Nomad's Wrath - Catalina Cudd - E-Book

Nomad's Wrath E-Book

Catalina Cudd

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Beschreibung

Der Nomad-Patch auf der Lederkutte, das F*CK YOU-Tattoo auf den Fingerknöcheln, der kantige Schädel mit den dunklen, dunklen Augen… Nacht für Nacht wird Emilia in ihren Albträumen von dem großen Mann heimgesucht, der vor vielen Jahren ihr Leben zerstört hat. Nun steht er leibhaftig vor ihr. Eigentlich sollte es nur ein Abstecher zu einem illegalen Partyclub in der Provinz werden. Ein Abstecher, auf den Dog absolut keine Lust hat, denn in letzter Zeit kämpft er gegen eine düstere Vorahnung an, die ihn auf das unausweichliche Ende vorbereitet. Er weiß seit Jahren, dass es eines Tages geschehen muss, aber doch nicht ausgerechnet jetzt. Sie ist daran schuld. Emilia, die süße, aber streitbare Mechanikerin der Monkey Garage, hat ihn vom ersten Augenblick an durchschaut: Dog, den alle nur als anständigen, ehrbaren Bullhead-Rocker kennen. Dog, der zu den Guten gehört. Finn ahnt nichts von dem sich anbahnenden Unheil. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, Emilia flachzulegen und begeht deshalb einen folgenschweren Fehler. Zusammen mit ihm verschwindet auch das Kind einer Zwangsprostituierten spurlos. Die beiden sind nicht die einzigen… Emilia und Dog bleibt nichts anderes übrig, als sich zusammenzuraufen, wenn sie Finn und den kleinen Jungen retten und das Rätsel hinter ihrem Verschwinden lösen wollen. Ihre Suche führt sie über glutheiße, staubige Landstraßen mitten hinein in eine Hölle ungeahnten Ausmaßes, wo Dogs schmutzige Vergangenheit bereits auf ihn wartet. ______________________________ Hinweis: Dieser Roman ist möglicherweise nicht für sensible oder traumatisierte Leser geeignet. Falls dich KILLING SAINT bereits an deine Grenzen geführt hat, rate ich dir von der Lektüre dieses Romans ab.

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Seitenzahl: 753

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Sammlungen



Nomad’s Wrath

Bullhead MC XI

Catalina Cudd

Inhalt

Vorwort

Rückblick

Prolog

I. Funkenschlag

1. Emilia

2. Dog

3. Emilia

4. Dog

5. Emilia

6. Dog

7. Emilia

8. Dog

9. Emilia

II. Feuerbrunst

10. Dog

11. Emilia

12. Finn

13. Dog

14. Emilia

15. Dog

16. Emilia

17. Dog

III. Rauchschwaden

18. French

19. Emilia

20. Dog

21. French

22. Dog

23. Emilia

24. Dog

25. Emilia

26. Finn

IV. Glutnester

27. Emilia

28. Dog

29. Emilia

30. Dog

31. Dog

32. French

33. Emilia

34. Dog

35. Emilia

Epilog (aber noch nicht das Ende)

Epilog (jetzt aber endgültig)

Playlist

Nachwort

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Bücher von Catalina Cudd

Content Note

Vorwort

Dieser Roman enthält deutliche Sprache und explizite Schilderungen. Aufgrund der Themen ist er möglicherweise nicht für sensible oder traumatisierte Leser geeignet. Eine Content Note findest du am Ende des Buches.

Falls KILLING SAINT dich bereits an deine Grenzen gebracht hat oder du generell Probleme mit grenzwertigen Themen und unverblümter Sprache hast, überlege dir gut, ob du NOMAD’S WRATH wirklich lesen möchtest.

Rückblick

NOMAD’S WRATH beginnt dort, wo KILLING SAINT endete. Es ist nicht zwingend notwendig, sich an diese letzte Szene zu erinnern, da NOMAD’S WRATH ein eigenständiger Roman ist. Falls du aber dennoch gern einen kleinen Rückblick haben möchtest – hier ist er:

»Ich wollte nur mal nachhören, wann ihr mir meine Männer zurückschickt«, sagt Nuts am anderen Ende der Leitung.

»Wovon redest du? Dog und Finn sind schon vor über einer Woche aufgebrochen. Länger als einen Tag dürften sie nicht unterwegs gewesen sein.«

»Sie sind nicht mehr bei euch? Ich dachte, sie gönnen sich noch ein paar entspannte Tage mit euren Clubgirls. Die beiden Herren gehen nämlich nicht ans Handy.«

»Dog konnte gar nicht schnell genug von hier fortkommen. Möglicherweise sind sie mit einer Panne gestrandet und warten in irgendeiner Provinzwerkstatt auf Ersatzteile. Zufällig sind ihre Handyakkus leer und sie haben beide ihre Ladekabel verloren.«

»Haben sie gesagt, welche Strecke sie nehmen wollten?«

»Natürlich nicht. Nomads fahren doch nie auf direktem Weg irgendwohin.« Das Licht der Sonne wirkt mit einem Mal viel zu grell, das Vogelgezwitscher wird von einem unheilverkündenden Rauschen in seinem Kopf übertönt. French reibt über seine Kehle. »Das heißt, sie sind seit neun Tagen überfällig.«

Es ist an der Zeit, herauszufinden, was mit Dog und Finn geschehen ist. Mit etwas Glück kehren wir alle heil zurück – doch ich würde keine Wette darauf abschließen. Irgendwer bleibt immer auf der Strecke …

Diese Geschichte ist zwar fiktiv, doch sie beruht auf einer wahren Begebenheit.

Zitat

Lasst uns vom Untergang reden,

als wär’s ein Tag wie jeder andere.

(Friedrich Löchner)

Prolog

Eine Frau steigt aus einem rosafarbenen Kombi mit Baby an Bord-Aufkleber. Bei Dogs Anblick erstarrt sie, dann beschleunigt sie ihren Schritt und rennt zum Tankstellenshop, nicht ohne noch einmal einen ängstlichen Blick zurückzuwerfen.

»Ja, lauf nur, sonst fresse ich dich!«, ruft er ihr hinterher.

Sie stolpert über die Schwelle ins Innere. Es würde ihn nicht wundern, wenn sie den Kassierer anfleht, die Polizei zu rufen, damit diese den gefährlichen Rocker erschießt.

»Du solltest es mal mit einem Lächeln versuchen.« Finn manövriert seine räudige Low Rider dicht neben Dogs Maschine und zieht sein Bandana herab. »Man könnte sonst denken, du wärst ein Serienmörder auf der Suche nach seinem nächsten Opfer.«

»Es spielt keine Rolle, ob ich lächle oder an einer blutigen Messerklinge lecke«, grummelt Dog und rammt den Tankstutzen in die Öffnung des Benzintanks seiner Black Widow. Er weiß nur zu gut, dass er nicht wie der freundliche Schwiegersohn von nebenan aussieht und es ist ihm herzlich egal.

Während der Sprit in den Tank blubbert, streift er die Lederhandschuhe ab und fährt mit den Fingerspitzen den verschnörkelten platinfarbenen Schriftzug auf dem schwarzen Lack nach. Für den Umbau seines Motorrads, einer Dyna Street Bob, hat Dammit ihm ein kleines Vermögen abgeknöpft, aber es hat sich gelohnt. Seine Black Widow ist eine bedrohliche, stolze Schönheit geworden, die ihren Namen zu Recht trägt. Finns Schrottkarre sieht dagegen aus wie etwas, das aus dem Straßengraben gezogen und mit Gepäck beladen wurde. Der Zustand seiner Maschine ist ihm herzlich egal, solange sie nur fährt. Finns Prioritäten liegen woanders. Er will Spaß haben, Party machen und so viele Frauen wie möglich abschleppen. Keine Verantwortung tragen, Abenteuer erleben, sich über die Landstraßen treiben lassen, sich mit Idioten prügeln und sich danach lachend betrinken.

Darum sind sie Nomads.

Trotzdem sollte Finn seinen fahrbaren Untersatz nicht so vernachlässigen. Ein Motorrad lässt einen nie im Stich, wenn man es mit Respekt und Liebe behandelt – was man von Menschen, ganz besonders von Frauen, nicht unbedingt sagen kann.

»Wir beide gehören zusammen, nicht wahr, meine Schöne?«, murmelt er, zieht den Tankstutzen heraus und schraubt den ziselierten Deckel auf, den er extra für seine Widow hat anfertigen lassen.

»Redest du schon wieder mit deinem Bike?« Finn grinst. »Mann, du bist total kaputt.« Ohne aus dem Sattel zu steigen, nimmt er den Zapfhahn von Dog entgegen. Rund um die Tanköffnung der Low Rider blättert der rote Lack ab, darunter blühen Rostflecken. Es ist eine Schande.

»So kaputt wie deine Maschine werde ich niemals sein.« Ohne großes Interesse schaut sich Dog um.

Die Tankstelle liegt am Rand eines Dorfes, dessen Namen er sich gar nicht erst gemerkt hat. Seit nunmehr sechs Tagen sind sie unterwegs, weil Finn auf ein paar Umwege bestanden hat, um mal diese Kneipe, mal jenes Clubhaus abzuklappern und sich mit Frauen zu amüsieren. Ginge es nach Dog, wären sie noch am Tag ihres Aufbruchs zu ihrem Nomad-Trupp gestoßen, der sich in einem lauschigen Clubhaus der Bullheads irgendwo hinter Göttingen eingenistet hat. Dort gibt es schließlich auch Rockergroupies und Partys. Die Nomads werden nicht sofort weiterreisen, sobald Dog und Finn eingetroffen sind. Sie werden noch ein Weilchen bleiben, sich besaufen, mit hübschen Mädchen ins Bett steigen, ihre Wäsche waschen und die hiesigen Brüder bei ihren Angelegenheiten unterstützen. Dann werden sie sich auf den Weg zum nächsten Chapter machen, um dort auszuhelfen, zu trinken, zu huren und zu feiern. Ihre Loyalität gilt einzig ihrem MC, ihre Verantwortung nur dem Motorrad, in dessen Sattel sie den Großteil ihres Lebens verbringen. Sie sind frei von allen Zwängen.

Jeder andere Mann würde ihn um dieses Leben glühend beneiden.

Dog zerrt sich den Helm vom Kopf. Kühler Wind streicht über sein Haupt, er schließt kurz die Augen. »Wer zahlt?«, fragt er mürrisch.

Finn klopft seine Taschen ab und setzt ein bedauerndes Lächeln auf. »Mein Brieftasche ist irgendwo in den Satteltaschen begraben. Ich geb’s dir später zurück.«

»Das hast du beim letzten und vorletzten Mal auch schon gesagt. Ab jetzt berechne ich Verzugszinsen.«

Auf dem Weg zum Tankstellenshop ist er sich der Blicke anderer Menschen in seinem Rücken überaus bewusst. Im Gegensatz zu Finn sieht er furchteinflößend aus mit seiner großen, muskelbepackten Gestalt, den düsteren Tattoos, die sich bis zu den Fingerknöcheln ziehen, und seiner ewig grimmigen Miene. Seit einiger Zeit hat er keine Lust mehr, zu lächeln. Er hat keine Lust, so zu tun, als sei er harmlos. Er hat vor allem keine Lust mehr, mit Frauen zu flirten und freundlich zusein. Wozu auch? In Clubhäusern muss er keinen Affentanz aufführen, um Sex zu bekommen. Die spärlich bekleideten Biker Bitches sind aus dem gleichen Grund dort wie die Männer: Sie wollen es richtig krachen lassen und am nächsten Morgen ihrer Wege gehen. Keine Dramen, keine Reue, nur ein dicker Brummschädel. Das perfekte Leben für einen Mann, der die Freiheit liebt.

Doch er weiß, dass er sich etwas vormacht. Der wahre Grund für seine Gedankengänge liegt tief in seinem Innern verborgen. Offenbar nicht tief genug, denn seit einiger Zeit drängt dieser Grund immer hartnäckiger an die Oberfläche.

Wie lange kann man sich selbst und seine besten Freunde betrügen, bis sie stutzig werden? Sogar Finn ahnt, dass mit Dog etwas nicht stimmt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis alles über ihm zusammenkracht. Die Wahrheit kommt immer ans Licht. Manchmal dauert es so lange, dass man glaubt, es könne einem nichts mehr geschehen, aber Dog spürt, dass sein unvermeidliches Ende naht.

Beim Betreten des Shops stößt er fast mit der Frau zusammen, die ihn vorhin so ängstlich angeschaut hat. Mit einem: »Huch!« weicht sie rückwärts.

Er hält ihr höflich die Tür auf und versucht es sogar mit einem Lächeln, das gründlich misslingt. Sie wagt sich nicht an ihm vorbei. Hilfesuchend schaut sie zu dem Kassierer hinüber, der sich unschlüssig an der Nase kratzt. Wären sie in den USA, würde der Kerl eine abgesägte Flinte unter dem Tresen hervorziehen und Dog durchlöchern.

»Wie lange soll ich die verdammte Tür noch festhalten?«, schnauzt Dog die Frau an.

Reiß dich zusammen!

Sie stolpert hinaus und dreht sich auf der Flucht zu ihrem Kombi mehrmals um.

Missmutig bezahlt er das Benzin und zwei Flaschen mit Wasser. Sein Kopf schmerzt wie eine Klangschale, auf die drei tollwütige Kobolde einschlagen. Zu viel Whisky, noch mehr Bier und dazu dieses höllische selbst gebrannte Gesöff, das auf der gestrigen Party im Clubhaus der Drunken Devils ausgeschenkt wurde. Er weiß, dass er die Finger davon hätte lassen sollen. Aber er weiß auch, dass nicht allein der Alkohol schuld ist an seiner unterirdischen Laune.

»Du brauchst dringend Ablenkung«, sagt Finn, kaum dass er wieder bei den Motorrädern ist.

»Noch mehr Ablenkung, und ich habe eine Alkoholvergiftung. Wovon soll ich mich überhaupt ablenken?«

»Gute Frage. Vielleicht von einer Frau. Obwohl … Nein, das ist unwahrscheinlich. Erstens bist du ein Nomad, zweitens erinnere ich mich, dass gestern Abend die heißeste Braut in dem Laden kaum die Finger von dir lassen konnte. Tiffany … Tina … Du hättest sie mitten auf der Theke vögeln können.«

»Sie war nicht mein Typ.«

»Du solltest sie ja nicht gleich heiraten.« Finn mustert ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Seit wann lässt du eigentlich dein Haar wachsen?«

Dog fährt sich mit der Hand über den Schädel und spürt die Haarstoppeln. Normalerweise rasiert er täglich penibel seine tätowierte Kopfhaut – aus Gründen. Nichts soll an den Mann erinnern, den er vor vielen, vielen Jahren hinter sich gelassen hat. Aber irgendwann im Laufe der letzten Woche muss er vergessen haben, sich darum zu kümmern. Das ist kein gutes Zeichen. »Mist«, murmelt er und nimmt sich vor, es im nächsten Clubhaus nachzuholen.

»Lass es wachsen, Bruder«, sagt Finn, der nie weiß, wann es besser ist, die Klappe zu halten. »Die Weiber stehen auf Männer mit wildem langen Haar. Ich weiß, wovon ich rede.« Er pustet sich eine lockige Strähne aus der Stirn.

Dog schnaubt nur. Die Haarstoppeln jucken. Ein Omen? Eine Warnung vor drohenden Schatten aus der Vergangenheit, die ihre Finger nach ihm ausstrecken?

»Stell dir vor, du wärst ein Mädchen, das unbedingt einen richtigen Mann zwischen den sahnigen Schenkeln braucht, und du hättest die Wahl zwischen Captain Jack Sparrow und diesem kahlköpfigen Autofahrer mit den Dackelaugen … Vin Diesel. Wen würdest du wählen?« Finn hebt abwartend die Brauen. Als er keine Antwort erhält, sagt er: »Natürlich den unterhaltsamen, sexy Freibeuter mit der Flasche Rum.« Er tippt sich auf die Brust.

»Du vergleichst mich mit einem Autofahrer?«

»Einem Autofahrer im Stau, der zusehen muss, wie ein langhaariger Rocker sich fröhlich durch die Autokolonne schlängelt und ihm den Mittelfinger zeigt.«

»Ich habe nicht mal ein Auto, Idiot.«

»Aber du hast Muskeln und Tattoos und dieses kantige Profil … Mann, ich verstehe nicht, warum du daraus keinen Vorteil schlägst! Du siehst aus wie der geborene Bad Guy! Es gibt hunderte, ach was, tausende Weiber, die einem Kerl wie dir ohne Aufforderung den Schwa…«

»Halt einfach dein Maul, bevor ich auf die Idee komme, es dir zu stopfen.«

»Was ist in letzter Zeit nur los mit dir? Du warst schon immer viel zu ernst, aber neuerdings bist du ein echter Stinkstiefel.«

Für Finn besteht der Sinn des Lebens darin, jede Party mitzunehmen und jedes weibliche Wesen flachzulegen, das seinen Weg kreuzt. Meistens gelingt es ihm. Meistens, aber nicht immer. An Sassy hat er sich die Zähne ausgebissen. Dog müsste lügen, wenn er sagen würde, dass er darüber keine Genugtuung empfindet. Aber Sassy hat auch von ihm selbst nichts wissen wollen, obwohl er sich wie ein anständiger Mann benommen hat. Sie hat sich lieber einem verkommenen Dirty Demon an den Hals geworfen, der ihr seinen Namen auf die Haut tätowiert hat. Es ist allgemein bekannt, dass diese Typen ihre Frauen wie Dreck behandeln, und trotzdem …

Oder gerade deswegen. Frauen wollen nicht gut behandelt werden. Sie verwechseln Grausamkeit mit Stärke und Sadismus mit Liebe. Sie sind so leicht zu manipulieren. Und wenn sie endlich die Augen öffnen, ist es zu spät. So läuft es immer.

Sassy wird mit Saint ein böses Erwachen erlebt, davon ist er überzeugt. Saint ist kein Prinz, der nur auf die Richtige gewartet hat, sondern ein ehemaliger Dirty Demon. Dieses Arschloch wird sie zerstören und keinen Blick zurückwerfen, wenn er sich aus dem Staub macht. Aber sie will es so. Ihr Problem. Ein schlechter Mann kann nicht einfach einen Schalter in seinem Innern umlegen und ein guter Mann werden, nur weil ihm ein hübsches Mädchen vor die Füße stolpert.

Woher Dog das weiß?

Erfahrung, Leute. Eigene Erfahrung.

Er hat geglaubt, den Kampf gegen das Böse in sich gewonnen zu haben. Hat gedacht, dass er ein ebenso geachteter Mann werden kann wie Frenchman. Schließlich hat sogar Dammit eine 180-Grad-Wendung in seinem Leben hingelegt, obwohl alle überzeugt waren, dass er geradewegs auf den Abgrund zurast.

Doch die Zeichen mehren sich, dass Dog sich etwas vorgemacht hat. Er spürt es in seinen Knochen und jetzt auch in seiner Kopfhaut. Es strömt aus seinen Poren wie Gift, das viel zu lange vor sich hingegärt hat. Wahrscheinlich nehmen andere Menschen es unterbewusst wahr, so wie die Frau, die vor ihm abgehauen ist, obwohl er ihr nur die Tür aufgehalten hat.

Er sollte aufhören, so zu tun, als gehörte er zu den Guten. Von einem Kerl mit seinem einschüchternden Äußeren erwartet man grundsätzlich keine Rücksichtnahme. Er sieht aus wie ein harter, gefährlicher Rocker, also sollte er sich auch so benehmen. Die Clubmädchen erwarten keine Blumen von ihm und alle anderen Frauen halten sich sowieso lieber von ihm fern. Er hat die Schnauze voll, sich zu verbiegen, um jemand zu sein, den es gar nicht gibt. Er ist, was er ist und es ist an der Zeit, das zu akzeptieren. Er will nicht mehr der besorgte Freund sein, der für ein Mädchen die Kastanien aus dem Feuer holt und dann kopfschüttelnd zuschaut, wie sie sich dem nächsten Dreckskerl an den Hals wirft. Nett sein ist verschwendete Energie. Nett sein liegt nicht in seiner Natur, obwohl er es weiß Gott versucht hat.

»Lass uns einen kleinen Umweg fahren«, schlägt Finn vor.

»Wir machen seit Tagen nichts als Umwege. Von einem dreckigen Clubhaus zum nächsten, von einer Bikerparty zum nächsten Motorradtreff. Die Nomads warten auf uns.«

»Tun sie nicht, weil sie Nomads sind. Und was machen Nomads? Sie genießen das Leben und fahren Umwege.«

»Mir ist aber nicht nach Party und Umwegen. Ich will endlich wieder was zu tun haben. Herrgott, ich würde sogar freiwillig als Ordner auf einem Schlager-Festival einspringen!« In den letzten Tagen hat er zu viel Zeit zum Nachdenken gehabt, und dabei kommt nie etwas Gutes heraus.

»Du brauchst dringend Ablenkung, Großer«, sagt Finn. »Lass uns nach Osten fahren, ab in die Provinz. Kilometerlange, schnurgerade einsame Landstraßen und keine Dirty Demons weit und breit. Vielleicht machen wir einen Abstecher über die Grenze nach Tschechien oder …«

»Du willst zum Club«, unterbricht ihn Dog. »Ohne mich.«

»Club? Welcher Club?« Finn setzt ein ahnungsloses Gesicht auf.

»Stell dich nicht dumm. Ich meine den Club. Danke, aber kein Bedarf.«

»Warum nicht? Du warst erst ein einziges Mal dort und das ist schon eine ganze Weile her.«

»Mindestens vier Jahre, eher fünf«, brummt Dog.

»Siehst du? Außerdem warst du zu betrunken, um den Abend richtig genießen zu können.«

»Nicht betrunken genug. Auf eine Wiederholung lege ich echt keinen Wert.«

Finn grinst. »So betrunken, dass du nicht einmal mehr weißt, dass du es mit dieser Braut getrieben hast, die anschließend halb nackt vor dir weggerannt ist. Hat zumindest Tiger erzählt.«

»Da war nichts«, sagt er gepresst.

Er kann sich kaum an Einzelheiten erinnern, aber diese eine Sache ist ihm von jener Nacht schemenhaft im Gedächtnis geblieben, und das auch nur, weil sie ungute Erinnerungen an seine Vergangenheit geweckt hat. Erinnerungen, die ihn bis heute verfolgen.

Eines weiß er jedoch genau: Er hat dieses Mädchen nicht flachgelegt. Daran hätte er sich definitiv erinnert.

Hätte er doch, oder?

Oder hat er die Kontrolle über sich verloren?

Nein. Nein, hat er nicht. Der alte Dog ist schon lange tot und begraben.

Tiger hat ihn noch Wochen später damit gepiesackt, wie fertig die Kleine ausgesehen hat. Aschfahles Gesicht, glasige große Augen, dunkelrote Fingerabdrücke auf den Schenkeln und den nackten milchweißen Brüsten … Sie ist in ihn reingestolpert und er hat sie aufgefangen, bevor sie beide zu Boden krachen konnten. Im nächsten Augenblick war sie schon weg. Vielleicht hat er ihr etwas hinterhergerufen, vielleicht wollte er ihr folgen. Er weiß es nicht mehr. Aber er hat ihr nichts angetan.

Sie wäre nicht das erste Partygirl, das fälschlicherweise gedacht hat, es mit einer Horde Rocker aufnehmen zu können. In diesem Club gab es weder Regeln noch eine Security, dafür jede Menge Wodka von fragwürdiger Herkunft. Seine Freunde hatten ihn vor dem brutalen Gesöff gewarnt. Aber wie das mit Warnungen so ist …

Das Unbehagen, das ihn am nächsten Morgen befiel, ist ihm heute noch, Jahre später, in guter Erinnerung. Aber da war nichts. Der Dog, den alle kennen, hätte einer Frau nie etwas angetan. Er war sowieso sturzbetrunken, er hätte nie einen hochbekommen. Ende der Geschichte.

Trotzdem ist in jener Nacht etwas passiert …

»Ob die immer noch solche legendären Partys feiern?«, sinniert Finn.

»Ist mir egal. Ich habe keine Lust auf Party.« Schon gar nicht in diesem speziellen Club.

»Du hast in letzter Zeit Lust auf gar nichts mehr. Du musst nur mal ordentlich die Sau rauslassen, ein Wochenende lang wild herumvögeln, dann geht es dir besser.«

»Ficken ist nicht die Antwort auf alles, Kumpel. Bei unserem Glück lauert dort eine deiner Verflossenen auf dich. Würde mich nicht wundern, wenn man dir wieder ein Baby entgegenhält und sagt: Klein-Finn möchte endlich seinen Daddy kennenlernen.«

Finn grinst so breit, dass es Dog in der Faust juckt. »Diese blöde Geschichte wirst du mir ewig unter die Nase reiben, was? Der Vaterschaftstest hat mich eindeutig entlastet. Das Mädel wird sich einen anderen Dummen für die Unterhaltszahlungen suchen müssen.«

»Du hast bloß unverschämtes Glück gehabt. Eines Tages ist es damit vorbei und dann vergeht dir das Grinsen. Erinnerst du dich noch an den durchgeknallten Nazi, dessen Frau du in seiner Garage gevögelt hast? Der Typ wollte dich mit seinem Truck überfahren – mehrfach.«

Finn lacht. »Er war so rot vor Wut, dass ich dachte, sein Kopf würde platzen.«

Dog lacht nicht. Er ist erschöpft, zornig, unruhig, aber nicht amüsiert. »Nuts wartet auf uns.«

»Tut er nicht. Nicht wirklich. Er will uns bloß in seiner Nähe haben, weil er es nicht ertragen kann, wenn wir uns ohne ihn amüsieren. Er selbst darf ja nicht, wegen Pepper. Komm schon, Mann. Gönnen wir uns einen kleinen Abstecher über einsame Landstraßen. Ich verspreche, es wird dir gefallen.«

»Ich muss nicht hunderte Kilometer bis ans Ende der Welt fahren, nur um Alkohol und Sex zu haben. Das bekomme ich gratis in jedem unserer Clubhäuser.«

»Tja, aber der Nachteil an unseren Clubhäusern ist, dass es dort von Bullhead-Brüdern nur so wimmelt. Und draußen vor dem Tor lauern mindestens drei Streifenwagen darauf, dass ein Mädchen auf die Straße stürzt und um Hilfe schreit. Oder dass einer von uns ganz aus Versehen ein bisschen in die Luft schießt. Oder dass irgendwelche Clan-Idioten reinplatzen und Stunk machen.«

»Oder dass ein gewisser Nomad, den ich nicht namentlich nennen möchte, rausgeht, den Streifenwagen anpinkelt und eine Polizistin zu einem Blowjob auffordert.«

»Stell dir vor, sie hätte Ja gesagt, dann hättet ihr schön blöd aus der Wäsche geschaut.« Finn betrachtet seine Fingernägel. »Na, wenigstens durften die Bullen endlich mal ihre Gummiknüppel benutzen. Sieben auf einen. Hab vier Anzeigen wegen Körperverletzung bekommen, eine wegen Sachbeschädigung, eine wegen … Weiß der Geier.«

»Und einen legendären Anschiss von Nuts, weil du eine Woche lang nicht aufs Bike steigen konntest.«

»Manchmal ist er schlimmer als eine Gouvernante«, seufzt Finn. »Und aus diesem Grund sollten wir einen kleinen Umweg fahren und dort Spaß haben, wo es noch erlaubt ist. Kein Nuts, keine Bullen, keine empörten Old Ladys, keine Clan-Jüngelchen voller Testosteron und keine idiotischen Benimmregeln. Nur jede Menge untervögelter Dorfmädchen, die es kaum erwarten können, von einem durchreisenden Rocker flachgelegt zu werden. Wir können endlich mal wieder ungehemmt feiern.«

»Hurra«, grollt Dog. Ihm steht nicht der Sinn nach einem wilden Wochenende im ostdeutschen Nirgendwo. Eine Flasche Whisky … gut, eher zwei bis drei Flaschen würden ihm vollauf genügen, um seine rotierenden Gedanken zur Ruhe zu bringen.

»Langsam fange ich echt an, mir Sorgen um dich zu machen, Großer. Wo ist der alte Dog hin, der das Leben in vollen Zügen genießt?«

Den hat es nie gegeben, denkt Dog.

Finn schüttelt den Kopf. »Du denkst zu viel über Frauen nach, das ist dein Problem. Aber dafür sind wir nicht geschaffen. Wir sind Nomads! Wir nehmen mit, was wir kriegen können, und lassen uns auf nichts ein.« Er gibt Dog einen Klaps auf die Schulter und startet sein Motorrad.

Das heißt, er versucht es. Die Maschine röchelt und gibt eine knallende Fehlzündung von sich. Finn versucht es noch einmal, dann ein weiteres Mal. Erst beim vierten Versuch startet der Motor widerwillig.

»Die Benzinleitung ist wahrscheinlich verdreckt«, sagt Dog. »Du solltest mal den Starter checken und bei der Gelegenheit auch Zündkerzen und Öl wechseln. Wann hast du das letzte Mal den Luftfilter durchgepustet?«

»Warum sollte ich? Mein Baby läuft einwandfrei.« Finn zieht sein Bandana über die untere Gesichtshälfte und rast davon.

Kopfschüttelnd schwingt sich Dog in den Sattel und folgt seinem Freund.

Möglicherweise hat Finn recht und er denkt zu viel über Dinge nach, die nicht in seiner Natur liegen. Er sollte seine Prioritäten zurechtrücken und zu dem Mann werden, den Außenstehende in ihm sehen: ein Rocker, in dessen Leben es nur Platz für seinen MC, ihn selbst und sein Motorrad gibt. Und natürlich für Sex.

Es würde sein Dasein um so vieles leichter machen. Er müsste nicht länger gegen sein wahres Ich ankämpfen und sich zum Affen machen bei dem Versuch, anständig zu sein. Niemand erwartet es von ihm. Er ist ein Nomad, verdammt. Ein Mann, der sich nimmt, was er haben will, und niemals zurückschaut.

TeilEins

Funkenschlag

Kapitel1

Emilia

Sie trinkt ihren Kaffee, betrachtet den halbfertigen Entwurf in ihrem Skizzenbuch, seufzt und schaut dann durch das staubblinde Fenster des Werkstattbüros hinaus auf die Straße. Viel gibt es dort nicht zu sehen. Die Tankstelle gegenüber öffnet erst in einer Stunde. Zwei Zapfsäulen, eine für Lkw-Diesel, die andere für normale Fahrzeuge. Dahinter erstrecken sich verbrannte Felder bis zum Horizont. Zwei Bäume, die in der sengenden Morgenhitze ihre Blätter hängen lassen, säumen die Einfahrt zu Emilias Werkstatt. Das Grün der Baumkronen sieht staubig aus, genau wie die Landstraße, die nach Marchow führt, wo es einen riesigen Supermarkt, einen Baumarkt, zwei große Tankstellen und eine Apotheke gibt. Und natürlich eine viel schönere und modernere Motorradwerkstatt als die von Emilia. Von hier bis zur Stadtgrenze sind es etwa fünfzehn Kilometer. Die meisten Leute fahren jedoch nicht über die schmale, bucklige Landstraße. Sie benutzen lieber die Bundesstraße, die an Marchow vorbei zur tschechischen Grenze führt. Wenn doch mal jemand hier vorbeikommt, dann will er weder zu Emilias Haus mit ihrer Werkstatt im Erdgeschoss noch zu der kleinen Tankstelle gegenüber, sondern zum ehemaligen Gutshaus in der Nähe, das jetzt ein Bordell beherbergt. Wenn Emilia den Kopf nach rechts dreht, kann sie das Dach des Puffs sehen, auf dessen First bei Sonnenuntergang in riesigen neonroten Lettern das Wort PANDORA kilometerweit leuchtet.

Die Landstraße hat nicht mal einen Namen, nur eine Nummer. Die nächstgrößere Straße heißt Hauptstraße. Damit ist alles gesagt, was man über Marchow und Umgebung wissen muss.

Das stimmt natürlich nicht ganz. Aber über die anderen Dinge redet man hier nicht.

Obwohl sie genau weiß, welcher Tag heute ist, wirft sie einen Blick zum Magic Mike-Kalender an der Wand, auf dem ein halbnackter Channing Tatum seine Bauchmuskeln präsentiert. Die Zahl 15 ist zornig mit Kugelschreiber eingekringelt, genau wie in den Monaten zuvor. Doch heute wird es das letzte Mal sein, dass sie diesen Tag hasst und fürchtet.

Der Kaffee schmeckt bitter, wahrscheinlich, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum seit sieben Monaten überschritten ist. Emilia kann es sich nicht leisten, Lebensmittel wegzuwerfen, die eigentlich noch ganz okay aussehen.

»Krieg ich auch einen?«

Floh steht in der Tür zum Werkstattbüro, die Hände in den Taschen der viel zu großen Hose vergraben. Schüchtern grinst er sie an. Trotz des frühen Morgens sieht er verschwitzt aus, denn die Sonne brennt bereits unbarmherzig auf die Landschaft nieder.

»Netter Versuch, Kumpel. Für dich gibt’s Kakao.«

Emilia steht auf und öffnet den alten Kühlschrank, in dem sie neuerdings immer ein Tetrapak mit Kakao aufbewahrt. Sie hat keine Ahnung, wie alt der Junge ist. Elf Jahre? Zwölf? Zehn? Von Kindern versteht sie nicht genug, um sich sicher zu sein. Er ist ziemlich klein, heißt eigentlich Florin und stammt aus Rumänien, was man ihm aber nicht anhört. Er spricht sowieso kaum. Für einen Jungen seines Alters ist er definitiv zu ernst und zu still. Dass er heute nach Kaffee fragt, wertet sie als Fortschritt.

»Wieso bist du nicht in der Schule?«, fragt sie wie jeden Morgen. Und wie jeden Morgen bekommt sie ein Schulterzucken zur Antwort.

Er stürzt den Kakao hinunter wie ein Verdurstender und wischt sich über die Lippen. »Mama geht’s nicht gut«, murmelt er.

»Wenn sie krank ist, musst du sie zum Arzt bringen.«

»Geht nicht.« Er schaut an ihr vorbei. »Sie hat geweint. Das tut sie oft. Sie will nicht, dass ich es sehe, aber ich bin nicht blöd.«

»Natürlich nicht. Was ist mit deinem Vater?«

Er streckt ihr den leeren Becher entgegen. »Kann ich noch einen?«

»Du redest nicht über Privates, hm? Ist schon okay, das tut niemand gern.« Sie füllt seinen Becher nach. »Hey, hast du Lust, mir heute bei dem Audi zu helfen? Der Wagen braucht noch einen Ölwechsel und einen neuen Filter. Die Zylinderkopfdichtung habe ich gestern Abend schon eingebaut.«

Flohs Gesicht leuchtet auf. »Ölwechsel kann ich. Hab ich auf Youtube gesehen.«

»Youtube!« Sie schnaubt. »Wir machen das ordentlich, klar? Ich zeig’s dir.«

Der Wagen gehört einem Berliner, der vermutlich zum Pandora wollte, aber mit einer Panne mitten auf der Landstraße liegen geblieben ist. Der Abschleppdienst hat das Fahrzeug hierher gebracht und den Fahrer nach Marchow kutschiert, wo er im teuersten Hotel des Ortes darauf wartet, dass Emilia sein kostspieliges Gefährt wieder fahrtüchtig macht. Die Lieferung der Zylinderkopfdichtung hat trotz Expresszustellung drei Tage gedauert und sie musste das Teil persönlich von der Marchower Post abholen. Der Kunde, irgendein reicher Schnösel, hat gestern telefonisch mit seinem Anwalt gedroht, wenn sie heute nicht fertig wird.

Sie startet den altersschwachen Computer, dessen Gehäuse im Laufe der Zeit einen hornhautfarbenen Ton angenommen hat. Hier draußen gibt es weder Internetzugang noch Mobilfunk, darum hat ihr Vater vor Jahren zusammen mit Mikey von der Tankstelle gegenüber einen LTE-Empfänger auf das Dach des Hauses gepflanzt, der das Signal aus Marchow auffängt und es ihnen ermöglicht, ins Netz zu gehen. So kann sie nachts, wenn der Schlaf nicht kommen will, sich von Serien ablenken lassen und so tun, als wäre sie nicht völlig aus der Welt gefallen.

Floh deutet auf ihr Skizzenbuch. »Ich mag dein Bild«, murmelt er. »Das ist Kunst, oder?«

Sie betrachtet die Zeichnung, einen zähnefletschenden Panther, der aus einem Flammenmeer springt. »Das ist der Entwurf für ein Airbrush auf einem Motorradtank. Falls sich doch noch mal ein Biker hierher verirrt und zufällig gern eine Raubkatze auf seiner Maschine haben möchte.«

Draußen rast ein Wagen vorbei, ein glänzendes Cabrio. Hinter dem Fahrzeug steigt Staub auf und senkt sich langsam wieder auf die Fahrbahn. Der Junge zieht die Schultern hoch.

»Der will ganz bestimmt nicht zu mir«, sagt Emilia. »Der fährt zum Pandora.«

Floh presst die Lippen zusammen.

Das Gebäude, in dem das Pandora untergebracht ist, war früher das Haupthaus eines einstmals prächtigen Gutshofes, bis Investoren das gesamte Land aufgekauft, sämtliche Eichen gefällt und kilometerweite Weizenfelder angelegt haben, die den Boden auslaugen. Das Haus wurde sich selbst überlassen, bis ein paar Verrückte aus Berlin hier vorbeikamen und beschlossen, dass dies der perfekte Ort für einen Underground-Club ist. Keine Nachbarn, keine Behörden, keine Hausregeln. Nicht einmal einen Namen hatte der Club. Er hieß einfach nur der Club.

Damals kamen oft auch Rocker von außerhalb her, um mitzufeiern, denn das Bier war billig und der Wodka wurde in Kanistern aus Polen hergeschmuggelt. Viele gehörten berüchtigten MCs an, deren Namen man nur aus den Nachrichten kannte. Sie kamen aber nicht nur zum Partymachen her, sondern auch, um ihre Maschinen in der Monkey Garage instand setzen oder kunstvoll lackieren zu lassen. Die Werkstatt von Emilias Vater hatte in der Biker-Szene einen guten Ruf. Emilia war früher selbst einige Male in dem Club, hat geflirtet, getrunken, gelacht und mit süßen Jungs geknutscht. Hat sich für stark, wild, unverletzlich gehalten.

Bis zu jener Nacht.

Danach konnte sie nicht mehr hier wohnen, konnte nicht mehr in der Monkey Garage arbeiten und höflich zu den Männern in Lederkutte und Bikerboots sein, die in der Werkstatt ein- und ausgingen. Sie hat es nicht ertragen, jedes Wochenende den Partylärm zu hören, der vom Gutshaus bis hierher schallte. Ihr Vater war kein Idiot. Er hat mehrmals gefragt, was mit ihr los wäre, aber sie hat eisern geschwiegen. Um seinetwillen, denn er war genauso hitzköpfig wie sie. Was auch immer er getan hätte, würde nichts ändern. Er hätte bloß seine Kunden vergrault.

Darum hat er bloß resigniert genickt, als sie verkündete, nach Berlin zu ziehen, um für einen Hungerlohn bei einem berühmten Airbrusher zu jobben. Es stand außer Frage, dass sie irgendwann zurückkehren und wieder zusammen mit ihrem Vater in der Monkey Garage arbeiten würde. Sie brauchte nur einige Monate weit weg von Marchow, um wieder atmen zu können.

Sie hat in Berlin gezeichnet und gesprayt, bis ihr Handgelenk schmerzte, und mit verbissenem Ehrgeiz ihr Können verfeinert. Aus einigen Monaten wurde ein Jahr, dann noch eines. Die alte starke Emilia wagte sich allmählich wieder zurück ins Leben, lernte Menschen kennen, lachte sogar.

Bis eines Tages dieser Anruf kam.

Ihr Vater sei auf dem Weg zu seinem Steuerberater tödlich verunglückt, teilte ihr der Polizist telefonisch mit. Ein Bauer fand ihn im Straßengraben, seine Maschine lag mit Totalschaden im Gebüsch. Unfall mit Fahrerflucht, hieß es. Nach dem Schuldigen werde gesucht.

Emilia packte ihre Sachen und kehrte nach Marchow zurück. Schuldgefühle und Trauer zerfraßen sie so sehr, dass sie erst nach einer Weile bemerkte, wie sehr sich hier alles verändert hatte.

Der Club war geschlossen worden. Die wilden Partys mit Gras, Alkohol, Sex und Schlägereien gehören der Vergangenheit an. Irgendwann hatten wohl sogar die trägen Kleinstadt-Polizisten nicht mehr die Augen vor dem verschließen können, was in dem alten Gutshaus abging. Emilia hätte nichts dagegen gehabt, wenn das Gebäude einfach dem Verfall überlassen worden wäre.

Doch das Haus hat einen neuen Besitzer bekommen: Der Kings of Wrath MC hat sich in Marchow niedergelassen und den alten Club in ein Bordell verwandelt. Mit Einbruch der Dämmerung flammt nun jeden Abend der neonfarbene Schriftzug Pandora an dem großen Gebäude auf. Seitdem stehen regelmäßig teure Fahrzeuge mit Kennzeichen aus Berlin, Dresden, Leipzig vor dem Haus – und auch Motorräder des MC. Aber keiner von denen würde je sein Bike in der Monkey Garage instandsetzen lassen.

Es gibt ja jetzt diese neue Werkstatt in Marchow, wo alles viel schicker aussieht als bei ihr. Die Mechaniker taugen nichts, sie können gerade mal Reifen wechseln und neue Sicherungen einsetzen, aber der Laden gehört den Kings of Wrath und kein ansässiger Motorradbesitzer wagt es, die neuen Schattenkönige von Marchow vor den Kopf zu stoßen. Da es den illegalen Partyclub nicht mehr gibt, kommen auch keine fremden Rocker aus den Großstädten mehr hierher. Nachdem Emilia also die Monkey Garage übernommen hat, musste sie feststellen, dass die Kundschaft ausblieb. Mit der Werkstatt geht es seitdem stetig bergab.

Es spielt keine Rolle, dass sie von klein auf zusammen mit ihrem Vater an Motoren geschraubt hat. Alles, was er weiß, hat er an sie weitergegeben. Sie konnte schon motorradfahren, noch bevor sie ihr erstes Date mit Mikey von der Tankstelle gegenüber hatte (über das sie an dieser Stelle kein weiteres Wort verlieren möchte). Weil sie eine kreative Ader hat, wurde das Custom-Painting schon früh zu ihrer Leidenschaft. Sie ist gut, verdammt gut. Emilia und ihr Vater haben früher oft mit wunderschönen Custom-Bikes an Shows teilgenommen. Sie waren ein perfektes Team: er mit seinem technischen Können und sie mit ihren künstlerischen Fähigkeiten. Die Kunden kamen sogar aus Hamburg zur Monkey Garage.

Die einzigen Leute, die Emilia jetzt regelmäßig – zu jedem fünfzehnten des Monats – einen Besuch abstatten, sind alles andere als Kunden.

Seit ihrer Rückkehr nach Marchow vor zwei Jahren lebt Emilia von dem Geld, das ihr Vater ihr hinterlassen hat, sowie von Touristen, die mit ihrem Auto wegen einer Panne liegen geblieben sind und dann verblüfft fragen: »Oh, Sie sind die Chefin?« Manchmal lackiert sie Helme und bietet sie auf Ebay als Einzelstücke zum Kauf an. Sie sollte sich eine Webseite einrichten, um mehr Kunden zu bekommen  – oder einfach von hier verschwinden und woanders neu anfangen, so lange es noch möglich ist. Das schmale Erbe ist fast aufgebraucht und hier gibt es nur noch bedrückende Erinnerungen.

Floh rollt den Werkzeugwagen zu dem Audi und reicht ihr die Filzdecke, mit der sie den Lack des Fahrzeugs während der Reparatur vor Schäden schützt. Sie zeigt ihm die neue Zylinderkopfabdeckung unter der geöffneten Motorhaube und erklärt ihm genau, was sie heute tun werden. Aufmerksam hört der Junge zu, saugt jedes Wort auf.

Sie weiß, dass sie ihn fortschicken sollte. Er gehört nicht in die fast bankrotte Werkstatt einer trübseligen Mechanikerin, sondern in die Schule.

Doch seit er sich vor einem knappen Monat zum ersten Mal hier reingeschlichen hat, sind ihre Lebensgeister allmählich wieder erwacht. Vorher gab es Tage, da konnte sie sich kaum aufraffen, das Bett zu verlassen und hinunter ins Erdgeschoss zu schlurfen. Sie schaffte es gerade so, morgens das Werkstatttor zu öffnen und es abends wieder zu schließen. Die Erkenntnis, dass sie ihren Vater im Stich gelassen hat, drückte sie nieder, hielt sie im Würgegriff, erstickte sie ganz langsam. Der fünfzehnte eines jeden Monats kam und ging und kam erneut und sie hat sich nicht gewehrt. Nicht einmal zu aufrechter Wut war sie fähig.

Erst das Auftauchen des seltsamen kleinen Jungen hat sie aus ihrer Lethargie gerissen. Der Kummer hat Platz gemacht für andere Emotionen. Eine davon ist Zorn.

Etwas muss geschehen. Und zwar heute.

Sie sollte Floh fortschicken, bevor es hässlich wird. Seine Eltern wissen vermutlich nicht einmal, dass er Tag für Tag hier draußen bei ihr herumhängt.

Der Junge schleppt die Wanne für das Altöl heran, während sie den Audi auf der Hebebühne ein Stück nach oben fahren lässt. Die Felgen sind eine Sonderanfertigung, genau wie die mitternachtsblaue Speziallackierung, die bei Lichteinfall irisierend schimmert. In dieser Gegend kann sich niemand so ein teures Fahrzeug leisten.

»Gib mir mal das Reinigungsspray und den Drehmomentschlüssel«, sagt sie zu Floh.

»Darf ich das machen?«

»Na klar. Komm her. Ich erklär’s dir.«

So viel zu: Schick ihn fort.

Sie zeigt Floh, wie man den Ölfilter austauscht und einen neuen Dichtungsring montiert. Er lächelt stolz über seine Arbeit, sein Gesicht ist schmutzig und ölverschmiert.

»Ich mag dein Armband«, sagt er leise.

Sie blickt auf ihr Handgelenk. »Das ist nur ein selbst geflochtenes Band aus Paracord. Ich hatte noch etwas Schnur übrig.«

»Kann ich so was auch machen?«

»Du kannst das hier haben.« Sie öffnet den Knoten und hält es ihm hin.

Seien Augen werden groß. Es ist nur ein Ding aus blauer und grüner Kordel, aber er nimmt es so ehrfürchtig entgegen, als handle es sich um ein Fabergé-Ei.

»Danke«, flüstert er und wickelt es doppelt um sein dünnes Handgelenk. Floh besteht praktisch nur aus knochigen Gliedmaßen. Sind alle Kinder in seinem Alter so schmächtig?

»Ich mache heute Abend Lasagne«, sagt sie beiläufig. »Falls du nicht zufällig eine Verabredung hast, komm vorbei. Ich koche für dich mit.«

Er lächelt vorsichtig. »Ich glaube, Lasagne mag ich am liebsten«, murmelt er.

»Weiß ich. Aber frag vorher deine Eltern, klar?«

Das Lächeln erlischt.

Ihr Blick schweift zum offenen Werkstatttor. Drüben auf der anderen Seite der Straße tritt Mikey mit einem Schild unter dem Arm aus dem winzigen Shop seiner Tankstelle. Grüßend hebt er die Hand. Aus der Ferne schwillt das Grollen von Motoren an und Mikeys Kopf fährt herum. Mit hochgezogenen Schultern eilt er zur Anzeigetafel mit den Benzinpreisen, wo er das Schild mit Klebeband befestigt. ZU VERKAUFEN steht darauf und darunter seine Telefonnummer.

Er hat aufgegeben. Sie hat kein Recht, es ihm übel zu nehmen, trotzdem fühlt es sich an wie Verrat.

Floh wird stocksteif, als das Dröhnen der Motoren immer lauter wird. »Da kommt jemand.«

»Das scheint mir auch so, Kumpel. Wer ist jemand?«, fragt sie, obwohl sie die Antwort kennt. Sie hat die Besucher schon erwartet.

Hilflos schaut er sie an, bevor er zum Tor flitzt und hinausschaut. »Die Rocker.« Sein Gesicht ist kreidebleich. »Sie kommen hierher.«

Emilia wiegt den schweren Drehmomentschlüssel in der Hand, bevor sie ihn in die hintere Hosentasche steckt. Sie schaut sich in der Werkstatt um: leer und aufgeräumt. Die Tür zur Lackierkammer hat sie gestern Abend abgeschlossen. »Geh ins Büro und setz frischen Kaffee auf. Bleib da drin, bis ich dich rufe, okay?«

Er nickt sichtlich erleichtert und huscht davon.

Stoisch füllt sie neues Öl ein und tut so, als gäbe es nichts Spannenderes, als dem Gluckern der goldfarbenen Flüssigkeit zu lauschen. Sie wischt ein paar Tropfen fort, entfernt die Schutzdecke und schließt sachte die Motorhaube.

Die kleine Werkstatthalle erbebt unter dem Getöse der Motoren, das direkt vor dem offenen Tor verstummt. Mit fest zusammengepressten Kiefern reinigt sie ihre Finger mit einem Lappen, während sie sich langsam umdreht.

Die drei Besucher steigen gemächlich aus den Sätteln ihrer Harleys, nehmen die olivgrünen Wehrmachtshelme ab und betreten das kühle Innere der Werkstatt. Hosen und Stiefel sind staubig, die Gesichter werden von Sonnenbrillen und Mundtüchern verdeckt.

Mit einem erleichterten Seufzen zieht Havoc sein Tuch herab. »Wie läuft das Geschäft?« Sein rot verbranntes Gesicht glänzt vor Schweiß, das T-Shirt unter der Lederkutte mit dem Patch der Kings of Wrath klebt an seinem massigen Oberkörper. Sein weißblondes Haar kräuselt sich feucht in Stirn und Nacken. Beiläufig zieht er eine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche und schiebt sich einen Glimmstängel zwischen die Lippen. Die Narbe, die vom linken Mundwinkel bis zu seinem Ohr reicht, verzieht sein Gesicht zu einem obszönen, einseitigen Grinsen.

»Hier drin ist das Rauchen verboten.« Sie wirft den Lappen auf den Werkzeugwagen. »Der Laden brummt, siehst du das nicht? Ich weiß gar nicht, wohin mit all dem Geld.«

»Ironie steht dir nicht, Kleine.« Er holt ein Zippo heraus, zündet seine Zigarette an – Klick-Klick – und bläst Qualm in ihre Richtung. »Genauso wenig wie diese Latzhose. Zum nächsten Fünfzehnten erwarte ich, dass du was Hübsches für uns anziehst.«

Seine beiden Begleiter mustern sie grinsend von oben bis unten. Sie verflucht sich, dass sie heute nur ein weißes Tanktop zu ihrer grauen Arbeitslatzhose trägt.

Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Was wollt ihr?«

»Stell dich nicht dumm.« Er schlendert durch die Halle, schaut in die Schubladen des Rollwagens und legt seine schweißfeuchte Hand auf die makellose Motorhaube des Audi. Der Totenschädel mit der Krone auf dem Rücken seiner Lederweste verhöhnt sie. »Heute ist Zahltag. Genau wie letzten Monat, vorletzten Monat und den Monat davor.«

»Frauen sind manchmal begriffsstutzig, das kommt von den Hormonen«, sagt Draco. Beim Sprechen hüpft das Hakenkreuz-Tattoo auf seinem Kehlkopf. »Wir sollten es ihr so verklickern, dass sie es nie wieder vergisst.« Er befummelt den Griff des überdimensionierten Jagdmessers, das er in einer Scheide am Gürtel trägt. Sie hat ihn noch nie ohne diese Waffe gesehen.

Schnell vergewissert sie sich, dass Floh in ihrem Büro ist. »Ich habe das Geld nicht«, sagt sie so beherrscht wie möglich. »Ich kann kaum die Miete und den Strom bezahlen.«

»Wenn ich für jedes Mal, wo ich diesen Spruch hören muss, einen Euro bekäme, wäre ich Elon Musk«, ruft Havoc vom anderen Ende der Halle. »Dummerweise sind auch unsere Kosten gestiegen, verstehst du? Wir müssen die Summe um … sagen wir … zehn Prozent anpassen. Weil du es bist.« Er geht zu der Tür mit der Aufschrift Lackierkammer und rüttelt an der Klinke. »Ich mag dich irgendwie, trotz deiner scheußlichen Klamotten. Alle anderen müssen fünfundzwanzig Prozent mehr zahlen.«

»Und wofür?«, fragt sie grimmig. Aus den Augenwinkeln sieht sie, dass die Bürotür einen Spalt offen steht. Flohs Haarschopf ist zu sehen. Der Junge lauscht.

»Erhöhte Brandgefahr.« Havoc verzieht keine Miene. »Uns steht ein teuflisch heißer Sommer bevor.«

»Selbst wenn ich das Geld hätte – ich werde nicht mehr an euch bezahlen.« Sie hebt das Kinn und sagt laut: »Ich gehe zur Polizei.«

Die drei Männer schauen sich an und brechen in schallendes Gelächter aus.

»Nicht einmal du wärst so dumm.« Havoc klemmt die Zigarette zwischen den Zähnen ein. »Wie es der Zufall so will, hat mein MC ein geschäftliches Angebot für dich und ich rate dir dringend, es anzunehmen. Du stehst kurz vor der Pleite. Wir könnten dir helfen …« Sein wässriger Blick gleitet an ihr hinab. »Ich könnte dir helfen, Bitch.«

Sie rührt sich nicht von der Stelle. »Ihr wollt meine Werkstatt? Wofür? Geldwäsche?«

»Nun ja, das Pandora bringt viel Kohle ein und wir möchten dich gern an unserem Glück teilhaben lassen.« Er hat sogar die Dreistigkeit, zu lächeln. »Du bleibst natürlich offiziell die Chefin deines traurigen Ladens.«

Natürlich. Irgendeiner muss ja den Kopf hinhalten. »Steck dir dein Angebot sonst wohin. Ich werde nicht länger an euch zahlen. Irgendwann ist Schluss.«

»Wir bestimmen, wann Schluss ist.« Er marschiert an ihr vorbei zum Büro.

Floh!

Sie zieht den Drehmomentschlüssel aus der hinteren Hosentasche. Doch bevor sie Havoc hinterherstürzen kann, reißt sie jemand mit einem harten Ruck am Haar nach hinten und entwindet ihr das schwere Werkzeug.

»Ganz dumme Idee«, sagt Ratman, der sich bisher im Hintergrund gehalten hat. Seine Züge sind ausgemergelt, seine grauen Augen haben einen unnatürlich silbrigen Glanz.

Havoc stößt die Tür zum Büro auf, gleich darauf hört sie ein Krachen.

Der reißende Schmerz an Emilias Kopfhaut fühlt sich an, als würde sie skalpiert werden. Sie versucht, Ratmans Finger gewaltsam zu lösen, doch der hagere Mann ist kräftiger, als sie dachte. Er reicht den Drehmomentschlüssel an seinen Kumpel mit dem Hakenkreuz-Tattoo weiter. »Du kannst doch bestimmt etwas mit dem Ding anfangen, Draco.«

»Aber hallo.« Der Angesprochene zwinkert Emilia zu, dann geht er zu dem Audi hinüber. Er wiegt das Werkzeug kurz in der Hand, bevor er ausholt und den Außenspiegel abschlägt. Ein zweiter Schlag verwandelt die Windschutzscheibe in ein Spinnennetz, unter dem dritten und vierten zerbersten die Scheinwerfer.

»Spinnst du?«, brüllt Emilia. »Das ist das Auto eines Kunden!«

Aus dem Innern ihres Büros ertönt Rumoren und Scheppern, dann ein heller Schrei.

»Floh!« Ohne nachzudenken, wirbelt sie herum und rammt Ratman das Knie in die Eier. Stöhnend lässt er sie los und geht in die Knie. Sie stürmt zum Büro und sieht, wie Havoc den strampelnden Jungen unter dem Schreibtisch hervorzerrt. Im gesamten Raum verteilen sich Unterlagen, Quittungen, Teilekataloge und Aktenordner. In einer Kaffeepfütze schwimmt ihr Skizzenbuch. Der Router liegt zertrümmert am Boden, daneben die zerbeulte offene Bargeldkassette.

»Was zum Teufel macht dieser Bengel bei dir?« Wütend schüttelt Havoc den Jungen durch. »Und wo ist die Kohle?«

»Alles, was ich habe, war in der Geldkassette.«

»Verarsch mich nicht! Da waren nur ein paar Zehner drin.« Er versetzt Floh einen harten Stoß; sie kann ihn gerade noch auffangen, bevor er hinfällt. »Du schuldest uns dreitausend für diesen Monat plus Verzugsgebühren und Aufwandsentschädigung.«

Sie schiebt Floh hinter sich und fischt ihr Handy aus der Brusttasche der Latzhose. »Gar nichts schulde ich euch. Ich rufe jetzt die Poliz…« Kein Netz steht auf dem Display. Ihre Augen schweifen zu der Stelle des Tisches, wo vorhin noch das Festnetztelefon stand, dann zu dem kaputten Mobilfunk-Router, dessen grünes Licht nicht mehr leuchtet. Ihre Hand mit dem Smartphone sinkt herab.

»Nanu, was macht denn der Kleine hier?«, hört sie Draco in ihrem Rücken sagen.

Sie dreht sich um. Er hat Floh am Genick gepackt. Der Junge starrt ihn aus riesigen Augen an, aber er gibt keinen Mucks von sich.

»Lasst den Jungen gehen«, sagt Emilia. »Er hat überhaupt nichts mit mir zu tun.«

»Der Bursche gehört uns und seine Mami auch.« Draco schüttelt Floh so hart durch, dass dessen Zähne aufeinander schlagen. »Nicht wahr, Kleiner?«

Er stößt den Jungen in die Werkstatt, wo er über den Boden schlittert und mit Ratmans Beinen kollidiert. Knurrend stellt dieser einen Stiefel auf die Brust des Jungen und fixiert Emilia aus hasserfüllten Augen.

Floh wimmert, als sich der Absatz in seinen Brustkorb drückt. Der Laut schneidet tief durch Emilias Herz. Zum ersten Mal spürt sie echte, nackte Panik in sich aufsteigen. »Hör auf, verdammt! Er hat euch nichts getan!«

Draco drängt sie rückwärts ins Büro. »Es wird Zeit, dir die Spielregeln zu erklären, Süße.«

Sie rammt ihm die Hand von unten gegen das Kinn und versetzt ihm einen kräftigen Stoß. Mit gefletschten Zähnen stürmt sie auf Ratman zu. Das Überraschungsmoment ist auf ihrer Seite. Der Mann kracht rückwärts zu Boden. Hastig zieht sie Floh hoch.

»LAUF!«, brüllt sie. »Hau ab!«

Bleich wie ein Gespenst schüttelt er den Kopf. Seine Augen sind dunkel vor Schmerz. Sie gibt ihm einen Schubs in Richtung Tor und endlich rennt er davon.

»Die Schlampe ist total verrückt«, murmelt Ratman hinter ihr. Sie dreht sich um, er ist wieder auf den Beinen. Havoc und Draco nähern sich ihr von zwei Seiten.

»Keinen Schritt näher, oder ich beiße euch die Kehle durch«, faucht sie.

Havoc lacht wiehernd. »Ich sag euch, die kleine Bitch wird uns noch richtig viel Freude bereiten.«

»Sie wird heute doppelt bezahlen«, knurrt Ratman.

»In ihrem Büro habe ich nur ein paar armselige Kröten gefunden.«

»Die lügt doch, wenn sie das Maul aufmacht. Ich wette, die bunkert ihr Geld da drin.« Er deutet zu der Lackierkammer – Emilias Allerheiligstes. »Warum sonst ist die Tür abgeschlossen?«

»Weil ich vermeiden will, dass ihr eure Klamotten mit Farbflecken ruiniert.« Sie weicht rückwärts, ohne die Männer aus den Augen zu lassen. Sollen sie ruhig denken, dass sie eingeschüchtert ist. Kaum spürt sie die sengende Hitze, die durch das offene Werkstatttor auf ihren Rücken trifft, wirbelt sie herum und greift nach der Eisenstange, die direkt neben dem Tor an der Wand lehnt. Ihr Vater hat sie vor Jahren dort platziert – »für alle Fälle«.

Sie fuchtelt nicht damit herum, sondern richtet die geschliffene Spitze auf Havoc. »Keinen Schritt näher.«

»Leg das Ding weg, Bitch«, sagt Havoc unbeeindruckt. »Gegen uns hast du keine Chance.«

»Das mag sein, aber trotzdem werde ich mindestens einem von euch sehr wehtun. Siehst du die Eisenspitze? Die geht durch einen Hoden hindurch wie durch ein Stück Butter.«

Er zieht eine gequälte Grimasse. »Das bringt doch nichts. Bisher hast du immer anstandslos gezahlt und alle waren glücklich.«

Da war sie auch noch in ihrem Kokon aus Trauer und Lethargie gefangen.

»Du verstehst, dass wir dir dein Benehmen nicht durchgehen lassen können.«

»Versucht es nur.« Sie hält die Eisenstange fest in beiden Händen und blinzelt nicht, während sie ihn fixiert.

Havoc zögert. Männer wie er vertrauen darauf, dass Frauen grundsätzlich vor ihnen kuschen. Eine Frau, die sich nicht an die Spielregeln hält, bringt alles durcheinander.

Sie hat Angst, okay. Aber es ist keine lähmende Angst, sondern jene, die ihre fast schon vergessen geglaubte Wut schürt. Früher – vor jener verhängnisvollen Nacht – hat sie sich auch nie einschüchtern lassen.

Die drei Männer umkreisen sie, ohne sich zu nähern. Wenn sie wollten, könnten sie sie überwältigen, doch Emilias Entschlossenheit lässt sie zögern.

Havoc ist hier, um Geld einzukassieren, nicht, um seine Hoden auf eine Eisenstange spießen zu lassen. Für seinen MC ist Emilia eine Verdienstquelle, die nicht versiegen soll. Wenn er sie fertigmacht, wird er seinem Prez einiges zu erklären haben.

Ratman hingegen sind solche Überlegungen egal. Er wippt auf seinen Fußballen, durchbohrt sie mit seinen unheimlichen silbrigen Augen. Die Pupillen sind winzig, vermutlich hat er Drogen genommen. Seine Hand wandert hinter seinen Rücken. Hat er dort eine Schusswaffe im Gürtel stecken?

Sie wird es nie erfahren.

Ein ohrenbetäubendes Scheppern lässt alle zusammenfahren.

»Dieser verdammte HURENSOHN!«, brüllt Havoc und stürmt nach draußen. Seine beiden Freunde folgen ihm.

Emilia blinzelt hinaus ins Sonnenlicht. Die drei Motorräder liegen umgestürzt am Boden. Eine schillernde Benzinlache breitet sich um einen abgebrochenen Außenspiegel aus. Havoc und Ratman rennen hinter das Gebäude, Draco bückt sich und richtet ächzend ein Motorrad auf.

»Fuck«, murmelt er, während er den Schaden begutachtet. Verbogene Fußrasten, verbeulter Tank und ruinierter Lack. »Der Junge ist so gut wie tot.«

Sie lässt die Eisenstange sinken und tritt in die Sonne hinaus. Das Adrenalin versickert bereits in ihrem Körper. Ihre Glieder werden weich, ihr Herz wummert. »Lasst ihn in Ruhe. Er ist bloß ein Kind.«

»Er ist tot«, wiederholt Draco und fixiert sie aus kleinen dunklen Augen. »Vergiss den Jungen ganz schnell, kapiert?«

»Ihr habt behauptet, dass er euch gehört. Was bedeutet das?«

»Ich sagte: vergiss ihn! Du hast ganz andere Probleme, Süße. Mächtig große Probleme.«

»Ich bringe eure Maschinen wieder in Ordnung, okay? Der Schaden geht auf meine Kappe.« Sie hebt einen abgebrochenen Schalthebel auf und seufzt innerlich. Floh hat ganze Arbeit geleistet.

Havoc und Ratman kehren zurück, nassgeschwitzt, außer Atem und dunkelrot vor Zorn. »Die kleine Ratte ist uns entwischt. Wir sammeln ihn später ein. Wo steht dein Auto?« Die Frage ist an sie gerichtet.

»Hinten im Schuppen. Hat einen Motorschaden.« Sie wird nicht einmal rot bei der Lüge. »Ein neues Aggregat kostet ein Vermögen, andernfalls wäre ich längst weg.«

»Du fährst nirgendwohin, bis wir unsere Kohle haben.« Schnaufend zieht Havoc sein Handy aus der Kutte. »Kein Empfang. Was ist das für eine Scheiße?«

»Offenbar ist mein Mobilfunk-Router kaputt.« Sie deutet zur Tankstelle hinüber. »Mikey dort drüben hat ein funktionierendes Festnetztelefon.«

Er starrt sie mit gefletschten Zähnen an. Schweiß rinnt an seinen Schläfen hinab. »Wenn es nicht so verflucht heiß wäre …«, brummt er. »In zwei Tagen kommen wir wieder. Dann sind unsere Bikes auf Vordermann gebracht, vollgetankt, neu lackiert und in Bestzustand. Und du hast unser Geld. Fünftausend Lappen.«

»FÜNFtausend?«, stößt sie entgeistert aus.

»Plus einen Tausender für die Unannehmlichkeiten.« Er starrt auf ihre Brust. »Du wirst ein Kleid tragen, wenn du uns die Kohle überreichst. Keine Unterwäsche. Und du wirst sehr nett zu uns sein, während wir dir erklären, wie deine zukünftige Zusammenarbeit mit uns aussieht. Du wirst natürlich zusagen, weil du ein kluges Mädchen bist, und ich werde darauf verzichten, deinen heruntergekommenen Laden anzuzünden, während du noch drin bist.« Er dreht sich um und marschiert über die flimmernde Straße.

Seine beiden Freunde grinsen sie süffisant an, bevor sie ihm folgen.

Kapitel2

Dog

Der flimmernde Asphalt der Landstraße erweckt die Illusion von Wasser. Rechts und links erstrecken sich endlose Getreidefelder, nur selten unterbrochen von einigen Bäumen, deren Laub schlaff herabhängt. Keine Häuser, keine Bäche, keine Hecken oder gar Blumen. Nur die schnurgerade Landstraße und das ausgeblichene Gelb der Felder, das bis zum Horizont reicht. Vom stahlblauen Himmel brennt die Sonne unbarmherzig auf seinen Helm nieder. Er ist froh um den Fahrtwind, der ihm etwas Abkühlung verschafft. Trotz des Mundtuches hat er Staubgeschmack auf der Zunge. Staub bedeckt auch seine Boots und die Jeans, den Tank seiner Black Widow. Es fehlen nur noch ein paar Rollbüsche, die über die Straße kullern.

Die letzte Ortschaft mit Tankstelle haben sie schon vor Stunden passiert. Allmählich neigt sich die Tanknadel seines Bikes dem roten Bereich zu. Er bereut innig, sich auf die Schnapsidee mit dem Abstecher eingelassen zu haben. Nichts deutet darauf hin, dass es in dieser Gegend auch nur eine Kneipe gibt, von einem legendären Club ganz zu schweigen. Möglicherweise haben sie sich verfahren.

Finn brettert unbeirrt vorweg und zieht eine Staubwolke hinter sich her. Die wenigen Chromteile, die nicht verdreckt oder rostzerfressen sind, reflektieren die Mittagssonne.

Dog zieht das Tuch herunter und spuckt zur Seite aus, um den pelzigen Geschmack im Mund loszuwerden. Es nützt nichts. Er sehnt sich nach einer eiskalten Flasche Bier, an der das Kondenswasser hinab perlt. Bevor er sie öffnet, wird er sie an seine Stirn pressen und …

Eine Bewegung am Straßenrand erregt seine Aufmerksamkeit. Ein rotbraunes Tier mit buschigem Schweif trottet durch das fahlgelbe Gestrüpp. Dog drosselt das Tempo, stoppt am Straßenrand und dreht sich im Sattel um.

Ein junger Fuchs schleicht mit gesenktem Kopf und heraushängender Zunge auf ihn zu. Das Fell ist glanzlos und trocken.

Dog nimmt den Helm ab und steigt aus dem Sattel, um den Karabiner der Feldflasche von seinem Gepäckträger zu lösen. Hundert Meter vor ihm leuchten die Rücklichter von Finns Bike auf. Kaum sind die Motorengeräusche verstummt, wird Dog bewusst, wie still und einsam es hier draußen ist.

»Hey, du. Hast du Durst?« Er geht in die Hocke und lässt Wasser in seine Handfläche laufen. Der Fuchs verharrt, seine Nase zuckt.

»Ich tu dir nichts«, flüstert Dog. »Das ist nur Wasser.«

Vorsichtig pirscht sich das Tier heran, bereit zur Flucht. Gleich darauf kitzelt die Zunge über Dogs Handfläche. Geduldig hält er still, gießt Wasser nach und wartet ab, bis der Fuchs seinen Durst gestillt hat. In dieser Gegend gibt es keine Bäche oder Quellen. Nur Staub und Stille und sengende Hitze. Aus bernsteinbraunen Augen schaut das Tier ihn an, dann wendet es sich ab und huscht in das Weizenfeld. Gleich darauf wird es vom blassen Gelb des Getreides verschluckt, als hätte es nie existiert.

Vielleicht hat er sich die Begegnung nur eingebildet.

»Was war das denn?« Finns Schatten fällt auf ihn.

»Gar nichts.« Er springt auf und verschließt die leere Aluminiumflasche. Er mag Tiere. Sie kennen keine Bosheit, keine Besitzgier, keine Verschlagenheit. Sie wollen nur überleben. »Du hast gesagt, du kennst den Weg. Wie weit ist es noch?«

»Wir müssten bald da sein.« Finn stapft zu seiner Low Rider zurück und schwingt sich in den Sattel. Nach mehreren Fehlversuchen springt die Maschine an, röchelnd, zögerlich.

»Das hast du vor zwei Stunden auch schon gesagt«, knurrt Dog. »Gib einfach zu, dass wir uns verfahren haben.«

»Nomads verfahren sich nie«, ruft Finn und gibt Gas. Die Silhouette seines Freundes entfernt sich und flirrt, bis sie sich im Sonnenlicht auflöst.

Unerwartet schnürt sich Dogs Brust zusammen. Etwas Schlimmes wird geschehen. Er atmet durch und schüttelt das Gefühl der Beklemmung ab.

Der Fuchs hat mich durcheinandergebracht. Doch der bittere Geschmack, der seinen Gaumen flutet, hat nichts mit dem Staub der Landstraße zu tun. Er steigt auf, startet den Motor und folgt seinem Freund, der immer langsamer wird. Die Low Rider buckelt, stottert und rollt am Straßenrand aus.

Fluchend versucht Finn, sein Motorrad erneut zu starten. »Jetzt zick nicht herum, du kleines Miststück!«

Dog hält neben ihm an und schaltet in den Leerlauf. »Zündspule«, betet er herunter. »Benzinpumpe, Kolben, Steuergerät, Ölfilter …«

»Halt’s Maul!« Finn hämmert auf den Starter, doch der Motor bleibt tot. Er steigt ab, pfeffert seine Handschuhe auf den Sitz und versetzt dem Bike einen Tritt, bevor er in die Hocke geht. Der Gestank von verbranntem Öl und heißem Eisen steigt auf. Finn berührt den Luftfilter und zieht zischend die Finger zurück. »Scheiße, der glüht ja!«

»Der Luftfilter ist nicht das Problem.«

»Vielleicht sind’s die Zündkerzen. Hast du Ersatz dabei?«

»Klar, das wird dir aber auch nichts nützen. Dein Bike muss dringend überholt werden.« Er stellt den Motor ab. »In der Nähe des Clubs gibt es eine Werkstatt, wenn ich mich recht erinnere.«

Finn richtet sich auf und wischt sich den Schweiß vom Gesicht. »Ja … Irgendwas mit Monkey …« Er schirmt die Augen mit der Hand gegen das Sonnenlicht ab. »Aber bis dahin ist es noch ein ganzes Stück.«

»Keine Sorge. Ich feuere dich an, während du dein Bike schiebst.« Zum ersten Mal an diesem Tag kann sich Dog ein Grinsen nicht verkneifen. »Hoffentlich taugt die Werkstatt was, sonst wirst du mit dem Bus weiterreisen müssen.«

»Hör auf zu klugscheißern und nimm das Gepäck von deinem Sozius. Ich fahre bei dir mit.«

»Nur über meine Leiche, Bruder. Auf keinen Fall lasse ich mein Zeug hier am Straßenrand zurück.«

»Mich aber schon, was?«

Dog zuckt die Achseln. »Ein Mann muss Prioritäten setzen.«

Finn starrt ihn so lange an, bis er mit einem Seufzen absteigt und sich daran macht, die Riemen zu lösen, mit denen der große Seesack auf dem Sozius festgeschnallt ist.

»Du hattest mir Party, Alkohol und willige Weiber versprochen«, murrt er. »Es war nicht die Rede davon, meine Besitztümer am Straßenrand im Nirgendwo zurückzulassen.«

»Niemand wird deine ungewaschenen Socken klauen. Eher nehmen sie mein Motorrad mit, um es in Rotterdam zu verscherbeln.«

»Dein Motorrad ist ein Haufen Schrott, Finn. Kein Gauner mit Ehre würde es auch nur anfassen.«

»Du meinst, Dammit würde es nicht anfassen. Aber nur, weil er seiner Freundin versprochen hat, keine krummen Dinger mehr zu drehen.« Finn nimmt ihm den Seesack ab und wirft ihn hinter seine defekte Maschine ins Unkraut. »Können wir los? Mir ist heiß, ich brauche ein Kaltgetränk und einen kompetenten Mechaniker, der mein Bike abholt und es wieder zum Laufen bringt.«

»Was du brauchst, ist ein Wunder. Oder ein neues Motorrad.« Er steigt in den Sattel und zieht sein Bandana über Mund und Nase. »Wag es ja nicht, mich während der Fahrt zu befummeln, oder du landest im Straßengraben, kapiert?«

* * *

Normalerweise genießt Dog lange Fahrten durch einsame Gegenden, doch heute ist alles anders. Der Druck, der seit einer ganzen Weile in seinem Innern anschwillt, steht kurz davor, seinen Höhepunkt zu erreichen. Er ist in letzter Zeit mehr als einmal explodiert und hat sich auf sinnlose Prügeleien eingelassen, um Dampf abzulassen. Nuts hat ihn bereits zur Seite genommen, um ihm ins Gewissen zu reden, denn eigentlich kennt man Dog als besonnenen Mann. Während der Aktion mit Saint, dem abtrünnigen Demon, und dem Mädchen Sassy hat er sich gut im Griff gehabt. Doch jetzt, wo er wieder Zeit zum Nachdenken hat, wird es mit jedem Tag schlimmer.

Vielleicht ist eine Party genau das Richtige. Viel Alkohol und dazu ein heißes Rockergroupie in knappen Shorts und mit sexy Tattoos, das Lust auf einen Bullhead-Schwanz hat. Spaß haben, betrunken sein und alles andere vergessen.

Er weiß nur zu gut, dass es nicht funktionieren wird.

Links steigt das Weizenfeld zu einem sanften Buckel an. Die Straße beschreibt einen Bogen um den Hügel, dahinter kann Dog einige Gebäude ausmachen, die den Eindruck erwecken, als hätte ein achtloser Gott sie zufällig hier fallen gelassen. Eine Tankstelle mit einem gleißenden Flachdach, ein paar geduckte Schuppen, auf der anderen Straßenseite ein zweistöckiges Haus, auf dessen First ein LTE-Empfänger gepflanzt wurde. Zwei staubgraue Bäume flankieren die gepflasterte Fläche vor dem Haus, über einem Werkstatttor ist ein buntes Schild zu sehen. Eine schmale Gestalt schiebt ein Motorrad ins Innere des Hauses. In der Ferne flimmert die Kontur eines prächtigen Gebäudes mit Türmchen und Seitenflügel und großen Buchstaben auf dem Dach.

Finn klopft ihm auf die Schulter. »Da vorn ist es!«, ruft er gegen den Lärm an.

Er erkennt nichts wieder, aber das hat nichts zu bedeuten. Als Nomad kann man sich nicht an jeden Ort erinnern, den man mal besucht hat. Doch er hat zumindest ein Dorf erwartet, irgendwas Zivilisiertes mit Gehwegen, Ampeln, einem kleinen Supermarkt und einer Bar. Aber in dieser Einöde deutet nichts darauf hin, dass man hier die Party seines Lebens feiern kann.

Die Tankstelle auf der linken Seite wurde das letzte Mal in den Sechzigerjahren modernisiert. Der zugehörige Shop ist winzig, die Schaufensterscheibe blind vor Dreck und die beiden Zapfsäulen gehören in ein Museum. Das Pappschild mit der Aufschrift ZU VERKAUFEN sieht hingegen neu aus. Bestimmt kann sich der Besitzer kaum retten vor Kaufinteressenten.

Ein rustikales Eisenschild an der Fassade des zweistöckigen Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite verkündet: MONKEY GARAGE. Das hölzerne Doppeltor steht offen. Er lenkt seine Black Widow auf den rissigen Vorplatz und kann im Innern eine Hebebühne sowie ein Auto erkennen. Immerhin keine Pferdekutschen, aber es brennt auch kein Licht.

Er betätigt den Killschalter, der Motor erstirbt. Die plötzliche Stille dröhnt in seinem Ohr.