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Ramas Geheimnis
Nachdem die Zustände in der Kolonie bei Sirius immer unerträglicher werden, flüchtet Nicole Wakefields Familie zurück in das Schiff Rama II, in dem sie während der Reise jahrelang gelebt hat. Dort hatten sie den ersten Kontakt zu den Oktoarachninden, die Nicole jetzt helfen, sich vor den Polizisten der Kolonie zu verstecken. Als der Konflikt eskaliert, schaltet sich die KI ein, die das Schiff kontrolliert …
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Seitenzahl: 978
ARTHUR C. CLARKE & GENTRY LEE
NODUS
Roman
Prolog
Erstes Buch: Die Rettung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Zweites Buch: Die Rainbow Connection
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Drittes Buch: Die Smaragdstadt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Viertes Buch: Krieg in Rama
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Fünftes Buch: Im Nodus
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Danksagung
Dreißigtausend Lichtjahre vom Mittelpunkt der Galaxis entfernt, in einem der äußeren Spiralarme der Milchstraße, kreist langsam ein unauffälliges gelbes Einzelgestirn. Dieser Fixstern, die Sonne, benötigt 225 Millionen Jahre für den Umlauf auf ihrer Bahn. Als dieser Stern zum letzten Mal seinen derzeitigen Orbitalpunkt erreichte, hatten auf der Erde, einem kleinen blauen Satellitenplaneten der Sonne, gerade riesenhafte, furchteinflößend starke Reptilien sich als dominante Spezies entwickelt.
Unter allen Planeten und anderen Zugehörigen in der »Familie« dieser Sonne hat sich einzig auf der Erde jemals so etwas wie dauerhafte komplexe Lebensformen entwickelt. Nur auf diesem einen besonderen Planeten entwickelten sich Chemikalien zu einem Bewusstsein, das dann zu fragen beginnen konnte, je mehr es die Weitläufigkeit und die Wunder des Universums begriff, ob nicht vielleicht ähnliche wundersame Zufälle, wie jener, aus dem sie selbst entstanden waren, sich auch anderwärts ereignet haben könnten.
Schließlich, so argumentierten diese vernunftbegabten Erdlinge, gebe es allein in dieser Galaxis hundert Milliarden solcher Sterne. Und wir sind ziemlich sicher, dass wenigstens zwanzig Prozent dieser Sonnensterne Planeten in Orbitalbahnen besitzen, dass ferner außerdem eine kleine, aber signifikante Zahl dieser Planeten zu einem Zeitpunkt ihrer Entwicklung die atmosphärischen und thermalen Bedingungen aufwies, die zur Bildung von Aminosäuren und anderen organischen chemischen Stoffen führte, die eine Sine-qua-non-Voraussetzung für die Entstehung von Leben sind, das wir uns hypothetisch vorstellen können. Wenigstens einmal während der Erdgeschichte entdeckten diese Aminosäuren den Trick der Selbstvermehrung, und das Evolutionswunder war in Gang gesetzt, das schließlich zu menschlichen Wesen führte. Wie dürften wir uns zu behaupten anmaßen, dass eine solche Entwicklungskonsequenz einzigartig in der Geschichte des Universums gewesen sei? Die schwereren Atome, die für unsere Entstehung nötig waren, verschmolzen bei stellaren Katastrophen, wie sie sich seit Milliarden Erdenjahren in diesem ganzen Universum ereignen. Ist es also wahrscheinlich und glaubhaft, dass sich ausschließlich hier an diesem einzigen Ort diese Atome zu besonderen Molekülen verketteten und zu einer Intelligenz entwickelten, die imstande war zu fragen: »Sind wir allein?«
Die Menschen auf der Erde begannen ihre Suche nach Brüdern im Kosmos, indem sie Teleskope bauten, durch die sie ihre unmittelbaren Planetennachbarn sehen konnten. Als sich ihre Technologie dann weiterentwickelt hatte, wurden raffinierte Roboterraumsonden zu den anderen Planeten ausgeschickt, um zu erkunden, ob es dort Formen von Leben gebe. Diese Explorationen bewiesen, dass es in unserem Sonnensystem sonst nirgendwo intelligentes Leben gegeben haben kann. Wenn es »da draußen« jemanden gibt, schlossen die Wissenschaftler auf der Erde, irgendeine uns ebenbürtige intelligente Spezies, mit der wir irgendwann einmal in Kontakt treten könnten, dann musste man sie jenseits des leeren Raumes suchen, der unser Sonnensystem von allen anderen Sternen trennt.
Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts menschlicher Zeitzählung begann man auf der Erde mit riesigen Antennen den Himmel nach kohärenten Signalen aus dem »All« abzusuchen, um herauszufinden, ob uns vielleicht andere intelligente Spezies Funkbotschaften zusandten. Diese Suche setzte sich über hundert Erdenjahre fort und verstärkte sich noch im frühen 21. Jahrhundert, in den halkyonischen Tagen friedlicher internationaler Zusammenarbeit der Wissenschaft, dann schwand das Interesse in den letzten Jahrzehnten wieder, nachdem auch bei der vierten Einzelversuchsreihe systematischer Lauschversuche ins All keine Signale von »Außerirdischen« festgestellt werden konnten.
Als im Jahre 2130 erstmalig das fremde zylindrische Objekt identifiziert wurde, das aus dem interstellaren Raum auf unser Sonnensystem zuraste, waren die meisten zum Denken befähigten Menschen zu dem Schluss gelangt, dass das Leben im Universum eine Seltenheit und intelligentes Leben, sofern es tatsächlich irgendwo außerhalb der Erde existierte, eine extrem rare Sache sein müsse. Denn wie sonst, argumentierten die Wissenschaftler, ließe es sich denn erklären, dass sämtliche unserer exakt geplanten und durchgeführten extraterrestrischen Forschungsbemühungen während des vergangenen Jahrhunderts zu keinerlei positiven Ergebnissen geführt haben?
Darum herrschte auf der Erde Bestürzung, als sich nach eingehenderer Untersuchung das Objekt, das 2130 in unser Sonnensystem eintrat, als unbezweifelbar künstlich und fremdartiger Herkunft herausstellte. Hier hatte man den unbestreitbaren Beweis dafür, dass in einem anderen Bereich des Universums höheres intelligentes Leben existierte – oder doch einmal existiert hatte. Als eine Raumfahrtmission auf neuen Kurs gesetzt wurde, um eine Begegnung mit diesem düsteren zylindrischen Weltraumungeheuer herzustellen, stellte sich heraus, dass das Objekt Dimensionen besaß, welche die der allergrößten Städte auf der Erde überstiegen, und die mit der Untersuchung befassten Kosmonauten stießen auf immer neue Rätsel und Wunder. Aber es gelang ihnen nicht, einige der fundamentalsten Rätsel dieses seltsamen fremden Raumschiffes zu lösen. Der Eindringling von den Sternen gab weder klare Hinweise auf seine Herkunft preis noch über seine Absichten.
Diese erste Expedition zur Erforschung von »Rama« (so hatte man das gigantische zylindrische Objekt genannt, ehe man erkannt hatte, dass es sich nicht um einen natürlichen Körper, sondern um ein außerirdisches Raumschiff handelte) katalogisierte das Objekt und erforschte und kartographierte auch das Innere. Nachdem diese Forschergruppe Rama wieder verlassen hatte, war das fremde Raumschiff um die Sonne gezogen, mit hyperbolischer Geschwindigkeit wieder aus dem Sonnensystem verschwunden, und die Wissenschaftler hatten sich an die Analyse sämtlicher bei dieser Mission gesammelten Daten gemacht. Einhellig war man der Überzeugung, dass die ersten menschlichen Besucher Ramas nicht auf die tatsächlichen Erbauer des rätselhaften Raumschiffes gestoßen waren. Eines allerdings stellte sich bei genauer Endanalyse heraus: Die Konstrukteure Ramas huldigten einem unumstößlichen Prinzip der Redundanz. Jedes kritische System und Hilfssystem verfügte über zwei Backups. Die Ramaner hatten eine Vorliebe für Triplizität. Also hielten die Wissenschaftler es für wahrscheinlich, dass bald zwei weitere ähnliche Raumschiffe nachfolgen würden.
In den Jahren kurz nach dem 2130er Besuch Ramas schossen auf der Erde die Erwartungen üppig ins Kraut. Wissenschaftler und natürlich die Politiker verkündeten, dass eine neue Ära der Menschheitsgeschichte begonnen habe. Die ISA (International Space Agency) entwickelte in Zusammenarbeit mit COG (dem Council of Governments) sorgfältig Pläne für den nächsten Besuch der »Ramaner«. Alle Teleskope waren in den Weltraum gerichtet und wetteiferten miteinander um den Ruhm, als erste Einzelperson oder als erstes Observatorium das zweite Rama-Raumschiff geortet zu haben. Doch es gab keine weiteren Beobachtungen.
Mitte der 2130er Jahre erstarb der erdweite Wirtschaftsboom, der sich in seinen späten Phasen teilweise aus der globalen Reaktion auf die Rama-Entdeckung gespeist hatte, ganz plötzlich. Die Erde torkelte in die gravierendste Wirtschaftskrise aller Zeiten, bekannt als das »Große Chaos«, und damit einher gingen anarchische Zustände und erdumspannende Verarmung und Not. Während dieser Zeit der Trübsal wurden alle wissenschaftlichen Forschungsprojekte stillgelegt, und nachdem die Erdbevölkerung sich einige Jahrzehnte lang auf die Bewältigung ihrer heimischen Probleme konzentriert hatte, war das Erscheinen des unerwarteten, unerklärlichen Besuchs von den Sternen nahezu vergessen.
Im Jahre 2200 erschien ein zweiter zylinderförmiger Eindringling im Sonnensystem. Die Erdbevölkerung holte die alten Strategiepläne hervor, die man nach dem ersten Rama-Besuch entwickelt hatte, entstaubte sie und bereitete sich auf die Begegnung mit Rama-II vor. Für diese Mission wurde eine Mannschaft von zwölf Personen ausgewählt. Kurz nach der Kontaktaufnahme berichteten die Zwölf, das neue Rama sei fast völlig identisch mit seinem Vorgänger. Aber das Explorationsteam stieß auf neue Rätsel und Wunder, so auch einige fremdartige Wesen, konnte aber noch immer keine definitiven Antworten darauf finden, woher Rama kam und was es bezweckte.
Drei rätselhafte Todesfälle bei diesem Team lösten daheim auf der Erde große Aufregung und Besorgnis aus, wo man alle Stadien dieser Mission auf den Fernsehmonitoren verfolgte. Und als das gewaltige zylindrische Raumfahrzeug plötzlich eine Kursänderung vornahm und auf eine Bahn einschwenkte, die die Erde selbst bedrohte, entwickelten sich daraus Furcht und Schrecken. Widerwillig gelangten die führenden Staatsmänner der Erde zu dem Schluss, dass ihnen mangels weiterer Informationen nichts anderes übrigbleibe, als Rama-II potentielle feindselige Absichten zu unterstellen. Es durfte nicht zugelassen werden, dass das fremde Raumschiff auf der Erde einschlug, oder dass es auch nur nahe genug herankam, um irgendwelche Waffen, über die es möglicherweise verfügte, gegen die Erde einzusetzen. Es wurde entschieden, Rama-II zu vernichten, solange es sich noch in sicherer Entfernung befand.
Das Explorationsteam wurde zurückbeordert, doch drei Besatzungsmitglieder, zwei Männer und eine Frau, befanden sich noch im Innern von Rama-II, als das fremde Raumschiff einem von der Erde aus gestarteten massiven Nuklearangriff auswich, an dem feindseligen Erdplaneten vorbeimanövrierte und mit hoher Beschleunigung das Sonnensystem verließ. Samt seiner ungelösten Rätsel und mit den drei menschlichen Passagieren an Bord.
Rama-II brauchte dreizehn Jahre bei relativistischer Geschwindigkeit für die Reise aus Erdnähe bis zu ihrem Bestimmungsort, einem gigantischen industriellen Werftkomplex, »Nodus« genannt, der auf einem weit entfernten Orbit um den Stern Sirius lief. Die drei Menschen an Bord hatten zusammen fünf Kinder und bildeten eine Familie. Bei ihrer Erforschung ihrer wundersamen durch den Raum fliegenden Heimatwelt stieß die Familie wieder auf die außerirdischen Spezies, denen sie schon zuvor begegnet war. Als sie jedoch den Nodus erreichten, waren die Menschen bereits überzeugt, dass auch diese fremden anderen Spezies genau wie sie selbst nur Passagiere in Rama seien.
Die menschliche Familiengruppe blieb etwas über ein Jahr (Erdzeit) im Nodus. Während dieser Zeit wurde das Rama-Raumschiff überholt und für die dritte und letzte Reise zu unserem Sonnensystem ausgerüstet. Von dem »Adler«, einem nicht-biologischen Geschöpf der Nodalen Intelligenz, erfuhren sie, dass es die Aufgabe der verschiedenen Rama-Flüge war, so viele Informationen wie möglich über raumfahrende Spezies in der Galaxie zu sammeln und zu katalogisieren. Der »Adler«, mit dem Kopf, den Augen und dem Schnabel eines Adlers über einem anthropomorphen Körper, informierte sie auch dahingehend, dass Rama-III, das letzte Raumschiff, über ein perfekt konstruiertes Habitat mit erdidentischen Bedingungen verfüge, das zweitausend Menschen Platz biete.
Vom Nodus aus wurde ein Video zur Erde übertragen, in dem die unmittelbare Wiederkehr Ramas (Nummer III) angekündigt wurde. Ebenfalls wurde in dem Video erklärt, dass eine hochentwickelte extraterrestrische Spezies beabsichtige, über einen längeren Zeitraum hinweg menschliches Verhalten zu beobachten und zu erforschen, und dass zu diesem Zweck zweitausend repräsentative Exemplare der Spezies Mensch zur Übernahme in Rama-III in eine Orbitalbahn um den Planeten Mars gebracht würden.
Rama-III unternahm den Flug vom Sirius zurück ins Sonnensystem mit einer Geschwindigkeit, die etwas mehr als halbe Lichtgeschwindigkeit betrug. Im Raumschiff schliefen die meisten der Angehörigen der Familiengruppe, die im Nodus gewesen war, in Spezialkokons. In der Marsumlaufbahn empfingen sie die anderen Menschen von der Erde, und das unberührte Erdhabitat in Rama wurde besiedelt. Die daraus entstandene Kolonie, der sie den Namen »New Eden« gaben, war gegen die übrigen Bereiche des Raumschiffs durch dicke Mauern völlig abgeschottet.
Unverzüglich beschleunigte dann Rama-III auf relativistische Geschwindigkeit und raste aus dem Sonnensystem in Richtung des gelben Sterns Tau Ceti davon. Drei Jahre verstrichen ohne jeglichen äußeren Eingriff in die Angelegenheiten der Kolonie. Die Bürger von New Eden waren dermaßen mit sich selbst beschäftigt, dass sie dem ihre Kolonie umgebenden Universum kaum Beachtung schenkten.
Als eine Folge von Krisen die junge Demokratie belastete, die sich in dem von den Ramanern für die Menschen geschaffenen Paradies gerade zu entwickeln begonnen hatte, nutzte ein skrupelloser Shogun die Gelegenheit zur Machtergreifung und unterdrückte unerbittlich jegliche Opposition. Zu diesem Zeitpunkt floh einer der an der Rama-II-Expedition Beteiligten aus New Eden und nahm Kontakt mit einem Symbiontenpaar einer fremdartigen Spezies auf, die in dem angrenzenden geschlossenen Habitat lebte. Seine Frau blieb in der Menschenkolonie zurück und versuchte, vergeblich, das Gewissen der Gemeinschaft wachzurütteln. Einige Monate später wurde sie verhaftet, des Hochverrats angeklagt und schließlich zum Tode verurteilt.
Als die Umweltbedingungen und die Lebensqualität in New Eden sich mehr und mehr verschlechterten, überfielen Truppen der Humankolonie die benachbarten Lebensräume im nördlichen Hemizylinder Ramas und begannen einen Vernichtungskrieg gegen das nicht-humane Symbiontenpaar. Inzwischen fuhren die geheimnisvollen Ramaner, von denen bislang nichts weiter als ihre grandiosen technischen Errungenschaften sichtbar geworden war, in ihrer Beobachtung aus der Ferne fort und entdeckten, dass es nur eine Frage der Zeit sein könne, bis die Menschenkolonisten in Kontakt mit den höherentwickelten Spezies gelangen würden, die das Gebiet südlich der Zylindrischen See bewohnten …
»Nicole.«
Zunächst schien es, als wäre die leise mechanische Stimme Teil ihres Traums. Aber als ihr Name etwas lauter wiederholt wurde, fuhr Nicole erschrocken auf.
Furcht stieg in ihr auf. Sie sind gekommen, um mich zu holen, dachte sie. Es ist früher Morgen. Und in ein paar Stunden werde ich sterben.
Sie atmete langsam und tief durch und bemühte sich, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Sekunden später öffnete sie die Augen. Ihre Zelle war völlig dunkel. Bestürzt blickte sie sich nach der Person um, die ihren Namen gerufen hatte.
»Hier sind wir«, sagte sehr leise eine Stimme. »Neben deinem Ohr. Richard hat uns geschickt, um dir bei der Flucht zu helfen … aber wir müssen uns beeilen.«
Einen Moment lang glaubte Nicole, dass sie vielleicht noch träumte. Dann hörte sie eine zweite Stimme, ziemlich ähnlich, aber doch eindeutig eine andere. »Roll dich nach rechts, dann illuminieren wir uns.«
Nicole tat es. Neben ihrem Kopf standen auf der Pritsche zwei Figürchen, höchstens acht bis zehn Zentimeter hoch, beide weiblich. Sie glommen kurz von innen heraus auf. Das eine Figürchen hatte kurze Haare und trug die Rüstung eines Knappen aus dem Europa des 15. Jahrhunderts. Das andere Figürchen trug eine Krone und die lange Faltenrobe einer Königin aus dem Mittelalter.
»Ich bin Jeanne d'Arc«, sagte die eine.
»Ich bin Eleonore von Aquitanien.«
Nicole überkam ein nervöses Lachen, und sie starrte die beiden Püppchen an. Sekunden später erlosch die innere Illumination der Roboter, und Nicole hatte sich wieder soweit gefasst, dass sie sprechen konnte. »Also hat euch Richard geschickt, um mir zur Flucht zu verhelfen?«, sagte sie flüsternd. »Aber wie wollt ihr das anstellen?«
»Wir haben bereits das Überwachungssystem sabotiert«, sagte die kleine Jeanne stolz. »Und einen Garcia-Bioten umprogrammiert … Der müsste in ein paar Minuten kommen und dich rauslassen.«
»Wir haben einen Grundplan für die Flucht und mehrere Ersatzpläne für den Notfall«, fügte Eleonore hinzu. »Richard hat monatelang daran gearbeitet – seit er uns fertiggebaut hat.«
Wieder musste Nicole lachen. Sie war völlig perplex. »Wirklich? Und dürfte ich euch fragen, wo sich mein genialer Gemahl in diesem Moment aufhält?«
»Richard befindet sich in eurem alten Versteck im Untergrund von New York«, antwortete Jeanne. »Wir sollen dir sagen, dass sich dort nichts verändert hat. Und er überwacht unsere Bewegungen über Leitstrahl … Ach, übrigens versichert Richard dir seine Liebe. Er hat nicht vergessen …«
»Bitte bleib ganz ruhig«, unterbrach Eleonore, als Nicole automatisch hinter das rechte Ohr langte, um das Kitzelgefühl wegzukratzen. »Ich baue gerade deinen persönlichen Leitstrahl auf und das belastet mich stark.«
Augenblicke später griff Nicole nach dem winzigen Instrumentpäckchen an ihrem Ohr und fragte kopfschüttelnd: »Und er kann uns auch hören?«
»Richard ist der Meinung, dass wir Vokalübertragungen nicht riskieren können«, sagte Eleonore. »Die könnten von Nakamura zu leicht abgefangen werden … Aber Richard wird am Monitor überwachen, wo wir uns jeweils befinden.«
»Und jetzt könntest du aufstehen und dich anziehen«, sagte Jeanne. »Wir sollten bereit sein, wenn der Garcia kommt.«
Hören die Wunder niemals auf?, dachte Nicole, während sie sich über der primitiven Waschschüssel das Gesicht wusch. Flüchtig kam ihr der Gedanke, die beiden Roboter könnten Teil eines schlauen Plans von Nakamura sein und dass sie bei einem Fluchtversuch getötet werden sollte. Doch dann sagte sie sich: Unmöglich! Selbst wenn einer von Nakamuras Lakaien fähig wäre, solche Roboter zu bauen, so weiß doch niemand außer Richard genug über mich und Jeanne und Eleonore … Außerdem, was macht es schon für einen Unterschied, ob ich bei einem Fluchtversuch umkomme? Meine Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl ist für acht Uhr festgesetzt.
Sie hörte, wie draußen ein Biot sich ihrer Zelle näherte. Sie war noch immer nicht völlig davon überzeugt, dass ihre beiden kleinen Freundinnen die Wahrheit sagten, und richtete sich steif auf. »Setz dich wieder auf die Pritsche!«, befahl Jeanne hinter ihrem Rücken. »Damit wir in deinen Taschen verschwinden können!« Nicole spürte, wie die Roboter über ihre Bluse heraufkrochen. Sie lächelte. Du bist wirklich erstaunlich, Richard, dachte sie. Und ich bin außer mir vor Freude, dass du lebst.
Der Garcia-Biot hatte eine Lampe und kam mit autoritärem Gehabe in die Zelle gestakt. »Kommen Sie mit, Mrs. Wakefield«, sagte er laut. »Ich habe Befehl, Sie in die Vorbereitungskammer zu bringen.«
Wieder überkam Nicole ein Gefühl des Schreckens. Der Biot verhielt sich eindeutig unfreundlich. Was ist, wenn … Doch ihr blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Der Garcia brachte sie mit unerbittlicher Eile aus der Zelle in den Gang. Nach zwanzig Metern kamen sie bei zwei regulären Biotenwächtern und einem menschlichen Offizier an, einem jungen Mann, den Nicole noch nie gesehen hatte. »Halt!«, brüllte der Mann ihnen nach, als sie gerade die Treppe hinaufsteigen wollten. Nicole blieb steif stehen.
»Du hast vergessen, den Transferschein abzuzeichnen«, sagte der Mann und hielt dem Garcia ein Papier entgegen.
»Ach ja«, sagte der Biot und trug schwungvoll seine ID-Nummer auf den Papieren ein.
Keine Minute später stand Nicole vor dem großen Haus, in dem sie monatelang in Haft gesessen hatte. Sie atmete tief die frische Luft ein, dann folgte sie dem Garcia auf dem Weg in die Central City.
»Nein!«, hörte Nicole Eleonore aus der Brusttasche. »Wir gehen nicht mit dem Bioten. Geh nach Westen. Auf die Windmühle mit dem Licht an der Spitze zu. Und du musst rennen. Wir müssen vor der Morgendämmerung bei Max Puckett sein!«
Ihr Gefängnis lag fast fünf Kilometer von der Farm von Max entfernt. Sie trabte in gleichmäßigem Tempo über die schmale Straße, ab und zu drängte sie einer der beiden Roboter dazu, rascher zu laufen, denn es war nicht mehr weit bis zum Tagesanbruch, und sie achteten exakt auf die Zeit. Anders als auf der Heimaterde waren die Übergänge von Tag und Nacht in New Eden nicht graduell, sondern abrupt. Es war finstere Nacht, und im nächsten Moment flammte die künstliche Sonne auf und begann ihre Minibahn über die Kuppel der Humankolonie.
»Noch zwölf Minuten bis zum Tag«, sagte Jeanne von Orleans, als Nicole auf dem Radweg anlangte, den letzten zweihundert Metern vor dem Farmhaus Pucketts. Nicole war fast am Ende, doch sie lief weiter. Zweimal hatte sie bei dem Lauf durch die Felder einen dumpfen Schmerz in der Brust verspürt. Eindeutig in mieser Kondition, dachte sie und bedauerte, dass sie nicht in ihrer Haftzelle regelmäßig trainiert hatte. Und außerdem so ungefähr fast sechzig Jahre alt.
Das Haus war dunkel. Nicole blieb an der Vorderseite stehen, um wieder zu Atem zu kommen, und kurz darauf öffnete sich die Tür. »Ich warte schon«, sagte Max mit besorgtem Gesicht, was die kritische Situation nur noch stärker betonte. Hastig umarmte er Nicole. »Komm schnell mit!« Er ging rasch auf die Scheune zu.
»Auf der Straße waren bisher noch keine Polizeifahrzeuge«, sagte Max, sobald sie in der Scheune waren. »Vielleicht haben die bisher noch nicht entdeckt, dass du fort bist. Aber es geht jetzt um Minuten.«
Das Geflügel war im hinteren Teil der Scheune untergebracht. Die Legehennen in einer von den Hähnchen und der restlichen Scheune abgetrennten Abteilung. Als Max mit Nicole das Hennenhaus betrat, gab es einen gewaltigen Aufruhr und die Hühner stoben wild durcheinander, gackerten, zeterten und schlugen wild mit den Flügeln. Der Gestank war fast zu überwältigend für Nicole.
Max grinste. »Ich vergesse immer wieder, wie widerlich Hühnerscheiße für andere riecht. Ich habe mich dran gewöhnt.« Er gab Nicole einen Klaps auf den Rücken. »Immerhin, es ist ein zusätzlicher Schutz für dich, und ich glaube nicht, dass du sie in deinem Versteck noch riechen wirst.«
Max ging in einen Winkel des Hühnerstalls, scheuchte etliche Hennen fort und kniete nieder. »Als Richard mir die kleinen komischen Roboter geschickt hat«, sagte er und schaufelte mit den Händen Streu und Hühnerfutter beiseite, »wusste ich zunächst nicht, wo ich dein Versteck bauen sollte. Aber dann fiel mir das hier ein.« Max hob einige Planken weg, und darunter war eine rechtwinklige Öffnung im Boden. »Und ich hoffe, dass es die richtige Entscheidung war.«
Er bedeutete Nicole, sie solle mitkommen, dann kroch er in das Loch. Auf Knien und Händen über die nackte Erde. Der Gang verlief einige Meter parallel zum Scheunenboden, dann bog er in einem scharfen Knick nach unten. Es war verdammt eng. Nicole stieß immer wieder gegen Max und gegen die Decke und die Wände aus Erde. Einzige Lichtquelle war die kleine Stablampe, die Max in der rechten Hand trug. Nach etwa fünfzehn Metern mündete der Tunnel in einem dunklen Raum. Max stieg vorsichtig die Strickleiter hinab, drehte sich um und half Nicole. Kurz darauf standen sie in der Mitte des Gemachs; Max langte nach oben und knipste eine Glühbirne an.
»Nicht grad ein Palast«, sagte er, als Nicole sich umsah, »aber ich vermute, doch verdammt viel angenehmer als die Gefängniszelle.«
In dem Raum gab es ein Bett, einen Stuhl, zwei Borde mit Nahrungsmitteln, ein weiteres Bord mit elektronischen Buchdisks, einige Kleidungsstücke in einem offenen Schrank, die nötigsten Toilettensachen, einen großen Wasserbehälter (der wohl nur schwer durch den Zugangstunnel hereingebracht worden sein konnte) und in der anderen Ecke eine tiefe quadratische Latrine.
»Hast du das alles ganz allein gemacht?«, fragte Nicole.
»Klar«, sagte Max. »Nachts … die letzten paar Wochen lang. Ich konnte nicht riskieren, jemanden zuhilfe zu holen.«
Nicole war gerührt. »Wie kann ich dir das je danken?«
»Indem du dich nicht erwischen lässt.« Max grinste. »Ich möchte nämlich ebenso wenig schon sterben wie du … Ach, übrigens, da …« Er gab Nicole ein elektronisches Lesegerät für die Buchdisks. »Hoffentlich magst du die Auswahl an Lektüre. Leitfäden über Schweinezucht und Geflügelhaltung sind zwar den Romanen deines Vaters nicht vergleichbar, aber ich wollte im Buchladen kein Aufsehen erregen.«
Nicole kam zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Leise sagte sie: »Max, du bist ein großartiger Freund. Ich weiß nicht, wie du …«
»Draußen ist es jetzt Tag«, unterbrach Jeanne von Orleans aus Nicoles Hemdtasche. »Wir hängen laut Zeitplan zurück. Mr. Puckett, wir müssen unsere Rückzugsroute überprüfen, bevor du uns verlässt.«
»Ach was!«, sagte Max. »Schon wieder kriege ich Befehle von 'nem Roboter, der nicht länger ist als 'ne Zigarette.« Er zog Jeanne von Orléans und Eleonore aus Nicoles Tasche und platzierte sie hinter eine Erbsenkonserve auf dem oberen Bord. »Seht ihr die kleine Tür? Dahinter ist ein Rohr … es mündet direkt hinterm Schweinetrog … wollt ihr mal nachprüfen?«
Während der paar Minuten, in denen die Roboter fort waren, informierte Max Nicole. »Die Polizei wird überall nach dir suchen«, sagte er. »Besonders hier, weil bekannt ist, dass ich mit euch befreundet bin. Also werde ich den Zugang zu dem Versteck dichtmachen. Du hast hier alles, um mindestens ein paar Wochen durchzuhalten …
Die Roboterchen können ungehindert raus und rein.« Max lachte. »Außer natürlich, meine Schweine fressen sie versehentlich auf. Sie sind dein einziger Kontakt zur Außenwelt. Sie werden dir sagen, wann es soweit ist, die zweite Phase des Fluchtplans anzugehen.«
»Also sehe ich dich nicht mehr?«
»Jedenfalls ein paar Wochen lang nicht«, erwiderte Max. »Es ist zu gefährlich … Noch etwas, wenn die Polizei sich hier auf dem Hof aufhält, muss ich dir den Strom abschalten. Zum Zeichen, dass du dich ganz besonders still verhalten musst.«
Eleonore von Aquitanien war auf dem Bord neben der Erbsendose erschienen. »Unser Ausgang ist hervorragend«, verkündete sie. »Jeanne bleibt für einige Tage weg. Sie beabsichtigt, das Habitat zu verlassen und mit Richard Verbindung aufzunehmen.«
»Und ich muss jetzt ebenfalls weg«, sagte Max. Er zögerte. »Aber vorher muss ich dir noch etwas sagen, meine liebe, verehrte Freundin … Wie du wahrscheinlich weißt, war ich mein Leben lang ein verdammt zynischer Kerl. Es gibt nicht viele Menschen, die Eindruck auf mich machen. Aber du hast mich überzeugt, dass wenigstens ein paar von uns höhere Tiere sind als Hühner und Schweine.« Max lächelte. »Nicht viele«, setzte er rasch hinzu, »aber immerhin ein paar.«
»Ich danke dir, Max«, sagte Nicole.
Max ging zur Leiter, wandte sich noch einmal um und winkte, bevor er hinaufstieg.
Nicole setzte sich auf den Stuhl und atmete tief durch. Aus den Geräuschen, die durch den Tunnel kamen, schloss sie, dass Max droben den Zugang zu ihrem Versteck verschloss, indem er die großen Säcke Hühnerfutter direkt auf das Einstiegsloch stapelte.
Also, was nun?, fragte sie sich. Sie machte sich klar, dass sie in den fünf Tagen seit dem Ende des Prozesses kaum an etwas anderes gedacht hatte als an ihren Tod. Nun, da die Furcht vor der unmittelbaren Hinrichtung nicht mehr alle ihre Gedanken beherrschte, konnte sie sie unbefangen umherschweifen lassen.
Zuerst dachte sie an Richard, ihren Ehemann und Partner, von dem sie jetzt schon fast zwei Jahre lang getrennt war. Sie erinnerte sich deutlich an den letzten gemeinsamen Abend, eine grässliche Orgie von Mord und Zerstörung; und dabei hatte alles so hoffnungsvoll mit der Hochzeit ihrer Tochter Ellie und Dr. Robert Turner begonnen. Aber Richard war sicher, dass auch wir auf der Todesliste standen, erinnerte sie sich. Und damit hatte er wahrscheinlich recht … weil er floh, erklärten sie ihn zum Staatsfeind und ließen mich in Ruhe. Zunächst.
Und ich dachte schon, du bist tot, Richard. Ich hätte größeres Zutrauen zu dir haben müssen … aber wie bist du bloß wieder in New York gelandet?
Wie sie so auf dem einzigen Stuhl in ihrem unterirdischen Versteck dasaß, verkrampfte sich ihr das Herz vor Sehnsucht nach der Nähe ihres Mannes. Sie lächelte, während ihr ein paar Tränen über die Wangen liefen und sie die Erinnerungen überkamen. Zuerst sah sie sich selbst wieder in dem Bau der Avianer in Rama-II, Jahre und Jahre war das her, und sie war eine Weile die Gefangene der fremdartigen vogelhaften Geschöpfe, deren Sprachäußerungen ein Schnarren und Kreischen waren. Und Richard hatte sie dort gefunden. Er hatte sein Leben riskiert und war nach New York zurückgekehrt, um sich zu vergewissern, ob sie nicht doch noch am Leben sei. Ohne ihn wäre Nicole für alle Zeit in New York verloren gewesen und verschollen.
Während sie nach einem Fluchtweg quer über das Zylindrische Meer und nach Möglichkeiten suchten, zu ihren Kosmonautenkollegen von der Newton zurückzukehren, waren Richard und sie ein Paar geworden. Und während sie jetzt an ihre ersten Tage der Liebe zurückdachte, war Nicole zugleich amüsiert und überrascht, dass sie dabei eine so starke Erregung verspürte. Wir haben gemeinsam den Atomangriff überlebt. Wir haben sogar meinen schiefgelaufenen Versuch durchgestanden, eine genetische Variante in unseren Nachwuchs einzubringen.
Nicole wand sich vor Scham darüber, wie naiv sie damals, vor so vielen Jahren, gewesen war. Aber du hast es mir verziehen, Richard, und das kann nicht leicht für dich gewesen sein. Und dann, als wir im Nodus waren, bei den Design-Sessions mit dem Adler, sind wir einander nur noch näher gekommen.
Aber wer oder was war eigentlich diese Adlergestalt?, überlegte sie, plötzlich abgelenkt. Und wer oder was hat ihn geschaffen? Vor ihr tauchte das deutliche Bild der bizarren Kreatur auf, die ihr einziger Kontakt gewesen war, während im Nodus das Rama-Raumschiff umgerüstet wurde. Das fremdartige Wesen mit dem Kopf eines Adlers und einem Leib ähnlich dem eines Menschen hatte ihnen gesagt, er sei ein hochentwickeltes Konstrukt von künstlicher Intelligenz und speziell für den Umgang mit Menschen abgestimmt. Seine Augen waren unglaublich, erinnerte Nicole sich. Beinahe mystisch. Und ebenso durchdringend wie die von Omeh.
Ihr Urgroßvater Omeh hatte die grüne Robe des Stammeszauberers der Senufo getragen, als er Nicole in Rom aufsuchte, zwei Wochen vor dem Start der Newton. Sie war Omeh vorher nur zweimal begegnet, beide Male im Heimatdorf ihrer Mutter an der Elfenbeinküste. Das erste Mal, während der Poro-Zeremonie, als Nicole sieben Jahre alt war, und dann drei Jahre später bei der Bestattung ihrer Mutter. Jedes Mal hatte Omeh Nicole bei diesen kurzen Begegnungen darauf vorzubereiten begonnen, dass ihr – wie der alte Zauberer sagte – ein außergewöhnliches Leben vorbestimmt sei. Omeh war es gewesen, der hartnäckig die Überzeugung verfochten hatte, dass Nicole eindeutig die Frau sei, die nach den alten Prophezeiungen der Senufo-Überlieferung »die Saat ihres Volks bis zu den Sternen verbreiten« werde.
Omeh, der Adlerköpfige, auch Richard, dachte Nicole. Was für eine Kombination, um es bescheiden auszudrücken. Das Gesicht Henrys, des Prinzen von Wales, gesellte sich zu den anderen drei Männern, und Nicole dachte flüchtig an die heftige, leidenschaftliche Liebesaffäre mit Henry, kurz nachdem sie ihre Olympia-Goldmedaille gewonnen hatte. In Erinnerung an die Zurückweisung danach zuckte sie zusammen. Aber ohne Henry, mahnte sie sich, hätte es für mich auch Geneviève nicht gegeben. Aber während sie sich an die Liebe erinnerte, die zwischen ihr und ihrer Tochter auf der Erde bestanden hatte, schaute sie zu dem Bord auf der anderen Seite ihres Zimmers hinüber, auf dem die elektronischen Bücher lagen. Sie ging hinüber und las die Titel. Kein Zweifel, Max hatte ihr tatsächlich etliche Handbücher über Schweinezucht und Hühnerhaltung bereitgestellt. Aber das war nicht alles. Wie es aussah, hatte er ihr seine ganze Privatbibliothek gegeben.
Sie musste lächeln, als sie einen Band »Märchen« fand, ins Lesegerät schob und sich die Geschichte vom Dornröschen suchte. Und als sie dann laut las: »Und so lebten sie glücklich, und wenn sie nicht gestorben sind …«, überkam eine andere Erinnerung sie, diesmal aus ihrer Kindheit, als sie vielleicht sechs, sieben Jahre alt gewesen war. Sie saß in ihrem Haus in Chilly-Mazarin, einem Vorort von Paris, auf dem Schoß ihres Vaters.
Als ich ein kleines Mädchen war, wollte ich so gern auch eine Prinzessin sein und glücklich bis ans Ende meiner Tage leben, dachte sie. Wie hätte ich damals ahnen können, dass neben meinem Leben sogar die Märchen fade und langweilig erscheinen müssen …
Sie legte den Buchdisk auf das Bord zurück und setzte sich wieder auf den Stuhl. Und nun, dachte sie und schaute in der Kammer umher, als ich schon glaubte, dass dieses mein unglaubliches Leben vorbei ist, sieht es so aus, als würde ich doch noch ein paar Tage geschenkt bekommen.
Und dann dachte sie wieder an Richard und daran, wie heftig sie sich danach sehnte, ihn zurück zu haben. Wir haben so vieles gemeinsam erlebt, mein Richard. Und ich wünsche mir so sehr, dass ich dich wieder spüren kann, dein Lachen hören kann, dein Gesicht sehen kann. Aber wenn es nicht sein soll, so will ich mich nicht beklagen. Mein Leben war auch bisher schon reich an Wundern.
Eleanor Wakefield traf um halb acht Uhr an dem Großen Auditorium in Central City ein. Obwohl die Hinrichtung erst für 8:00 h angesetzt war, saßen auf den vorderen Plätzen bereits etwa dreißig Personen; einige redeten, andere saßen nur stumm da. Auf der Bühne wanderte ein Fernsehteam um den Elektrischen Stuhl herum. Die Hinrichtung sollte live übertragen werden, doch die im Saal postierten polizeilichen Sicherungsbeamten ließen darauf schließen, dass man trotzdem mit einem »vollen Haus« rechnete, denn die Regierung hatte die Bevölkerung von New Eden dazu aufgefordert, persönlich der Hinrichtung ihrer ehemaligen Gouverneurin beizuwohnen.
Ellie hatte in der vergangenen Nacht mit ihrem Mann eine kleine Auseinandersetzung gehabt. »Erspare dir doch diese Qual, Ellie«, hatte Dr. Turner gesagt, als sie ihm erklärte, sie werde an der Hinrichtung teilnehmen. »Einen letzten Blick auf deine Mutter werfen zu können, das wiegt doch nicht den Horror auf, sie sterben zu sehen.«
Doch Ellie wusste etwas, das Robert nicht wusste. Als sie sich auf ihren Platz setzte, zwang sie sich, die starke Erregung in ihrem Herzen zu beherrschen. Nichts in meinem Gesicht, sagte sie zu sich selber, und nichts in meinem Körperausdruck darf verdächtig sein. Nicht die winzigste Andeutung. Keiner darf auch nur ahnen, dass ich etwas über ihre Flucht weiß. Plötzlich wurde sie von mehreren Leuten angestarrt. Ellie erschrak, dann machte sie sich klar, dass jemand sie erkannt hatte und dass es ja nur natürlich war, dass man sie neugierig angaffte.
Zum ersten Mal war sie den kleinen Robotern ihres Vaters vor sechs Wochen begegnet, als sie draußen vor dem Habitat die Seuchensiedlung Avalon besuchte. Sie assistierte dort ihrem Mann, der die in Isolation verbannten Patienten betreute, die das Retrovirus RV-41 im Körper trugen und zum Sterben verurteilt waren. Es war nach einem spätabendlichen, erfreulichen und ermutigenden Besuch bei ihrer Freundin und früheren Ausbilderin. Sie hatte Eponine verlassen und ging auf dem unbefestigten Weg des Quarantänedorfs entlang, wo sie damit rechnete, Robert bald zu treffen. Und auf einmal hörte sie, wie zwei unbekannte Stimmen sie beim Namen riefen. Sie hatte sich überall umgesehen, ehe sie schließlich auf dem Dach einer Hütte in der Nähe die zwei Figürchen entdeckte.
Sie ging hinüber, um besser sehen und hören zu können, und dann informierten sie die Miniroboter, Eleonore und Jeanne, dass Richard, ihr Vater, noch lebe. Nachdem sie sich von dem Schock erholt hatte, begann Ellie Fragen zu stellen, und sehr schnell war sie überzeugt, dass Jeanne und Eleonore die Wahrheit sagten. Allerdings hatte sie in einiger Entfernung ihren Mann herankommen gesehen, ehe sie fragen konnte, wozu ihr Vater ihr die Roboter geschickt hatte. Hastig hatten ihr die Figürchen auf dem Dach noch zugeflüstert, sie würden bald zurückkommen. Und sie hatten sie auch dringend ermahnt, niemandem etwas von ihrer Existenz zu verraten, nicht einmal Robert, jedenfalls noch nicht gleich.
Ellie war außer sich vor Freude, dass ihr Vater noch am Leben war. Es war ihr unendlich schwergefallen, das Geheimnis zu wahren, obwohl sie sich über die eventuellen politischen Konsequenzen im Klaren war, die eine solche Information haben konnte. Als sie, fast zwei Wochen später, wieder in Avalon, erneut von den Robotern angesprochen wurde, hatte sie einen ganzen Schwall von Fragen parat. Doch diesmal waren Jeanne und die Aquitanerin auf ein anderes Thema programmiert gewesen – auf die Möglichkeit, Nicole aus dem Gefängnis zu befreien. Richard erklärte Ellie bei dieser zweiten Kontaktaufnahme durch seine Roboter, dass dieses Befreiungs- und Fluchtunternehmen gefährlich sein würde. »Wir würden das niemals wagen«, sagte Roboter Jeanne, »bevor es absolut feststeht, dass und wann deine Mutter hingerichtet werden soll. Aber wenn wir nicht vorher darauf vorbereitet sind, besteht keine Chance für eine Flucht im letzten Moment.«
»Was kann ich tun, um zu helfen?«, hatte Ellie gefragt.
Dann hatten ihr die Roboter eine Besorgungsliste übergeben, darunter Nahrungsmittel, Wasser und Kleidung. Sie hatte geschaudert, als sie die Schrift ihres Vaters erkannte.
»Verstecke diese Sachen dort«, sagte Roboter Eleonore und reichte Ellie eine Karte. »Aber nicht später als in zehn Tagen.« Aber dann war jemand aus der Ghettokolonie aufgetaucht, und die beiden Roboter verschwanden.
In der Karte steckte eine kurze Mitteilung von ihrem Vater. »Liebste Ellie«, stand da. »Verzeih die Kürze. Ich bin in Sicherheit und gesund, mache mir aber ganz schwere Sorgen um deine Mutter. Bitte besorge unbedingt die angeführten Sachen und bringe sie an die bezeichnete Stelle auf dem Central Plain. Falls du es nicht alleine bewerkstelligen kannst, beschränke dich, bitte, auf eine einzige Hilfsperson und vergewissere dich, dass sie Nicole ebenso treu ergeben ist, wie wir es sind. Ich hab' dich lieb.«
Ellie hatte sehr schnell begriffen, dass sie Hilfe brauchen würde. Aber wen sollte sie sich als Helfer wählen? Robert, ihr Mann, wäre eine schlechte Wahl gewesen. Aus zwei Gründen: Erstens hatte er bereits drastisch bewiesen, dass seine Patienten und das New-Eden-Krankenhaus für ihn eine höhere Priorität besaßen als irgendwelche politischen Neigungen – sofern er die gehabt hätte. Zweitens würde jeder, der Nicole bei der Flucht half, mit Sicherheit hingerichtet. Wenn sie also Robert in ihre Fluchthilfepläne hineinzog, würde ihre Tochter, Nicole, als Vollwaise zurückbleiben.
Was war mit Nai Watanabe? An ihrer Treue war nicht zu zweifeln, doch sie war eine alleinerziehende Mutter von vierjährigen Zwillingssöhnen. Es kam überhaupt nicht in Frage, sie zu bitten, sich in Gefahr zu begeben. Also blieb nur noch eine Möglichkeit: Eponine. Alle Bedenken, die sie wegen dieser schwerkranken Freundin gehegt hatte, wurden rasch zerstreut. »Selbstverständlich helfe ich dir«, hatte Eponine sofort gesagt. »Ich habe nichts zu verlieren. Dein Mann sagt mir, dass das RV-41 mich in ein, zwei Jahren sowieso umbringen wird.«
Gemeinsam besorgten sie heimlich die gewünschten Dinge, jeweils einzeln und über eine ganze Woche verteilt. Sie hatten alles sicher in ein kleines Tuch gehüllt, das versteckt in einer Ecke von Eponines wie immer mit Kram überfüllten Zimmer in Avalon lag. Am vorbestimmten Tag trug Ellie sich am Kontrollpunkt ein, verließ New Eden und ging zu Fuß nach Avalon hinaus; offiziell gab sie als Grund an, sie müsse »sorgfältig die 24-Stunden-Biowerte« von Eponine beobachten. Aber Robert plausibel zu machen, weshalb sie die Nacht draußen bei Eponine verbringen wollte, war im Grunde weit schwieriger gewesen, als den Menschen und seinen Bioten-Kollegen am Checkpoint von der Legitimität ihres Begehrens nach einem 24-Stunden-Passagierschein zu überzeugen.
Kurz nach Mitternacht hatten Eponine und sie den schweren Packen genommen und sich vorsichtig auf die Gassen Avalons gewagt. Sie hatten sich große Mühe gegeben, den Bioten von Nakamuras Polizei zu entgehen, die nachts das Dorf vor der Kolonie durchstreiften, und sich hinaus auf die Zentralebene geschlichen. Dann waren sie mehrere Kilometer weit gewandert und hatten an dem angegebenen Ort ihre heimliche Fracht abgelegt. Kurz vor dem Einschalten des künstlichen Tageslichts hatte ein Tiasso-Biot sich ihnen vor Epinones Behausung in den Weg gestellt und gefragt, was sie zu einer so unmöglichen Zeit im Freien zu suchen hätten.
»Diese Frau ist RV-41-positiv«, hatte Ellie hastig erklärt, da sie spürte, dass ihre Freundin in einen panischen Angststau zu verfallen drohte. »Sie ist Patientin meines Mannes … und sie hatte entsetzliche Schmerzen und konnte nicht schlafen, also dachten wir, wenn sie sich ein wenig bewegt, auch am frühen Morgen, würde es ihr helfen … Und jetzt, entschuldige schon, möchten wir …«
Der Tiasso hatte sie passieren lassen. Aber Ellie und Eponine waren danach dermaßen geschockt, dass sie zehn Minuten lang kein Wort hatten hervorbringen können.
Danach hatte Ellie die Roboter nicht wieder zu Gesicht bekommen. Sie wusste nicht, ob tatsächlich eine Befreiungsaktion in die Wege geleitet worden war. Und jetzt, da die Stunde der Hinrichtung ihrer Mutter immer näherrückte und die Plätze in der Festhalle rings um sie sich füllen begannen, pochte Ellies Herz wie wild. Wenn nun nichts möglich war?, dachte sie. Wenn sie wirklich in zwanzig Minuten meine Mutter ermorden?
Sie blickte zur Bühne hinauf. Neben dem breiten Hinrichtungsstuhl stand eine metallisch-graue zwei Meter hohe Elektrosäule. Der einzige andere Gegenstand auf der Bühne war eine Digitaluhr, auf der gerade die Ziffern 0742 erschienen. Ellie blickte starr auf den Stuhl. Von oben herab ging eine Haube, die über den Kopf des Opfers gestülpt wurde. Sie schauderte und kämpfte gegen die Übelkeit in ihrer Kehle an. Wie barbarisch! Wie kann irgendeine Art von Lebewesen, die sich für »höherentwickelt« halten, ein derart scheußliches Schauspiel zulassen?
Sie hatte gerade die Vorstellungen an die Hinrichtung verdrängt, als jemand ihr auf die Schulter klopfte. Sie wandte sich um. Ein riesenhafter Polizist beugte sich mit gerunzelter Stirn zu ihr herüber. »Sind Sie Eleanor Wakefield-Turner?«, fragte er.
Sie war so erschrocken, dass sie kaum zu antworten vermochte. Sie nickte. »Würden Sie bitte mitkommen. Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Ellie schob sich auf zittrigen Beinen an drei Leuten in ihrer Reihe vorbei auf den Gang. Etwas ist schiefgelaufen, dachte sie. Die Flucht ist vereitelt worden. Sie haben das Versteck gefunden und irgendwie erfahren, dass ich etwas damit zu tun hatte.
Der Polizist führte sie in einen kleinen Konferenzraum neben dem Saal. »Ich bin Captain Franz Bauer, Mrs. Turner«, sagte der Mann. »Und ich habe die Aufgabe, nach der Exekution Ihrer Mutter die Entsorgung ihrer … äh … ihres Körpers vorzunehmen. Selbstverständlich haben wir die üblichen Abmachungen mit dem Bestattungsunternehmen getroffen, was die Einäscherung betrifft. Aber …« hier zögerte der Captain, als müsse er sorgfältig die rechten offiziellen Formulierungen suchen. »Aber in Anbetracht der früheren Verdienste, die sich Ihre Mutter um die Kolonie erworben hat, dachte ich, dass vielleicht Sie oder ein anderer Familienangehöriger diese letzte Aufgabe übernehmen möchte.«
»Ja, gewiss, Captain Bauer«, antwortete Ellie, aufs höchste erleichtert. »Gewiss. Und ich danke Ihnen sehr«, setzte sie hastig hinzu.
»Das war es dann auch, Mrs. Turner«, sagte der Polizist. »Sie können jetzt wieder in den Saal zurückkehren.«
Ellie stand auf und merkte, dass sie noch immer wacklig auf den Beinen war. Sie stützte sich mit einer Hand auf dem Tisch ab, hinter dem Captain Bauer saß. »Sir?«
»Ja?«
»Dürfte ich vielleicht meine Mutter noch einmal unter vier Augen sehen, nur einen kurzen Augenblick, ehe …«
Der Polizist sah Ellie lange an. »Ich glaube nicht. Aber ich werde mich Ihretwegen erkundigen.«
»Haben Sie ganz herzlichen …«
Das Schrillen eines Telefons unterbrach sie. Sie zögerte lange genug, um den bestürzten Gesichtsausdruck auf Captain Bauers Gesicht zu sehen. »Ist das ganz sicher?«, hörte sie ihn sagen, ehe sie den Raum verließ.
Die Menschen im Zuschauerraum wurden unruhig. Auf der großen Digitaluhr auf der Bühne lautete die Anzeige 0836. »Na los, macht schon, fangt endlich an!«, rief jemand.
Mutter hat fliehen können. Ich weiß es, sagte Ellie stumm zu sich. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Deswegen ist alles hier so durcheinander.
Captain Bauer hatte das Publikum um fünf Minuten nach acht informiert, dass die »Aktivitäten« sich um »ein paar Minuten« verzögern würden, aber in der letzten halben Stunde hatte es keine weitere offizielle Verlautbarung gegeben. In der Reihe vor Ellie flüsterte man aufgeregt, dass die Außerirdischen Nicole aus der Todeszelle befreit hätten.
Einige Leute waren schon aufgestanden, um zu gehen, als Gouverneur Macmillan auf die Bühne trat. Er wirkte gehetzt und unsicher, brachte aber rasch das gewohnte regierungsoffizielle Grinsen aufs Gesicht, als er sich an das Publikum wandte.
»Meine Damen und Herren«, sagte er, »die Exekution der Nicole des Jardins-Wakefield wurde aufgeschoben. Meiner Regierung sind einige kleinere unbedeutende bürokratische Versäumnisse im Verlauf dieses Verfahrens zur Kenntnis gebracht worden – nichts wesentlich Entscheidendes natürlich –, doch meine Regierung entschied, dass diese fraglichen Punkte vorab geklärt werden müssen, um jeden Verdacht der Inkorrektheit zu entkräften. Die Hinrichtung wird in Bälde vollzogen werden. Alle Bürger von New Eden werden über alle Einzelheiten der Untersuchung gebührend informiert.«
Ellie blieb sitzen, bis der Saal sich fast geleert hatte. Sie rechnete eigentlich damit, dass die Polizei sie festhalten werde, doch niemand hinderte sie, als sie dann ebenfalls ging. Sobald sie im Freien war, fiel es ihr schwer, nicht laut vor Freude zu schreien. Während ihr die Tränen aus den Augen liefen, dachte sie: Mutter, o Mutter, ich freue mich ja so für dich!
Dann merkte sie auf einmal, dass ein paar Leute sie anstarrten. O je, dachte sie, sie merken, wie ich mich fühle. Sie begegneten den Blicken der Leute mit einem höflichen Lächeln. Und jetzt, kommt deine schwere Prüfung. Du wirst es nicht schaffen, überzeugend die Überraschte zu spielen.
Wie üblich statteten Robert, Ellie und die kleine Nicole der Hütte von Nai Watanabe und ihren Zwillingen einen Besuch ab, nachdem sie den wöchentlichen Krankenbesuch bei den siebenundsiebzig noch lebenden RV-Positiven des Pestdorfs beendet hatten. Es war kurz vor der Essenszeit. Galileo und Kepler spielten auf der unbefestigten Dorfstraße vor der brüchigen Behausung. Als die Turners ankamen, stritten sich die beiden kleinen Jungen heftig.
»Ist sie doch!«, sagte der vierjährige Galileo hitzig.
»Nein, ist sie nicht«, entgegnete Kepler weit weniger leidenschaftlich.
Ellie beugte sich zu den Zwillingen. »Jungs, Jungs«, fragte sie freundlich, »worüber streitet ihr euch denn?«
»Oh, hallo, Mrs. Turner«, grüßte Kepler mit verlegenem Lächeln. »Es ist nichts, wirklich. Galileo und ich …«
»Ich sage, dass die Gouverneurin Wakefield schon tot ist«, unterbrach Galileo laut. »Einer von den andern Jungen im Centre hat es mir gesagt, und der weiß es bestimmt, weil mein Daddy, der ist bei der Polizei.«
Für einen Augenblick war Ellie entsetzt. Dann wurde ihr klar, dass die Zwillinge die Verbindung zwischen ihr und Nicole nicht erkannt hatten. »Weißt du nicht mehr, dass Gouverneur Wakefield meine Mutter und die Großmutter der kleinen Nicole ist?«, fragte sie leise. »Ihr habt sie doch mehrere Male getroffen, ehe sie ins Gefängnis kam.«
Galileo runzelte die Stirn, dann schüttelte er den Kopf.
»Ich erinnere mich an sie … glaube ich«, sagte Kepler ernst. »Ist sie denn jetzt tot, Mrs. Turner?«, setzte der Knirps unbekümmert hinzu.
»Wir haben noch keine Gewissheit. Aber wir hoffen, es ist nicht so.« Beinahe hätte sie sich verraten. Es wäre so leicht gewesen, es diesen Kleinen zu sagen … Doch ein einziger Fehler konnte alles zerstören. Wahrscheinlich befand sich wie üblich ein Biot in Hörweite.
Ellie hob Kepler hoch und gab ihm einen Kuss, und dabei dachte sie an ihre zufällige Begegnung mit Max Puckett vor drei Tagen im Elektronik-Markt. Mitten in ihrer belanglosen alltäglichen Unterhaltung hatte Max plötzlich gesagt: »Ach, übrigens, Jeanne und Eleonore geht's gut und sie lassen grüßen.«
Ellie war ganz aufgeregt gewesen und hatte nachgefragt, doch Max hatte das glatt überhört. Und gerade als Ellie kurz darauf wieder etwas sagen wollte, war plötzlich der Garcia-Biot neben ihnen erschienen, der den Markt überwachte.
»Hallo, Ellie. Hallo, Robert«, rief Nai von der Tür ihres Hauses. Sie streckte die Arme aus und nahm dem Vater die kleine Nicole ab. »Und wie geht's dir denn, meine kleine Schöne? Ich habe dich ja seit deinem Geburtstag vor einer Woche nicht mehr gesehen.«
Sie gingen ins Haus. Nachdem Nai sich vergewissert hatte, dass nirgends in der Nähe spionierende Bioten zu sehen waren, trat sie dicht an Robert und Ellie heran. »Die Polizei hat mich gestern Nacht erneut verhört«, flüsterte sie. »Allmählich glaube ich auch, dass was Wahres an diesen ganzen Gerüchten ist.«
»Welchen?«, fragte Ellie. »Es gibt so viele.«
»Eine von den Frauen im Werk hat einen Bruder bei Nakamuras Spezialtruppe. Und der hat ihr eines Abends, als er betrunken war, erzählt, dass die Polizei, als sie am Morgen kam, um Nicole zur Exekution abzuholen, die Zelle leer vorfanden. Ein Garcia hat sie angeblich offiziell mitgenommen. Man glaubt, es war der gleiche Garcia, der bei der Explosion vor der Waffenfabrik umkam.«
Ellie lächelte. Doch ihre Augen gaben dem intensiv fragenden Blick ihrer Freundin nichts preis. Ihr unter allen Freunden darf ich am wenigsten etwas sagen, dachte sie.
»Mich hat die Polizei ebenfalls vernommen«, sagte sie wie nebenbei. »Mehrfach. Sie sagen, ihre Fragen zielten einzig darauf ab, ein paar ›Unregelmäßigkeiten‹, wie sie das nennen, im Verfahren gegen meine Mutter ›aufzuklären‹. Sogar Katie haben sie mit einem Besuch beglückt. Sie kam letzte Woche überraschend vorbei und bemerkte, die Aufschiebung der Hinrichtung von Mutter sei doch wirklich seltsam.«
»Der Bruder meiner Arbeitskollegin«, sagte Nai nach kurzer Pause, »sagte, Nakamura vermutet, dass es sich um einen konspirativen Akt handelt.«
»Das ist lächerlich«, warf Robert mit bitterem Spott ein. »Es gibt in der gesamten Kolonie nirgends eine ernsthafte Opposition gegen unsere Regierung.«
Nai trat noch näher zu Ellie. »Also, was, meinst du, ist da wirklich los?«, flüsterte sie. »Glaubst du, dass deiner Mutter wirklich die Flucht geglückt ist? Oder hat Nakamura sich anders entschieden und sie heimlich hinrichten lassen, um zu verhindern, dass sie in den Augen der Menschen zur politischen Märtyrerin wird?«
Ellie blickte von ihrem Mann zu ihrer Freundin. Sag es ihnen, sag es ihnen!, drängte sie eine innere Stimme. Doch sie gab ihr nicht nach. »Ich habe keine Ahnung, Nai«, sagte sie. »Selbstverständlich habe ich auch an die Möglichkeiten gedacht, die du genannt hast. Und noch ein paar mehr. Aber wir wissen eben gar nichts Bestimmtes … Und obwohl ich sicher nicht das bin, was man unter religiös versteht, habe ich doch beständig auf meine Weise gebetet, dass meine Mutter lebt und dass es ihr gut geht.«
Nicole aß die letzte Trockenaprikose, dann ging sie hinüber, um die Verpackung in den Abfalleimer zu werfen. Der war beinahe voll. Sie versuchte, mit dem Fuß die Abfälle zusammenzudrücken, doch das half kaum etwas.
Meine Zeit wird knapp, dachte sie, während ihr Blick automatisch die Nahrungsvorräte auf dem Bord überprüfte. Ich kann vielleicht noch fünf Tage durchhalten. Aber dann brauche ich unbedingt Nachschub.
Jeanne und Eleonore waren schon wieder längere Zeit weg. Während der ersten zwei Wochen, die Nicole in dem Versteck unter Max Pucketts Scheunenboden zubrachte, war einer der Miniroboter stets bei ihr geblieben. Mit ihnen zu sprechen, das war fast so, als redete sie mit ihrem Mann, mit Richard; jedenfalls zu Beginn, bis sie alle Themen erschöpft hatten, die im Gedächtnistank der Kleinen gespeichert waren.
Die zwei sind seine genialsten Schöpfungen, dachte sie, als sie sich wieder auf den Stuhl gesetzt hatte. Er muss monatelang dran gearbeitet haben. Sie dachte an Richards Shakespeare-Roboter aus den Tagen auf der Newton zurück. Jeanne und Eleonore sind bei weitem fortgeschrittener als damals Prinz Heinrich und Falstaff. Richard muss die Konstruktionsweise der Humanbioten in New Eden benutzt haben.
Jeanne und Eleonore hatten Nicole stets über die wichtigsten Begebnisse im Habitat auf dem laufenden gehalten. Das war weiter nicht schwer für sie gewesen. Ein Teil ihrer Programminstruktionen bestand darin, zu beobachten und bei ihren periodischen Ausflügen aus New Eden Richard über Funk zu berichten; also gaben sie diese Informationen auch an Nicole weiter. So wusste sie beispielsweise, dass Nakamuras Spezialpolizeitruppe jedes einzelne Gebäude in der Siedlung durchsucht hatte, unter dem Vorwand, Leute ausfindig zu machen, die kritisch knappe Versorgungsgüter gehortet hatten. Das ging so während der ersten zwei Wochen nach Nicoles Flucht aus der Todeszelle. Selbstverständlich waren sie auch auf Pucketts Farm erschienen, und Nicole musste vier Stunden lang völlig reglos und in absoluter Dunkelheit in ihrem Versteck sitzen. Sie hatte droben einige Geräusche gehört, aber der Leiter der Durchsuchung, wer immer das gewesen sein mochte, hatte sich nicht übermäßig lange in den Ställen und der Scheune aufgehalten.
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