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Auf der Suche nach Inspiration stellt der einsame Norder Schriftsteller Albert Rothmann vier Jungen nach und lässt ein fiktives Ungeheuer auf sie los. Schon bald erkennt er, dass hinter der Fassade einer romantisch verklärten Idylle der Horror lauert, der sich in seiner monströsen Erfindung manifestiert. Das Ungeheuer verselbstständigt sich ... Jens Lossau lotet in seinem neuen Thriller die Abgründe einer scheinheiligen Welt aus. Mit psychologischem Feingespür zieht er den Leser in einen Mahlstrom des Grauens, genährt von dunklen Geheimnissen und schrecklichen Erinnerungen.
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Seitenzahl: 277
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Jens Lossau
NORDSEEBLUT
Jens Lossau
NORDSEEBLUT
Jens Lossau, geboren 1974, lebt in Alzey, veröffentlicht seit Mitte der Neunziger Kurzgeschichten und Romane in unterschiedlichen Genres, zuletzt die Thriller DIE SCHLAFWANDLER, DUNKLE NORDSEE und NORDSEEBLUT.
Mehr Infos im Internet unter www.jenslossau.de.
© 2011 BLITZ-Verlag
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbildgestaltung: Mark Freier
Innengrafik: Ralph G. Kretschmann
Satz: Winfried Brand
Alle Rechte vorbehalten
www.BLITZ-Verlag.de
ISBN 978-3-95719-315-5
(Auszug aus: Der Ast im Rachenraum, Albert Rothmann, Hanussen-Verlag, Hamburg 1994)
„Der menschliche Körper gehört der See. Und die See weiß das.“ Der Junge blickte auf. „Kennt ihr den Friedhof?“ Er sprach weiter, ohne seine Freunde antworten zu lassen. „Sicher, ihr kennt den Friedhof, der sich im Zentrum von Norden befindet. Allerdings gibt es noch einen zweiten, oben am Meer in Norddeich. Habt ihr den schon mal besucht?“
Die anderen schwiegen.
„Er ist nur selten zu sehen. Bei Ebbe. Die Grabsteine sind mit Algen, Muscheln, toten Quallen und Krebsen überzogen. Die Norder errichteten ihn im Jahr 1922. Damals war Norden ein kleines Dorf, in dem nur alte Leute lebten und starben. Die jüngeren waren weggezogen. Ein trostloses Nest, woran sich ja nicht viel geändert hat, wenn man diesen ganzen Kurquatsch mal außen vor lässt. Aber damals war es wirklich schlimm. Es gab keine Kinder, der jüngste Bewohner hatte sechsundfünfzig Sommer gesehen.
Dann, eines nebligen Novembertages, kam der Junge aus der Nordsee. Ein Mann namens Pofter fand ihn. Pofter war wie jeden Morgen am Strand spazieren, beschäftigt mit dem Gedanken, ob er weitere 700 Jahre lang über die Kiesel laufen oder seine Schritte für immer in die graubraune Flut lenken sollte. Er absolvierte seine täglichen Kilometer, den Blick starr auf den Boden gerichtet, über dem Nebel wallte – als er mit den Schuhen gegen den Jungen stieß. Er muss so etwa in unserem Alter gewesen sein, dreizehn, vierzehn. Das Haar klebte in seinem aufgedunsenen Gesicht. Die Fische hatten Augen und Nase gefressen. Im aufgerissenen Unterleib schlängelten sich Aale, die sich bereits bis in die mit Salzwasser gefüllte Lunge vorgearbeitet hatten.
Pofter rannte die Holztreppe am Hotel hinauf. Diese Treppe gibt’s schon länger als Norddeich selbst, müsst ihr wissen. Er eilte zu seinem Freund, mit dem er ab und zu ein Bier im Klimperkasten trank. Sein Freund, das war der Friseur Herr Meidenschlag, der Vater von unserem Herrn Meidenschlag, dem das Fahrradgeschäft bei den Dree Süsters gehört.
Mehr schreiend als redend berichtete er ihm, was er gefunden hatte, woraufhin die beiden alten Männer zu der Stelle liefen, wo Land und Wasser aufeinander treffen.
Und die Besucher warteten schon – und zwar zu hunderten. Kinder, alle ertrunken, von Raubfischen zerfressen, voller Seetang und Algen.
An diesem Tag blutete die Nordsee.
Ganz Norden fand sich im Laufe des Morgens am Strand ein und starrte auf die jungen Toten, die imSchlamm des Watts wie groteske Steinskulpturen versanken. Es stellte sich heraus, dass in der Nacht vor der Küste eine Fähre gesunken war.
Es war Pofter, der den Vorschlag machte, sie zu bestatten, und die Männer, die ihre schluchzenden Frauen in den Armen hielten und selbst weinten, fanden den Vorschlag gut.
So beerdigten sie an diesem Tag über hundert Ertrunkene im Watt. Die Männer hoben Gruben aus und füllten diese mit Beton oder Ähnlichem. Keine Ahnung, wie sie das hinkriegten, wichtig ist letztendlich nur, dass es funktionierte. Aus den Gruben zogen sie schwere Betonkreuze, die die Flut nicht fortspülen konnte.
Das Meer kehrte zurück und überschwemmte den eilig errichteten Friedhof, und schon bald war nichts mehr von ihm zu sehen.
Also – wenn Ebbe herrscht, müsst ihr mal nach Norddeich radeln, dort wo die Treppe zum Strand runterführt, und mit einem Fernglas aufs Meer hinausschauen. Er wird auftauchen, das verspreche ich euch. Der Friedhof wird auftauchen.
Ein Geruch leitete den Schrecken ein – der durchdringende Geschmack nach verbranntem Laub.
Es geschah selten, dass Albert ein Geruchserlebnis hatte, denn mit dem Alter verlernt man das Riechen. Er wusste, dass es eine Reihe von Dingen gab, die er nicht mehr wahrnahm. Das Holz seines Schreibtisches, heißer Teer, die Feuchtigkeit in Blumenläden, frisch gedruckte Tageszeitungen und Kaffee, der allgegenwärtige Geruch nach Algen und Fisch über Norddeich. Es war, als habe die Zeit die Intensität dieser Düfte abgeschwächt.
Albert vergaß seinen Spaziergang durch die Winterkälte, und er öffnete seine Augen erst wieder, als er sicher war, den Geruch lokalisiert zu haben. In diesem Moment seines Lebens begriff er, dass alle Erinnerungen der Menschen in den Düften ihrer Umwelt weiter existieren.
Sein Blick blieb an den Büschen hängen, die am Straßenrand wuchsen. Hinter der Gebüschwand befanden sich vier Jungen. Sogar über die Entfernung hinweg erkannte Albert, wie schmutzig und durchnässt sie waren. Sie hatten versucht, ein Feuerchen zu entfachen. Aus ihrer Mitte stieg Qualm in die Höhe. Sie trugen rote und grüne Jacken. Am Rand stand eine blonde, schwarz gekleidete Gestalt. Sie hielt einen schwarzen Regenschirm in der Hand.
Nach etwa einer Minute begannen die Jungen, auf dem qualmenden Laubhaufen herumzutrampeln. Die verräterische Rauchwolke krepierte, einer rutschte aus, der Blonde hob den Regenschirm, mit dem er plötzlich auf einen anderen, sich duckenden Schatten einschlug.
Anschließend kamen sie zwischen den Sträuchern hervor. Sie liefen einen braunen Pfad entlang, vorbei an einem durchnässten Sessel, aus dessen aufgeschlitztem Bezug Schaumstoffgedärme quollen, vorbei an einem Kinderwagen, der mit faulem Laub und morschen Ästen bedeckt war. Mit wehenden Haaren rannten sie über den Asphalt und verschwanden hinter der nächsten Kurve.
Albert blickte über die karge Fläche zum Eingang der verlassenen Höhle, als ihm die Idee kam, die ihm den Norder Winter in diesem Jahr erträglicher machen sollte. Er senkte seine Füße in die Nässe.
Wengry war geboren.
Im Winter ist die Nordsee der kälteste Platz auf Erden. Es mag andere Orte geben, an denen die Temperaturen niedriger sind und der Wind schärfer weht. Aber im Winter war Norddeich für Albert der frostigste vorstellbare Landstrich, wenn der Schnee die Dünen und Deiche überzog und die See die Farbe von eingesunkenen Leichenaugen hatte.
Die Touristen kommen trotzdem, jahrein, jahraus. Sie denken, die klirrende Luft sei im Winter besonders gut für ihre Bronchien. Tagsüber liegen sie unter künstlichen Sonnen im Ocean Wave Erlebnisbad, abends quälen sie sich durch den Schnee am Strand, in dem sie bis zu den Knien versinken. Die bunten Körbe hat man weggepackt. Eisschollen treiben auf dem Meer, wie vor der Antarktis.
Im Winter ist die Nordsee grausam ehrlich. Es gibt nur Kälte. Und dunkle Abgründe. Jemand hatte mal gesagt, aus diesen Abgründen sprudele Blut. Das, was vergessen werden solle, komme nach oben.
Im Sommer darf die See nicht bluten.
Sie blutet nur im Winter.
Albert Rothmann hatte zwei Romane veröffentlicht. Der erste, Pharao, war ein blutrünstiger, selbstgefälliger Horrorroman aus dem alten Ägypten, der bei den Kritikern durchfiel, den jedoch fast hunderttausend Menschen kauften, sodass Albert für zwei Jahre zur lokalen Norddeicher Berühmtheit aufstieg und seinen Job als Gymnasiallehrer an den Nagel hängen konnte. Sogar die städtische Buchhandlung verhökerte einige Exemplare.
Sein zweiter Roman hieß Der Ast im Rachenraum, eine mystische Kriminalgeschichte, die direkt in Norden spielte. Das Buch erntete Beifallsstürme von Seiten der Kritiker. Im vergangenen Jahr verkaufte Alberts Verlag knapp 400 Exemplare, und die Norder Buchhandlung verkaufte knapp ein Exemplar (Gerüchten zufolge hatte es jemand gestohlen). Soviel zum Propheten im eigenem Land. Eigentlich machte sich Albert nicht viel aus Literaturkritik und Verkaufszahlen. Es war wie beim Fliegen – solange alles glatt lief, brauchte es einen nicht zu interessieren. Erst wenn das Flugzeug abstürzte, musste man sich Sorgen machen.
Die Wände der kreisrunden Höhle, in der die Jungen das Feuerchen gemacht hatten, bestanden aus Dornengewächsen. Ihren Mittelpunkt bildete ein knorriger Baum, dessen löffelförmige Krone ein schlüpfriges Dach ergab. Um die Äste schlang sich ein vergilbtes Metermaß, an dessen Ende der Kadaver einer Katze baumelte. Etwas bewegte sich hinter dem Fell ihres aufgeblähten Bauches, sodass Albert einen schlimmen Moment lang dachte, sie sei noch am Leben.
Zwischen vermoderten Blättern verstreuten sich rote und gelbe Backsteine, die die Jungen wohl als Sitzgelegenheiten nutzten. An den Grenzen hatten sie einen zweiten Schutzwall aus grauer Dachpappe errichtet.
Die Katze war schon ziemlich hinüber. In ihren Ohren und Augenhöhlen wuselten weiße Maden. Dicker Schleim überzog ihren Körper. Albert fragte sich, ob die Jungen das Tier im Straßengraben gefunden und dann zum Zweck der Abschreckung hier platziert hatten, oder ob er ihrer Verantwortung einen Ritualmord zuschreiben musste. Kinder waren selten absichtlich grausam, konnten jedoch aus reiner Experimentierfreude heraus töten.
Er fand einen Zettel mit der Karikatur eines fetten, schweinsköpfigen Mannes, dessen Gesicht vor Raserei verzerrt war. Die Skizze war mit den geschwungenen Initialen VT versehen. Albert verstaute den Zettel in seiner Manteltasche, zündete sich eine Zigarette an und machte sich nach weiteren Momenten des Genießens mit einer famosen Idee im Gepäck auf den Nachhauseweg.
Zwei Stunden später stand Albert erneut unter dem Mittelpunktbaum. Die tote Katze drehte sich im Wind, das Metermaß schabte an der Rinde. Er überlegte, ob er das Tier losschneiden sollte, da ihm das Geräusch nicht behagte, doch schon der Gedanke daran kam ihm unrecht vor. Er hatte hier nichts anzurühren. Das war ein Museum, in dem die Erwachsenen ihre nervösen Finger in den Hosentaschen zu verstauen hatten. Er durfte nichts von dem verändern, was schon da war, so lautete das Gesetz. Er durfte nur etwas hinzufügen.
Albert las die Botschaft, die er am Mittelpunktbaum befestigt hatte, noch einmal:
Meine lieben jungen Freunde,
dieses Territorium gehört mir. Und ihr habt diesen Ort entweiht.
Danke für die Katze. Bringt mir aber kein Tier mehr, ein Opfer genügt.
Ich lebe südlich eurer Sohlen und beobachte euch. Wir könnten Verbündete werden.
Errichtet mir ein Kreuz aus Holz neben dem Mittelpunktbaum. Wie ihr das hinbekommt, ist mir egal.
Ich kann leider nicht in Erscheinung treten; würdet ihr doch schreiend davonlaufen, käme ich hoch. Ich bin ein Gott aus Wachs, der im Licht des Lebens schmelzen würde.
Führt ihr meine Anweisungen korrekt aus, habt ihr nichts zu befürchten.
Doch vergesst niemals: An Weihnachten hole ich einen von euch in mein Reich.
Und spätestens dann werdet ihr mich sehen.
Wengry
Wengry gab es seit vierzig Jahren. Als Albert acht Jahre alt war, verbrachte er die meiste Zeit mit einem Jungen namens Anton Solveig. Anton lag an dreihundert Tagen im Jahr mit Fieber im Bett. Wenn er mal ausnahmsweise nicht krank war, besuchten Albert und er regelmäßig eine ausgebombte Lungenklinik, die außerhalb von Norden lag, direkt am Meer. Mit Schaudern erinnerte sich Albert an das dunkle Gebäude, in dem seltsame medizinische Apparaturen vor sich hin rosteten. Vor einigen Jahren hatte man es abgerissen.
Ein Monstrum war in diesem Gemäuer umgegangen.
Wengry.
Albert wusste nicht, woher Anton diesen Namen hatte oder was er bedeutete, jedenfalls behauptete sein Freund, dass dieses Wesen – der verfluchte Geist eines Arztes – durch die Korridore des verfallenen Krankenhauses schlurfe und die bizarren Maschinen instand halte.
Albert erinnerte sich an seine Angst, die ihn jedes Mal befallen hatte, sobald er und Anton durch eine der zersplitterten Scheiben im Erdgeschoss gestiegen waren, um im Inneren nach Spuren des Geistes zu suchen (sie hatten nie welche gefunden). Er erinnerte sich an das einer Sucht gleichkommende Verlangen, sich diesem Schrecken hinzugeben; an das Aufatmen, sobald sie die Klinik wieder verlassen hatten.
Wengry war Antons Erfindung. Es würde Anton freuen, wenn er wüsste, dass sein Geschöpf noch immer am Leben war.
Mit neun Jahren bekam Anton nach einem Klinikabenteuer eine schwere Lungenentzündung. Man brachte ihn ins Norder Kreiskrankenhaus, wo ihn Albert ein paar Mal besuchte und jedes Mal froh war, wenn er wieder gehen durfte. Anton hatte sich verändert. Er sah schrecklich aus, noch bleicher und dünner als sonst. Die Ärzte pumpten ihn mit Schmerzmitteln voll, sodass er kaum mitbekam, was um ihn herum geschah. Er war ein fast totes Kind mit wässrigen Augen, die durch einen hindurch blickten.
Dann verlegten ihn die Ärzte auf die Intensivstation.
Dann bekam er eine Sauerstoffmaske und einen Dauerkatheter.
Dann verfiel er in Schnappatmung.
Dann starb er.
Seit Jahrzehnten hatte Albert nicht mehr an seinen Freund gedacht, doch als er die vier Jungen in ihrer geheimen Höhle entdeckt hatte, war das Bild von Antons ernstem Gesicht aus einem versteckten Bereich seiner Erinnerung gekrochen.
Wengry …
Anton …
Er sollte leben. Und das war Alberts wahre Motivation.
Am nächsten Tag machte er es sich nachmittags mit einer Videokamera auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Wengryplatzes gemütlich. Er trug seinen herbstlich braunen Lieblingspullover, eine schwarze Hose und eine grau karierte Schiebermütze, sodass er optisch mit dem Gebüsch verschmolz, hinter dem er sich versteckte.
Kaum hatte er die Kamera auf die Umgebung eingestellt, schlenderten die Jungen die Straße entlang. Sie sicherten sich nach allen Seiten ab und huschten in ihre Höhle, zuletzt der Schwarzgekleidete, der von weitem wie ein hagerer Mann mit weißem Haar aussah. Albert zoomte die Szene durch ein minimales Loch in der Gebüschwand heran und beobachtete das Geschehen.
Zuerst bemerkten die Jungen den Fremdkörper gar nicht. Sie ließen sich auf ihren steinernen Sitzgelegenheiten nieder und saßen so herum, bis sich der Blonde mit den schwarzen Klamotten vor den Mittelpunktbaum stellte und gegen den Stamm pinkelte.
Die allgemeine Ruhe brach auseinander. Plötzlich lief die ganze Gruppe wie ein einziges Lebewesen aus dem Bild, zwei der Jungen stießen zusammen, einer rutschte aus und landete im Matsch. Albert versuchte, das Bild schärfer zu stellen.
Mit seinem Regenschirm, den er auf- und zuspannte, brachte der Blonde Ruhe in die Unordnung, woraufhin alle zu Boden blickten, hin zu dem, der vorgab, unter ihnen zu leben. Albert vermutete, dass sie den Atem anhielten und damit rechneten, dass etwas geschehen würde.
Nichts geschah.
Im Verlauf der nächsten Viertelstunde hielt seine Kamera fest, wie sie aus alten Apfelsinenkisten ein schiefes Kreuz zimmerten. Anschließend standen sie wie eine groteske Trauergemeinde da, mit gefalteten Händen, gesenkten Köpfen und schmutzigen Gesichtern. Der Wind zerrte an ihren Kleidern und Haaren.
Jeden Tag verfolgte Albert einen von ihnen nach Hause.
Er begann mit dem Kleinsten, einem Jungen, der Victor Timberley hieß, wie er herausfand, und der für die Karikatur verantwortlich war, die er gefunden hatte.
Eine halbe Ewigkeit lang eilte Albert hinter ihm her, bis der Junge endlich einen Norder Außenbezirk erreichte, der aus rußigen Backsteinhäusern bestand. Die Leute, die hier wohnten, warfen ihre Abfälle anscheinend einfach aus dem Fenster. Im schmierigen Kopfsteinpflaster kämpften blasse Grashalme gegen Dreck und Kälte an und gingen in flüssigen Fäkalien und chemischen Ablagerungen zugrunde. Die Häuser selbst lehnten sich lebensmüde, auf ihren Abriss hoffend, gegeneinander. Das gesamte Viertel erinnerte an eine Ansammlung aufgegebener Fabriken aus der Zeit der Industrialisierung.
Eine graue Möwe, so groß wie ein Schwan, hockte neben einer Blechmülltonne, riss Stücke aus einem toten, nicht mehr zu identifizierenden Tier am Straßenrand und kippte diese in ihren rosafarbenen Schlund.
Neben einem Ziegelsteinhaufen kauerte ein schwarzes Etwas, das aus einem schwarzen, breit geschlitzten Mund, schwarzen, wuchernden Haaren und stumpfen, schwarzen Augen bestand. Auf einer verstimmten Fidel ruinierte es eine Melodie. Dabei hustete es so laut, dass es sich anhörte, als erbreche es sich in einen Fahrstuhlschacht. Victor grüßte das Geschöpf und trat auf eines der schmutzig-roten Häuser zu.
Am Eingang des Gebäudes befand sich ein schmaler Meter aus vergilbten Klingelknöpfen, die wie verschüttete Geldstücke keinerlei Ordnung unterworfen zu sein schienen. Auf eines dieser Geldstücke schlug Victor ein.
Aus einem Fenster im obersten Stockwerk, über dem ein Säure zerfressender Wasserspeier grinste, erklang ein hässliches Schrillen. Albert vernahm einen Stöhnlaut, woraufhin ein nackter, behaarter Männeroberkörper, auf dem ein fleischiger Bulldoggenschädel saß, in der Dezemberkälte erschien. Mittlerweile versuchte es zu schneien, aber der Regen siegte.
„VICTOR! DU DUMME SAU!“
Eine blasse, fette Frau, die sich mit rosarotem Lippenstift angemalt hatte, drängelte sich in den Fensterrahmen. In ihrem Mundwinkel hing eine Zigarette. Von irgendwoher zauberte sie eine durchsichtige Flasche mit einer blauen Flüssigkeit. Sie sperrte den Mund auf, verlor den Zigarettenstummel und saugte das Zeug in sich hinein, gierig wie ein Vampir.
„Du sollst zu dem Jungen nicht Sau sagen, du Arschloch“, rief sie.
Der bullige Mann entriss ihr die Flasche.
Victor betätigte die Klingel erneut.
„VICTOR! HAST DU WAS FÜR MICH?“
„Es-es-es ist kalt!“, rief Victor. „Wirf mir-mir-mir mal den Schlüssel runter, damit ich-ich-ich rein kann.“
Er hatte eine seltsame Art zu sprechen. Er stotterte nicht im eigentlichen Sinn, sondern schien zwischen den einsilbigen Worten immer wieder hängen zu bleiben und ein Stück zurückzuspringen, wie eine Nadel auf dem zerkratzten Vinyl einer Schallplatte.
Victor setzte sich auf die Eingangstreppe und massierte sich die Fußknöchel. Erst jetzt bemerkte Albert, dass der Junge für die Jahreszeit viel zu dünn angezogen war. Unter seiner rot karierten Jacke trug er nur ein verwaschenes T-Shirt, das ihm mehrere Nummern zu groß war. Seine schwarze Jeans war an den Knien zerrissen. Seine Füße steckten in ehemals weißen Sommerturnschuhen. Socken oder Strümpfe fehlten völlig.
Victor holte einen Notizblock und einen Stift aus seiner Jackentasche und begann zu kritzeln.
„Zweihundert Piepen“, rief er, ohne aufzusehen.
Albert beobachtete, wie sich der Bulldoggenmann an seinem Gesöff verschluckte, unter dem Fensterbrett hantierte und dann einen Schlüssel mit solcher Wucht nach unten schleuderte, dass es den Anschein hatte, er wolle den Jungen damit verletzen.
„Du bist tot, wenn du gelogen hast, Bürschchen! Wäre ja noch schöner, wenn der Herr Sohn umsonst hier wohnen würde! Weißt du, ich glaub, aus dir wird mal gar nichts. Der Teufel persönlich muss dich auf’n Weg geschissen haben. Du bist weder kräftig noch schlau, kannst dir nicht mal allein die Nase putzen oder die Schuhe zubinden, kannst nicht für dich sorgen, dafür sind ja die Alten da. Du denkst …“ Er schüttete sich einen Schluck der blauen Flüssigkeit ins Hirn. „… du denkst, dein drittes Bein hinge nur zum Pissen an dir dran. Ehrlich gesagt, frag ich mich manchmal, ob die damals im scheiß Krankenhaus nicht die scheiß Babys verwechselt haben.“
„Frag ich mich oft.“ Vic riss das Blatt, über das er den Stift geführt hatte, aus dem Notizblock und schnippte es in den Wind. Er nahm den Schlüsselbund und betrat das Gebäude.
Eine Böe wehte den Zettel vor Alberts Füße. Die Zeichnung zeigte ein grobschlächtiges Monstrum, halb Mensch, halb Schwein, das einen winzigen Penis massierte und sich dabei einen kleinen Mann, der in Panik schrie, ins Maul stopfte. Die Karikatur war simpel, mit wenigen Strichen zu Papier gebracht. Albert verstaute sie in seiner Manteltasche.
Das schwarze Geschöpf neben den überquellenden Mülltonnen schickte sich an, mit der Fidel eine weitere Melodie zu ermorden.
Victor fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis sich der Alte endlich dazu bequemte, die verdammten Schlüssel herunterzuwerfen. Er wollte sich drinnen nur kurz aufwärmen und abchecken, ob in seinem Zimmer noch alles so war, wie er es in Erinnerung hatte. Einmal hatte sein Vater während eines betrunkenen Wutanfalls seine Krimskrams-Kiste gefunden und weggeworfen. Obwohl Vic daraufhin alle Mülltonnen im Viertel durchsucht hatte, war sie nicht mehr aufgetaucht. Dabei war es wichtig, eine Krimskrams-Kiste mit Sachen zu haben, und nur Tom war damals in der Lage gewesen, ihn zu trösten. Aber natürlich gab es schlimmere Dinge als das Abhandenkommen einer Krimskrams-Kiste.
Vic massierte sich die blau angelaufenen Fußknöchel, holte Notizblock und Kugelschreiber aus der Jacke und begann, ein bisschen herumzukritzeln. Zeichnen ging ihm seit jeher leicht von der Hand, und es wollte ihm nicht einleuchten, dass sich manche Menschen so schwer damit taten. Herr Mengler, sein Kunstlehrer, behauptete zwar, er besäße überhaupt kein Zeichentalent (nicht nur wenig, sondern überhaupt keines), aber was zählte das schon? Bei Herrn Mengler musste man den Hintergrund eines Bildes immer vollständig ausfüllen, was Vic nie tat. Herr Mengler hielt nichts davon, wenn auf dem Papier zu viel Weiß zu sehen war.
„Zweihundert Piepen“, rief er.
Zweihundert Piepen! Der Alte würde einen Schock erleiden, vornüber aus dem Fenster stürzen und wie eine Porzellanfigur neben ihm auf der Steintreppe zerschellen. Zweihundert Piepen, verdammt! Damit hatte der niemals gerechnet.
Heute hatte Vic mehr als zweihundert erbeutet, aber er war schlau genug, nicht das ganze Geld, das er den Leuten in der Norder Innenstadt aus der Tasche klaute, bei seinen Eltern abzuliefern, stets nur so viel, dass sie ihn in Ruhe ließen und nicht den Greifarmen des Jugendamtes übergaben. Es wäre sein Untergang gewesen, wenn er den Launen eines neurosenbehafteten Sozialarbeiters mit Locken und runder John-Lennon-Brille ausgesetzt gewesen wäre, dessen Lieblingsslogan Verständnis für die Jugend war, der aber in Wirklichkeit Jugendliche verabscheute. Vic kannte diese Typen zur Genüge, sie hatten sich in der Grundschule um ihn geschart wie Fliegen um einen Scheißhaufen. Typen, die in psychologischen Analysen feststellten, dass er aus schwierigen Verhältnissen stamme, dass er Probleme habe, feste emotionale Bindungen einzugehen, dass er Probleme habe, mit anderen zurechtzukommen, und dass er Probleme habe, überhaupt etwas Nennenswertes zu fühlen.
Der Schlüssel landete neben ihm auf der Steintreppe.
„Du bist tot, wenn du gelogen hast!“, brüllte der Alte. „Wäre ja noch schöner, wenn der Herr Sohn umsonst …“
Vic klinkte sich aus. Er fragte sich plötzlich, wie sein Vater mit Vornamen hieß. Es fiel ihm nicht ein.
Vielleicht heißt er ja Wengry, dachte er. Wäre doch möglich. Jemand, der so beknackte Botschaften hinterlässt, kann nicht ganz dicht sein. Der muss mindestens so blöd sein wie der Alte.
Vic malte dem Ungeheuer einen verschrumpelten Pimmel.
„… kannst nicht für dich sorgen, dafür sind ja die Alten da …“
Tom ist ganz schön nervös geworden, als Phil mit dem Zettel angelatscht kam. Große Güte, vielleicht hat Mark ihn ja da hin gehängt. Ist aber unwahrscheinlich, so gut könnteder sich nicht ausdrücken. Und Phil? Phil könnte es wohl, aber auf solche Ideen kommt der nicht. Wer zum Teufel ist dieser Wengry? Und was will er ausgerechnet von uns?
Vic lehnte sich gegen das Treppengeländer.
„Ehrlich gesagt, frag ich mich manchmal, ob die damals im scheiß Krankenhaus nicht die scheiß Babys verwechselt haben.“
„Frag ich mich oft“, hörte Vic sich sagen. Er betrachtete seine Zeichnung, übergab sie dem Wind und stand auf. Sein rechter Fuß war eingeschlafen.
Er betrat das rußig-rote Backsteinhaus und eilte durch den hohen Flur des Erdgeschosses, von dessen Wänden die Tapeten abblätterten. Wie immer roch es hier nach angebranntem Essen und saurer Milch (nach einsamen Wohnungen und toten Mietern, hatte Tom mal gesagt).
So schnell er konnte, erklomm er die Stufen, die sich unter den Sohlen anfühlten, als wären sie mit Schwämmen ausgelegt. Oben angelangt, bog er in einen etwas sympathischeren, niedrigeren Gang ein, in dem die Schaufensterpuppen herumstanden, die Herr Ginko aus dem ersten Stock sammelte. Er erreichte eine rotzgrün gestrichene Tür, wo sein vornamenloser Vater auf ihn wartete. Aus der Wohnung hinter ihm erschallte die Titelmelodie von Eine schrecklich nette Familie.
Der Alte trug nichts weiter als eine ausgeleierte, blaue Jogginghose. Mit seinem bulligen, haarigen Körper füllte er den gesamten Türrahmen aus. „Das Geld!“
Vic kramte in seiner Jackentasche und erlebte eine Schrecksekunde, als er dachte, das Geld unterwegs verloren zu haben. Aber es war noch da. Er legte es in die monströse Klaue des Alten, der ihn mit seinen Schweinsaugen anstierte.
Seine Augen sind tot, wie die Augen eines Zombies. Sie sind nicht böse oder so, nicht richtig verrückt, einfach nur entsetzlich leer. Ein milchiges Häutchen überzieht sie – und das ist alles andere als normal. Sicher, es ist nicht so schlimm wie bei ihr. Möglicherweise haben die beiden ja eine Krankheit. Möglicherweise leiden sie an Zombilitis. Hoffentlich ist das nichts Ansteckendes.
Vic mochte es, in Gedanken Selbstgespräche zu führen. Seine Kopfstimmen stotterten nicht.
„Brauche dich morgen früh in der Bäckerei“, sagte der Alte, ohne seinen stumpfen Gesichtsausdruck zu verlieren, während er das Geld in den Bund seiner Jogginghose schob. „Sei da, sonst setzt es was.“
„Ich muss doch-doch-doch zur Schule.“ Vics Stimme wurde beim Sprechen immer leiser, das beschissene Stottern immer schlimmer. „Ich mein, ich-ich-ich bin-bin-bin sonst viel zu-zu-zu-zu-zu-zu müde, um in-in-in der-der-der-der Schule …“
Weiter kam er nicht, denn mit einem Mal quetschte sich der Alte durch den Türrahmen und packte ihn am Hals. Vic flog einen Meter über den Boden. Mit dem Hinterkopf krachte er gegen die Wand, zwei von Herrn Ginkos Schaufensterpuppen fielen um. Ein tiefes Brummen detonierte in seinen Ohren.
„DAS IST JA GANZ WAS NEUES! SEIT WANN ENTSCHEIDEST DU HOSENSCHEISSER DENN, OB DU KOMMST ODER NICHT? ICH HAB’S SATT, MIR DEN GANZEN TAG LANG AUSREDEN VON LEUTEN ANHÖREN ZU MÜSSEN, DIE NICHT ARBEITEN WOLLEN! WENN ICH SAG, DU KOMMST, DANN KOMMST DU!“ Er boxte Vic in den Magen, sodass ihm die Luft mit einem Seufzen aus den Lungen stob. „DU SOLLTEST GELD HERBEISCHAFFEN! DIE FEINEN KURDAMEN MÖGEN JUNGE KNABEN! LASS MAL SEHEN, OB DU WENIGSTENS FÜR’N KURSTRICH GEEIGNET WÄRST!“
Er fingerte zwischen Vics Beinen herum. Vic kippte zur Seite und schlug so hart auf den Boden, dass ihm Blut aus der Nase lief. Seltsam lethargisch vermutete er, sich das Rückgrat gebrochen zu haben.
„ODER WILLST DU IN DEN BACKOFEN?“ Der Alte ähnelte auf beunruhigende Weise immer mehr dem Ungetüm, das Vic unten auf der Treppe skizziert hatte. Er versuchte fortzukriechen, doch er konnte seine kribbelnden Beine nicht richtig bewegen.
„MUSST NUR SAGEN, WENN DU GERÖSTET WERDEN WILLST!“ Das Monstrum packte Vic, schleuderte ihn in die Höhe, als besäße sein Körper kein Gewicht, und schleifte ihn zum Klokabuff am Ende des Korridors, dessen Tür zwei kopflose Schaufensterpuppen einrahmten. „WILLST NICHT IN DIE BÄCKEREI, WAS? DANN SIEH DIR DAS HIER AN!“
Vic schrie vor Schmerzen, als er mit den Lippen auf die Kloschüssel schlug. Der Alte tunkte seinen Kopf ins Wasser.
Jetzt bringt er mich um. Vic versuchte einzuatmen. Es war, als schlucke er rostige Angelhaken. Jetzt passiert’s, Vicci, gleich bist du tot, ertrunken im Klo, denn du hast mal wieder die Kontrolle verloren …
Vic versuchte, sich mit den Armen an der Schüssel abzustützen, rutschte ab und schlug mit der Brust auf das Porzellan. Die Sturmflut brach über ihn herein, die Welt drehte sich, nichts besaß noch klare Konturen. Von hinten traf etwas Warmes auf seinen Kopf, lief über sein Gesicht und verdünnte das Blut aus der Schläfenwunde.
„EIN MANN MUSS PLATZ SCHAFFEN, WO’S GEHT!“ Das Monster schlug Vics Kopf gegen den Spülkasten, sodass die verschwommene Welt vor seinen Augen endgültig explodierte. Neben der Klobürste brach er zusammen.
Der Alte verstaute seinen braunen Schrumpelpimmel in seiner Jogginghose. „SEI FROH, DASS ICH ES DICH NICHT HAB TRINKEN LASSEN! DU MÜSSTEST DANKBAR SEIN, DASS ICH DICH GEZEUGT HAB! WEIL DU DA BIST, STEHST DU IN MEINER SCHULD!“ Er torkelte gegen die Wand zurück, drehte sich um und verließ das Kabuff.
„DEIN SCHWANZ IST GUT FÜR DIE FEINEN NORDER KURWEIBER! AM HERANREIFEN! KANN MAN GELD MIT MACHEN!“
Die Tür schlug ins Schloss.
Vic spuckte aus, lehnte seinen Kopf, in dem ein Presslufthammer rumorte, gegen die Wand und wischte sich den Urin aus dem Gesicht. Die Wunde an seiner Schläfe pochte wie eine mit Eiter gefüllte Entzündung. Er starrte an die Decke, wo eine schwarze Spinne auf umherzischende Fliegen wartete und geduldig ihr Netz spann.
„Alles in-in Ordnung da oben?“ Er schloss die Augen. „So ‘ne Scheiße, so-so-so ‘ne Scheiße …“
Er stellte sich eine in der Dunkelheit herabsinkende, weiße Möwenfeder vor, die sich im Wind um sich selbst drehte, und ganz allmählich beruhigte sich sein rasender Herzschlag. Er hielt sich den Bauch und tat so, als habe ihn jemand angeschossen. Es hatte ihn erwischt, und er stolperte durch die Prärie zu seiner Ehefrau, um ihr einen letzten Kuss zu geben.
„Ich bring dich um.“ Vics Lippen bebten, während die Tränen eine Schneise durch die Blutrinnsale auf seinen Wangen schlugen. „Irgendwann bring ich dich um, ich bring dich um … irgendwann …“
Es war nicht das erste Mal, dass er daran dachte, seinen Rucksack mit dem nötigsten Zeug zu packen und mit Tom und den anderen abzuhauen. Aber es gab Schlösser, zwischen ihm und der Welt ohne Angst. Schlösser, die ihm die Antwort versperrten, wie er leben, genug Geld bekommen und in der Öffentlichkeit unsichtbar bleiben sollte, und hinter diesen Schlössern gab es noch eine Milliarde Schlösser, und mit diesen Schlössern kam die Verzweiflung.
Es war auch nicht das erste Mal, dass er an die Axt dachte.
Er stellte sich auf seine zitternden Beine, die überraschenderweise doch nicht gelähmt waren, und stolperte wie ein Kind, das gerade laufen lernt, hinaus auf den Flur, der voller starrender Schaufensterpuppen war, wobei er sich den Bauch hielt, in dem die Kugel steckte, während das Blut über seine zitternden Cowboyhände floss.
Tags darauf folgte Albert dem zweiten Jungen, der am anderen Ende von Norden wohnte. An diesem Tag regnete es. Eigentlich wäre es nur ein leichter Niederschlag gewesen, aber kräftige Böen verwandelten die Tropfen in Geschosse. Der Schneeregen schwängerte die Luft wie graue Asche aus einem Verbrennungsofen. Es dämmerte, und die Straßenlaternen, die sich angeschaltet hatten, knirschten auf ihren rostigen Masten.
Die Erscheinung des Jungen barg etwas Tragisches in sich. Seine knochigen Beine verschwanden in klobigen, weißen Turnschuhen. Auf seinem braunen Haar saß eine aufgeweichte Rollmütze. Albert sah sich außerstande, das Alter des Jungen zu schätzen. Sein Körper hätte einem Neunjährigen gehören können, sein Gesicht einem Dreizehnjährigen und seine grünen Augen einem Greis.
Er wohnte in einem Reihenhaus am südlichen Stadtrand, einer Gegend, in der ein Gebäude wie das nächste aussieht. Daran konnten auch die bunten Weihnachtsketten nichts ändern. Die Vorgärten der Häuser erstickten unter kahlen Büschen. Aus dem Fenster eines Abbruchhauses wuchs ein beachtlicher Spross. Am Ende der Straße begann das freie Feld.
Der Junge erreichte den Briefkasten eines der identischen Häuser, zog eine Werbebroschüre hervor und drückte den Klingelknopf. Im Türrahmen erschien eine dünne Frau im Nachthemd. Ihre Arme glichen dürren Hölzern, zerbrechlich wie Krokant. Das weiße Gesicht bestand aus übereinander gelegten Hautlappen. In Totenschädel ähnlichen Vertiefungen lagen eisblaue Augen begraben. In der Hand hielt sie eine Teetasse. Einen Moment lang starrte sie den Jungen an und schüttete sich dann den Inhalt über den Kopf.
„Nicht, Mama!“, rief der Junge und schlug ihr die Tasse aus der Hand. Das Gefäß zerklirrte auf dem Boden.
Der Junge umarmte das verschreckt dreinblickende Geschöpf. In dieser Haltung verschwanden sie wie ein groteskes Liebespaar im Haus.
Später entdeckte Albert, dass sich an dem Briefkasten, aus dem der Junge die Werbebroschüre gezogen hatte, ein Metallschildchen mit dem Namen Derling befand.
Mark Derling kickte die Tür zu und versuchte seine Mutter, die sich wie eine Ertrinkende an einen Rettungsring an ihn krallte, auf einen Korbstuhl zu setzen. Sie stank nach Urin und der unheimlichen Krankheit, die sie von innen heraus zerfraß. Die süßlichen Schwaden waren wie eine massive Wand. Die Luft vor seinen Augen schien zu flimmern.
Ein schwarzer Geruch, dachte er. Wenn man Gerüche sehen könnte, wäre Mama die ganze Zeit in eine schwarze Wolke gehüllt.
„Setz dich mal hin.“
Mama verstärkte ihren Griff. Sie blies ihm den schwarzen Hauch in die Nase, verdrehte die Augen und starrte an die Decke. Er konnte Flüssigkeit in ihren Lungen und in ihrem Hals rasseln hören.
„Komm schon, Mama. Setz dich hin.“ Mark bemerkte, dass sich seine Stimme überschlug. In seinem Kopf lauerte die Panik.
Und Rainbow.
Der Körper, der so glitschig war wie ein in Sahnesoße eingelegtes Matjesfilet, entglitt ihm und rutschte zu Boden.
„MAMA!“
Mark wuchtete seine Mutter auf die Seite. Großer Gott, was war er nur für ein verantwortungsloser Sohn! Erst ließ er Mama allein im Haus, um sich mit seinen Freunden zu amüsieren, und jetzt warf er sie auch noch wie einen leblosen Gegenstand durch die Gegend! Was wäre geschehen, wenn sie während seiner Abwesenheit einen Krampfanfall erlitten hätte? Ohne Schlüssel wäre er nicht einmal mehr ins Haus gelangt. Sein Verhalten musste sich ändern, da hatte Rainbow recht. Schließlich trug er die volle Verantwortung.
Mark ergriff ihren rechten Arm, zerrte daran, bis sich der Körper über die rosafarbenen Kacheln bewegte. Er gab sich Mühe, keines der rostigen Gelenke auszurenken. Bis zu ihrem Schlafzimmer waren es mindestens vier Meter. Aber er musste es schaffen, verdammt, er musste! Danach konnte er sich ins Bett legen, zwei oder drei Regenbogenlichter schlucken und vor sich hindösen.
„Steh auf, Mama, komm schon …“
Mama stieß hohe Töne aus, die an das Quieken eines Wildschweins erinnerten. Aus ihrem Mund quoll Speichel, der eine glitzernde Spur auf ihrem Kinn hinterließ.
Eine Schneckenspur, dachte Mark, und eine Sekunde lang befürchtete er, in wildes Gelächter auszubrechen. Er hatte erst einen halben Meter geschafft.
„Mama! Bitte steh auf, es tut mir leid, dass ich dich allein gelassen hab, aber steh jetzt bitte wieder auf …“
Mama begann, wie eine Sirene zu heulen. Sie spuckte grünliche Schleimbrocken aus und stand nicht auf.
Sie wird sterben … Mark packte sie unter den heißen Achseln, aus denen verseuchter Schweiß strömte. Er dachte an die Regenbogenlichter, die in seinem Zimmer warteten, und das gab ihm Kraft. Wie ein nasses Laken zog er Mama vor sich her und hievte sie in ihr Bett. Mamas Geheul verwandelte sich in das Maunzen einer angefahrenen Katze.
Mark rang nach Atem. Er hatte Zahnschmerzen bekommen. Seine Augen brannten.
Es ist ein langer Weg zurück ins Paradies. Er war nicht sicher, ob der Gedanke von ihm stammte oder von seinem Bruder. Seit dem Tag, an dem sich Papa auf die Treppe gesetzt hat. Von da an hat sich der Weg verdoppelt, verdreifacht, verhundertfacht.
Mamas Brust bewegte sich so schnell wie bei einem wilden Tier, das viele Kilometer gerannt war. Ihr Nachthemd war hochgerutscht, sodass er den Bereich zwischen den dünnen Beinen sehen konnte. Er schimmerte rosaweiß.
Mark, mein lieber kleiner Bruder. Diesmal gehörte die Stimme definitiv Rainbow. Was glotzt du so? Wende deine Augen ab, du Ferkel!