NOVA Science-Fiction 30 - Jack Vance - E-Book

NOVA Science-Fiction 30 E-Book

Jack Vance

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Beschreibung

Die NOVA-30-Jubiläumsgeschichten: Karsten Kruschel: Dreckdrohnen und die Mathematik Mozarts Horst Pukallus: Das lange Jahr der kurzen Tage Norbert Stöbe: RITA flies at 5 p.m. Markus Müller: Regenmädchen Tom Turtschi: Neuromarketing Wolf Welling: "Zwei gehen rein …" Thomas A. Sieber: Die gute Fee von Proxima B Michael Schmidt: Faith Healer Uwe Post: Der automatische Depp Mit dem SF-Klassiker von Jack Vance: Die Töpfer von Firsk Der Sekundärteil präsentiert Thomas A. Sieber über Jack Vance Robert C. Lacovara & Koen Vyverman über die Vance Integral Edition (VIE) Jörg Weigand erinnert an Thomas R. P. Mielke (1940–2020) Mike Glyer gedenkt Ben Bova (1932–2020) Und mit Jubiläumsbeiträgen von Michael K. Iwoleit, Ronald M. Hahn, Helmuth W. Mommers, Olaf G. Hilscher, Frank Hebben, René Moreau, Olaf Kemmler, Heinz Wipperfürth, Horst Pukallus, Horst Illmer, Jürgen Doppler aka Josefson, Dietmar Dath, Franz Rottensteiner und Dirk Alt Mit einem Titelbild von Helmut Wenske und Illustrationen von Michael Wittmann, Christian Günther, Victoria Sack, Nummer 85, Gerd Frey und Chris Schlicht.

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Seitenzahl: 356

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Michael K. Iwoleit & Michael Haitel (Hrsg.)

NOVA Science-Fiction 30

Michael K. Iwoleit & Michael Haitel (Hrsg.)

NOVA Science-Fiction

Ausgabe 30

NOVA ist ein Projekt des World Culture Hub:

www.worldculturehub.org

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: März 2021

p.machinery Michael Haitel

Titelbild & Innentitel: Helmut Wenske

Illustrationen: Gerd Frey, Christian Günther, Nummer 85, Victoria Sack, Christine Schlicht, Michael Wittmann

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Redaktion Storys: Michael K. Iwoleit, [email protected]

Redaktion Sekundär: Thomas A. Sieber, [email protected]

Lektorat: Michael K. Iwoleit, [email protected]

Korrektorat: Dirk Alt, Michael Haitel

Herstellung: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

www.nova-sf.de

www.facebook.com/novamagazin

www.twitter.com/novamagazin

ISSN: 1864 2829

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 233 1

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 862 3

Michael K. Iwoleit: Editorial

Als Ronald M. Hahn, Helmuth W. Mommers und ich im Sommer 2002 die erste Ausgabe von Nova vorbereiteten, besorgte Helmuth Titelbilder und fertigte mal so eben Coverentwürfe für die ersten sechs Ausgaben an. Ich erinnere mich noch an Ronalds Kommentar: »So lang halten wir das doch nie durch.« Die Skepsis war berechtigt. Jahrzehntelang war vergeblich versucht worden, in der deutschen SF-Szene eine regelmäßige Veröffentlichungsplattform für einheimische Kurzgeschichtenautoren zu etablieren, und niemanden hätte es gewundert, wenn Nova ebenso zügig Schiffbruch erlitten hätte wie zahlreiche vergleichbare Projekte zuvor. Dass es, trotz diverser Krisen, Verlags- und Redaktionswechsel, anders gekommen ist, hat wiederum niemanden so sehr gewundert wie uns selber und ist wohl nur der Hartnäckigkeit einer Kernmannschaft zu verdanken, die lange Jahre aus Ronald, Olaf G. Hilscher und meiner Wenigkeit bestand. Horst Pukallus war so freundlich, uns dafür, in seinem Statement in der vorliegenden Ausgabe, ein Lob der Sturheit auszusprechen. Die belebende Wirkung von Nova (und natürlich auch Exodus, von René Moreau nicht lang nach dem Erscheinen der ersten Nova-Ausgaben nach fast zwanzig Jahren Pause wiederbelebt) auf die deutsche SF-Szene und auf die Weiterentwicklung unserer besten Story-Autoren hat uns in unserer Hartnäckigkeit und unseren Glauben an den literarischen Wert der Kurzgeschichte nur bestärkt. Im aktuellen Redaktionsteam, das sich mit seiner reibungslosen, zügigen Zusammenarbeit bereits glänzend bewährt hat, bin ich der letzte verbliebene Mitbegründer, und obwohl es auch für mich Zeit wird, allmählich über eine Ablösung nachzudenken, werde ich dem Magazin sicher noch lang genug verbunden bleiben, um auf ein Drittel meines Lebens als Nova-Mitherausgeber zurückblicken zu können.

Traditionell betrachten wir jede zehnte Ausgabe als ein kleines Jubiläum, das wir mit der einen oder anderen Besonderheit feiern wollen, und so soll es auch diesmal sein. Neben Statements der drei Mitbegründer und treuer Weggefährten und Leser haben wir einige unsere Stammautoren gebeten, nicht nur Storys zu Themen beizusteuern, die ihnen im Moment besonders auf den Nägeln brennen, sondern unseren Lesern in kurzen Werkstattberichten einen Blick hinter die Kulissen zu ermöglichen und zu erklären, was sie zu ihren Geschichten motiviert hat. Durch Vermittlung von Andreas Irle und dank großzügiger Unterstützung der Familie von Jack Vance und dem Team der Vance-Publikationsplattform Spatterlight Press sind wir außerdem in der Lage, in unserer Gaststory-Rubrik in deutscher Neuübersetzung eine klassische Kurzgeschichte von Jack Vance zu präsentieren, einem der großen Kultautoren der Science-Fiction.

Michael K. Iwoleit

Dezember 2020

NOVA STORYS

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Autonome Roboter, seit Ewigkeiten ein Lieblingsthema der Science-Fiction, sind auch in unserem Alltag kein ganz unvertrauter Anblick mehr. Die kleinen Staubsaugerknechte, die bereits in vielen Haushalten herumwuseln und die Stubentiger irritieren, dürften erst der Anfang sein. Wissenschaftler und Futuristen versprechen sich viel von einem Sprung auf eine höhere Ebene durch Schwarmbildung. Aus dem mehr oder weniger dumpf agierenden Individuum wird, durch Vernetzung und Interaktion, eine Kollektivintelligenz. Wie die folgende kleine Geschichte zeigt, können dabei, insbesondere wenn sich ein unerschrockener Exzentriker der Möglichkeiten annimmt, auch ganz neue Querverbindungen zwischen Kunst und Wissenschaft entstehen. – Karsten Kruschel, sicher einer der führenden zeitgenössischen deutschsprachigen SF-Autoren, ist unseren Lesern vermutlich noch durch seine brillante Steampunk-Story »Teufels Obliegenheiten« in Nova 20 in bester Erinnerung. Wir freuen uns, dass er auch in dieser Jubiläumsausgabe wieder mit von der Partie ist.

Karsten Kruschel: Dreckdrohnen und die Mathematik Mozarts

»Das sieht ja furchtbar aus«, sagte Frau Dorfmüller und zog rasch den Kopf weg, als der nächste Klumpen einer undefinierbaren Substanz an die Wand klatschte. Er rutschte langsam nach unten weg und sah dabei aus, als müsse er intensiv stinken.

Tat er aber nicht. Es handelte sich um schlichten Lehm.

»Glück gehabt«, sagte Göran Lundberg, der seiner fast einen Meter kleineren Chefin die Tür einen Spaltbreit offen hielt, damit sie das Desaster besser sehen konnte.

»Ich will ihn nicht stören«, meinte sie. »Er wird immer so wütend, wenn man ihn stört. Vor allem, wenn er einen seiner kreativen Schübe hat wie diesen hier.«

Beide – der groß gewachsene schwedische Gastassistent und die zierliche Chefin der musiktheoretischen Abteilung – schauten dem massigen Mann zu, der in der Mitte eines großen Klassenzimmers um ein merkwürdiges Objekt herumhüpfte. Bei dem Mann, dessen Ohren von großen Kopfhörermuscheln verdeckt waren, handelte es sich um Artigas Fessenheim, seines Zeichens Professor für Objektkunst hier im Hause und mehr oder weniger unantastbar, weil er eben diesem Haus mit seiner Kunst eine Menge Geld einbrachte.

»Dreck!«, rief er und schleuderte irgendetwas Längliches hinter sich. Es flog in hohem Bogen durch die Luft und schlidderte an die gegenüberliegende Wand. Auf seinem Weg dorthin begegnete es beschriebenen Notizzetteln, leeren Getränkedosen und spiralig aufgerollten Metallspänen.

»Wiederverwertung!«, rief Fessenheim nun und warf ein Stück Gartenschlauch in eine andere Ecke. Dann drang er mit einem Meißel auf das vor ihm aufragende Ding ein, das aussah wie ein Zwitter aus einem mittelschweren Verkehrsunfall und einem dramatisch aus dem Ruder gelaufenen Versuch, den hässlichsten Riesenkaktus der Welt zu erschaffen. Ein weiteres Kunstwerk des Professors, work-in-progress.

Ségolène Dorfmüller stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie hielt die monumentalen Objekte, die ihr Kollege während seiner schöpferischen Anfälle hervorbrachte, persönlich und insgeheim für völlig wertlos, einfach wirre Haufen aus Müll, die nichts weiter bedeuteten als eben Müll. Aber auf dem internationalen Kunstmarkt, der ihr völlig fremd war, brachte jeder einzelne Artigas Fessenheim größere siebenstellige Beträge. Von dem Anteil, den das Haus von diesen Beträgen abbekam, wurde weit mehr refinanziert als Fessenheims Professur.

Ihre Meinung behielt Ségolène Dorfmüller natürlich für sich. Womöglich beruhte die Sache ja auf Gegenseitigkeit. Sie würde auch nicht wissen wollen, was Fessenheims künstlerischer Verstand von den eigenen Dorfmüllerschen musiktheoretischen Analysen halten mochte.

»Ich trau mich auch nicht, ihn zu stören«, sagte Lundberg, im wahrsten Sinn des Wortes von oben herab, und das mit einem so niedlich klingenden schwedischen Akzent, dass sie lächeln musste, weil sich der Assistent anhörte wie die Fernsehwerbung für ein großes Möbelhaus. »Man könnte verletzt werden, wenn man da reingeht«, setzte Lundberg hinzu.

»Das auch«, antwortete seine Chefin und musterte den Fußboden, der mit allerlei Stolperfallen übersät war – Drahtrollen, Besenstiele, irgendwelche verbogenen Bleche. Ein Mikado mit vielen Unbekannten. Sie seufzte und blickte zu Lundbergs blondem Schopf empor.

»Du willst nicht …?«, fragte sie und wusste schon, dass es hoffnungslos war. Sie musste Artigas Fessenheim selbst aufhalten. Dieser Lundberg hier war zwar ein großer, alle Schweden-Klischees ausfüllender Bilderbuch-Schwede, kam aber mit allem, was nicht in Noten oder Software-Codezeilen ausgedrückt werden konnte, eher schlecht zurecht.

Lundberg schwieg, wie nicht anders zu erwarten.

Artigas Fessenheim hatte sich hingehockt und mit einem dicken Filzmarker hastige Notizen auf einen der Pappdeckel geworfen, die in dem kleinen Imbisskiosk unten in der Halle als Tellerersatz für Bockwürste und Frikadellen dienten. Er pflegte ganze Stöße dieser Dinger zu mausen, um sie als Medium für allerlei Mitteilungen zu benutzen. Mit dem Ausruf »Archivieren!« schnipste er den Karton zu Seite und wandte sich wieder dem Kunstwerk zu, ohne seiner Notiz hinterherzuschauen. Der Pappdeckel landete in einer Ecke, in der schon zwei Dutzend ebensolcher Pappdeckel kreuz und quer durcheinander lagen.

»Na gut«, seufzte Ségolène Dorfmüller und wagte ein paar Schritte in das mit den Überresten Fessenheimschen Schaffenswahns übersäte Zimmer. Sie achtete sehr genau darauf, wohin sie ihre Füße setzte. Manche Dinge da unten sahen aus, als ob sie ihren Manolos etwas Böses antun könnten.

»Dreck!«, rief Fessenheim nun aus und warf wieder etwas Schmieriges, Tropfendes über die Schulter, glücklicherweise nicht in die Richtung der Musiktheoretikerin, die kurz erstarrte. Dieses Wurfgeschoss flog seitwärts, wo sich das Ding an der Wand festsaugte.

Die Dorfmüller schnappte sich nach einigen wackligen Schritten vom Boden einen langen Draht, bog ihn halbwegs gerade und stocherte damit nach den Schultern des Professors.

Schon der dritte oder vierte Anstupser führte, noch ehe Ségolène von einem der nächsten Wurfgeschosse getroffen wurde, zum Erfolg. Fessenheim erstarrte, zog sich die Kopfhörer von den Ohren und blickte sich um.

»Was zum Teufel wollen Sie denn hier?«, fragte er, ehe seine Augen sich überrascht weiteten. »Wie sieht es denn hier aus, um Himmels willen?!«

Artigas Fessenheim musterte voll ehrlichem Entsetzen das verwüstete Klassenzimmer.

Es sieht aus wie ein ganzes Klassenzimmer voller Objektkunst, dachte die Musiktheoretikerin grimmig. Ihrer Objektkunst, Professor.

Laut sagte sie: »Herr Kollege, seit einer halben Stunde läuft unser Mozart-Versuch. Und alle Ihre Drohnen nehmen daran teil. Wir hatten Ihnen dazu ein Memo geschrieben.«

»Tatsächlich?« Fessenheim betrachtete immer noch das Chaos ringsum.

»Ich habe Ihnen ein Memo geschrieben, genauer gesagt«, stellte Göran Lundberg klar und erntete dafür einen finsteren Blick seiner Chefin.

»Das ist wohl im Spamfilter gelandet«, murmelte der Professor. »Was für eine Sauerei, das alles hier. Meine Drohnen, sagen Sie? Die, die meinen Dreck auffangen, wenn ich ›Dreck‹ rufe, und ihn wegschaffen? Die Drohnen, die alles auffangen, was ich hinter mich werfe?«

Sein Blick fiel auf die aus der Kantine entwendeten, beschriebenen Pappen.

»Die Drohnen, die meine Gedanken ins Sekretariat bringen, wo sie abgetippt werden sollen? Die sind bei Ihnen?«

»Ja«, antwortete Frau Dorfmüller einfach.

Artigas Fessenheim tippte auf sein iPod, worauf die zischelnde Technomusik, die aus seinen Kopfhörern quoll, verstummte. »Warum, um alles in der Welt?«, erkundigte er sich.

»Sie sind nun Teil unseres Mozart-Projekts«, ergänzte Göran Lundberg. »Bis heute Abend.«

Wenn dergleichen möglich wäre, hätte er den Namen Mozart in Großbuchstaben ausgesprochen, so stolz, wie er offensichtlich darauf war.

»Mozart?!« Das Gesicht von Artigas Fessenheim war nun ein einziges Fragezeichen. Ségolène Dorfmüller musste daran denken, dass dieser Mann seit Jahren ein Geheimnis daraus machte, dass er eigentlich den schnöden Namen Ulli Schumann trug und gelernter Elektriker war. Mit Mozart konnte er offenbar nicht viel anfangen.

»Ich zeige es Ihnen, Herr Kollege«, sagte sie liebeswürdig und wies zur Tür. In der ragte Lundberg auf, blond und nutzlos, und wich hastig zur Seite aus, als seine Chefin und der weltberühmte Professor auf ihn zukamen.

Draußen angekommen, in der großen, lichtdurchfluteten Halle, von der aus alle Treppenhäuser des Gebäudes abzweigten, wies die Dorfmüller mit großer Geste auf den gewaltigen Luftraum, der sich nicht wie gewohnt leer zwischen den weit entfernten Wänden spannte, sondern angefüllt war von vielen Tausenden kleiner Flugobjekte. Alle waren handspannengroß und verfügten über vier kleine, leise surrende Propeller, mit denen sie sich in der Luft hielten. Hier und da erkannte Fessenheim eine seiner Dreckdrohnen am schmutzigen Gehäuse. Manchmal hatte er unbeabsichtigt eines seiner kleinen Helferlein direkt erwischt.

»Das sind alle Drohnen, die das Institut derzeit besitzt«, erklärte Göran Lundberg stolz, als hätte er sie persönlich eingesammelt.

»Ich frage mich, warum sie nicht wie üblich meinen Dreck auffangen und meine Notizen transportieren«, knurrte der Professor. »Dafür waren sie sehr praktisch. Ich habe mich daran gewöhnt. Man wirft irgendwas über die Schulter, und zack!, ist es ordentlich weggeräumt. Man schnipst eine Pappe in die Luft, und abends habe ich eine Mail mit dem sauber getippten Text im Postfach.«

»Die Drohnen arbeiten heute ausnahmsweise einmal nicht für Sie, Herr Professor, weil sie uns für heute Nachmittag für dieses Mozart-Ding zur Verfügung stehen«, sagte Lundberg und ließ zusammen mit seinem Akzent auch etwas Überdruss hören. »Ehrlich gesagt, sind die kleinen intelligenten Biester mit den Aufgaben bei Ihnen auch ein wenig, wie soll ich sagen … unterfordert.«

Artigas Fessenheim warf dem schwedischen Austauschassistenten einen skeptischen Blick zu. »Ist das so?«

»Ja.« Der hochaufragende Assistent nickte eifrig. »Sie, Herr Professor, nutzen lediglich die einfachen Spracherkennungsroutinen der Drohnen und die antrainierten Reaktionen, nicht aber die Interaktion der Drohnen untereinander.«

»Die Schwarmintelligenz«, warf Ségolène Dorfmüller ein.

Artigas Fessenheim schnaubte verächtlich.

»Bei Menschen endet Schwarmintelligenz in der Regel beim kleinsten gemeinsamen Nenner«, sagte er, »und der ist meistens identisch mit der größtmöglichen Dummheit.«

Lundberg und Dorfmüller tauschten einen langen Blick aus, und beide sahen verstohlen nach der Uhrzeit, Dorfmüller auf einer teuer aussehenden mechanischen Uhr, der Schwede auf dem Display seines Touchpads. Die Demonstration sollte gleich beginnen.

»Jede Drohne weiß, wo genau sich ihre Nachbarn befinden“, erklärte der Schwede, »links und rechts und vorn und hinter und über und unter ihr; und die Nachbarn wissen wiederum von ihren eigenen Nachbarn genau, wo sich diese befinden. Sodass jede einzelne Drohne ziemlich dumm ist, der gesamte Schwarm jedoch zu erstaunlichen Leistungen fähig.«

»Wie wir gerade sehen«, ergänzte Ségolène Dorfmüller. »Momentan haben alle Drohnen die Aufgabe, den exakten Abstand zu ihren Nachbarn einzuhalten. Und siehe da: Sie stehen in der Luft wie unsichtbar festgenagelt. Obwohl alle Tore offen sind und es zieht wie Hechtsuppe.«

Tatsächlich strich ein böiger Wind durch die zentrale Halle, und tatsächlich schienen alle Maschinchen wie an unsichtbaren Seilen festgeknotet in der bewegten Luft zu stehen. Hin und wieder, wenn ein besonders heftiger Windstoß durch die Halle fegte, konnte man am wellenförmig durch den Schwarm streichenden Aufsummen der Motoren hören, wie sich die Drohnen anstrengten.

Professor Fessenheim stutzte. »Hm, das machen die selber? Es steht kein superschneller Riesenrechner im Keller, der all die Biester in Echtzeit steuert?«

Lundberg lachte und warf einen verstohlenen Blick auf das Touchpad, das er in den Händen hielt. »Das war früher. War zu aufwendig. Heute haben wir nur einen relativ kleinen zentralen Server, und der steuert nichts. Der aktualisiert nur die Software der Drohnen. Wir können ihnen neue Aufgaben überspielen, sozusagen. Wie jetzt gerade.«

Der Schwede tippte auf das Display.

Bewegung kam in die Wolke schwebender Maschinen. Wellen gingen durch den Schwarm, die Drohnen näherten sich einander an und schwangen wieder voneinander weg, und das alles im Rhythmus der Windstöße, die von draußen kamen.

»Nun haben wir eine kleine Zeitverzögerung ins Programm der Drohnen geschrieben«, sagte Lundberg.

Fessenheim starrte fasziniert nach oben; es war, als schaue man dem Wind zu, wie er durch ein Feld voller reifer Weizenähren streift und sie in wellenförmige Bewegung versetzt. Der Wolf geht durchs Korn, nur eben dreidimensional. Man konnte die Strömungen der Luft deutlich erkennen, und die Verwirbelungen rund um die Rolltreppen und den Kiosk, aus dem der Professor seine Pappteller zu entwenden pflegte. Das Ding schien an einer etwas ungünstigen Stelle platziert zu sein, denn die Drohnenwolke vollführte um ihn herum aberwitzige Tänze.

»Nun gut, das ist beeindruckend«, sagte der Professor langsam. »Und es scheint sogar Nutzanwendungen zu geben. Unser Kiosk da unten beispielsweise wird bei einem richtigen Orkan vermutlich weggeblasen, wie man sieht.«

»Oder man macht rechtzeitig die Tore zu«, entgegnete die Dorfmüller.

»Wunderbar, wunderbar«, sagte Artigas Fessenheim, von diesem Anblick auf seltsame Weise aufgemuntert. »Wie ich sehe, habe ich meine Dreckdrohnen unterschätzt. Ich werde in Zukunft netter zu ihnen sein … aber was hat das alles nun mit Mozart zu tun?«

Er sprach den Namen definitiv nicht in Großbuchstaben aus, was Ségolène Dorfmüllers Miene leicht verfinsterte.

»Es geht dabei um Strukturen. Musikalische Strukturen«, sagte sie ein wenig frostig, während die wogende Meute der Drohnen langsam zur Ruhe kam, weil die Tore nach draußen geschlossen wurden und der Wind im Innern des Gebäudes erstarb. »Sehen Sie, seit Jahrhunderten sind die Menschen von Mozarts Musik fasziniert – und das, obwohl der Großteil seiner Werke nur als nettes Hintergrundgeräusch für allerlei höfische Feste gedacht war.«

»Fahrstuhlmusik«, sagte Fessenheim.

»Wenn Sie so wollen, ja. Aber wenn es nur das wäre, gäbe es nicht diesen Kult um Amadé. Da muss mehr sein.« Sie warf dem Professor einen prüfenden Blick zu. Dieser Technofreak und Produzent von erfolgreicher, wenn auch klumpatschförmiger »Kunst« wurde ihr allmählich ein bisschen unheimlich.

»Und unser heutiges Experiment möchte in dieses Rätsel ein wenig Licht bringen.« Lundberg hatte sein Touchpad wieder herausgezogen und wischte flink über das Display. Offenbar war erneut frische Software für die Drohnen angesagt.

»Alle Drohnen können gesprochene Worte erkennen«, erklärte die Dorfmüller, »sonst würden sie ja nicht angeflitzt kommen, wenn Sie ›Dreck!‹ oder ›Archivieren!‹ rufen. Aber heute Nachmittag achten die kleinen klugen Biester auf andere Dinge. Sie achten auf Tonhöhen, Rhythmen, Tonlängen, Vibrato, sogar auf Klangfarben und Intonation.«

»Und was soll das?« Artigas Fessenheim wirkte nicht überzeugt.

Ségolène Dorfmüller schaute auf die Uhr. »Moment«, flüsterte sie.

Lundberg tippte auf dem Display seines Touchpads den »Fertig«-Button an, und die Drohnen speicherten ein neues Programm.

Sie erstarrten in der Luft und schienen auf etwas Neues, Aufregendes zu warten.

Dann flutete Musik den riesigen Raum. Musik, die das vieltausendfache Summen der Drohnen bei Weitem übertönte. Die kleinen Flugmaschinen übersetzten nun die Musik in Auf- und Abbewegungen, seitliche Schlenker und irisierende Vibration. Der Wolf ging wieder durchs Korn, aber diesmal auf eine ganz andere Weise. Die ganze Halle war plötzlich voller schwingender Musik. Die Drohnen sprudelten fröhlich umeinander, als wollten sie rhythmisch explodierenden Champagner darstellen.

Artigas Fessenheim spürte, wie ihm der Unterkiefer hinabsank, aber er kam nicht dazu, den Mund wieder zuzuklappen. Dieser Tanz der Drohnen war hypnotisch, und die Muster, die die tanzenden Maschinchen in die Luft zeichneten, schienen einem größeren System zu folgen, einer übergeordneten Gesetzlichkeit. Sie formten Figuren, die ihm seit seinem Mathe-Unterricht an der Abendschule, die er – damals noch Ulli Schumann – nie beendet hatte, nicht mehr unter die Augen gekommen waren. Es handelt sich um Muster ganz anderer Art, die er aus seinem Astronomie-Kursus an der Volkshochschule wiedererkannte. Und dann waren da welche, von denen er irgendwann einmal geträumt hatte.

Mozarts Musik flutete den Luftraum, und die Drohnen wandelten sie in Muster um, die Fessenheim nur allzu gern in einem seiner Objekte verwendet hätte. Tief in seinem Inneren spürte er jedoch, dass er das womöglich nie schaffen würde.

»Das ist Mathematik«, sagte er verblüfft und wies hier- und dorthin in den kleinen, surrenden Himmel dieser Halle. »Das ist die reine Mathematik Mozarts!«

Dann versagte ihm die Stimme.

Göran Lundberg warf einen triumphierenden Blick hinüber zu Ségolène Dorfmüller, und sie lächelte mild, während sie den Tanz der Drohnen in der Luft beobachtete. Morgen, dachte sie, wird er ihnen wieder Dreck zuwerfen. Aber für heute lassen wir ihn noch ein bisschen staunen. Vielleicht sind seine nächsten Objektkunst-Kunstwerke nicht mehr gar so abscheulich, wer weiß.

Nachbemerkung des Autors

Vor einigen Jahren sprach ich mit einem Wissenschaftler über Drohnen, denn er forschte zu ebendiesem Thema und erklärte mir, was Schwarmintelligenz ist und warum sie so faszinierend sein kann. Natürlich habe ich ihm daraufhin in groben Zügen die Handlung von Stanislaw Lems Roman Der Unbesiegbare erzählt – den er nicht kannte. Immerhin bemerkenswert, dass Lem bereits 1964 nicht nur Schwarmintelligenz beschrieben, sondern auch eine plausible Erklärung für ihr Entstehen geliefert hatte.

Eine Idee nach der anderen pingpongte hin und her. Farbige Minidrohnen, die man im Stadion nur noch als Pixel auf der Spielfläche wahrnimmt – damit kann man ein Champions-League-Spiel dreidimensional in ein anderes Stadion übertragen, und es ist kein Unterschied zum richtigen Spiel zu erkennen. Das war nur eine von vielen Spinnereien.

Kurz danach habe ich eine Begegnung mit moderner Kunst erlitten – na ja, es war wenigstens kostenlos. Die Kunst sah teilweise wirklich aus wie weggeworfen, und da klickten zwei Gedanken zusammen. Beim Googeln fand ich dann Filme von Drohnen-Installationen bei irgendwelchen Großveranstaltungen. Die tanzten da leuchtend in der Dunkelheit. Und das war’s. Noch ein bisschen Miniaturisierung, und einen schrägen Kauz, den ich mal kannte, habe ich als Künstler verwendet. Hoffentlich erkennt er sich nicht wieder …

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Der heutzutage gern herbei gegruselte Konflikt zwischen dem aufgeklärten christlichen Abendland und dem bedrohlich-barbarischen Islam ist, aus einer etwas erweiterten historischen Perspektive, eine Selbsttäuschung, wenn nicht gar pure Heuchelei. Nicht nur gehen alle drei großen abrahamitischen Religionen auf denselben historischen und geografischen Kontext und Schatz von Überlieferungen zurück. Nicht nur haben sie sich, was den brutalen Missionierungseifer angeht, gegenseitig nicht viel geschenkt. Nicht nur wären Renaissance und Aufklärung, derer sich Europa heute so rühmt, ohne Beeinflussung durch die Blütezeit der klassischen arabisch-islamischen Kultur kaum denkbar gewesen. Man könnte sogar argumentieren, dass das Christentum genau das war, wovor sich die »westliche Wertegemeinschaft« heute am meisten fürchtet: eine aus dem Nahen Osten eingedrungene Import-Religion, die genuine europäische Traditionen verdrängt hat. Horst Pukallus hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass ihm Religionen, gleich welcher Couleur, grundsätzlich suspekt sind, und erklärt in der folgenden Geschichte und seiner Nachbemerkung erneut, warum das so ist. Seine Geschichte spielt vor dem Hintergrund einer viele Sternensysteme umspannenden menschlichen Nachfolgezivilisation der fernen Zukunft. Ihre Aussage ist aber eine ganz irdische: Der eigentliche Konflikt, dem sie nachspürt, ist nicht der zwischen verschiedenen Glaubenssystemen sondern zwischen geerdeter, menschenwürdiger Vernunft und irrationalem religiösem Fanatismus.

Horst Pukallus: Das lange Jahr der kurzen Tage

Denn das Volk und das Reich, das dir nicht dient, geht unter; ja, die Heidenvölker werden gänzlich vertilgt.

Bibel, Isaias 60,12

Siehe, wir werden auf das Volk dieser Stadt Rache vom Himmel hinabsenden für ihre Missetaten.

Koran, Sure 29,33

Die Tage sind kurz geblieben, dachte Sedigeros Deguello, aber das Jahr ist sehr lang gewesen.

Anders hatte es nicht sein können. Arethusa, Äquatorradius sechsunddreißigtausend Kilometer, rotierte schnell. Knapp zehneinhalb Stunden Neuer Zeitrechnung dauerte der Tag des Planeten, eines für Menschen eigentlich unwirtlichen Riesen, dessen düstergelbe, nur von Staub durchwallte, von kryophilen Organismen bewohnte Wasserstoff-Helium-Atmosphäre blaues Elektrogluten durchwetterte, die mondlosen Nächte erhellte. Eisige Sandstürme tobten über die ausgedehnten, steinigen Ebenen. Arethusa bot ausschließlich eine Attraktion: stark quarzhaltiges Erz, das die Raumfahrt für den Astro-DML-(Dunkle-Materie-Licht)-Funk brauchte. Die kurze Wellenlänge des DML, tausendmal schneller als die normale Lichtgeschwindigkeit, ermöglichte in Kombination mit der Dirac-Quantenteleportation zwischen den Sternen eine relativ zeitnahe Kommunikation.

Das Warten hatte, indem die Spannung wuchs und wuchs, das Jahr in die Länge gezogen. Arrogant hatte die KKK per Astro-DML-Funk den Anflug ihrer zwei Megalo-Orlogiganten der Stympaliden-Klasse ein Jahr im Voraus avisiert. Sie hegte keinen Zweifel an der absoluten Überlegenheit ihrer Ideologie und ihrer Waffen. Allerdings beanspruchte die Flugzeit tatsächlich ein Jahr: Raumfahrzeuge bewegten sich trotz ultramoderner Nexutron-Triebwerke, die virtuell-artifizielle polytachyonische Singularitäten n-dimensionaler Qualität erzeugten und die Stympaliden, gelenkt durch mit Neuroakzeleratoren ausgestattete Pavian-Biotron-Piloten und Plasmacomputer, quasi phasenperiodisch durchs Raumzeit-Kontinuum forcierten, langsamer als das DML. Daher konnte eine Astro-DML-Funknachricht einem Raumschiff allemal vorauseilen.

Aus dem Mare Solórzano, wo sich die Fokos-Schürfstätten über Hunderte von Quadratkilometern erstreckten – Roboter erledigten den Tagebau –, stieg das Erz in magnetisch zusammengeflanschten Containern per Strato-Lift bis an die Grenze zum All empor. Von dort verschoben automatisierte Effektorfeld-Bugsierer die Container-Konglomerate zu Satelliten-Sammelstellen, computergesteuerten Plattformkonstruktionen, an denen die Frachtraumschiffe der Klientel sie abholten. Gestört werden konnte diese umfangreiche Transportation nur durch Weltraumschrott, der infolge gelegentlicher, eigentlich harmloser Unfälle, die lediglich Sachschäden verursachten, in allerdings beträchtlichen Mengen entstand.

Als die Kosmo-Katholislamische Koalition, hinter deren religiöser Fassade sich freilich nichts anderes als eine Konzernokratie verbarg, die Stellare Union mit dem Ultimatum konfrontierte, das System α Sextantis (also die Fokos-Quarz-Förderung) an die KKK abzutreten und zu diesem Zweck ein Konkordat vorschlug, oder es durch militärische Gewalt zu verlieren, auf kompromisslose Ablehnung stieß, ergaben sich aus dieser Impertinenz ernsthaft brisante Folgen. Das Empireum, der Neo-Vatikan des aktuellen Jahrhunderts, kündigte die sofortige Entsendung seiner Megalo-Orlogiganten an, Corpus Christi und Corpus Muhammad, sowie ihre Ankunft in Arethusas' Orbit. Gegen eine solche Erpressung fehlten der Union jegliche Abwehrmittel.

Wenn ein Jahr begann, schien das Ende in weiter Ferne zu liegen. Vergleichbar verhielt es sich mit in so einem zeitlichen Abstand bevorstehenden Unannehmlichkeiten oder Gefahren. Obwohl man sie absehen konnte, nahm man sie zunächst nicht sonderlich ernst, und vielleicht erst nach Ablauf der halben Frist neigte man allmählich dazu – oder fühlte sich gedrängt –, Betrachtungen über das Unaufhaltsame und seine eventuelle Abwendbarkeit anzustellen. Dann trat erst schleichend, danach jedoch immer häufiger und unübergehbar, eine gewisse Beklommenheit ein, die sich mit der Zeit zu mehr oder weniger stetiger Beklemmung steigerte. Von da an regten sich unter den Betroffenen zusehends mehr Kräfte, die effektive Vorbeugungsmaßnahmen anstrebten. So verlief es auch in diesem Fall.

Früh hatte Sedigeros begriffen, dass er in seiner Eigenschaft als einzig dem Ultramentalen-Komitee verantwortlicher Chefkoordinator nicht zaudern durfte, bis sich unterschwellige Panik und Ansätze zur Hysterie erkennen ließen, aber auch die Klugheit gehabt, solange Zurückhaltung zu bewahren, bis er unterscheiden konnte, welche Personen für ihn als verlässliche Verbündete taugten. Es wäre möglich gewesen, sich auf seine Weisungskompetenz zu stützen. Aber er zog es vor, wirklich Entschlossene um sich zu scharen, also Mitarbeiter, die freies Denken betrieben, die Wahrheit in den Tatsachen fanden und in Bezug aufs Handeln eher zur Besonnenheit als zum Schneid neigten.

Er hatte sich zu der Vermessenheit verstiegen, dem Ultramentalen-Komitee und der Bevölkerung Arethusas sein Wort zu geben, dass ihnen nichts zustoßen sollte. Man vertraute ihm: Alle gingen schlichtweg ihren Aufgaben nach, während unaufhaltsam das Verderben nahte. Also durfte ihm kein Fehler unterlaufen.

Sedigeros saß inmitten des kugeligen Zentralen Funktionsraums der in der Syrtis Sarang Singa gelegenen Kuppel Pinaret D-13 an den Ortungskontrollen der Teleanalysatoren und Neutronenspektrometer. Der Funktionsraum hing wie ein gläserner Tropfen unter dem Scheitelpunkt der Kuppel. Die Finger des Chefkoordinators blieben den in die Armlehnen des Kommandosessels integrierten Sensortasten stets nah. Lautlos huschten dezentbunte Falschfarben-Rasterdiagramme über die Bildflächen der DNS-Computer. Im Fernbereich eingesetzte Patrouillensonden beobachteten die Orlogiganten seit ihrem Einflug ins System α Sextantis und übermittelten Funkdaten an Pinaret D-13. Den Anzeigen der Computer gehörte die Aufmerksamkeit der Kalkulantin Hidden Tsunami, obschon sie die Apparate nicht brauchte. Als Mathematik-Intuitionistin hatte sie eine direkt-integrale, auf das spatiale und temporale Gefüge des Universums und seine Schwingungen eingestimmte Psyche – anscheinend befand sie sich mit dem Kosmos in einem Zustand morphischer Resonanz – und erzielte im Kopf Rechenergebnisse deutlich schneller als die Computer. Arbeitete man mit ihr zusammen, verlief alles durchschaubar, schnell und verlässlich.

»Trotz der Bremsmanöver nimmt die Entfernung der Stympaliden zügig ab«, stellte Hidden fest. »Meines Erachtens treten sie schon in ein paar Minuten mit uns in Kontakt.«

Vor einiger Zeit hatte sich bei Sedigeros eine ausdauernde Liebe zu Hidden festgesetzt. Leider erwiderte sie seine Zuneigung nicht, ihr fehlten die Voraussetzungen. Sie litt an Alexithymie, völliger Gefühlsblindheit. Aber Sedigeros wusste, dass wahre Liebe keine Gegenleistung einforderte.

Die Kalkulatorin erlebte keine emotionalen Verwicklungen, während die meisten Frauen Arethusas’ sich als Doppelbräute betätigten, also zwei Männer hatten, überwiegend ohne mit ihnen zusammenzuleben. So führte Hidden auf jeden Fall ein ruhiges Dasein.

»Welche Daten übermittelt Dagger?« Orbitalexpertin Dagger Bismillahi, eine Frau mit nahezu drakonischem Durchsetzungsvermögen, arbeitete auf der anderen Hälfte des Planeten in der Kuppelstadt Wandyssa P-19 auf dem Mons Tymbandan. »Ich gehe davon aus, dass die Stympaliden nicht gleichzeitig mit Basilisk über uns eintreffen.«

»Die Daten ändern sich ständig, aber ich erkenne intuitiv, dass Basilisk sechs Minuten und zwei Sekunden später in Reichweite sein wird. Ist zu befürchten, dass die KKK uns unverzüglich unter Beschuss nimmt?«

»Und wenn schon …« Sedigeros zuckte mit den Schultern. »Was wir im Feuer verlieren, finden wir in der Asche wieder.« Er hatte so gesprochen, wie Hidden es sah. Sie kannte ja keine Furcht. Auf diese Weise fühlte er sich ihr vertraut.

Sein Blick schweifte durch das Transparent-Titan der Kuppel an den Horizont, den Wassereisgebirge säumten. Auf den vorgelagerten Methanseen, an deren Ufern in salzhaltigen Lachen Halophyten, Myzeten und Lichen wucherten, brannte mit Methanhydrat vermischtes Eis. Auf ganz Arethusa lagen mehrere Dutzend Kuppelbauten verteilt, jeder eine aufstrebende Mikropolis mit im Durchschnitt sechshundert Bewohnern, die nach Sedigeros’ Urteil Perlen in Muscheln glichen. Eine so gute Meinung hatte er von ihnen.

Als plötzlich dumpf krachende Erschütterungen durch Arethusas’ globale Kruste dröhnten, überraschten sie niemanden. Neue Geysire versprühten Verflüssigungen aller Art. Denn seit Jahrzehnten schlingerte ein Zombie-Stern, eine nach ihrer Explosion ausgebrannte Sonne, durch die Randzonen des Systems α Sextantis (dessen düsteres Hauptgestirn eine Leuchtkraft von lediglich 4m,5 hatte) und verursachte spürbare gravitatorische Störungen. Bei engster Annäherung des verirrten Schlackebrockens dehnte sich Arethusa aus. Deshalb hatten Architekten, Ingenieure und Techniker das Transparent-Titan mit semi-intelligenten, adaptiven Assistenzmodulen nachgerüstet, die bei höheren Belastungen diaphragmische Granulat-Kachelmosaike erzeugten, die durch adhäsive Dilatation eine ausreichende Elastizität sicherstellten und auf diese Weise Schäden abwandten.

Ursprünglich hatte man den Planeten als »Wagniswelt« eingestuft und Nastrond genannt, ein Name dubioser Herkunft, der angeblich eine »Stätte der Verdammten« bezeichnete. Später gestand man ihm, da er sich als Fundort des so außerordentlich bedeutsamen Fokos-Quarz erwies, die freundlichere Benennung Arethusa zu, also »Quelle«. Dadurch änderte sich nichts an der Tatsache, dass er sich für Menschen wenig eignete. Außerhalb der Kuppelstädte bedeuteten starke Schwerkraft und hoher Druck ein Problem. Vorerst konnte auf dieser Welt ohne den Schutz der Kuppeln, ihrer Innenatmosphäre und Gravo-Generatoren niemand überleben. Langfristige Planungen liefen hinaus auf eine gentechnische und adaptionschirurgische Anpassung der Arethuser an die Verhältnisse ihres Planeten. Durchstromlungen und Memory-Muskeln boten überzeugende Vorteile, aber der Gedanke an Facettenaugen stieß noch auf verbreitete Abneigung. Zusätzlich erfolgten im Rahmen eines kühnen Terraformingprojekts enorme Chlorophyll-Infusionen in die Atmosphäre. Chlorophyll enthielt Magnesium, das Hämoglobin im menschlichen Blut Eisen. Man hoffte, dass die elektromagnetische Strahlung der Sonnenenergie ihre Schwingungen auf ein mit Hydrometallogen angereichertes Hämoglobin übertrug und eine Ernährung durch Fotosynthese ermöglichte. Indessen fehlten dafür noch die biologischen Rezeptoren, zu deren Erlangung man an der Entwickelung totipotenter Zellen forschte. Allerdings galten diese Vorstellungen als sehr umstritten. Manche Forscher schätzten sie als unverwirklichbares Wunschdenken ein.

»Sie sind da«, sagte Hidden so leise, als geschähe nichts Besonderes. Sedigeros nickte. Die Ortung zeigte ihm Entfernung, Größe und die einfachsten Biodaten der Katechumenen genannten Besatzungen der Stympaliden an. Jedes der beiden KKK-Raumschiffe, die eine Länge von einem Kilometer aufwiesen, hatte Personal in Stärke von rund dreitausend Individuen an Bord: Menschen, cyborgische Chimären und biotronische Upcycling-Animalia. Die Orlogiganten hatten die Form eines Kegelstumpfs, den in gleichmäßigen Abständen mittig drei flache Ringe umgaben, in denen sich die Batterien der Schiffsartillerie befanden. Zahlreiche Antennen etlicher Mess- und Zielgeräte garnierten den Bug, die kleinflächige Seite.

Patrouillensonden wiesen den Ankömmlingen Parkorbitkoordinaten zu. Aus Hybris akzeptierte man sie ohne Einwände. Darauf hatten Sedigeros und seine Vertrauten Hidden und Dagger gebaut.

Die KKK hätte Robot- oder Telepräsenz-Raumschiffe schicken können, wollte aber wohl gerne den Triumph über einen schwachen Gegner aus der Nähe erleben. Sedigeros erachtete diese Entscheidung als schon im Grundsatz unklug. Indessen scherte sie ihn nicht.

Ein halblautes Läuten erregte Sedigeros’ Beachtung. »Und das ist die Kontaktaufnahme.« Sein Mittelfinger huschte über eine Sensortaste. Auf einem Monitor von sechzig Zentimeter Diagonale flackerten Pixel zu einem Konterfei zusammen. Anfangs hatte der Chefkoordinator einen pompösen Großbildschirm mit Holo-Ultra-HD-Qualität zur Verfügung gehabt, ihn jedoch demontieren lassen: Er mochte es nicht, wenn sein Gegenüber, und sah es nur scheinbar so aus, auf ihn herabglotzte.

Der Kommandeur der zwei Megalo-Orlogiganten thronte in seinem Admiralodrom wie ein antiker Pharao. Gekleidet in die magentafarbene Admiralsuniform, auf der Leuchtfasern mit Abbildungen multisakraler Symbole glommen und aus deren Ärmeln geriffelte weiße Manschetten bis auf die Knöchel fielen, auf dem Haupt, das eine bläuliche Holo-Gloriole umgleißte, einen roten, mit wohl kabbalistischen Zeichen verzierten Baschlik, auf der Brust ein Ankerkreuz-Medaillon, saß er in arroganter Haltung auf seinem protzigen Kommandeurssessel, dessen hohe, halbrunde, mit einem Rollenfries im Pain-brulé-Farbton gesäumte Rücklehne auf traditionellem, grau-weißem Granatapfelmuster das Auge Gottes im Strahlenkranz schmückte. Mit Guilloche-Gravuren versehene Raupenglieder bildeten die geschwungenen Armlehnen. Die verarbeiteten Materialien erregten einen kostbaren Eindruck. Und doch, trotz allem, wirkte er auf dem kleinen Bildschirm mickrig und unwichtig.

Konteradmiral-Imam Theophorus Asadullah L’Edefere, Nachfolger des glücklosen Admirals Chrestotes Rustam-Ali de la Forge (der noch heute den Spottnamen »Allahs Amboss« trug, weil die Intersolaren Guerillos des Autonomen Regionalsektors Pherhad und die Fedajin der Souveränen Enklave Al Tais ihn so oft geschlagen hatten), zählte für Götzengläubige zu den bekanntesten Theogonie-Heroen der Retheologisierung, für Liberalisten dagegen zu den berüchtigtsten Okkultkriminellen des Kosmos. Als Günstling des auch als »Lügenpapst« geschmähten »Reformtheologen« Primas-Kalif Kuschajim-Schelumiel II. stieg er schon in jungen Jahren vom schlichten Oblatenpater des Oblatorianer-Ordens zum Liturgikus und während langen Fronens auf zum Rhetor, Doktrinarius, Suggestor, Mystiker, Indoktrinator – extern bezeichnete man die Denkweise dieser Ränge als Stereoptype Normopathie – und zu guter Letzt zum Legaten. Dank der Protektion durch den Geheimdienstleiter des Empireums, des sogenannten Heiligen Schattens, von dem man nur hörte, dass er »Prophet« sein sollte, hatte er, als seinen Vorgänger Admiral de la Forge die Degradierung stürzte, von der Diplomatie nur einen kleinen Schritt zur militärischen Karriere vollziehen müssen. Seither war das Universum merklich gealtert.

»Ich begrüße Sie in Arethusas Orbit, Exzellmir.« Sedigeros bemühte sich um einen heiteren Tonfall. »Falls irgendwelche makroökonomischen mammonistischen Handelsvorhaben Sie zu uns führen, werden Sie enttäuscht sein. Wir benutzen ausschließlich Schwundwährung.«

L’Edefere verzog keine Miene, sondern breitete die Arme aus, als sähe er einen Grund, um Sedigeros zu segnen. »Im Namen Gottallahs des Allmächtigen: Giaur, ich verstehe Ihre Frage nicht. Ihnen ist mitgeteilt worden, wie unsere Forderung lautet.« Leider kannte er keinen Humor. Sein Ledergesicht sah nach Mottenfraß aus. »Wir sind Reflektanten auf das Fokos-Quarz. Sie müssen uns die Minen überlassen. Gottallah schaut Ihr Treiben und ist schnell im Rechnen.«

»Wir sind’s auch.« Und zwar in mehr als einer Hinsicht. »Sie dürfen Quarz gegen für uns wünschenswerte Güter eintauschen, so wie andere Interessenten es praktizieren. Stattdessen künden Sie an, uns auszuplündern.« Der Countdown tickte. Restzeit fünf Minuten einundzwanzig Sekunden. Sedigeros versuchte sachlich zu bleiben, konnte sich allerdings ein paar deutliche Worte nicht verkneifen. »Ist das Maß der Habgier und Schlechtigkeit, das man von der Koalition kennt, noch nicht voll? Ihnen müsste doch klar sein, dass Missgunst ein Irrweg ist, der nichts einbringt.«

»Ihre Bemerkungen grenzen an Blasphemie, Chefkoordinator.« Aus Frömmigkeit, also einer Mischung aus Hochmut und Demut, verdrehte der Konteradmiral-Imam die Augen an einen Himmel, der seinem Megalo-Orlogiganten ermangelte. »Es geschah in einem Augenblick prophetischer Entrückung, verursacht durch schrankenlose enthusiastische Gottesliebe, dass ich begriff: Wie kann es sein, dass Entartete etwas so Wertvolles raffen und es den Dienern Gottallahs verweigern? Denn Gottallah hat ja Macht über alle Dinge. Er hat eine Welt verheißen, deren ›Steine Eisen enthalten und aus dessen Gebirge du Erz hauen kannst‹.« Aus seiner Stimme troff salbungsvolle Verlogenheit. »Sie sind ein halsstarriges Völkchen mit verworfener Gesinnung. Daher rate ich, beachten Sie das Wort der Heiligen Schriften: ›Er fegt sie aus dem Lande fort und vernichtet sie, und die Erinnerung an sie verschwindet.‹«

Sedigeros wusste eher säkulare Gründe. Verschaffte L’Edefere der KKK das wegen seiner hochgradigen Mikrokristallinität begehrte Fokos-Quarz, ohne dass es sie viel kostete, ihr jedoch für die Zukunft enorme Gewinne verhieß, sicherte er sich endlich die seit Langem ausstehende Beförderung zum Admiral.

Der Chefkoordinator hätte L’Edefere entgegnen können, dass die Arethuser sich nicht als ›Entartete‹, sondern als Zetetiker verstanden. Aber er hielt es, um Zeit zu gewinnen, für angebracht, über etwas zu reden, was den Konteradmiral-Imam interessierte. Noch vier Minuten fünfundvierzig Sekunden.

»Bitte erklären Sie mir die Lage, Exzellmir.«

»Alles ist ohne Weiteres verständlich. Falls Sie nicht kapitulieren, sind Sie Kandidaten fürs Jenseits. Dann wenden wir unsere Universaldestruktoren an. Sie verfallen der Ekpyrosis, dem Kristalltod, werden verbrannt und zu Dschehannam versammelt.« Sedigeros verstand, was er meinte: Die Destruktorwaffe funktionierte durch zerfallsaktive Mineralien, deren Strahlen Organismen in Asche verwandelten. Leben verwehte in Wolken glutheißen Staubs. »Danach setzen wir die Akindschi ab.« Diese Söldnertruppe diente der KKK auf Provisionsbasis. »Auf diesem Wege machen wir Arethusa zu unserem Protektorat, so Gottallah will.«

Der Interkom-Apparat blinkte. Sedigeros’ Zeigefinger streifte eine Sensortaste. Auf einem gesonderten Laufschriftband des Monitors erschien Dagger Bismillahis Mitteilung, dass Basilisk in den vergangenen Minuten die Kuppelstädte M’bete Okeke L-27, Anakena Ekiti M-08 und Obdorsk E-21 überflogen hatte, sich also rasch näherte. Noch 3 Minuten 59 Sekunden.

»Will Gottallah es denn? Sie hätten keine Bedenken, Exzellmir, für Ihre Bestrebungen eine große Anzahl unschuldiger Menschen hinzumorden?«

»Glauben Sie mir, dass solche Entschlüsse nicht leicht gefällt werden. Ich habe zu Gottallah gesprochen und gefleht: Herr, erlaube mir die Sünde. Es sind doch Apostaten. Und Sein Schweigen besagte mir Zustimmung.«

»Das Ganze klingt mir, um ehrlich zu sein, nach einer Kannibalenhumoreske.« Es galt, Zeit zu schinden. »Exzellmir, Sie haben das Jenseits erwähnt. Stellen wir uns einmal vor, Ihre Waffen töten mich, und wir sehen uns dort wieder. Könnte das nicht problematisch sein?«

»Nein, überhaupt nicht. Dann werden Sie mir nämlich durch Gottallahs Gnade aus übergroßem Entzücken längst verziehen haben.«

»Darin sehe ich eine kühne Aussage, zumal Sie mich kaum kennen. Vielleicht bin ich gar nicht so versöhnlich. Bisher wüsste ich keinen Grund, um zu Ihnen eine gütliche Haltung einzunehmen. Ob mit oder ohne Gottallahs Billigung, Sie beabsichtigen Raubmord. Halten Sie sich denn für unfehlbar?«

»Unfehlbar ist nur Gottallah.«

»Wenn Sie fehlbar sind, können Sie sich irren.«

»Ich kann mich nicht irren, weil ich im Namen Gottallahs spreche.«

»Sie tun mir leid. Der Autoritäre ist immer ein verkümmerter Rebell. Vielleicht hatten Sie einmal die besten Ansätze.«

»Was für ein Unfug. Dann müsste der Rebell ja der verhinderte Autoritäre sein.«

»Keineswegs. Er ist die künftige Autorität. Nebenbei: Wir sind keine Rebellen. Wir verkörpern eine Gemeinschaft, die auf Eigenständigkeit pocht. Also Freiheit.«

»Wissen Sie, welchen Rat für uns in einem derartigen Fall die Genesis enthält?«

»Nein, Exzellmir. Aber ich möchte es durchaus erfahren.« Zwei Minuten achtunddreißig Sekunden.

»›Lasst uns den Träumer erschlagen, und wir werden sehen, was aus seinen Träumen wird.‹ Denn afflabit Deus, et dissipabuntor. Genau das ist es, worum unser Gespräch sich dreht.«

»Ach ja, Deus providebit.« Sedigeros merkte, dass L'Edefere stutzte. Vermutlich hatte er nicht angenommen, dass sein Verhandlungspartner Altsprachen beherrschte. Flüchtig lenkten Donnerschläge Sedigeros ab. Arethusas' kurze Tagesdauer entfesselte heftige atmosphärische Turbulenzen, weil Luftmassen unterschiedlicher Temperatur in ihrem Umwälzungsprozess nie zur Ruhe kamen und in der Folge häufig elektrische Großentladungen entstanden. (Darum krönte ein Kranz aus Blitzableitern und Antistatikfeld-Projektoren jede Kuppelstadt.) Das Gleißen grellen Gewitterns, Gespinsten ähnlich, zerriss die minus hundertdreißig Grad kalte Winternacht. Mit schroffem Prasseln zerschellten dicke Tropfen Methanregens an der metalloiden, molekularflexiblen Wandung des Gebäudes. »Ich habe den Eindruck, Sie sprechen nur für sich, Exzellmir. Allerdings findet zwischen uns und der KKK eine gefährliche Konfrontation statt. Erübrigen Sie kein Bedauern für die Menschen und sonstigen Lebewesen, die Ihrem Befehl unterstehen?«

L’Edefere schmunzelte geringschätzig. »Soll das eine Drohung sein? Was haben Sie bloß vor, Chefkoordinator?«

»Also wirklich, Götterliebling: Wenn Sie das Ende vorzeitig erfahren, wie könnten Sie dann verstehen, was geschieht?«

Der Konteradmiral-Imam wölbte die Brauen. »Und was sollte geschehen, außer dass Sie sich unterwerfen?«

»Es heißt doch im Buch der Sprüche: ›Der Frevler Weg ist wie finstere Nacht, sie wissen nicht, woran sie scheitern werden.‹ Gibt Ihnen das nicht zu denken?«

Sichtlich ärgerte es L’Edefere, von Sedigeros Zitate aus den eigenen folkloristischen Dienstanweisungen zu hören. In plötzlicher Nervosität zupfte er an seinen Pleureusen.

In diesem Augenblick verließ Basilisk den Planetenschatten. Die Drohne hatte die Beschaffenheit eines Zykloden von ungefähr zweihundert Meter Durchmesser. Noch zweiunddreißig Sekunden.

Sedigeros sah L’Edefere den Kopf zur Seite drehen. Auf einmal gellten im Hintergrund Alarmsignale. Anscheinend hatten die Instrumente der Stympaliden die Drohne erfasst. Vermutlich versuchten die Pavian-Piloten nun Ausweichmanöver einzuleiten, indem sie ihre mit der plasmatronischen Sensorsteuerung gekoppelten Neurochips benutzten, um die Reaktionen der Präventiv-Reflexautomatiken zu beschleunigen.

»Was ist das für ein absurdes Gebilde?« Verkniffen starrte L’Edefere in die Optik. Seine Stimme klang äußerst gereizt. »Hat der Gesteinigte Satan es geschissen?«

Sedigeros hatte genug von seinem kurios-spiritistischem Gerede. »Ich kann Ihnen bestätigen: Gewisse Entschlüsse werden nicht leicht gefällt. Das ›Gebilde‹ ist die Satellitendrohne Basilisk. Um einen störungsfreien Ablauf des Quarztransports zu gewährleisten, ist sie mit Impulskonzentratoren ausgerüstet, deren Stoßwellen Orbitalschrott vernichten. Für Basilisk gehören Ihre Raumschiffe in diese Kategorie.«

Mit einem Mal wirkte L’Edeferes Gesicht kalkig. »Hören Sie zu, Chefkoordinator … Vielleicht ist ja doch eine Einigung möglich, so Gottallah will. Beachten Sie, wir haben vieles zu bieten. Gottallah schenkt durchaus den Lohn dieser Welt.«

»Der Tod nimmt keine Geschenke an.«

L’Edeferes Bild zerstob. Sedigeros’ Gemüt verharrte in einem Zustand ungewohnter Härte und Kälte, von dem er sich wünschte, ihn nie, nie wieder erleben zu müssen, während die beiden Megalo-Orlogiganten in einem gewaltigen grellweißen Feuerball verglühten und ein riesenhafter Schwaden bald rötlichen Funkenflugs sich in Arethusas’ Orbit ausbreitete wie eine Siegesfahne.

Am Horizont der Syrtis Sarang Singa zeichnete sich fahle Dämmerung ab. Das Jahr ist lang gewesen, dachte Sedigeros. Aber die Tage bleiben kurz. Guten Morgen, Basilisk.

Nachbemerkung des Autors

Eine Erläuterung zur Story »Das lange Jahr der kurzen Tage« zu verfassen, ist einfach. Die antiklerikale Tendenz ist offenkundig. Wer mich kennt, weiß genau, dass ich ein entschiedener Gegner aller Religionen und ihrer Organisationen bin. Wenn ich sie thematisiere, kann ich ein Zitat des bedeutenden Kirchenkritikers Karlheinz Deschner für mich reklamieren: »Ich schreibe aus Feindschaft.«

Mit den wenigen Zeilen, die Nova mir zugesteht, kann keine umfangreiche Begründung abgegeben werden. Deshalb verweise ich, was das Christentum angeht, auf Werke wie Jean Mesliers Testament, Otto von Corvins Pfaffenspiegel, Deschners zehnbändige Kriminalgeschichte des Christentums und Heinz-Werner Kubitzas Der Jesuswahn.

Doch in Wahrheit wissen wir um das Abstoßende alles Religiösen auch aus eigenem Erleben. Wer kennt sie nicht, diese Weiber, die quäken: »Aber man muss doch an etwas glauben!« An einen Aberglauben? Warum denn? Will man an etwas glauben, dann doch am sinnvollsten an sich selbst. »Die Kritik der Religion«, schrieb Karl Marx 1844, »endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« Ähnliches vertrat Ludwig Feuerbach: »Ist das Wesen des Menschen das höchste Wesen, so muss auch praktisch das höchste und erste Gesetz die Liebe des Menschen zum Menschen sein.«

Und wer kennt nicht die salbungsvollen Schwätzer, die behaupten, die Kirchen täten »doch so viel Gutes«? Aber ihre karitativen Institutionen finanziert der säkulare Staat, der Steuerzahler, und dabei beharren die Kirchen auf eigenem Arbeitsrecht – bilden einen Staat im Staate –, kassieren zusätzlich Kirchensteuer und sammeln Spenden. Sie indoktrinieren Kinder und Schüler mit erlogenem Unfug. Sollen wir dafür dankbar sein? Warum denn?

Religionen haben nie etwas Gutes getan und tun es bis heute nicht. Schauen wir uns um. Der polnische Präsident Duda beschreit die katholische Familientradition und pöbelt, unterstützt durch faschistische Horden, gegen sexuelle und andere Nonkonformisten. In Brasilien terrorisiert die klerikalfaschistische Bolsonaro-Despotie das Land mit der neokonservativen Familie-Patriotismus-Nationalismus-Ideologie evangelikaler Kirchen – denen Bolsonaro 4,9 Millionen Euro für Medienpropaganda zugeschanzt hat –, kombiniert mit einem volksfeindlichen ökonomischen Neoliberalismus-Projekt, das auf die Atomisierung aller Sozialstaatlichkeit abzielt. Was die USA betrifft, kann Trumpelstilzchen ohne evangelikalen Hintergrund gar nicht verstanden werden. Bolivien: »Übergangspräsidentin« Jeanine Áñez – natürlich eine evangelikale Putschistin – hat, die Bibel schwingend, rechtlich gleichgestellte Ureinwohner »satanischer Riten« bezichtigt (ist aber am 18. Oktober 2020 erfreulicherweise abgewählt worden). Jahrzehntelang kannte man Indiens Hindus als friedliche Räucherkegel-Einäscherer, heute darf die Welt zusehen, wie sie Frauen vergewaltigen und anschließend verbrennen. Vermutlich war es immer so, bloß hat George Harrison es nicht mitgekriegt. Die Krawalltruppen der hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP sind so dumm, dass sie im Juni 2020 ankündigten, ein Bild des »chinesischen Präsidenten Kim Jong Un« abzufackeln, obwohl Kim Jong Un in Wirklichkeit in Korea Vorsitzender der Partei der Arbeit ist. Auch was der Islam anrichtet, ist allgemein erkennbar. Siehe Türkei, siehe Daesh, siehe Saudi-Arabien: Diktatur, Massaker, Kopf-ab-Justiz. Und selbst die Buddhisten sind dafür bekannt, dass einige Sekten mit zahllosen »Höllen« drohen, gegen die Dantes Inferno als Ponyhof gelten darf. Dankeschön. Die Beispiele ließen sich vermehren.