trat über die Taube weg und ging weiter die Straße entlang. Zwei Stunden später dachte ich nicht mehr dran. Und jetzt hatte ich diesen Strich am Hintern.

Wir warteten zu dritt. Neben mir ein Typ mit Krücke. Und ein Mädchen mit einem unglaublich kurzen Rock und super Beinen in Nylons, mit extrahohen Stöckeln drunter. Heilig, hmmm, hmmm. Ich bekomme also einen Ständer. Ich muss einfach hinsehen. Ich will hinsehen. Mensch, alles gratis. Es ist, als ob man einen Schrank voller Gold findet. Die verrücktesten Sachen passieren. Und für diese Weiber ist das irgendwie gar nichts. Ganz locker-flockig sind die, das macht’s um so schlimmer – und schärfer. Mein Gott. Ob mit 6,8,10,12,48, ich war schon immer ein Spanner. Als Jungen haben wir uns immer unter die Tribünengerüste gelegt, wir sind da drunter und haben uns die Frauenbeine angesehen, mein Freund Harry und ich. Auch bei den Luftrennen haben wir das gemacht. Da war viel Wind, und es war Sommer. Wir haben allerhand gesehen. »Stell dir vor«, sagte Harry, »TAUSENDE VON MUSCHIS!« »Himmel«, sagte ich, »du machst mich ein bisschen krank.« Harry ist jetzt Amtsrichter.

Na, jedenfalls sitze ich da mit dem Strich am Hintern im Wartezimmer, und da sind keine Tausende oder Millionen Muschis, was beängstigend wäre, sondern nur eine, und die kann ich nur beinah sehen, und das ist auch besser so. Natürlich stellt man sich vor, da könnte irgendetwas anderes sein, irgendein verrücktes Wunder.

Ein Schwanz zum Beispiel? Du wieder, Frank. Ich versuche hier eine lustige Spannergeschichte zu erzählen, und dann kommst du mir wie der einsame, tumbe amerikanische Held auf seinem Barhocker in der guten alten Eckkneipe. Leck mich. Die Geschichte ist lustig. Hör zu. Ich bin wie gesagt ein Spanner. Okay. Sperr die Ohren auf, ja?

MITTEN in meinem schönen Ständer denke ich auf einmal, ja, was MEINST du wohl, was ich denke? Immerhin ist sie ja beim ARZT. Herrgott, denke ich, sie könnte den Tripper oder die Siff haben, ja? UND DAS DING FÄLLT GLATT RUNTER, UND ICH FANGE BEINAH AN, SIE ZU HASSEN.

Ich spinne, meinst du? Der Typ mit der Krücke denkt offenbar dasselbe wie ich, denn er guckt seit zehn Minuten stur auf eins der Rheinburgengemälde, mit denen der gute deutsche Doktor das Wartezimmer vollgehängt hat. 5 oder 6 Gemälde von Burgen am Rhein hängen da drin.

Ich, ich greife zu einer Zeitschrift, einer langweiligen. Newsweek oder so was.

So bekam ich noch mal alles über den lange zurückliegenden Einfall der russischen Panzer in Prag zu lesen. Genauso idiotisch wie die Ansteherei wegen des Führerscheins. Kaum jemals Vernunft dahinter. Nichts als vertane Zeit, Warten und Schwachsinn. Ich las das also alles noch mal, um nicht auf diese Siffbeine zu gucken. Der Zeitschriftenbericht unterschied sich kaum von der Zeitungsversion. Gott, was für ein trister grauer Irrsinn. Wie im Frisörsalon. Das ist das Schreckliche an Wartezimmern. Der ganze aufgewärmte Schmu. Man musste es lesen und warten, warten, warten, sonst musste man dasitzen und einander ins GESICHT sehen, und das ging ja nun gar nicht. Also blättern alle, lesen alle diese öden Illus und sitzen da und DENKEN: Warum geht’s mir bloß so schlecht? – »Einige Ungarn auf den Panzern wurden von den Tschechen gefragt, warum sie da mitzogen, wo doch Ungarn selbst vor gar nicht so langer Zeit von russischen Panzern überrollt wurde. Die Ungarn drehten sich weg.« – Warum geht’s mir bloß so schlecht?, fragen sich die Zeitschriftenleser in den Wartezimmern. Hab ich den Tripper, Krebs, Acidose, Hepatitis, Starrkrampf, Pyämie, Seborrhoe oder Scharlach? Blätter, blätter, denk, denk, fertig.

Also nimmt man sich eine neue Zeitschrift und wartet.

So wie ich, und dann kam zwitschernd eine alte Frau heraus und zwitscherte dem Mädchen in dem kurzen kurzen Rock zu: »Huh, er hat mir das Auge genäht! Huh, jetzt geht’s mir gleich viel besser! Viel, viel besser, Liebchen, huh! Die Fäden müssen dann noch gezogen werden, aber so geht’s mir viel besser!«

»Gut, setz dich noch einen Moment, Mama, dann gehen wir nach Hause«, sagt das Mädchen in dem kurzen kurzen kurzen Rock mit den Nylonwunderbeinen und den hohen hohen engen schwarzen Stöckeln. Gott.

Was machte ich mir für Vorwürfe: Du dummer, dummer, ahnungsloser Spanner. Du hast die ganze Zeit VERSCHWENDET, du Idiot! Das ist die TOCHTER! Kein TRIPPER! Kein gar nichts! Nur der Zauber dieser langen Beine, die dich GRATIS ansehen, Erbarmen, Gott, was für geile Zauberbeine. WUNDERBAR!!!!

Über den Rand einer vier Wochen alten LOOK hinweg schiele ich hin.

Gerade komme ich in die GÄNGE, da stehen Mama und Tochter auf und GEHEN. Die Tochter trägt einen kurzen schwarzen Unterrock, ein rotes Kleid, ein grünes Höschen, und als Mama zur Tür raus ist, zieht sie das Kleid irgendwie runter, strafft sich, bringt die Brüste hoch, streckt den Hintern raus, dann ist sie verschwunden wie Mama, und mir bleibt nur ein Strahl hellen Sonnenlichts in der Tür.

Was dann? Was konnte da noch kommen? Der Arzt rief den Typ mit der Krücke rein, und ich hängte eins der Rheinburgenbilder ab und nahm es im Aufzug mit nach unten. Stieg im Erdgeschoss aus, brachte die Burg am Rhein zu meinem Wagen, warf sie auf den Rücksitz und fuhr davon.

Wieso ich das gemacht habe? Ich weiß es nicht. Vielleicht war es das Einzige, was mir noch blieb von den Nylonbeinen, dem grünen Höschen, keine Ahnung. So ungefähr, als ob man eine einzelne Ameise aus dem Auge einer lebenden Taube entfernt. Nicht viel. Wirf mir noch ein Bier rüber. Ich hab ja gesagt, es ist eine komische Spannergeschichte. Wieso lachst du nicht?