Novellin - S.G. Maxwell - E-Book

Novellin E-Book

S.G. Maxwell

4,8

Beschreibung

In der heutigen Moderne sind Wunder gänzlich ausgestorben. Sämtliche Magie ist aus der Welt verschwunden, da alles erklärbar zu sein scheint, doch weit gefehlt. Diese Erfahrung muss auch Marie machen, die sich plötzlich mit ihrem Schutzengel Novellin, auf einer abenteuerlichen, traumwandlerischen und ergreifenden Reise durch die Zeit befindet. Ihre Mitfahrglegenheit ist ein durch die Nacht fliegender Zug, der für Verlorene, Lebensmüde und Todunglückliche seine Türen öffnet. Bitte einsteigen und Willkommen im Zug der Wunder.

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Seitenzahl: 248

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Die Charaktere und Geschehnisse im Roman sind frei erfunden.

Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen

sind rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 1

Es ist ein kühler und noch dunkler Dienstagmorgen, als Marie Helm die Straßen der Innenstadt von Berlin durchquert. Keine Menschenseele kommt ihr entgegen, es ist nichts zu hören in der Nähe, außer dem Geräusch ihrer hohen Schuhe, die auf dem Pflaster der Fußgängerzone wieder hallen. Sie ist vollkommen allein mit sich und ihren Gedanken, die sich um ihre Arbeit drehen. Marie Helm ist 27 Jahre alt, hat schulterlange schwarze Haare und eine sportliche Figur. Sie arbeitet seit sieben Jahren für die Zeitschrift Global-Welt-Geschehen. Angefangen hat sie als Praktikantin, sozusagen als Mädchen-für-Alles. Von Botengängen, über Tischreservierungen, bis hin zu Abklärungen von Fotoshootings, war zu jenem Zeitraum alles dabei. Nach der Probezeit wurde ihr eine Festanstellung als Reporterin angeboten. Sie begann, über soziale und politische Entschlüsse zu schreiben und Interviews mit ranghohen Mediengrößen zu führen. Nach einiger Zeit merkte ihr Chef, welches Potenzial in ihr steckte, was ihn dazu veranlasste, sie in jeder erdenklichen Hinsicht zu fördern. Seit mehr als vier Jahren ist sie ein wichtiger Eckpfeiler für Global-Welt-Geschehen. Marie geht vollkommen in ihrer Arbeit auf. Für sie ist es selbstverständlich, früher in die Arbeit zu kommen und später nach Hause zu gehen. Erfolg zu haben, ist der wichtigste Bestandteil in ihrem Leben. „Wie sonst sollte man Chefredakteurin werden?“, stellt sie sich selbst rhetorisch die Frage und verschwindet in einer Nebenstraße. Ihr Blick wandert zu ihrer Armbanduhr. Es ist sieben vorbei. Sie setzt einen Gang zu. Ihre Augen fallen auf die geschmückten Fenster der Hochhäuser um sie herum und den meterhohen geschmückten Tannenbaum am Marktplatz. Obwohl es der Tag vor Weihnachten ist, hat es kein bisschen den Anschein, als ob es bald schneien würde. Für einen kurzen Moment denkt sie an ihre Familie in Bayern und ob sie schon Schnee haben. „Wenn es so wäre, hätte mir Mum bestimmt davon erzählt“, bestätigt sie sich selbst und kommt vor einer Fußgängerampel, die Rot zeigt, zum Stehen. Ein ungutes Gefühl macht sich in ihrer Brust breit, bei dem Gedanken, Weihnachten wieder allein und Hunderte Kilometern entfernt von Zuhause zu verbringen. Es ist das vierte Jahr in Folge, wo Marie über die Feiertage, am Jahresrückblick der Zeitschrift arbeitet, anstatt die Zeit mit ihrer Familie zu verbringen. Nur noch dieses Jahr redet sie sich selbst ihr schlechtes Gewissen aus. Dieses Jahr bin ich noch einmal alleine, aber nächstes Jahr, wenn ich Chefredakteurin bin, wird alles anders.

Die Ampel hüpft auf grün. Hastig macht sich Marie auf den Weg. Ihre Gedanken kreisen um Heino Klausen, ihrem stärksten Förderer und Chef bei Global-Welt-Geschehen. Der Mann hat nur noch ein paar Monate, bevor er in den Ruhestand geht. Herr Klausen hat Marie schon vor längerer Zeit offenbart, dass er sie durchaus als seine Nachfolgerin sehen könnte, da sie sowieso schon den größten Teil seiner Arbeit macht.

Aus der Ferne kann Marie schon die komplette Glasfront von Global-Welt-Geschehen sehen. Es ist ein Geschäftsgebäude mit 10 Stockwerken. Nur zu gut kann sich Marie an ihr ersten Tag erinnern, als sie davor stand. Es war beeindruckend und beängstigend zu gleich. Sie war ein junges Mädchen aus einem kleinen Dorf im Bayerischen Wald. Sie wusste nichts von der Welt und war zum ersten Mal auf sich ganz alleine gestellt, in einer fremden Großstadt, kilometerweit entfernt von Zuhause. Obwohl es Jahre her ist, fühlt es sich an, als ob es gestern erst gewesen wäre, die opulente Halle des Global-Welt-Geschehen zu betreten. Darüber muss Marie schmunzeln. Wie die Zeit doch vergeht.

Vor der Eingangstür, die komplett aus Glas besteht, hält sich ein Mann verkleidet als Nikolaus auf, der mit seiner Weihnachtsglocke klingelt und „Helfen Sie den Benachteiligten und Mittellosen!“ ruft. Marie zuckt ihr Portmonee aus ihrer Designertasche und steckt dem Mann einen Zwanzig-Euro-Schein zu.

„Vielen Dank.“ Der Mann nickt ihr zu. „Und frohe Weihnachten.“

Marie erwidert seinen Gruß und lächelt milde. „Ihnen ebenfalls.“ Sie drückt mit ihrer Hand gegen die Glastür. In Handumdrehen steht sie in einer cremefarbig gefliesten Halle mit einer schwarzen Sitzgelegenheit rechts vom Eingang. Ihre Augen fallen auf den Empfangstresen, der wie üblich noch unbesetzt ist.

Marie will sich schon auf den Weg zu den Fahrstühlen machen, die sich dahinter befinden, als eine Männerstimme sie begrüßt: „Guten Morgen Frau Helm!“

Marie dreht sich in die Richtung, von der die Stimme kommt. Ein Mann im blauen Overall steht in unmittelbarer Nähe. In seiner rechten Hand hält er einen Putzeimer. „Guten Morgen Stefan!“ Sie geht auf den Mann zu. „Wie geht es Ihnen?“

„Könnte nicht besser laufen.“ Er stellt den Eimer ab und fasst sich an seine blaue Mütze, die er sich zurechtrückt. „Und Ihnen?“

„Kann nicht klagen.“ Sie lächelt milde. „Wie ich sehe, waren Sie schon wieder fleißig am Arbeiten.“ Mit ihrer Hand deutet sie auf die blitzsaubere Fensterfront. „Wenn es die Zeit erlaubt, könnten Sie auch meiner Wohnung einen Besuch abstatten“, scherzt sie.

„Wenn Sie mich danach zu Kaffee und Kuchen einladen, gerne.“ Stefan erwidert ihr Lächeln. „Wir sind doch immer fleißig Frau Helm, so wie Sie.“ Plötzlich taucht sein Partner auf, der dieselbe Arbeitskleidung trägt.

„Ich fange erst zu arbeiten an.“ Marie nickt dem Mann mit Pferdeschwanz zu. „Guten Morgen, Roberto!“

„Schon wieder so früh auf den Beinen, Frau Helm?“, fragt der Mann mit leichtem Akzent.

„Sie haben es erfasst.“ Marie verstaut ihre Hände in der Manteltasche. „Wie geht es Ihnen?“

Roberto reibt sich seine Hände an seinem Overall. „Könnte nicht besser laufen und Ihnen?“

Sie zuckt mit ihrer Schulter. „Man lebt so dahin.“ Ihre Augen wandern zur Uhr, die sich über dem Empfangstresen befindet. Es ist nach halb acht. „Jetzt aber los!“ Sie setzt zum Gehen an, als ihr etwas in Erinnerung kommt. „Bevor ich es vergesse. Ich soll Ihnen von Herrn Klausen ausrichten, dass Sie nach getaner Arbeit beide in seinem Büro erscheinen sollen.“

„Weswegen?“ Unsicherheit macht sich in Robertos Gesicht breit. „Ist er nicht zufrieden mit uns?“

Marie winkt beschwichtigend ab. „So ein Unsinn. Heino lobt Sie und Stefan in den höchsten Tönen. Sie sind das Beste, was ihre Reinigungsfirma zu bieten hat, wenn man an die beiden Vorgängerinnen denkt.“

„Naja, was Frauen können, können Männer erst recht. Meistens sogar besser.“

„Nur nicht übermütig werden, Roberto“, rügt Marie ihn scherzhaft.

„Weswegen müssen wir denn dann zu Ihrem Chef?“

„Naja.“ Maries Stimme wirkt auf einmal verschwörerisch. „Es ist immerhin Weihnachten.“

Stefans linke Augenbraue hebt sich vielsagend. „Ah ich verstehe.“

Ohne weiter auf den Mann zu achten, geht Marie durch die Empfangshalle, zu den vier Fahrstühlen von denen sich jeweils zwei auf einer Seite befinden. Alle stehen sie offen. Marie steigt zu dem Ersten links zu und drückt den Knopf der siebten Etage. Sie lehnt sich gegen die Wand und wartet auf das schließen der Fahrstuhltür. Sie räuspert sich und fasst an ihren steifen Nacken. Mit sanften Kreisen, versucht sie die Spannung darin zu lösen.

Es dauert noch einige Sekunden, bis der Lift in ihrer Ebene angekommen ist und sich die Türe öffnet. Hastig steigt Marie aus und geht den langen, schmalen Korridor entlang, vorbei an mehreren offenstehenden Türen. Bei der angelehnten Tür zum Konferenzraum hält sie inne. Die Tische sind zu einer U-Form aufgebaut und an jedem stehen drei Teller mit Gebäck, wie üblich am Vorweihnachtstag. Wieder schleicht sich Bedauern in ihr Unterbewusstsein. Der Gedanke, die nächsten Tage allein hier zu verbringen, während alle anderen das Fest der Feste feiern, ist niederschmetternd. Marie verwirft ihre Gedanken. „Nur noch dieses Jahr, danach bin ich die Chefredakteurin.“ Diese Erkenntnis bringt sie zum Strahlen. Ein Traum geht für sie in Erfüllung, wenn man an die große Verantwortung denkt, die ihr in jungen Jahren zu teil werden wird. Wenn Heino Klausen in Pension geht, hat sie die Spitze der Karriereleiter erreicht und das mit gerade mal 27 Jahren. Das Geräusch der Fahrstuhltür reißt sie aus ihren Gedanken. Hastig geht sie weiter den langen Flur entlang. Vor einer der letzten grauen Türen hält sie inne. Seitlich ist ein Schild angebracht mit ihrem Namen. Marie fasst nach dem Türgriff und drückt ihn hinunter. Ihr Büro ist einfach gehalten. Mit einem Schreibtisch in der Mitte, ihrem Platz dahinter und zwei Stühlen davor. An den Wänden hängen Bilder, in denen ihre Erstausgabe und ihr erster Leitartikel eingerahmt sind. Eine Wand ist mit einem kompletten Regal hochgezogen, in dem sich mehrere Stapel Zeitschriften und Ordner befinden. Die Seite hinter ihrem Schreibtisch ist eine komplette Fensterfront, aus der man einen schönen Blick auf den Marktplatz hat. Marie schält sich aus ihrem schwarzen Mantel und hängt ihn an den Garderobenständer hinter der Tür. Sie streift ihre weiße Bluse und die schwarze Anzughose glatt. Mit ihrer Tasche bepackt, geht sie hinter ihren Schreibtisch und nimmt Platz. Während sie den Computer hochfahren lässt, holt sie ihr Handy aus der Tasche. Sie legt es beiseite und studiert ihren Account. Mehrere Mails sind in ihrem Postfach. Mit ihrem Zeigefinger auf der Maus klickt sie die Erste an. „Bewerbung um eine Praktikumsstelle bei Global-Welt-Geschehen“, liest Marie den Betreff vor sich hin. „Sehr geehrte Damen und Herren.“ Marie atmet tief ein. „Oh Mann, wenn ich diesen Satz schon lese.“ Ihr Ton wirkt genervt. Nur noch halbherzig liest sie die Bewerbung. „Würde ich mich um ein Vorstellungsgespräch bei ihnen freuen.“ Marie wirkt irritiert. Sie liest den Satz erneut und schnaubt verächtlich. „Ihnen schreibt man bei einer Bewerbung groß, und wenn es wirklich so wäre, dann würdest du wissen, an wem du die Bewerbung schicken musst. Steht doch alles auf unserer Homepage.“ Für einen kurzen Augenblick glaubt Marie, zu hart zu dem jungen Mann zu sein, bevor sie jedoch einknickt, denkt sie an ihre eigene Zeit bei Global-Welt-Geschehen. Es war ein schwerer Gang, umso weit zu kommen und es wurde ihr nichts geschenkt. Sie musste einiges opfern, um unentbehrlich zu sein. Ihr Finger schwebt über der Löschen-Taste. Unbehagen macht sich in ihr breit. „Was machen wir nur mit dir?“ Plötzlich meldet sich ihr Unterbewusstsein zu Wort. Wenn du schon Probleme hast, jemanden ungeeigneten auszusondern, ist wohl der Chefposten nichts für dich. Diese Schlussfolgerung bringt Marie dazu, die Mail zu löschen. „Tut mir leid. Es gibt wirklich bessere als dich. Bessere im Sinne von: Ich informiere mich auf der Internetseite von Global-Welt-Geschehen und schreibe meine Bewerbung fehlerfrei.“ Nachdem sie die Mail verworfen hat, klickt sie die Zweite an, in der für Laptops und Handys geworben wird. Ohne die Sendung zu lesen, löscht Marie sie ebenfalls. Ihre Augen wandern zur Armbanduhr. Es ist nach acht. „Ich sollte mich wirklich ran halten, bevor Paula kommt.“ Hastig öffnet sie eine weitere Nachricht in ihrem Posteingang. Ein Schreiben von Philippe Omeganti wird ihr angezeigt. Der Theaterschauspieler schreibt darin, dass er sich sehr geehrt fühlen würde, wenn von ihm ein Leitartikel in Global-Welt-Geschehen erscheint. Der Mann erklärt sich auch zu einem Interview bereit, solange es von einer jungen, blonden, üppig gebauten Reporterin geführt wird. Über seine Forderung kann Marie nur ihren Kopf schütteln. „Typisch Mann!“

Während sie ein Antwortschreiben an ihn verfasst, kommt ihr die perfekte Reporterin für das Interview mit Herrn Omeganti in den Sinn. Sie schreibt auf einen grünen Notizzettel zwei Worte. >Sonja Meindel<

Nachdem Marie das Schreiben an Philippe Omeganti verschickt hat, bearbeitet sie eine Mail nach der anderen und macht sich danach an die Fertigstellung ihres letzten Artikels.

„Guten Morgen, Marie!“, begrüßt eine Frauenstimme sie. Marie blickt über den Computer, zu der Frau im weißen Anzug, die in dem Rahmen ihrer Bürotür steht. Sie ist Brillenträgerin, hat kurze, blonde Haare und ist Mitte vierzig. „Guten Morgen, Paula. Wie geht es dir?“

„Gut.“ Sie blickt auf ihren rechten Arm, über dem ihr grauer Mantel hängt. „Wie lange bist du schon hier?“

Marie schaut auf ihre Uhr. „Seit gut einer Stunde.“

Darüber schüttelt Paula nur ihren Kopf. „Oh Mann deinen Tatendrang möchte ich haben.“ Sie gähnt. „Müsste ich nicht arbeiten, hätten mich keine zehn Pferde aus dem Bett bekommen.“

„Hast du schlecht geschlafen?“, will Marie wissen.

„Wohl eher gar nicht. Josef hat sich die ganze Nacht im Bett gewälzt. Ich habe kein einziges Auge zugemacht.“

„Wenn ich so etwas höre, bin ich froh allein und unabhängig zu sein.“ Marie lehnt sich gegen ihren Stuhl.

„Da gehen unsere Meinungen weit auseinander.“ Paula schenkt ihr ein selbstgefälliges Lächeln. „Ich für meinen Teil finde es besser jeden Morgen zu zweit, als allein aufzuwachen.“

Paulas Seitenhieb versetzt Marie einen leichten Tritt in ihre Magengrube. Der Gedanke, dass der einzig beständige Mann in ihrem Leben, zugleich ihr Chef und engster Freund ist, wirkt plötzlich beschämend auf sie. Es ist nicht so, als ob Marie kein Interesse an Dates hätte, aber ihr fehlt einfach die Zeit dazu. Wie soll sie einen Mann in ihrem Leben unterbringen, wenn sie knapp 15 Stunden am Tag arbeitet? Wie soll sie eine Beziehung aufbauen, wenn sie nie Zeit für ihn hat? Sie zwingt sich zu einem Lächeln. „Unsere Ansichten sind, was das angeht, einfach zu verschieden.“

„Wo du Recht hast, hast du Recht.“ Paula hält ihre Hand hoch. „Gib mir fünf Minuten.“

Marie nickt. „Sind die anderen etwa schon da?“

„Heino war mit mir im Aufzug und Daniel?“ Ihr Blick schweift nach rechts aus dem Türrahmen. „Da ist er ja schon.“ Sie winkt ihm zu.

„Ich komme sofort“, bestätigt Marie ihr, obwohl Paulas Aufmerksamkeit ihr gegenüber gleich null ist. Die Tür fällt ins Schloss und Marie bleibt allein zurück. Hastig schreibt sie die letzten Worte ihres Artikels. Nachdem dieser fertig gestellt ist, macht sie sich auf zu Paulas Büro, das gegenüber von ihrem liegt. Marie klopft an und geht sofort hinein. Paulas Büro ist genau so groß wie Maries, mit dem Unterschied, dass Blumenbilder ihre Wand schmücken und sie nur einen kleinen Schrank hat, auf dem eine Kaffeemaschine steht und fein säuberlich Tassen aufgereiht sind.

Paula lehnt an ihrem Schreibtisch, während ein braunhaariger Mann, mit dem Rücken zu Marie, in einem der Stühle sitzt. „Guten Morgen, Daniel.“ Sie schließt die Tür hinter sich.

Der Mann dreht sich samt Stuhl ihr zu. „Guten Morgen, Marie.“ Er trägt ein schwarzes Hemd und dazu eine graue Hose. „Du siehst gut aus.“

„Danke.“ Marie schenkt ihm ein flüchtiges Lächeln und wendet sich sofort Paula zu. „Wo ist Heino? Dachte, er wäre mit dir im Aufzug gewesen.“

„War er auch.“ Paula fasst hinter sich. „Hier.“ Sie reicht Marie eine Tasse. „Keine Ahnung, er war irgendwie komisch.“

„Komisch?“, wiederholt Daniel.

„Ja. Er war wortkarg und unruhig. Weiß der Geier, was mit ihm wieder los ist.“

„Vielleicht hat er vergessen, Weihnachtsbesorgungen zu machen“, scherzt Daniel und tippt auf seinem Handy rum.

„Das wird es sein.“ Marie lächelt notgedrungen. „Hast du ihn darauf angesprochen?“ Sie nippt an ihrer Tasse und lehnt sich gegen das Schränkchen.

„Neben mir wäre auch noch ein Platz frei Marie“, fällt Daniel Paula ins Wort. „Oder hast du Angst ich könnte dich beißen?“

Nur ungern lenkt Marie ihre Aufmerksamkeit weg von Paula und Daniel zu. „Hättest du wohl gern. Mit dir halben Portion, werde ich locker fertig.“ Sie zwingt sich zu einem Grinsen, da ihre Worte härter klingen als beabsichtigt. „Im Übrigen habe ich deinen überarbeiteten Artikel noch nicht bekommen.“

„Und?“ Daniel zuckt mit seinen Schultern. „Es ist der Tag vor Weihnachten. Heute steht nicht viel auf dem Programm, außer der Weihnachtsfeier.“

Maries Stirn liegt in Falten. „Was genau willst du mir damit sagen?“

Daniel grinst über beide Ohren. „Ich habe noch genug Zeit um ihn fertigzustellen. Du bekommst ihn gegen Mittag.“

„Ach so“, spielt Marie die Einsichtige. „Gott sei Dank. Ich habe ja sonst keine Termine, die ich wahrnehmen muss.“

„Marie!“ Paula boxt sie sanft gegen die Schulter. „Sei doch nicht so.“

Der scharfe Tonfall von Marie entgeht Daniel nicht. „Ähm…?“

„Schon gut. Zeit ist nun mal ein Luxus, den sich nicht jeder leisten kann“, setzt sie noch nach und wechselt das Thema. „Also hast du Heino darauf angesprochen, warum er schlecht drauf ist?“ Ihre Augen sind auf Paula gerichtet.

Sie gibt sich ahnungslos. „Er meinte nur: Ihr werdet es noch früh genug erfahren und wusch….war er schon raus aus dem Lift.“

„Komisch“, bestätigt nun auch Marie. „Ihr werdet es noch früh genug erfahren? Dann hat es mit uns allen zu tun“, schlussfolgert sie.

Paula trinkt aus ihrer Tasse. „Egal was es sein wird, wir werden es bei der Weihnachtsfeier erfahren.“ Sie geht um ihren Schreibtisch rum. „Wenn die doch schon vorbei wäre“, seufzt sie und nimmt Platz. „Fünf Tage nichts hören von Fotoshootings und Abgabeterminen, ein Traum wird wahr.“

„So schlimm ist es doch gar nicht“, hält Marie dagegen.

Paula verdreht ihre Augen. „Sei mal so lange in diesem Beruf wie ich, dann Reden wir weiter Schätzchen. Es ist ein Gottesgeschenk, dass die Feiertage vor dem Wochenende fallen. Es ist wie eine Woche Urlaub.“ Sie zwinkert Daniel verschwörerisch zu. „Oder?“

„Oh ja“, stimmt dieser mit ein.

„Zumindest für die Meisten von uns“, erinnert Marie sie daran, dass sie die Feiertage über arbeiten wird.

„Dazu sage ich mal nichts, Marie!“, meint Paula mit Ironie in ihrer Stimme. „Dass du den Jahresrückblick deiner Familie vorziehst, ist mir unbegreiflich und das schon zum vierten Mal. Wärst du meine Tochter, würde ich dich nach Hause prügeln.“

Darüber muss Marie lachen. „Meine Eltern haben Verständnis dafür. Sie wissen, dass es nicht ewig so sein wird. Sie kennen mein Ziel und stehen hinter mir.“

„Und dafür bewundere ich sie auch.“ Paula nippt an ihrer Tasse.

„Wer kennt dein Ziel nicht!“, wirft nun Daniel ein. Er stellt seine leere Tasse am Schreibtisch ab. „Frau Chefredakteurin.“ Sein Gesichtsausdruck wirkt herausfordernd.

„Höre ich da einen leichten Anflug von Missgunst aus deinen Worten?“, spielt Marie sein Spiel mit. „Oder ist es dir unangenehm, unter einer Frau zu arbeiten?“

„Von Missgunst kann keine Rede sein und was das andere angeht.“ Seine Gesichtszüge wirken auf einmal verschwörerisch. „Ich habe kein Problem unter dir zu arbeiten. Im Gegenteil es wäre mir ein Vergnügen.“

Der vielversprechende Ton in seinen Worten entgeht Marie nicht. Mit einem irritierten Stirnrunzeln will sie kontern, als Paula ihr ins Wort fällt. „Vielleicht ist das die Neuigkeit, die er uns mitzuteilen hat?“ Mit ihrem Zeigefinger tippt sie gegen ihre Stirn, als ob ihr gerade ein Licht aufgegangen wäre. „Warum bin ich darauf nicht früher gekommen. Du bist seine rechte Hand und das schon seit Jahren. Auf dich ist immer Verlass, und da du sowieso schon den größten Teil seiner Arbeit machst, ist das der naheliegende Schritt. Heino wird nächstes Jahr in Rente gehen und du wirst seine Nachfolgerin werden.“

Marie ist irritiert. „Das glaube ich eher nicht.“

„Warum denn nicht?“, will sie wissen.

„Weil die Weihnachtsfeier ein ungünstiger Zeitpunkt wäre, umso eine Neuigkeit zu verkünden“, stellt Marie klar. „Außerdem: Wer sagt dir, dass ich die Einzige im Rennen um den Chefposten bin? Vielleicht hat Heino noch andere Eisen im Feuer.“

„Blödsinn. Sei bloß nicht so bescheiden“, tadelt Paula sie. „In den letzten Jahren hattest du weder Urlaub, noch die großen Feiertage frei. Du warst immer hier und das tagein tagaus. Du hast den Posten verdient, dass weiß jeder und du arbeitest ja auch seit Jahren darauf hin.“

„Das will ich gar nicht abstreiten.“ Marie geht um Daniel herum und nimmt neben ihm Platz. „Aber trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass das die Neuigkeit ist, die Heino zu verkünden hat. Warum sollte er deswegen beunruhigt sein?“

„Da ist was Wahres dran“, lenkt Paula ein. „Hmm…?“ Für einen kurzen Moment herrscht Stille im Raum. Alle sind mit ihren Gedanken beschäftigt, die sich um Heinos seltsames Verhalten drehen.

„Vielleicht ist er krank, oder hat Probleme mit seiner Frau?“, durchbricht Paula die Stille.

„Könnte sein“, bestärkt Marie ihr Gerede. „Sein Herzleiden ist schlimmer geworden. Er war deswegen auch schon mehrmals beim Arzt.“

„Der hat aber nichts gefunden“, erinnert sich Paula.

„Der letzte Befund steht noch aus.“ Marie blickt auf ihre Armbanduhr. „Jetzt wird es aber langsam Zeit.“

Paula reagiert nicht darauf. „Gott, hoffentlich ist es nichts Ernstes.“

„Nichts Ernstes?“ Ungläubig schaut Marie sie an. „Es ist das Herz Paula.“

„Das ist mir bewusst, danke trotzdem für die Erinnerung“, blökt sie zurück. Ihre Gesichtszüge werden wehleidig. „Armer Heino und was wird seine Frau dazu sagen?“

„Leute!“, schaltet sich nun Daniel ein. „Ihr wisst doch gar nicht, was mit ihm los ist. Wartet doch erst einmal ab, bevor ihr den Teufel an die Wand malt. Wir hören es doch gleich.“

„Gleich?“ Paulas Augen weiten sich. Sie blickt auf ihren PC-Monitor. „Oh, schon so spät?“ Eilig kommt sie von ihrem Platz hoch und geht zu ihrem Schrank. Sie öffnet die Tür davon und stellt die benutzte Tasse in einen Korb.

„Soll ich deine mitnehmen?“ Daniel hält seine Hand auf, als er von seinem Platz hochkommt.

Marie leert eilig ihre Tasse. „Danke.“ Sie reicht sie ihm.

Auf flinken Sohlen machen sich alle drei auf den Weg raus aus Paulas Büro. Sie gehen den Weg zum Aufzug zurück und machen am Konferenzraum halt. Gelächter dringt daraus. Daniel fasst nach dem Türgriff und drückt ihn hinunter.

Kapitel 2

Eine Horde von Frauen und Männern sitzen in U-Form auf den Plätzen. Heino Klausen steht vor ihnen. Er ist ein stämmiger Mann im schwarzen Anzug, mit grauen Haaren und Brille. Seine Aufmerksamkeit wandert zu den Neuankömmlingen. Er nickt ihnen kurz zu. Marie erwidert es und hält Ausschau nach einem freien Platz. Am Ende des Raumes, bei den Fenstern sind noch zwei und einer befindet sich an der Spitze der Tischaufstellung. Daniel und Paula gehen auf die Nebeneinanderliegenden zu. Marie hält kurz inne. Bei dem Gedanken an der Spitze zu sitzen, fühlt sie sich unwohl. Sie schließt die Tür hinter sich und geht rechts an den belegten Plätzen vorbei. Manche ihrer Arbeitskollegen nicken ihr mit einem milden Lächeln zu.

„Guten Morgen“, flüstert sie und nickt vereinzelt. Am Ende des Raumes, bei einem hüfthohen Schrank kommt Marie zum Stehen. Sie lehnt sich dagegen und richtet ihre Aufmerksamkeit auf Heino, der wie angewurzelt dasteht. Sein Kopf deutet auf den freien Platz links neben sich. Marie schüttelt nur ihren Kopf.

„Ok.“ Er atmet lautstark ein. „Da es nun auch die Letzten geschafft haben, kann ich nun endlich anfangen“, scherzt er, doch sein Grinsen wirkt gestellt. „Es kommt mir so vor, als ob es erst gestern gewesen wäre, dass ich mein Praktikum bei Global-Welt-Geschehen begonnen habe. Ich war keine zwanzig Jahre alt und doch wusste ich genau, was ich machen wollte.“ Heinos Ansprache irritiert Marie. Sonst redet er nur immer über das vergangene Jahr und welche Gewinne oder Verluste sie erzielt haben, aber heute? Heute redet er über sich und seine Stellung bei Global-Welt-Geschehen. Könnte Paula recht behalten? Stellt Heino heute den neuen Chefredakteur vor? Gespannt lauscht sie weiter seiner Ansprache. „Ich wollte über die Geschehnisse aus aller Welt berichten. Ich wollte die Menschen informieren, sie zum Nachdenken anregen. Von dem Aufkommen der neusten Techniken, über die sozialen Unterschiede von Reich und Arm, bis hin zu den unglaublichsten Geschehnissen aus aller Welt, war ich überall dabei.“ Marie atmet bei seinen Worten angestrengt ein. „Das Team mit dem ich zusammengearbeitet habe, bestand zu meiner Anfangszeit in den siebziger Jahren, gerade mal aus zwölf Personen. Wenn ich an die Flut der Neuigkeiten denke, die uns in den letzten Jahren tagtäglich überrollt hat, ist das kaum vorstellbar. Die Arbeit früher war hart, meine Vorgesetzten unberechenbar und doch biss ich mich mit Engagement und meiner Gabe mit Worten umzugehen, bis an die Spitze von Global-Welt-Geschehen durch. Ich habe viele Schlagzeilen geschrieben und einige Skandale in den letzten 44 Jahren aufgedeckt. Ich hatte das Glück mit Menschen zusammenzuarbeiten, die meine Leidenschaft teilten. Auch jetzt noch, wo die meisten längst im Ruhestand sind, bin ich froh um euch alle.“ Mit seinem Zeigefinger deutet er in die Menge. „Ihr seid meine Familie.“ Er atmet schwer ein. „Aus diesem Grund fällt es mir auch sehr schwer …“ Heino bricht mitten im Satz ab. Er legt seine Hände auf die Hüften und schließt seine Augen. Es ist ihm anzusehen, dass es kein leichter Gang für ihn ist. Plötzlich richten sich mehrere Augenpaare auf Marie. Obwohl sie nichts sagen, kann man ihre Gedankengänge von den Gesichtern ablesen. Sie alle glauben, was Paula schon im Büro schlussfolgerte.

Mehr als ein entschuldigendes Lächeln bringt Marie nicht auf. In diesem Moment ist es ihr mehr als nur peinlich. Für einen kurzen Augenblick kommt ihr der Neid ihrer Arbeitskollegen in den Sinn, dass sie ihr den Posten nicht gönnen, ihn ihr gar übel nehmen.

Phil, ein Mann Mitte fünfzig, nickt ihr respektvoll zu. Erleichterung überkommt Marie. Sie erwidert seine Geste und beißt sich auf die Unterlippe.

„Es fällt mir sehr schwer euch allen mitzuteilen…“, hat nun Heino seine Stimme wiedergefunden. „…das Global-Welt-Geschehen im neuen Jahr, nicht mehr in den Zeitschriftenregalen erscheinen wird.“ Heinos Stimme verebbt. Sein Blick ist wachsam.

Keiner regt sich, auch Marie nicht. Sie steht verdutzt da und lässt sich seine Rede nochmal durch den Kopf gehen.

„Was willst du uns damit sagen?“, wirft nun eine Frauenstimme ein.

Maries Augen sind auf Heino geheftet. Sie kann sein Gerede noch immer nicht klar deuten.

Heino kratzt sich nervös am Kinn. „Ich will damit sagen: Dass der Vorstand entschieden hat, Global-Welt-Geschehen ab Februar einzustellen.“

„Was?“ Panisches Luftschnappen erfüllt den Raum. Plötzlich reden alle entsetzt durcheinander.

„Bitte immer einer, nach dem anderen!“, versucht Heino die Menge zu beschwichtigen, die wie wild auf ihn einredet. „Ich verstehe ja mein eigenes Wort nicht.“

Nach einigen Sekunden, senkt sich der Lautstärkepegel etwas.

„Ja Miriam?“ Heino deutet auf eine blonde Frau mit Brille.

„Warum? Ich verstehe nicht ganz. Wieso wird die Zeitschrift abgesetzt?“, will sie wissen.

„Die genauen Beweggründe wurden schriftlich in einer E-Mail niedergeschrieben, die an alle Mitarbeiter gesendet wurde. Ihr habt sie erhalten, während wir hier sitzen.“ Heino räuspert sich abfällig. „So viel sei gesagt: Die Auflagen in den letzten Jahren haben sich zunehmend gemindert. Allein dieses Jahr, haben wir Einbußen in Millionenhöhen erzielt. Der Vorstand sah keine andere Möglichkeit, als Global-Welt-Geschehen dichtzumachen.“ Wieder senkt sich Panik im Raum. Aufgebracht reden alle durcheinander. „Es tut mir leid. Ich weiß, für viele ist es ein Schock, aber an diesem Zustand, kann man nichts mehr ändern. Der Vorstand bedauert es ebenfalls, gerade um die Weihnachtszeit, mit einer solch schmerzlichen Neuigkeit zu kommen.“ Heinos Stimme wirkt verachtend. „Geschäft ist nun mal Geschäft und Geld regiert die Welt.“

„Ab Februar? Das sind gerade mal sechs Wochen“, stellt nun eine Männerstimme fest.

Marie steht die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Die Arbeitslosigkeit ab Februar scheint ihr langsam zu dämmern. Ihr Augenmerk fällt auf Paula, die sie entsetzt mustert. Sie übergeht ihren Blick.

„Wie gesagt: Es tut mir leid.“ Heinos Gesichtsausdruck wirkt gequält. Man sieht ihm sein Unbehagen an. Der Vorstand hat diesen Entschluss getroffen und ihn den Wölfen zum Fraß vorgeworfen.

„Aber?“ Ein dickbäuchiger Mann steht von seinem Stuhl auf. „Ich arbeite seit zwanzig Jahren hier, Heino.“

„Ich weiß Karl. Ich kann nicht mehr, als mich entschuldigen.“ Für einen kurzen Moment steht er nur da. Sein Blick schweift durch den Raum und bleibt bei Marie hängen. Er nickt ihr kurz zu und formt stumm etwas mit seinen Lippen.

„Was?“, flüstert Marie.

Heino nimmt keine weitere Notiz von ihr und wendet sich ab. „Hört zu Leute: Das alles ist kein Weltuntergang. Global-Welt-Geschehen ist nicht die einzige Zeitschrift in der Stadt. Es gibt viele Chefredakteure, die euch nur zu gern beschäftigen würden.“ Seine tröstenden Worte prallen an Marie ab. Immer noch ist sie wie versteinert. „Wie gesagt, alles Weitere steht in der E-Mail, die an jeden von euch verfasst wurde.“ Er dreht sich zur Tür und geht raschen Schrittes darauf zu. Bevor er aus dem Raum verschwindet, hat nun auch Marie sich aus ihrer Starre gelöst. Eilig kommt sie ihm hinterher.

Heino ist Richtung Fahrstuhl unterwegs. Er übergeht ihren Ruf. Mit zügigem Tempo geht sie ihm nach.

Er tippt mehrmals auf den Fahrstuhlknopf.

„Heino?“ Marie kommt neben ihn.

„Bitte Marie, lass mir eine Minute Zeit. Es war nicht leicht für mich, vor euch allen diese Neuigkeit zu verkünden.“ Die Aufzugtür öffnet sich. Heino geht hinein. Marie folgt ihm. „Ich bitte dich. Gib mir nur einen Moment.“ Er lehnt sich gegen die Aufzugswand.

„Einen Moment?“ Marie ist baff. „Du hast uns gerade allen erklärt, dass wir in einem guten Monat arbeitslos sind. Wo war unser Moment? Wo war da mein Moment, um die Sache verdauen zu können?“ Sie geht auf und ab. „Ich fasse es nicht.“

„Es tut mir leid, Marie“, Heinos Stimme bebt vor Aufrichtigkeit.

„Das hast du schon gesagt“, blafft sie ihn an. „Als ob diese vier kleinen Worte, etwas ändern würden.“ Nervosität macht sich in ihr breit. „Ich verstehe es immer noch nicht. Warum machen wir den Laden dicht?“

„Die genauen Beweggründe stehen alle in der E-Mail, die vom Vorstand verfasst wurde“, erklärt Heino.

„Ich will es aber von dir hören“, weist sie ihn an. „Was interessiert mich der Vorstand. Ich habe mit keinen von denen jemals richtig gesprochen. Du warst für mich immer der Ansprechpartner. Du hast mich eingestellt und gefördert.“ Sie stellt sich vor ihn. „Ich will es aus deinem Mund hören.“ Die Aufzugtür geht auf. Heinos Blick wandert von Marie, zu der offenen Tür hinter ihr. „Wage es nicht, mich hier stehen zu lassen“, droht sie ihm.

„Gut, dann komm mit“, lenkt er ein.

Eiligen Schrittes treten sie aus dem Lift und gehen Richtung Ausgang. An der Sitzgelegenheit rechts davonkommen sie zum Stehen. „Setz dich.“

„Dafür bin ich zu aufgeregt.“ Marie stellt sich neben den schwarzen Sessel, in dem Heino Platz nimmt. „Also?“

Heino räuspert sich. „Wie ich es oben schon erklärt habe, unsere Auflage ist in den letzten Jahren zunehmend zurückgegangen und dieses Jahr ist sie vollkommen eingebrochen. Wir erzielen nur noch Verluste. Es gibt Zeitschriften und Zeitungen, die uns meilenweit voraus sind. Selbst dieses Käseblatt, was jeden zweiten Tag in den Briefkästen von ganz Berlin liegt, hat mehr Leser.“