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Rama kehrt zurück
Siebzig Jahre, nachdem das erste Rama-Schiff das Sonnensystem durchquert hat, wird ein zweites Schiff gesichtet. Sofort macht sich eine Expedition auf, um ins Innere des Raumschiffes vorzudringen und weitere Geheimnisse zu lüften. Doch die Crew ist nicht auf das vorbereitet, was sie im Inneren des Schiffes erwartet – und ebenso wenig auf die Konflikte, die unter den Menschen ausbrechen.
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Seitenzahl: 789
ARTHUR C. CLARKE & GENTRY LEE
RENDEZVOUS MIT ÜBERMORGEN
Roman
»Excalibur«, der mächtige, durch Atomspaltung gespeiste Radarpulsgenerator, war schon seit fast einem halben Jahrhundert nicht mehr in Betrieb. Entwickelt hatte man ihn in fieberhafter Anstrengung in den Monaten nach Ramas Durchgang durch das Sonnensystem. Als Excalibur im Jahre 2132 erstmalig für funktionstauglich erklärt wurde, war seine offizielle Aufgabe die, der Erdbevölkerung rechtzeitig umfassende Informationen über etwaige weitere Besucher aus dem All zu liefern: Ein Objekt von den gigantischen Ausmaßen Ramas (hoffte man) konnte auf diese Weise über interstellare Entfernungen hinweg geortet werden, und zwar (hoffte man) Jahre bevor es sich irgendwie in menschliche Belange einmischen konnte.
Die Entscheidung, Excalibur zu konstruieren, fiel noch, bevor Rama sein Perihel passiert hatte. Als dieser erste extraterrestrische Besucher die Sonne umkreiste und dann wieder in den Sternenraum hinauszog, untersuchten Heerscharen von Wissenschaftlern das Datenmaterial, das die einzige Expedition lieferte, der eine Begegnung mit dem Eindringling gelungen war.
Damals verkündete man, dass Rama eine Roboterintelligenz ohne das geringste Interesse an unserem Sonnensystem oder seinen Bewohnern sei. In dem offiziellen Statement wurden keinerlei Erklärungen für die zahlreichen rätselhaften Fakten gegeben, mit denen die Forscher damals konfrontiert waren; allerdings gelangten die Experten einhellig zu der Überzeugung, dass sie ein Grundprinzip der ramanischen Technologie erkannt hätten. Da nämlich die meisten Zentral- und Hilfssysteme, auf welche das Aufklärungsteam der Erde im Innern Ramas stieß, zwei funktionstaugliche Reservesysteme aufwiesen, hatte es den Anschein, als folgten die Fremden in allem einem »Triplex«-Prinzip. Und da das ganze gewaltige Flugobjekt vermutlich eine einzige große Maschine war, erachtete man es als hoch wahrscheinlich, dass auf diesen ersten Besucher aus dem All noch zwei weitere Rama-Raumfahrzeuge folgen würden.
Aber es drangen keine weiteren Raumschiffe aus den leeren Interstellarbereichen in die Nähe des Sonnensystems vor. Die Jahre vergingen, und die Menschen auf der Erde hatten dringlichere Probleme zu bewältigen. Das besorgte Interesse an den Ramanern – oder wer immer diesen unattraktiven fünfzig Kilometer langen Zylinder gebaut hatte – schwand, und der einsame einmalige Besuch von Fremden aus dem All ging in die Geschichte ein. Viele Gelehrte rätselten noch immer an diesem Rama-Besuch herum, doch die meisten Angehörigen der Spezies Mensch waren gezwungen, sich mit anderen Problemen herumzuschlagen. In den frühen vierziger Jahren des 22. Jahrhunderts keuchte die Welt unter einer schweren Wirtschaftskrise. Es gab keine Mittel mehr, Excalibur weiter zu unterhalten. Die wenigen wissenschaftlichen Entdeckungen rechtfertigten nicht mehr die enormen Mittel, die für den sicheren Betrieb erforderlich waren. Man gab den gewaltigen atomaren Pulsgenerator auf.
Fünfundvierzig Jahre später benötigte man 33 Monate, um Excalibur wieder funktionsfähig zu machen. Wissenschaftliche Gründe waren vordringlich für diese Aufpolierung maßgebend. Während der verflossenen Jahre war die Radartechnik gewaltig weitergediehen und hatte neue Methoden der Datenauswertung entwickelt, durch welche die von Excalibur gelieferten Beobachtungen enorm an Bedeutung gewannen. Aber als der Generator dann erneut Bilder aus fernen Himmelsbereichen einzufangen begann, rechnete kaum jemand auf der Erde damit, dass ein zweites Raumschiff der Ramaner auftauchen könnte.
Als sich auf dem Datenverarbeitungsschirm der erste ungewöhnliche Echoimpuls zeigte, informierte der Operationsleiter noch nicht einmal seinen Vorgesetzten. Er hielt es für künstlich, für eine Art Ufo, das durch Anomalie in der Auswertungsberechnung entstanden war. Er wurde erst aufmerksamer, als das Signal sich mehrmals wiederholte. Er zog den Chefwissenschaftler des Excalibur-Teams hinzu, und der machte eine Datenanalyse und gelangte zu dem Schluss, es handle sich bei dem neuen unbekannten Objekt um einen langperiodischen Kometen. Dann dauerte es weitere zwei Monate, bis ein Student (allerdings schon höheren Semesters) den Beweis erbrachte, dass es sich bei dem Signal um die eines glatten Körpers von mindestens vierzig Kilometern in seiner größten Länge handeln müsse.
Dann, 2197, wusste man auf der Erde, dass dieses Objekt, das durch das Sonnensystem auf die inneren Planeten zuschoss, ein weiteres außerirdisches Raumschiff war. Die ISA{1} raffte alle ihre Mittel zusammen, um eine Mission zu organisieren, die den Eindringling exakt Ende Februar 2200 knapp innerhalb der Venusumlaufbahn abzufangen hatte. Und wieder einmal blickte die Menschheit hinaus zu den Sternen, und die gleichen gewichtigen philosophischen Fragen wie bei Rama I wurden jetzt erneut auf dem ganzen Globus diskutiert. Und als dann der neue Besucher näher rückte und ganze Batterien von Sensoren, die in seine Richtung spähten, eine exaktere Analyse seiner physikalischen Beschaffenheit erbrachten, bestätigte es sich, dass dieses Raumschiff – zumindest äußerlich – mit seinem Vorgänger identisch war. Rama kam wieder zur Erde zurück. Die Menschheit stand wieder vor einem schicksalhaften Rendezvous.
Das sonderbare Metallgeschöpf schob sich langsam höher auf die Überkrängung der Wand zu. Es sah aus wie ein abgemagertes Gürteltier. Den schlangenartigen gegliederten Körper bedeckte ein dünner Schild, der sich oben und seitlich um ein Kompaktset von elektronischem Spielzeug wölbte, das auf der mittleren der drei Körpersegmente ritt. Etwa zwei Meter von der Wand entfernt schwebte ein Helikopter. Aus seiner Nase ragte ein Gelenkarm mit Greifern an der Spitze, die soeben hinter der sonderbaren Kreatur ins Leere schnappten.
»Verdammt!«, brummte Janos Tabori. »Es ist unmöglich, wenn unsere Hummel dermaßen herumtorkelt. Es ist schon unter perfekten Bedingungen schwierig, Präzisionsarbeit zu leisten, wenn die Greifer ganz ausgefahren sind.« Er warf dem Piloten einen Blick zu. »Und wieso kann unser märchenhafter Flugapparat eigentlich nicht Höhe und Position konstant halten?«
»Bring die Maschine dichter an die Wand ran!«, befahl Dr. David Brown.
Hiro Yamanaka blickte Brown ausdruckslos an, dann gab er auf dem Kontrollboard einen Befehl ein. Der Schirm vor ihm blitzte rot auf und ließ dann die Information ablaufen: ANWEISUNGENUNDURCHFÜHRBAR. UNGENÜGENDETOLERANZEN. Yamanaka sagte kein Wort. Der Hubschrauber blieb weiter in derselben Position.
»Wir haben fünfzig, höchstens fünfundsiebzig Zentimeter Abstand zwischen den Rotorspitzen und der Wand«, sagte Brown, laut denkend. »Und in zwei, drei Minuten ist der Biot unter der Krängung außer Reichweite. Schalten wir auf Handsteuerung, und packen wir uns das Ding. Sofort. Und keinen Fehler diesmal, Tabori!«
Einen flüchtigen Moment lang starrte Yamanaka den schütter behaarten, bebrillten Wissenschaftler auf dem Rücksitz zweifelnd an. Dann drehte er sich wieder um, tippte einen weiteren Befehl ein und schob den großen schwarzen Hebel nach links. Der Monitor blinkte: MANUALMODUS. KEINESCHUTZAUTOMATIK. Behutsam schob Yamanaka den Hubschrauber zentimeterweise näher an die Wand.
Tabori, am Greifgerät, war bereit. Er schob die Hände in die Instrumentalhandschuhe und probierte aus, wie sich die Greifzangen am Ende des Schwenkarmes öffneten und schlossen. Wieder schob sich der Arm vorwärts, und die beiden mechanischen Kiefergreifer schlossen sich exakt über der gepanzerten Gelenkschnecke. Das Feedback aus den Sensoren der Greifer in seinen Handschuhen verriet Tabori, dass er die Beute fest im Griff hatte. »Ich hab es!«, rief er jubelnd. Dann begann der langsame Prozess der Bergung des Jagdobjekts an Bord.
Eine plötzliche Windbö ließ die Maschine nach links abrollen, und der Greifer mit dem Bioten schlug gegen die Wand. Tabori spürte, wie sein Zugriff sich lockerte. »Halt das Ding doch grade!«, schrie er, während er den Greifarm weiter einholte. Und während Yamanaka dem Rollen des Flugzeugs entgegenzusteuern versuchte, neigte er unabsichtlich geringfügig die Nase nach unten. Dann hörten die drei Männer an Bord das eklige Krachen, als die metallenen Rotorblätter gegen die Wandung schrammten.
Der japanische Pilot drückte sofort die Notschaltung, und die Automatik übernahm die Kontrolle sogleich. Sekundenbruchteile danach schrillte wimmernd ein Alarmsignal, und der Monitor blinkte rot auf: STARKESCHÄDEN, AUSFALLWAHRSCHEINLICHKEITGROSS. SCHLEUDERSITZEBETÄTIGEN! Yamanaka zögerte nicht. Sekundenschnell hatte er sich aus dem Cockpit katapultiert und seinen Fallschirm geöffnet. Tabori und Brown ebenfalls. Sobald der Ungar die Hände aus den Spezialhandschuhen gezogen hatte, öffneten sich die Greifer, und das »Armadillo«, das künstliche Panzertier, stürzte die hundert Meter auf die Flachebene drunten hinab und zerschellte in tausend winzige Stücke.
Der steuerungslose Hubschrauber trudelte unsicher nach unten. Obwohl das automatische Landesystem an Bord voll funktionstauglich arbeitete, knallte die Flugmaschine heftig auf die Landekufen und kippte zur Seite. Eine stattliche Männergestalt in brauner, mit zahlreichen Dekorationen bestückter Uniform sprang unweit der Landestelle des Hubschraubers aus einem offenen Lift. Der Mann kam gerade aus dem Kontrollzentrum, und seine Erregung, während er auf einen bereitstehenden Rover zueilte, war deutlich erkennbar. Hinter ihm drein hastete eine blonde Frau im Flugdress der ISA, die sich trotz der Kameraausrüstung über beiden Schultern sehr gewandt bewegte. Der Mann in Uniform war General Valerij Borzow, der Chefkommandant bei »Projekt Newton«. Brüsk fragte er Richard Wakefield, einen Elektroingenieur, der im Rover wartete: »Jemand verletzt?«
»Janos kriegte anscheinend einen bösen Schlag gegen die Schulter, als er rausflog. Aber Nicole hat grad rübergegeben, dass er keine Knochenbrüche oder Risse hat, nur 'ne Menge Prellungen.«
General Borzow kletterte in den Rover neben Wakefield, der am Kontrollboard des Fahrzeugs saß. Die Blondine, eine Videojournalistin namens Francesca Sabatini, stoppte die Aufnahme und wollte die hintere Tür des Rovers öffnen, doch Borzow scheuchte sie brüsk fort. »Geh rüber und schau nach des Jardins und Tabori!«, sagte er und wies mit der Hand zu der ebenen Fläche hinüber. »Wilson ist wahrscheinlich bereits dort.«
Der Rover mit Borzow und Wakefield setzte sich in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung und fuhr etwa vierhundert Meter, ehe er neben David Brown anhielt. Brown war ein etwa fünfzigjähriger zierlicher Mann; er trug einen brandneuen Flugdress, und er war eifrig damit befasst, seinen Fallschirm zusammenzufalten und in einen Packsack zu verstauen. General Borzow stieg aus und ging auf den amerikanischen Wissenschaftler zu.
»Sie sind unverletzt, Dr. Brown?«, fragte der General, der offensichtlich nicht viel von langen Vorreden hielt.
Dr. Brown nickte, gab aber keinen Ton von sich. »Nun, wenn das so ist«, fuhr der General in gedämpfterem Ton fort, »dann könnten Sie mir vielleicht erklären, was Sie sich dabei gedacht haben, als Sie Yamanaka den Befehl gaben, auf Manualsteuerung umzuschalten? Es ist vielleicht besser, wenn wir darüber hier reden, nicht vor der ganzen restlichen Mannschaft.«
Dr. Brown schwieg weiter. »Habt ihr denn die Warnanzeigen nicht gesehen?«, sprach Borzow nach einer kurzen Pause weiter. »Und haben Sie auch nur für eine Sekunde überlegt, dass dieses Manöver die Sicherheit der anderen Kosmonauten gefährden könne?«
Nun warf Brown dem General einen stumpfen, hasserfüllten Blick zu. Als er endlich antwortete, klang es abgehackt und gezwungen, und er schien seine Gefühle bewusst zu unterdrücken. »Es erschien uns durchaus vernünftig, den Copter ein bisschen dichter ans Zielobjekt heranzubringen. Es gab noch etwas Spielraum, und nur so hätten wir den Bioten einfangen können. Schließlich ist es ja das Ziel unserer Mission …«
»Sie brauchen mich nicht darauf hinzuweisen, worin unsere Aufgaben bestehen«, unterbrach Borzow heftig. »Erinnern Sie sich, bitte, dass ich persönlich an der Abfassung des Abkommens beteiligt gewesen bin. Und ich möchte Sie daran erinnern, dass unter allen Umständen die Sicherheit der Besatzung Vorrang vor allem anderen hat. Dies gilt besonders im Verlauf dieser Simulationstrainings … Ich muss Ihnen leider sagen, dass mich dieser irre akrobatische Akt, den Sie da veranstaltet haben, aufs höchste erstaunt. Der Hubschrauber ist beschädigt, Tabori verletzt, und Sie hatten noch Glück, dass keiner dabei getötet wurde!«
Aber David Brown achtete nicht mehr auf das, was der General sagte. Er hatte ihm den Rücken zugekehrt und fuhr fort, seinen Fallschirm in den durchsichtigen Packsack zu verstauen. Von den hochgezogenen Schultern und aus der Heftigkeit, mit der er sich dieser Routinearbeit widmete, konnte man deutlich ablesen, wie wütend er war.
Borzow kehrte zum Rover zurück. Er ließ mehrere Sekunden verstreichen, dann bot er Dr. Brown an, mit ihm zurückzufahren. Der Amerikaner schüttelte nur wortlos den Kopf, hievte sich den Pack auf den Rücken und stapfte in Richtung auf den Hubschrauber und den Aufzug davon.
Janos Tabori saß auf einem Klappstuhl vor dem Konferenzraum des Trainings-Centers unter dem Beschuss einer Batterie kleiner tragbarer, aber starker Scheinwerfer. »Der Abstand zu unserem simulierten Bioten lag an der äußeren Grenze des Bereichs des Mechanogreifarms«, erklärte er in die winzige Kamera, die Francesca Sabatini auf ihn gerichtet hielt. »Ich habe zweimal versucht das Ding zu packen und es nicht geschafft. Darauf hat Dr. Brown angeordnet, dass wir den Copter auf Handsteuerung umschalten und ihn so ein bisschen näher an die Wand ranschieben. Und dann erwischte uns eine Windbö …«
Die Tür des Konferenzraums öffnete sich, und ein rotbäckiges lächelndes Gesicht zeigte sich. »Wir warten hier alle nur noch auf euch«, sagte General O'Toole fröhlich. »Aber ich glaube, Borzow wird allmählich ein bisschen ungeduldig.«
Francesca knipste die Scheinwerfer aus und steckte die Videokamera in die Tasche ihres Flugdress. »Also schön, mein ungarischer Held, wir machen wohl jetzt besser Schluss. Du weißt ja, wie sehr unser Führer es hasst, wenn man ihn warten lässt.« Sie lachte, trat zu dem kleinen Mann und nahm ihn sanft in die Arme. Sie tätschelte ihm die bandagierte Schulter. »Aber es freut uns ehrlich, dass dir nichts passiert ist.«
Während des Interviews hatte ein gutaussehender Schwarzer, Anfang vierzig, knapp außerhalb des Kamerawinkels dabeigesessen und auf einem rechteckigen, etwa dreißig Zentimeter großen Keyboard Aufzeichnungen gemacht. Er ging hinter Francesca und Janos ins Konferenzzimmer. »Ich will diese Woche ein Feature bringen über die neuen Konstruktionsideen bei der Telesteuerung des Greifers und des Handschuhs«, flüsterte Reggie Wilson Tabori zu, während sie sich setzten. »Da draußen lauert eine kleinere Horde meiner Leser, und die sind von solchem technischem Scheiß absolut fasziniert.«
»Es freut mich, dass Sie alle drei es möglich machen konnten, zu uns zu stoßen.« Borzows Stimme dröhnte sarkastisch durch den Konferenzraum. »Ich war schon fast geneigt anzunehmen, dass eine Teambesprechung für Sie allesamt eine Zumutung bedeutet, etwas, das weit wichtigere Aktivitäten behindert, wie etwa die Berichterstattung über unsere Fehlschläge oder das Abfassen hochgescheiter wissenschaftlicher und technischer Artikel.« Er deutete mit dem Finger auf Reggie Wilson, der seinen ständigen Begleiter, das allgegenwärtige flache Keyboard vor sich auf den Konferenztisch gesetzt hatte. »Sie, Wilson, ob Sie es nun glauben wollen oder nicht, sind zunächst und vor allem mal ein Mitglied dieses Teams, oder sollten es jedenfalls sein, und erst dann sind Sie Journalist. Glauben Sie, es wäre Ihnen ausnahmsweise, nur einmal, möglich, dieses verdammte Ding da wegzunehmen und nur zuzuhören? Ich habe Ihnen nämlich ein paar Sachen zu sagen, und ich möchte nicht, dass die an die Öffentlichkeit gelangen.«
Wilson verstaute sein Keyboard in der Aktentasche. Borzow stand auf und stapfte im Zimmer umher, während er weitersprach. Der Tisch war oval, etwa zwei Meter lang. Es gab zwölf Plätze, allesamt mit einem geringfügig versenkten Computerkeyboard und -monitor ausgestattet, die bei Nichtverwendung von einer glatten Faserplatte von der gleichen Struktur wie das restliche Simile-Edelholz des Konferenztisches verdeckt wurden. Die beiden anderen Militärs der Expedition flankierten Borzow wie üblich an einem Ende des Ovals. Es waren: aus Europa der Admiral Otto Heilmann (der Held der Intervention des Rates der Regierungen in der Caracas-Krise), aus Amerika Luftwaffengeneral Michael Ryan O'Toole. Die übrigen neun Mitglieder des Newton-Teams nahmen nicht immer in gleicher Reihenfolge Platz, was insbesondere den zwanghaft ordentlichen Admiral Heilmann, aber, wenn auch etwas weniger stark, auch seinen vorgesetzten Offizier, Borzow, verärgerte.
Manchmal drängten sich die »Nicht-Profis« am unteren Tischende zusammen und überließen es den »Raumkadetten«, wie man die Kosmonautenabsolventen der Space Academy nannte, im Mittelbereich eine Pufferzone zu bilden. Nach fast einem Jahr unablässiger Behandlung in den Medien hatte die Öffentlichkeit jeden aus dem Newton-Dutzend einer von drei Subgruppen zugeordnet: den NonProfs (die zwei Wissenschaftler und zwei Journalisten); die militärische Troika; und die fünf Kosmonauten, die überwiegend die Spezialaufgaben bei der Mission zu erledigen hatten.
An diesem besonderen Tag jedoch waren die nichtmilitärischen Gruppen bunt gemischt. Der japanische Interdisziplinarwissenschaftler Shigeru Takagishi, der weithin als der Welt bester Experte für die erste Rama-Expedition vor siebzig Jahren galt (und außerdem der Verfasser des »Rama-Atlas« war, einer Pflichtlektüre für alle im Team), saß in der Mitte des Ovals zwischen der sowjetischen Pilotin Irina Turgenjew und Kosmonaut/Elektronikingenieur Richard Wakefield aus England. Ihnen gegenüber saßen die Biowissenschaftlerin, Offizier Nicole des Jardins, eine stattliche kupferbraune Frau französisch-afrikanischer Abstammung, der ruhige, beinahe wie ein Automat wirkende japanische Pilot Yamanaka und die umwerfende Signora Sabatini. Die restlichen drei Positionen am »südlichen« Ende des Ovals, gegenüber den großen Landkarten und Diagrammen von Rama an der anderen Wand, hatten der amerikanische Journalist Wilson, der redselige Tabori (ein sowjetischer Kosmonaut aus Budapest) und Dr. David Brown inne. Brown wirkte sehr ernst und sachlich. Als die Besprechung begann, lag auf dem Tisch vor ihm eine Reihe von Dokumenten.
»Es ist mir unbegreiflich«, sagte Borzow, während er zielbewusst durch den Raum stapfte, »wie einer von euch jemals – auch nur für einen Augenblick! – vergessen konnte, dass man euch ausgewählt hat für eine Mission, die das wichtigste Unternehmen aller Zeiten für die Menschheit sein könnte. Doch angesichts dieser jüngsten Simulationsergebnisse, ich gestehe es, kommen mir da doch bei einigen unter euch gewisse Zweifel.«
»Es gibt da welche, die glauben, dass dieses Rama-Schiff eine Kopie seines Vorgängers sein wird«, fuhr Borzow fort, »und dass es sich für irgendwelche unbedeutende Kreaturen, die es untersuchen wollen, genauso wenig kümmern und interessieren wird. Ich gebe zu, dem Anschein nach hat das neue Objekt die gleichen Ausmaße und die gleiche Gestalt, wenn wir die Radarauswertungen der letzten drei Jahre zugrunde legen. Aber selbst falls sich herausstellen sollte, dass es sich wieder nur um ein Totenschiff handelt, das von Außerirdischen gebaut wurde, die seit Tausenden von Jahren verschwunden sind, unsere Mission bleibt trotzdem die wichtigste Aufgabe unseres Lebens. Und ich glaube, das erfordert allerhöchste Bemühung, von jedem Einzelnen unter euch.«
Borzow legte eine Pause ein, um sich zu sammeln. Janos Tabori setzte zu einer Frage an, doch der General fuhr bereits in seinem Monolog fort. »Was sich unsere Mannschaft bei dieser letzten Trainingsübung geleistet hat, war absolut grauenhaft. Einige haben Hervorragendes geleistet – und ihr wisst, wer damit gemeint ist –, aber ebenso viele andere unter euch haben sich verhalten, als hätten sie nicht die geringste Vorstellung davon, worum es bei dieser Mission geht. Ich bin überzeugt, zwei, drei unter euch lesen vor dem Training nicht einmal den relevanten Aufgabenplan oder die Protokolle durch. Ich gebe zu, manchmal ist das eine langweilige Lektüre, aber ihr alle habt euch verpflichtet, als ihr vor zehn Monaten eure Ernennung akzeptiert habt, euch die Verfahrensabläufe zu eigen zu machen und euch an das Protokoll und die Projektpläne zu halten. Sogar die unter euch ohne vorherige Flugerfahrung.«
Borzow war vor einer der großen Wandkarten stehen geblieben, einem Detailinset eines Stücks der Stadt »New York« aus dem ersten ramanischen Raumschiff. Die Zone mit den hohen schlanken Gebäuden, die an die Wolkenkratzer Manhattans erinnerten, dicht zusammengedrängt auf einer Insel in der Mitte des Zylindrischen Meeres, war beim ersten Rendezvous teilkartografiert worden. »In sechs Wochen werden wir einem unbekannten Raumschiff begegnen, das möglicherweise eine Stadt wie die hier enthält, und die gesamte Menschheit erwartet von uns, dass wir sie vertreten. Wir können nicht wissen, was uns erwartet. Vielleicht sind alle Vorbereitungen, die wir bis zu dem Zeitpunkt getroffen haben, ungenügend. Aber die Kenntnis und Beherrschung unserer vorgeplanten Verfahren muss perfekt sein und automatisch, damit unsere Gehirne ungehindert alle neuen Bedingungen abwägen können, mit denen wir vielleicht konfrontiert werden.«
Der Kommandant setzte sich auf seinen Platz am Kopfende des Tischs. »Die Übung heute war eine nahezu komplette Katastrophe. Wir hätten dabei leicht drei Besatzungsmitglieder verlieren können, und außerdem noch einen der teuersten Hubschrauber, die je gebaut wurden. Ich möchte euch hier und heute noch einmal daran erinnern, welche Prioritäten übereinstimmend für diese Mission von der ISA und dem CG festgelegt wurden. Höchste Priorität hat die Sicherheit der Besatzung. Als Nächstes kommt die Analyse und Bestimmung eventueller Bedrohungen, sofern es sie gibt, für die Humanbevölkerung der Erde.« Borzow blickte nun quer über den Tisch Brown direkt an, der das herausfordernde Starren seinerseits eisern erwiderte. »Erst wenn diese beiden Prioritäten befriedigend gesichert sind und das ramanische Fahrzeug als ungefährlich eingestuft ist, erhält die Prise eines oder mehrerer Bioten überhaupt Bedeutung.«
»Ich möchte General Borzow daran erinnern«, erwiderte David Brown augenblicklich mit seiner klangvollen Stimme, »dass einige unter uns überzeugt sind, dass man diese Prioritäten nicht blindlings der Reihe nach befolgen sollte. Die Wichtigkeit der Bioten für die Wissenschaft kann gar nicht hoch genug angesetzt werden. Wie ich bereits wiederholt festgehalten habe – bei Kosmonautenkonferenzen ebenso wie in meinen zahlreichen Auftritten in aktuellen Fernsehsendungen –, wenn dieses zweite Rama-Raumfahrzeug identisch ist mit dem ersten – also unsere Existenz völlig ignoriert –, und wir so langsam verfahren, dass wir nicht einmal einen einzigen Bioten einfangen, ehe wir das Schiff der Außerirdischen wieder verlassen und zur Erde zurückkehren müssen, dann wird eine einzigartige Chance für die Wissenschaft ausgeschlagen, nur um die Kollektivängste der Politiker der Erde zu beschwichtigen.«
Borzow setzte zur Antwort an, aber Dr. Brown erhob sich und gestikulierte heftig mit beiden Händen. »Nein. Nein, jetzt hört mich erst zu Ende an. Man hat mich grundsätzlicher Inkompetenz bei dem heutigen Training beschuldigt, und ich habe das Recht, darauf zu antworten.« Er hielt einen Computerausdruck hoch und schwenkte ihn zu Borzow hinüber. »Hier sind die ursprünglichen Konditionen für die heutige Simulation, wie sie von euren Technikern übermittelt und definiert wurden. Lassen Sie mich ein paar der wichtigeren Punkte ins Gedächtnis rufen, zur Auffrischung, falls Sie sie vergessen haben sollten. Background Condition #1: Wir stehen kurz vor Beendigung der Mission, und es wurde bereits verlässlich ermittelt, dass Rama II völlig passiv ist und keine Gefährdung für den Planeten Erde darstellt. Background Condition #2: Im Verlauf der Expedition wurden Bioten nur gelegentlich und nie in Gruppen festgestellt.«
Von den körpersprachlichen Signalen der anderen Teamangehörigen konnte Brown ablesen, dass er mit diesem Anfang in seinen Ausführungen bei ihnen auf Zustimmung stieß. Er atmete durch und sprach weiter: »Nachdem ich diese Hintergrundinformation studiert hatte, gelangte ich zu dem Schluss, dass diese Übung heute wahrscheinlich unsere letzte Chance simulierte, einen Bioten einzufangen. Und während des Tests dachte ich unablässig daran, was es bedeuten würde, wenn es uns gelänge, einen oder mehrere davon auf die Erde zu bringen … in der gesamten bekannten Geschichte der Menschheit fand der einzige absolut unbestreitbare Kontakt mit einer außerirdischen Zivilisation im Jahr 2130 statt, als unsere Kosmonauten ins Innere des ersten Rama-Raumschiffs vorstießen. Aber der langfristige Nutzen für die Wissenschaft war geringer, als er hätte sein müssen. Wir verfügen über Unmengen von Abtastinformation von jener ersten Erforschung, darunter auch die über die detaillierte Autopsie des Spinnen-Bioten, die seinerzeit Dr. Laura Ernst vorgenommen hatte. Aber die Kosmonauten brachten nur ein Spezimen zur Erde: ein winziges Teilchen einer Art von biomechanischer Blüte, dessen physiologische Eigenschaften sich bereits unwiederbringlich verändert hatten –, ehe es uns gelang, auch nur eines der Geheimnisse zu enträtseln. Von dieser ersten Expedition haben wir sonst keinerlei Erinnerungsstücke. Keine Aschenbecher, keine Trinkbecher, nicht einmal einen Transistor aus irgendeinem Apparatefragment, aus dem wir etwas über die ramanische Technologie hätten lernen können. Aber jetzt bietet sich uns eine zweite Chance.«
Dr. Brown richtete den Blick zu der gerundeten Decke. Seine Stimme war nun fest und voll Überzeugungskraft. »Wenn wir irgendwie zwei, drei verschiedene Bioten finden und zur Erde bringen könnten, und wenn wir diese Geschöpfe dann analysieren und ihre Geheimnisse entschlüsseln könnten, dann würde diese unsere Mission zweifellos das einschneidendste Ereignis in unserer ganzen Geschichte sein. Denn wenn wir zu einem tiefgreifenden Begriff des Konstruktionsdenkens der Ramaner vorstoßen könnten, würden wir, ganz real gesehen, einen ersten Kontakt herstellen.«
Sogar Borzow wirkte beeindruckt. Wie er dies so oft tat, hatte David Brown seine Wortgewandtheit dazu benutzt, eine Niederlage in einen Teilsieg zu verwandeln. Der sowjetische General beschloss, seine Taktik zu ändern. Gedämpft sagte er in eine Pause hinein: »Dennoch dürfen wir nie vergessen, dass bei dieser Mission Menschenleben auf dem Spiel stehen und dass wir nichts unternehmen dürfen, was deren Sicherheit gefährden könnte.« Er schaute der Reihe nach alle am Tisch an. »Mir liegt genauso sehr daran, Bioten und andere Proben von Rama heimzubringen, wie euch allen«, sprach er weiter, »doch ich muss gestehen, dass die unbekümmerte Vermutung oder gar Annahme, dass dieses zweite Raumschiff genau dem ersten entsprechen müsste, mich ziemlich stark beunruhigt. Welche stichhaltige Indizien besitzen wir von der ersten Begegnung, dass diese Ramaner – oder was immer sie sein mögen – friedlich sind? Überhaupt keine. Also könnte es durchaus gefährlich sein, überstürzt einen Bioten einzufangen.«
»Aber es gibt keine Möglichkeit, Commander, das vorher so oder so sicherzustellen.« Richard Wakefield meldete sich aus der Mittelposition am Tisch, zwischen Borzow und Brown. »Sogar wenn wir uns vergewissern, dass das neue Raumschiff exakt dem ersten entspricht, wissen wir noch immer nichts darüber, was passieren kann, wenn wir eine konzertierte Aktion starten, einen Bioten einzufangen. Nehmen wir doch mal für den Augenblick an, dass Dr. Brown recht hat und dass die beiden Raumschiffe nichts weiter sind als höchst komplizierte Roboter, die vor Millionen Jahren von einer inzwischen ausgestorbenen Rasse am anderen Ende der Galaxis konstruiert worden sind … wie könnten wir vorhersehen, was für routinemäßige Subprogramme vielleicht diesen Bioten zur Bewältigung feindseliger Aktionen mitgegeben ist? Was wäre, wenn die Bioten auf eine von uns nicht feststellbare Weise integraler Bestandteil der Gesamtfunktion des Raumschiffs wären? Dann wäre es natürlich, nicht wahr, dass sie, auch als bloße Maschinen, darauf programmiert wären, sich zu verteidigen. Und es ist denkbar, dass ein erster scheinbar feindseliger Akt von unserer Seite zum auslösenden Moment werden könnte, das die gesamten Funktionspläne des Raumschiffs verändert. Ich erinnere mich, was ich über das Robot-Landefahrzeug gelesen habe, das 2012 in dem Äthanmeer auf Titan zu Bruch ging: Da gab es völlig unterschiedliche Sequenzen, je nachdem, was …«
»Stopp!« Janos Tabori unterbrach ihn freundlich lächelnd. »Die Mysterien der frühen robotischen Erforschung unseres Sonnensystems stehen nicht auf der Tagesordnung unserer heutigen Leichenschau.« Er blickte über die Länge des Tischs zu Borzow hinüber. »Skipper, meine Schulter schmerzt, mein Magen ist leer, und die Aufregungen des heutigen Trainings haben mich ziemlich geschlaucht. Alle diese Reden sind ja wundervoll instruktiv, aber wäre es womöglich – sofern keine speziellen dringlicheren Punkte vorliegen – nicht allzu unverschämt von mir, wenn ich einen baldigen Abbruch dieser … ah … Konferenz vorschlage, damit wir endlich mal genug Zeit haben, gemütlich unsere Sachen zusammenzupacken?«
Admiral Heilmann beugte sich vor. »Kosmonaut Tabori, die Teambesprechungen finden unter dem Vorsitz General Borzows statt. Es liegt bei ihm zu entscheiden, wann …«
Der sowjetische Commander fuhr Heilmann mit einer Armbewegung ins Wort. »Das reicht, Otto. Ich glaube, Janos hat recht. Es war ein langer Tag, und das nach siebzehntägiger extrem angespannter Aktivität. Wir setzen die Besprechung besser fort, wenn wir alle wieder frisch und munter sind.«
Borzow erhob sich. »Also schön. Wir unterbrechen jetzt erst einmal. Die Shuttles zum Flughafen gehen gleich nach dem Abendessen ab.« Das Team begann aufzubrechen. »Während eurer kurzen Ruhepause«, fügte Borzow, als wäre es ihm gerade eingefallen, hinzu, »wünsche ich von allen, dass ihr darüber nachdenkt, wo wir in der Trainingsplanerfüllung stehen. Uns bleiben hier im Trainingscenter nur noch drei Wochen Zeit für Simulationsarbeit, bevor wir in den Weihnachtsurlaub gehen. Und sofort nach Neujahr werden wir mit dem Intensivtraining der Startvorbereitungen beginnen. Dieser nächste Trainingsabschnitt ist unsere letzte Chance, die Sache gut hinzukriegen. Ich erwarte, dass alle topfit für diese Restaufgabe zurückkommen – und voll frischem Engagement für unsere wichtige Mission.«
Die Ankunft des ersten ramanischen Raumschiffs in den frühen 30ern des 22. Jahrhunderts im inneren Sonnensystem hatte gewaltige Auswirkungen auf die Geschichte der Menschheit. Zwar änderte sich im menschlichen Alltag unmittelbar wenig, nachdem das Astronautenteam unter Commander Norton von der Begegnung mit Rama I zurückgekehrt war; der klare unzweideutige Nachweis aber, dass irgendwo im Universum eine den Menschen weit überlegene Intelligenz existierte (oder zumindest existiert hatte) zwang zu einer Neubewertung der Stellung des Homo sapiens innerhalb des gesamtkosmischen Konzepts. Es zeigte sich nun eindeutig, dass auch andere chemische Grundstoffe, die zweifellos gleichfalls bei den gewaltigen Stellarkatastrophen im All entstanden waren, zu anderer Zeit, an anderem Ort zur Entstehung denkfähiger Intelligenz geführt hatten. Wer waren diese Ramaner? Warum hatten sie ein so gigantisches, hochkompliziertes Raumschiff gebaut und es auf diesen Ausflug in unsere Nachbarschaft gesandt? Viele Monate lang waren die »Ramaner« das interessanteste öffentliche und private Diskussionsthema.
Weit über ein Jahr lang wartete die Menschheit mehr oder weniger geduldig auf ein weiteres spektakuläres Anzeichen der Präsenz der Ramaner im Universum. Auf allen Wellenlängen grasten Teleskope den Himmel ab, auf der Suche nach möglichen Zusatzinformationen über das sich entfernende fremde Raumschiff, aber man fand nichts. Die Himmel blieben stumm. Die Ramaner verschwanden ebenso rasch und unerklärlich, wie sie erschienen waren.
Als Excalibur einsatzbereit war und seine ersten Himmelsabtastungen nichts Neues erbrachten, setzte ein deutlicher Wandel in der kollektiven Einstellung der Menschheit zu diesem Erstkontakt mit Rama ein. Über Nacht wurde die »Begegnung« zu einem Ereignis der Geschichte, etwas Vergangenem und damit Erledigtem. In Zeitungen und Zeitschriften wandelte sich der Tenor; hatten sie vordem begonnen: »Wenn die Ramaner zurückkehren …«, so hieß es nun: »Sollte es jemals eine weitere Begegnung mit den Wesen geben, die das 2130 entdeckte gewaltige Raumschiff erbauten …« Die anfängliche Bedrohung, sozusagen eine Art Pfandschein auf das künftige Verhalten der Menschheit, die man darin erblickt hatte, wurde rasch auf die Bedeutungslosigkeit einer historischen Kuriosität heruntergespielt. Es bestand nicht länger das dringliche Bedürfnis, sich mit Grundfragen zu befassen, wie etwa einer Wiederkehr der Ramaner oder welches Schicksal der menschlichen Gattung in einem von intelligenten Geschöpfen bevölkerten Universum bevorstehen könnte. Die Menschheit ließ sich wieder bequem in den Sessel zurückfallen – zumindest zeitweilig. Danach leistete sie sich einen derart gigantischen Ausbruch narzisstischer Verkrampfung, dass daneben sämtliche bekannten früheren Geschichtsperioden besonders stark ausgeprägten selbstsüchtigen Individualismus als schwächlich blutleer erscheinen müssen.
Das Auftreten eines derart unverfrorenen genüsslichen Egoismus in globalem Maßstab war nicht schwer zu begreifen. Als Folge der Begegnung mit Rama I war etwas in der menschlichen psychischen Grundstruktur verändert worden. Vorher konnte sich die Menschheit schmeicheln, das eine und einzige bekannte mit höherer Intelligenz ausgerüstete Lebewesen des Universums zu sein. Der Gedanke, dass der Mensch als soziales und Gemeinschaftswesen seine Geschicke, bis in die weite Zukunft hinein, kontrollieren könne, hatte als bedeutsamer Fixpunkt in nahezu sämtlichen gängigen Lebensphilosophiesystemen eine wesentliche Rolle gespielt. Aber dass es diese Ramaner gab (oder gegeben hatte, die Zeitform spielt für die philosophischen Schlüsse keine Rolle), das veränderte alles. Der Mensch war plötzlich nicht mehr einzigartig, ja vielleicht sogar nicht einmal etwas Besonderes. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis das vorherrschende anthropozentrische Konzept des Universums unwiderruflich in Trümmer ging – zerschmettert durch die klarere Erkenntnis, dass es die »Anderen« gibt. Es war darum nicht schwer zu begreifen, warum die meisten Menschen auf der Erde plötzlich ihre Lebensorientierung auf autistische Selbstbefriedigung umpolten; Literaturkundige fühlten sich dabei an eine fast genau fünf Jahrhunderte frühere ähnliche Zeit erinnert, in der ein Dichter namens Robert Herrick die Jungfrauen seiner Zeit aufforderte, das Beste aus ihren flüchtigen Tagen zu machen: »Pflücket die Rose, eh sie verblüht; die Alte Zeit von hinnen zieht …«
Der ungehemmte Ausbruch von auffällig demonstriertem Aufwand und globaler Gier dauerte knapp zwei Jahre. Das hektische Besitzstreben nach allem, was dem menschlichen Hirn an Konsumgütern nur einfallen konnte, überlagerte eine geschwächte ökonomische Infrastruktur, die bereits Anfang 2130 dem Zusammenbruch zuneigte, als das erste ramanische Raumfahrzeug das innere Sonnensystem durchquerte. Die drohende Rezession ließ sich über 2130/31 dank kombinierter Anstrengungen und Manipulationen der Regierungen und Finanzinstitute etwas hinauszögern, aber nirgendwo ging man die fundamentalen ökonomischen Schwachpunkte wirklich an. Mit einem erneuten Kaufboom Anfang 2132 stürzte sich die Welt unmittelbar in eine neuerliche Periode rapiden Wachstums. Produktionskapazitäten wurden erweitert, Aktienkurse stiegen explosiv an, stabiles Verbraucherverhalten und Vollbeschäftigung bewegten sich auf einem nie zuvor erreichten Niveau. Es herrschte eine nie dagewesene Prosperität, deren kurzfristiges aber signifikantes Ergebnis eine allgemeine Verbesserung des Lebensstandards für fast die ganze Menschheit war.
Gegen Ende 2133 war es für ein paar gründlicher geschulte Beobachter der menschlichen Entwicklungsgeschichte offensichtlich, dass der »Rama-Boom« die Menschheit in die Katastrophe führen werde. Über dem euphorischen Jubelgeschrei der Millionen, die gerade eben den Sprung in die Mittel- oder Oberschicht geschafft hatten, erhoben sich beschwörende Kassandrastimmen, die vor der drohenden Wirtschaftsdämmerung warnten. Vorschläge für den Ausgleich von Budgets und eine umfassende Kreditbeschränkung in sämtlichen Wirtschaftsbereichen wurden ignoriert. Stattdessen wandte man Kreativenergie auf, um immer neue Methoden zu entwickeln, um immer mehr Kaufkraft in die Hände von Bevölkerungsgruppen zu legen, die verlernt hatten, »Wart mal« oder gar »Nein« zu ihren eigenen Wünschen zu sagen.
Im Januar 2134 begann der Aktienmarkt weltweit abzubröckeln, und es gab Prognosen auf einen kommenden Crash. Aber für die Mehrzahl der über den Erdball und in den verstreuten Kolonien des Sonnensystems angesiedelten Menschen lag die Vorstellung eines derartigen Börsenkrachs außerhalb ihres Begriffsvermögens. Schließlich hatte die Weltwirtschaft ja während der vergangenen neun Jahre expandiert, und in den verflossenen zwei Jahren sogar in einem Tempo, wie es in den letzten zweihundert Jahren nicht seinesgleichen gehabt hatte. Die Lenker und Führer der Welt versicherten hartnäckig, sie hätten endlich die Mechanismen entdeckt, durch die sich der Konjunkturrückgang des Kapitalumlaufs wirklich verhindern ließe. Und die Völker der Erde glaubten ihnen – bis Anfang Mai 2134.
In den ersten drei Monaten des Jahres sackte der Weltmarkt erbarmungslos ab, anfangs langsam, dann aber in drastischen Sprüngen. Viele waren von abergläubischen Vorstellungen über Kometen beherrscht, wie dies seit über zweitausend Jahren für die Menschheit typisch war, und brachten irgendwie die Schwierigkeiten auf dem Börsenmarkt in Verbindung mit der Wiederkehr des Halley'schen Kometen. Als dieser dann Anfang März erschien, erwies er sich als weitaus heller, als irgendjemand erwartet hatte. Wochenlang wetteiferten Wissenschaftler rund um den Globus miteinander, um Erklärungen zu liefern, warum er so sehr viel heller aufgetreten sei, als man das ursprünglich vorhergesagt hatte. Nachdem er Ende März sein Perihel passiert hatte und Mitte April am abendlichen Himmel auftauchte, erfüllte sein enormer Schweif das Erdfirmament.
Unten, auf der Erde, beherrschte dagegen die Weltwirtschaftskrise, die gerade begann, sämtliche irdischen Belange. Am 1. Mai 2134 erklärten drei der bedeutendsten internationalen Banken aufgrund geplatzter Kreditgeschäfte ihre Insolvenz. In zwei Tagen hatte sich eine Panikreaktion rund um den Globus ausgebreitet. Von über einer Milliarde PC-Terminals mit Anschluss an die globalen Finanzmärkte gingen Verkaufsorders für Einzelportefeuilles von Aktien und Obligationen aus. Die Kommunikationsbelastung für das Global Network System war enorm. Die Datenübermittlung des GNS wurde weit über ihre Kapazität hinaus strapaziert. Datenspeicherstaus verzögerten die Transaktionen minuten-, dann stundenlang, was die allgemeine Panik zusätzlich steigerte.
Als die Woche zu Ende ging, war zweierlei klar: Mehr als die Hälfte der Aktienwerte der Welt war Asche, und unzählige kleine und größere Anleger, die ihren Kreditrahmen maximal ausgeschöpft hatten, waren gleichfalls vernichtet; die saßen jetzt praktisch ohne einen Pfennig da. Die Hilfsdatenbanken, über die persönliche Konten bedient wurden und der automatische Deckungstransfer bei Überziehung erfolgte, bombardierten nahezu zwanzig Prozent aller irdischen Haushalte mit Katastrophenwarnungen.
In Wirklichkeit war es aber noch viel, viel übler. Die Hilfscomputer konnten nämlich nur einen kleinen Prozentsatz der Transferorders effektiv bewältigen, weil das Datenvolumen in jeder Richtung alles überstieg, was vorher als Maximalbelastung berechnet und geplant worden war. Im Computerjargon: Das gesamte globale Finanzsystem sackte in einen »Cycle-Slip«-Modus ab. Millionen und Milliarden von Informationsübermittlungen mit geringerer Priorität wurden vom Computersystem zurückgestellt und blieben hängen, damit solche mit höherer Priorität zuerst bedient werden konnten.
Als Gesamtresultat des Staus in der Datenübermittlung ergab sich, dass in den meisten Fällen die Konten privater Bankkunden stunden-, ja tagelang nicht ordnungsgemäß debitiert werden konnten, um die wachsenden Verluste auf den Aktienmärkten abzudecken. Und sobald es den Kleininvestoren gedämmert hatte, was da los war, zogen sie los und gaben alles aus, was sie noch auf dem Konto hatten, ehe die Computer sämtliche Transfers durchführen konnten. Und als die Regierungen und Finanzkontrollbehörden endlich richtig erfasst hatten, was da los war, und Maßnahmen ergriffen, um dieser ganzen hektischen Entwicklung gegenzusteuern, war es bereits zu spät. Das verworrene und in Verwirrung geratene System war völlig zusammengebrochen. Um das Geschehene zu rekonstruieren, war es nötig, dass man höchst behutsam abstieß und die vorsichtshalber an etlichen hundert weit auseinanderliegenden Orten verteilten Kontrollunterlagen wieder koordinierte.
Über drei Wochen lang war das elektronische Geldmanagementsystem, das sämtliche Geldtransaktionen beherrschte, für jedermann unzugänglich. Niemand wusste, über wie viel Geld er verfügte. Und da Bargeld schon seit langem aus der Mode gekommen war, hatten jetzt nur Verrückte und Sammler ausreichend Bargeld zur Hand, um einen Wochenvorrat an Nahrungsmitteln zu kaufen. Man begann sich das Lebensnotwendige per Tauschhandel zu beschaffen. Bürgschaften von Freunden oder persönlichen Bekannten ermöglichten vielen das Überleben zeitweilig. Aber dies war erst der Anfang der Quälerei. Jedes Mal wenn die internationale Verwaltungsorganisation, die Aufsichtsbehörde über das globale Finanzsystem, verkündete, man werde nunmehr versuchen, wieder Ordnung zu schaffen, und die Menschen anflehte, sich von ihren Computerterminals fernzuhalten, es sei denn »in Notfällen«, stieß das auf taube Ohren, das System wurde von Anfragen überschwemmt, und die Computer brachen immer wieder zusammen.
Es dauerte nur zwei Wochen länger, bis die Wissenschaftler sich auf eine Erklärung für die unerwartete zusätzliche Leuchtkraft des Halley'schen Kometen einigen konnten. Doch es dauerte über vier Monate, ehe die Menschen sich wieder auf zuverlässige Datenbankinformationen aus dem Global Network System verlassen konnten. Welche Kosten das anhaltende Chaos der menschlichen Gesellschaft verursachte, war nicht zu errechnen. Als endlich der normale elektronische Ablauf der wirtschaftlichen Aktivitäten wiederhergestellt war, befand sich die Welt in einem finanziellen Niedergang, der seinen Tiefststand erst zwölf Jahre später erreichen sollte. Und es sollte weit über fünfzig Jahre dauern, ehe das Weltbruttosozialprodukt wieder den Stand erreichte, den es vor dem Finanzkrach von 2134 gehabt hatte.
Es besteht einhellig die Überzeugung, dass das »Große Chaos« die menschliche Zivilisation in jeder Beziehung grundlegend veränderte. Kein Gesellschaftssektor blieb verschont. Katalysator für den relativ überstürzten Zusammenbruch der bestehenden Versorgungsinfrastruktur war der Markt-Crash mit dem darauf folgenden Kollaps des globalen Finanzsystems; dies allein hätte jedoch nicht genügt, um die Welt in eine nie dagewesene Depression zu stürzen. Die Folgen des ursprünglichen Crashs wären schlimmstenfalls eine »Komödie der Irrungen« gewesen, hätten nicht durch Planungsmängel so viele Menschen sterben müssen. Unbedarfte Nichtskönner in der Führungsspitze der Weltpolitik leugneten oder ignorierten bewusst anfangs die Existenz wirtschaftlicher Probleme, danach reagierten sie durch eine Reihe übertriebener isolierter Einzelmaßnahmen, die teils verwirrend, teils widersprüchlich waren, und als die globale Krise sich ausbreitete und verschärfte, fiel ihnen nichts anderes ein, als verzweifelt die Hände zum Himmel zu erheben. Versuche, international koordinierte Problemlösungen zu finden, waren zum Scheitern verurteilt, weil sämtliche unabhängigen Nationen in wachsendem Maß auf den Druck des eigenen Wählervolkes zu reagieren gezwungen waren.
Im Rückblick zeigte sich deutlich, dass der Internationalisierungsprozess der Erde, der im 21. Jahrhundert stattgefunden hatte, zumindest in einer Hinsicht mit signifikanten Geburtsfehlern behaftet war. Zahlreiche Aktionsbereiche – Kommunikation, Handel, Transport (darunter Raumfahrt), Währungsausgleich, Friedenssicherung, Informationsaustausch und Umweltschutz, um nur die wichtigsten zu nennen – waren tatsächlich internationalisiert worden (ja, sogar »interplanetarisiert«, bedenkt man die Kolonien im Weltraum), aber die meisten dieser internationalen Abkommen hatten Zusatzklauseln, die den einzelnen Mitgliedsländern relativ kurzfristig den Ausstieg erlaubten, sofern die mehrheitlich beschlossenen Übereinkommen »nicht länger den Interessen« des betroffenen Landes »dienten«. Kurz gesagt, alle Nationen, die am Aufbau internationaler Organisationen teilnahmen, besaßen das Recht, ihre nationalen Verpflichtungen einseitig aufzukündigen, wenn sie mit den gemeinsamen Beschlüssen und Aktionen der Gruppe nicht mehr einverstanden waren.
Die Jahre vor der ersten Begegnung mit Rama (in den frühen 2130ern) war eine ungewöhnlich stabile Zeit der Prosperität gewesen. Nachdem sich die Welt von dem Schock über den verheerenden Kometeneinschlag bei Padua (Italien) im Jahre 2077 erholt hatte, folgte ein halbes Jahrhundert gemäßigten Wachstums. Abgesehen von wenigen, relativ kurzen und nicht allzu gravierenden Wirtschaftsrezessionen stiegen in einer großen Zahl der Länder die Lebensbedingungen damals an. Hin und wieder flammten vereinzelte Kriege und zivile Unruhen auf, vorwiegend in unterentwickelten Nationen, doch konnten die konzertierten Bemühungen der globalen Friedensschutztruppen sie stets unter Kontrolle bringen, bevor die Probleme sich zu einer ernsten Gefahr auswachsen konnten. Die Stabilität der neuen internationalen Mechanismen wurde nicht durch irgendwelche großen Krisen auf die Probe gestellt.
Unmittelbar nach der ersten Rama-Begegnung jedoch traten rapide Veränderungen in den grundlegenden Steuerungsapparaten ein. Erstens wurden für den Aufbau von Excalibur und anderen bedeutenden Projekten, die mit Rama zusammenhingen, anderen laufenden Programmen die Mittel beschnitten oder entzogen. Dann begann 2132 eine allgemeine lautstarke Kampagne für Steuersenkungen, damit den Massen mehr Geld zur freien Verfügung in Händen blieb, wodurch die Aufwendungen für notwendige Einrichtungen noch weiter reduziert wurden. Ende 2133 waren die meisten der jüngeren internationalen Dienste unterbesetzt und funktionsuntauglich geworden. So platzte also der globale Markt-Crash in ein Umfeld, das bereits von wachsenden Zweifeln der Erdbevölkerung an der Effizienz der gesamten internationalen Organisationen bestimmt war. Und als das Finanzchaos anhielt, lag für die einzelnen Nationen die bequeme Entscheidung nahe, ihre Beitragsleistungen zu eben jenen Weltbankfonds und globalen Einrichtungen einzustellen, die bei richtigem Einsatz die Katastrophe vielleicht hätten verhindern können. Und so wurden die unabhängigen Länder als Erste von der Kurzsichtigkeit der politischen Führer ins Verderben gestürzt.
Die Scheußlichkeiten des Großen Chaos sind in Tausenden von Geschichtswerken beschrieben worden. In den ersten zwei Jahren bestanden die Hauptprobleme in einem bestürzenden Anstieg der Arbeitslosenzahlen und der Bankrotte (privater und betrieblicher), doch derartige finanzielle Schwierigkeiten erschienen mehr und mehr als trivial, als die Zahl der Obdachlosen und Verhungernden immer weiter anstieg. Im Winter 2136/37 wuchsen in den Parks und öffentlichen Anlagen aller großen Städte Zelt- und Bretterbudenslums aus dem Boden, und die Stadtverwaltungen plagten sich heldenhaft mit dem Problem der Versorgung und Entsorgung für sie ab. Die dafür eingerichteten Dienste sollten die Schwierigkeiten eindämmen, die durch den vermeintlich nur zeitweiligen Zustrom dieser Scharen arbeitsloser und hungernder Menschen entstanden. Aber als die Wirtschaft sich nicht erholte, verschwanden auch die verwahrlosten Favelas nicht. Sie wuchsen sich vielmehr zu festen Einrichtungen der großstädtischen Wirklichkeit aus, zu wuchernden Krebsgeschwüren, die abgesondert und nach eigenen Regeln existierten, die von Grund auf verschieden waren von denen der Wirtsstädte, die sie ernährten. Je mehr Zeit verging und je unvermeidlicher sich diese Zeltlager zu einem Hexenkessel der Hoffnungslosigkeit und Unruhe entwickelten, desto mehr wuchs die Gefahr, dass diese neuen Enklaven im Einzugsbereich der Großstädte überzukochen begannen und das Sozialgefüge, das ihnen die Weiterexistenz ermöglichte, zu zerstören drohten. Aber trotz des Damoklesschwerts anarchischer Zustände in diesen Siedlungszentren ächzte sich die Welt mühsam durch den Eiswinter 2137/38, und das Grundraster der modernen Zivilisation war noch immer mehr oder weniger intakt.
Anfang 2138 ereignete sich in Italien eine Serie bemerkenswerter Dinge. In ihrem Mittelpunkt stand ein einzelner Mensch namens Michael Balatresi, ein junger Novize des Franziskanerordens, der später allgemein als Sankt Michael von Siena berühmt werden sollte. Dieser Mann zog weltweites Interesse auf sich und vermochte für einige Zeit den Zerfall der Gesellschaft aufzuhalten. Michael war eine brillante Mischung aus Genie, Spiritualität und politischer Fähigkeiten, ein charismatischer, polyglotter Redner mit einem untrüglichen Gespür und Timing und Wirkung. Er tauchte plötzlich – scheinbar von nirgendwo – auf und betrat die Bühne der Welt in der Toskana mit einer leidenschaftlichen religiösen Botschaft, von der Herz und Hirn zahlloser verängstigter und entrechteter Bürger der Erde berührt und ergriffen wurden. Die Schar seiner Anhänger wuchs wie von selbst rasch und ungesteuert an und kümmerte sich nicht um nationale und internationale Grenzen. Michael wurde für nahezu sämtliche fest etablierten Führungsklüngel auf der Erde mit seinem unerschütterlichen Ruf nach einer kollektiven Antwort auf die kollektiven Probleme, unter denen die ganze Menschheit ächzte, zu einer potentiellen Gefahr. Und als er im Juni 2138 unter widerwärtigen Umständen den Märtyrertod erlitt, schien mit ihm der letzte Hoffnungsfunken für die Menschheit erloschen zu sein. Die zivilisierte Welt, die viele Monate lang von eben diesem Funken einer Hoffnung und dem schmalen dünnen Band gemeinsamer Tradition zusammengehalten worden war, zerfiel urplötzlich in Scherben.
Das Leben in den vier Jahren zwischen 2138 und 2142 war schlimm. Die Litanei der menschlichen Leiden war nahezu endlos. Überall herrschten Hunger, Krankheit und Gesetzlosigkeit. Guerillas und Revolutionen waren nicht mehr zu zählen. Die Standardeinrichtungen der modernen Zivilisation brachen fast völlig zusammen, wodurch das Leben auf der Welt zu einem Albtraum wurde für jedermann – außer für die wenigen Privilegierten in ihren Hochsicherheits-Fluchtburgen. Es war eine verkehrte Welt höchster Entropie. Die Versuche gutwilliger Bürger, die Probleme zu lösen, konnten nicht greifen, weil die angestrebten Lösungsversuche lokal begrenzt, die Probleme jedoch global waren.
Das Große Chaos breitete sich auch auf die menschlichen Siedlungskolonien im Weltraum aus und beendete so ein grandioses Kapitel in der Geschichte der Entdeckungen. Während sich die Wirtschaftskatastrophe auf dem Mutterplaneten immer weiter ausbreitete, wurden die über das Sonnensystem verstreuten Kolonien, die ohne regelmäßige Infusionen von Geld, Vorräten und Menschen nicht existieren konnten, zu vernachlässigten Stiefkindern der Erde. Dies hatte dazu geführt, dass bis 2140 fast die Hälfte der Kolonisten wieder zur Erde zurückgekehrt waren, denn die Lebensbedingungen in der neuen Heimat hatten sich bis zu einem Maß verschlechtert, dass diese Menschen lieber die zweifache Last der Wiederanpassung an die Erdschwerkraft und der über die ganze Erde verbreiteten entsetzlichen Armut auf sich nehmen wollten, als in den Kolonien zu bleiben und dort höchstwahrscheinlich zu sterben. Der Remigrationsprozess beschleunigte sich in den Jahren 2141/42, die gekennzeichnet waren von Zusammenbrüchen der künstlichen Ökosysteme in den Kolonien und der katastrophalen Verknappung von Ersatzteilen für die ganze Roboterarmada, durch welche diese neuen Siedlungen in Gang gehalten wurden.
Nur ganz wenige hartgesottene Kolonisten waren 2143 noch auf Mond und Mars verblieben. Die Kommunikation zwischen der Erde und den Kolonien war unregelmäßig und unzuverlässig geworden. Es gab auf der Erde keine Mittel mehr, um auch nur die Funkverbindung zu den fernen Siedlungen aufrechtzuerhalten. Zwei Jahre zuvor hatten die United Planets zu existieren aufgehört. Es gab also kein gemeinsames Menschheitsforum mehr, von dem aus man die Probleme der Spezies hätte angehen können; der Council of Governments, eine Art Beratende Versammlung der nationalen Erdregierungen, sollte erst fünf Jahre später entstehen. Die beiden verbliebenen Kolonien führten einen vergeblichen Kampf gegen den Tod.
Der letzte bemannte Weltraumflug von Bedeutung jener Zeit fand 2144 statt. Es handelte sich um eine Rettungsaktion unter dem Kommando einer Mexikanerin namens Benita García. In einem aus Wrackteilen zusammengeschusterten Raumschiff gelang es Miss García und ihrem Dreimannteam irgendwie, zur geosynchronen Umlaufbahn des havarierten Raumkreuzers James Martin vorzustoßen, dem letzten interplanetarischen Raumtransporter, der noch in Betrieb war. Sie konnten vierundzwanzig Personen des Kontingents von einhundert Frauen und Kindern retten, die vom Mars auf die Erde repatriiert werden sollten. Für jeden Historiografen der Raumfahrt stellte diese Rettungsaktion der James Martin den Schlusspunkt einer Ära dar. Sechs Monate später wurden die letzten Raumstationen aufgegeben, und nahezu vierzig Jahre dauerte es, bis wieder ein Mensch in den Erdorbit aufstieg.
Um 2145 war die in Agonie liegende Welt irgendwie zu der Erkenntnis gelangt, wie wichtig manche der internationalen Organisationen waren, die man seit dem Hereinbrechen des Großen Chaos dermaßen verleumdet und missachtet hatte. Die intelligenzbegabtesten Angehörigen der menschlichen Rasse hatten sich während der euphorischen Wohlstandsdekaden zu Beginn des Jahrhunderts vor einem persönlichen politischen Engagement gedrückt; jetzt begriffen sie mehr und mehr, dass nur durch den Zusammenschluss aller ihrer vereinten Kräfte und Fähigkeiten auf Erden jemals wieder so etwas wie »zivilisiertes Leben« geschaffen werden könnte. Anfangs waren den gigantischen Bemühungen um Zusammenwirken, die daraus resultierten, nur bescheidene Erfolge beschert; aber sie entzündeten wieder den Funken eines fundamentalen Optimismus in der menschlichen Seele und setzten so einen Erneuerungsprozess in Gang. Langsam, entsetzlich langsam, wurden die Grundwerte der menschlichen Zivilisation wieder zurechtgerückt.
Aber es dauerte dennoch weitere zwei Jahre, ehe der allgemeine Wiederaufschwung sich in der Wirtschaftsstatistik abzeichnete. Im Jahre 2147 war das globale Bruttosozialprodukt auf sieben Prozent des Durchschnitts von 2141 geschrumpft. In den hochentwickelten Nationen war die Arbeitslosenquote auf durchschnittlich 35% angestiegen; in manchen der sogenannten Entwicklungsländer betrug die kombinierte Ziffer der Arbeitslosen und Gelegenheitsarbeiter 90% der Bevölkerung. Man schätzt, dass allein im Schreckensjahr 2142 hundert Millionen Menschen verhungerten und starben, als in den Tropenzonen rund um den Globus große Dürre- und damit einhergehende Hungerkatastrophen auftraten. Eine astronomisch hohe Sterbeziffer aus vielerlei Ursachen und eine gleichzeitig auf ein Minimum schrumpfende Geburtenrate (denn wer wollte schon in eine dermaßen hoffnungslose Welt Kinder gebären?) führte zu einer Abnahme der Weltbevölkerung im Jahrzehnt bis 2150 von fast einer Milliarde Menschen.
Das Große Chaos hinterließ bei der ganzen Generation, die dies durchlebt hatte, unauslöschliche Wundmale. Und als die Jahre vergingen und die später geborenen Kinder heranwuchsen, sahen sie sich Eltern ausgesetzt, die ängstlich, ja geradezu von krankhaften Phobien beherrscht waren. Das Leben der Teenager in den 60er und sogar noch in den 70er Jahren des 22. Jahrhunderts unterlag strengster Reglementierung. Die Erinnerungen an die schrecklichen Traumatisierungen ihrer eigenen Jugend während der Chaosperiode verfolgten die Elterngeneration wie ein Albtraum und veranlassten sie zu äußerst strikter Ausübung ihrer elterlichen Disziplinarrechte. Für sie war das Leben eben nicht eine vergnügliche Fahrt auf einem Jahrmarktkarussell. Es war eine todernste Angelegenheit, und nur vermittels eines Gefüges von festen Grundwerten, von Selbstbeherrschung und unerschütterlicher Hingabe an ein wertvolles Ziel hatte man eine Chance, glücklich zu werden.
Die Gesellschaft, die in den 70er Jahren des 22. Jahrhunderts entstand, unterschied sich drastisch von der Laissez-faire-Sorglosigkeit, die fünfzig Jahre zuvor bestimmend gewesen war. Viele altehrwürdige Institutionen – so etwa die Nationalstaaten-Idee, die römisch-katholische Kirche und die Monarchie in Großbritannien – konnten sich während dieser Interimsperiode von fünfzig Jahren einer Renaissance erfreuen. Sie blühten auf, weil sie sich rasch anzupassen wussten und Führungspositionen im Neugestaltungsprozess nach dem »Chaos« besetzten.
Gegen Ende der 70er war wieder so etwas wie Stabilität auf den Planeten zurückgekehrt, und das Interesse an der Raumforschung begann sich wieder zu regen. Die neu gegründete International Space Agency (ISA) schickte eine neue Generation von Beobachtungs- und Kommunikationssatelliten ins All. Die ISA war inzwischen als eine der Administrationen dem Council of Governments unterstellt worden. Zunächst ging man zögernd an die neuen Raumfahrtprojekte heran; die der ISA zur Verfügung stehenden Mittel waren sehr gering. Aktive Beiträge leisteten nur die technisch hochentwickelten Nationen. Als dann wieder mit bemannten Flügen begonnen wurde, die erfolgreich verliefen, plante man für das Jahrzehnt von den 90er Jahren an wieder eine bescheidene Zahl regelmäßiger Starts. Dafür wurde 2188 eine neue Space Academy eröffnet, um die Kosmonauten für die neuen Missionen auszubilden, und die ersten Absolventen standen vier Jahre später abrufbereit.
Während fast der ganzen zwanzig Jahre vor der Entdeckung von Rama II (2196) stieg das Wirtschaftswachstum auf der Erde schmerzlich langsam, aber stetig an. Technologisch gesehen, befand sich die Menschheit etwa wieder auf dem Durchschnittsniveau von 2130, als das erste Raumfahrzeug der Außerirdischen aufgetaucht war. Man hatte jetzt – begreiflicherweise – sehr viel weniger Weltraumerfahrung, als der zweite Besuch aus dem All eintraf; auf bestimmten technisch kritischen Sektoren – etwa der Medizin und der Informatik und Datenverarbeitung – hatte die menschliche Gesellschaft im letzten Jahrzehnt des 22. Jahrhunderts im Vergleich zu 2130 beträchtliche Fortschritte gemacht. Aber die Zivilisationen der Erde, die der Konfrontation mit den zwei Rama-Raumschiffen ausgesetzt waren, unterschieden sich auch noch in einem anderen wesentlichen Punkt: Viele der im Jahre 2196 lebenden Menschen – und besonders solche, die schon älter waren und die entscheidenden Positionen in der Herrschaftsstruktur einnahmen – hatten wenigstens einige der sehr schmerzlichen Jahre des Großen Chaos durchlebt. Sie wussten, was Angst und Schrecken bedeuten. Und diese starken Begriffe wirkten sich bestimmend aus, als man über die Prioritäten in der Planung eines bemannten Raumflugs und einer Begegnung mit Rama II diskutierte.
»Sie arbeiteten also an Ihrem Physikdoktor an der SMU, als Ihr Mann seine berühmte Vorhersage über die Supernova 2191a machte?«
Elaine Brown saß in einem wuchtigen Polstersessel in ihrem Wohnzimmer. Sie trug einen unibraunen asexuellen Anzug mit hohem Jackenkragen. Und sie wirkte verkrampft und als wartete sie nur darauf, dass das Interview endlich vorbei sei.
»Ich war im zweiten Jahr, und David war mein Dissertationsberater«, sagte sie zurückhaltend, während sie verstohlen zu ihrem Mann hinüberschielte. Der befand sich am anderen Ende des Raums und besah sich die Sache aus der Position hinter den Kameras. »David arbeitete sehr intensiv mit seinen Doktoranden zusammen. Das war allgemein bekannt. Und es war einer der Gründe, weshalb ich für meine Abschlussarbeit SMU gewählt habe.«
Francesca Sabatini sah wundervoll aus. Die langen blonden Haare fielen ihr locker auf die Schultern. Sie trug eine teure weiße Seidenjacke und einen sorgsam geschlungenen königsblauen Schal. Die langen Hosen waren von der gleichen Farbe wie das Halstuch. Sie saß in dem zweiten Sessel. Auf dem Tischchen zwischen ihr und Elaine standen zwei Kaffeetassen.
»Dr. Brown war damals verheiratet, oder? Ich meine, in der Zeit, als er Ihr Doktorvater war.«
Elaine errötete sichtlich. Die Journalistin aus Italien behielt ihr entwaffnendes argloses Lächeln bei, als wäre die soeben gestellte Frage so harmlos wie die nach dem Resultat von zwei plus zwei. Mrs. Brown zögerte, atmete ein und gab etwas stotternd Antwort. »Anfangs … ah … ja, ich glaube, war er es noch. Aber die Scheidung war rechtskräftig, bevor ich mit meiner Dissertation zu Ende war.« Wieder hielt sie inne, dann begann sie zu strahlen. »Er hat mir zur Graduation einen Verlobungsring geschenkt«, fügte sie dümmlich hinzu.
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