Ein Sommer auf der Straße - S.G. Maxwell - E-Book

Ein Sommer auf der Straße E-Book

S.G. Maxwell

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Beschreibung

Kati ist eine lebenshungrige Frau von 19 Jahren. Trotz ihres sorglosen Lebens spürt sie eine Leere darin. Dieses quälende, jeden Tag sinnlos erscheinend lassende Gefühl, ist zu jedem Zeitpunkt gegenwärtig. Aus diesem Grund steht sie Freitagabend auf einem bekannten Straßenstrich. Ihr heiles, abgesichertes Leben, trifft auf die brutale Welt des Straßenstrichs, wo die Freier ihr und den anderen Prostituierten nichts schenken. Sara, eine der anschaffenden Frauen wird ihre Vertraute und in Thomas Winkler, der ihr erster Freier werden sollte, findet sie sogar die Liebe. Kati ist hin und her gerissen, zwischen den starken Gefühlen zu Thomas und dem Drang ihrem Leben einen Sinn zu geben. Doch es kommt alles ganz anderes....

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Die Charaktere und Geschehnisse im Roman sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Ich will nicht gehen,

ohne alles gesehen zu haben.

Ich will nicht sterben,

ohne richtig gelebt zu haben.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 1

Wenn ich an mein bisheriges Leben denke, dann hätte ich es eigentlich nicht nötig. Meine Mutter Anita Stein ist Lehrerin für Mathematik an der Hochschule und mein Vater Georg Stein ist in der Chirurgie tätig, Fachrichtung Kardiologie. Es hat mir weder an materiellen noch an zwischenmenschlichen Dingen gefehlt im Leben. Ich bekam alles, was ich wollte, ohne lange fragen zu müssen. Mein soziales Umfeld hat mich auch nicht auf diese Idee gebracht. Es mangelte weder an wahren Freunden noch an Beziehungen. Ich war immer ein Blickfang für die Jungs an meiner Schule. Sie mochten meine langen schwarzen Haare, meine stahlblauen Augen und meinen blassen Teint. Den ersten Freund hatte ich mit 13. Meine ersten sexuellen Erfahrungen ein halbes Jahr später. Ja, ich wurde wohlbehütet großgezogen mit liebevollen Eltern und Freunden, auf die ich immer zählen konnte. Die für mich die Hand ins Feuer legen würden, genauso wie ich für sie. Auch jetzt noch mit 19 Jahren und meinem Abitur in der Tasche. Was würden sie alle jetzt sagen, wenn sie mich so sehen könnten? Allein schon bei dem Gedanken würden sie die Hände über ihren Köpfen zusammenschlagen. Sie würden mich für verrückt erklären und wegsperren, bis ich wieder bei klarem Verstand wäre.

Mir ist es ebenfalls bewusst: Dass ich fehl am Platz bin. Ich gehöre nicht hierher. Ich falle auf wie ein bunter Hund und doch hat mich mein innerlicher Antrieb hierher gebracht. Hier wirst du finden, was du suchst. Ich suche Antworten. Antworten auf die Leere in meinem Leben, die ich trotz allem Guten darin empfinde. Egal wo ich bin, wo ich mich aufhalte, dieses Gefühl ist bei mir. Es ist bei mir wenn ich mit Freunden shoppe oder ausgehe. Es war im jährlichen Urlaub mit meinen Eltern bei mir, bei meinen Abschlussprüfungen, sogar beim Sex habe ich diese Empfindung verspürt. Es ist ein lähmendes und bedeutungslos erscheinendes Gefühl, als wäre jeder Tag die ewig gleiche Wiederholung vom Vortag.

Auf was man alles kommt, wenn man sich in seiner Haut und in der Situation, in der man sich gerade befindet, nicht wohl fühlt, schießt es mir durch den Kopf. Plötzlich ist da ein Druck auf meinen Schultern, der mich aus meinen Gedanken reißt. Ich schaue hinter mich und sehe zu einer jungen Frau auf. Sie trägt knallroten Lippenstift, eine schwarze enganliegende Lederjacke und einen Minirock, der ihr kaum über das Gesäß reicht. Ihre langen blondierten Haare weisen einen braunen Ansatz auf.

„Entschuldigung hast du eine Zigarette für mich?“ Ihre Hand liegt immer noch auf meiner Schulter.

„Tut mir leid, ich rauche nicht“, sage ich und versuche mich aus ihrem Griff zu lösen.

Die Fremde lässt ab von mir. „Ok, trotzdem danke.“ Ihre Augen wandern auf den freien Fleck neben mir auf der Bank. „Stört es dich, wenn ich mich kurz zu dir setze?“

„Nein“, antworte ich ihr bloß darauf. Eilig nimmt sie neben mir Platz und holt unter ihrem Arm eine kleine Tasche hervor. Sie ist mit bräunlichen Flecken übersät und auch nicht schön ausgearbeitet. Ein Billigprodukt für wenig Geld. Ich betrachte sie bei ihrer Suche darin. Sie zieht ein benutztes Taschentuch hervor. „Da ist es ja“, meint sie zu sich selbst. Immer noch liegen meine Augen auf ihr. Sie erwidert meinen Blick leicht entschuldigend und fängt an das Taschentuch zwischen ihren Händen zu reiben. „Meine Hände sind klebrig, keine Ahnung wovon.“

„Ich hätte Feuchttücher…“, gebe ich ohne nachzudenken zurück. „Wenn Sie wollen?“

Ein leichtes Grinsen breitet sich auf ihrem Gesicht aus. „Die wären natürlich besser.“

Ich fasse in die Tasche auf meinem Schoß und halte ihr ein rechteckiges, blaues Päckchen entgegen. „Nehmen Sie sich so viel Sie brauchen.“

Sie nickt mir kurz zu und zieht eines der Tücher aus der Verpackung. „Danke.“

„Kein Thema“, versichere ich ihr. „Ich bin übrigens Kati.“

„Fiona. Freut mich.“ Wir geben uns die Hand. Mein anfänglicher Versuch, die Frau neben mir besser kennen zu lernen, wird von einem heranfahrenden Wagen zunichte gemacht. Eifrig springt Fiona von der Parkbank auf, nickt mir zum Abschied kurz zu und geht dem mintgrünen Kleinwagen entgegen. Ohne ein Wort steigt sie ein. Der Mann sieht um einiges älter aus. Meiner Meinung nach über 50. Er hat kurzes, leicht gräuliches Haar, ist Brillenträger und lässt sich einen Vollbart stehen. Eifrig betrachten meine Augen das Szenario, schon heult der Motor auf und sie fahren los. Es dauert nur kurz, bis sie um die Ecke verschwunden sind.

„Möchtest du das wirklich? Jetzt könntest du noch gehen“, sage ich zu mir selbst, als mich ein ungutes Gefühl überkommt. Meine Kopfstimme schaltet sich ein und sagt: „Ja. Ich Katarina Stein bin hier, um als Nutte zu arbeiten.“ Ein spöttisches Lachen entfährt mir bei dem Gedanken, hier zu sitzen und Selbstgespräche zu führen. Vielleicht bin ich verrückt? Es hat doch überhaupt keinen Sinn, hier zu sein. Die Ferien beginnen ab heute und in sechs Wochen werde ich in Regensburg Medizin studieren. Durch meinem Vater liegt es mir im Blut und ich will ihm nacheifern. Etwas orientierungslos wandert mein Blick umher. Die Situation von eben hat mich verunsichert. Wäre es nicht besser zu gehen? Ich fasse mir einen klaren Kopf. Nein. Ich bin hier, weil mein Leben sinnlos erscheint, weil ich mich tot fühle in allem was ich tue. Ich brauche es und muss hier sein. Ich verwerfe die Gedanken und lasse meinen Blick auf den leeren Bahnhofsplatz gleiten. Es ist ein geräumiger Parkplatz, auf dem über 80 Autos in vier Reihen parken können. Um ihn herum sind Bäume und Sträucher angepflanzt. Vor einer Stunde waren mehr als eine Handvoll Frauen darauf verteilt, jetzt bin ich alleine. Ich hole mein Handy aus der Tasche. Drei Anrufe in Abwesenheit von meiner besten Freundin Kerstin und eine Nachricht werden mir angezeigt.

Hey Süße!

Wo bist du??????

Hast du vergessen dass wir heute unseren Abschluss feiern?

Wir sind bis 11 im Moonlight und danach geht’s ins Boomarang.

Byebye

PS: Chris hat auch schon nach dir gefragt Bitch

Mmh ... Chris, leider interessiert mich der kein Stück, egal wie sehr er sich um mich bemüht. Er wird nie mehr als einer meiner besten Freunde sein. Wieder spähen meine Augen über den verlassenen Parkplatz. Für heute war es das wohl. Hastig tippe ich eine Nachricht in mein Handy und versende sie.

Heyhey!

Bin schon auf dem Weg.

Bis gleich.

PS: Leck mich Flittchen

Als ich mein Handy in meiner Tasche verstaue und von der Holzbank aufstehe, fällt mir ein Mann ins Auge, der sich nicht weit von mir entfernt aufhält und mich mustert. Er steht nur da und starrt. Da er keine Anstalten macht mich anzusprechen, bekomme ich es etwas mit der Angst zu tun. Was will der bloß? Seine Erscheinung hat etwas Gespenstisches an sich. Mit einem unguten Gefühl und seinem Blick im Nacken gehe ich weg von ihm. Komischer Kauz. Nach ein paar Schritten werfe ich einen Blick über meine Schultern und stelle entsetzt fest, dass der fremde Mann mich verfolgt. Mein Gang wird automatisch schneller und mein Herz fängt vor Angst wild zu schlagen an. Seine Schritte werden lauter. Scheiße! Es gibt keine Aussicht auf ein erfolgreiches Entkommen. Meinem inneren Impuls folgend bleibe ich stehen und drehe mich um. Den Kerl scheint mein Handeln genauso zu überraschen wie mich, denn noch ehe mein Körper sich um hundertachtzig Grad gedreht hat, rempelt er mich schon an. Seine Hände greifen nach mir als mein Gleichgewichtssinn mich im Stich lässt.

„Oh, tut mir leid, das wollte ich nicht“, sagt er etwas zurückhaltend. „Alles in Ordnung?“

„Ja alles okay.“ Meine Füße spüren einen sicheren Halt. Ich trete einen Schritt zurück, um mich aus seiner Umarmung zu lösen und sehe ihn an. Mir gegenüber steht ein Mann mit kurzen braunen Haaren, Dreitagebart, vielleicht Anfang 30 und wenn mich mein Gefühl nicht täuscht, hat er eine muskulöse Statur, die ich unter seiner geöffneten grauen Weste zu erkennen glaube. Er sieht wirklich gut aus, aber dennoch... „Was wollen Sie von mir?“

„Wie bitte?“, seine Augen weiten sich.

„Warum verfolgen Sie mich? Was wollen Sie von mir?“

Der Mann sieht sich um und kommt einen Schritt näher. „Sind Sie das, wofür ich Sie halte?“ Mit dieser Frage habe ich nicht gerechnet. Meine anfängliche Besorgnis fällt etwas ab von mir. „Sie wollen wissen, ob ich eine Nutte bin?“

„Ja“, er nickt mir interessiert zu.

„Sieht man das nicht?“ Ich drehe mich langsam um die eigene Achse.

„Nicht eindeutig“, gibt er zurück.

„Was verunsichert Sie daran?“, frage ich neugierig nach.

„Ihre ganze Erscheinung, von der Designertasche angefangen. Sie wirken ansatzweise wie eine und dann auch wieder nicht. Ich bin hin und her gerissen.“

„Sie haben anscheinend gewisse Vorstellungen, was diese Sorte von Frau betrifft“, stelle ich keck fest.

„Ich sehe jede Nacht welche von dieser Sorte, von daher, ja, habe ich“, ein Lächeln umspielt seinen Mundwinkel.

Ich begutachte ihn prüfend. „Sie sehen gar nicht so aus, als ob Sie es auf diese Art nötig hätten.“

„Das sagt die Richtige.“ Als ich ihm Kontra geben will, kommt er näher auf mich zu, nimmt mich unter seinen rechten Arm und deutet mit dem linken Zeigefinger auf eines der nahestehenden Reihenhäuser. „Dort oben wohne ich.“

„In dem weißen Wohnblock mit den zehn Balkonen?“

„Ja, im dritten Stock“.

„Also haben Sie gerade aus dem Fenster gesehen und ich bin Ihnen ins Auge gestochen?“ Meine Frage ist sarkastisch, mit einem Unterton, den ich selbst nicht einordnen kann.

„So in etwa“, antwortet er und lenkt seinen Blick auf mich.

Wir sehen uns nur kurz, aber dafür umso intensiver an. Sein Parfum riecht verführerisch herb. Jetzt wird es mir bewusst. Scheiße, ich flirte. Ihm scheint der gleiche Gedanke zu kommen, denn er wirkt genauso verblüfft. Fast gleichzeitig lösen wir uns voneinander, doch die Anziehungskraft zwischen uns ist zum Greifen nah. Ich fühle mich richtig verloren bei seinen Blicken, die mir unter die Haut gehen. Plötzlich taucht ein wachsamer Ausdruck in seinem Gesicht auf. „Wollen Sie zu mir mit hoch kommen?“, fragt er unsicher nach.

„Ja“, antworte ich wie von selbst.

Seine Lippen verziehen sich zu einem leichten Lächeln. „Ich bin übrigens Thomas. Thomas Winkler.“ Er streckt mir die Hand entgegen.

Ich ergreife sie. „Katarina Stein, aber meine Freunde nennen mich einfach Kati. Freut mich.“

Er nickt mir zu und lockert seinen Händedruck. „Freut mich ebenfalls.“ Es dauert kurz, bis sich Thomas von mir weg dreht und in die Richtung seines Wohnblocks schaut. „Wollen wir, Kati?“ Mist, er meint es wirklich ernst? Leichte Panik überkommt mich. Ich verkrampfe innerlich und habe einen Kloß im Hals, der mir das Antworten schwer fallen lässt. Thomas dreht sich zu mir um und sieht mich verwundert über mein Schweigen an. „Oder möchtest du doch nicht?“

In seinem Blick schwingt ein Anflug von Enttäuschung mit.

„Doch!“ Mehr bringe ich in diesem Moment nicht hervor. Bevor mich der Mut verlässt, packe ich seinen Arm und ziehe ihn mit mir. Während des ganzen Weges von der Straße über das Treppenhaus bis hin zu seiner Wohnungstür herrscht Stille zwischen uns. Es gibt auch nicht viel, was wir reden könnten, was zur Situation passen würde. In Thomas Gegenwart fühle ich mich nicht wie eine Nutte. Er gefällt mir und ich würde es ihm übel nehmen, wenn er mich wie eine behandeln würde. Die Tür zu seiner Wohnung geht auf, mit einer fließenden Handbewegung deutet er mir an, voran zu gehen. Entschlossen trete ich durch die Tür in den dunklen Flur. „Home Sweet Home“, durchbricht Thomas‘ Stimme die Dunkelheit. Ich drehe mich zu ihm um. Im selben Moment geht das Licht an. Er mustert mich. „Liegt es an meiner Wohnung, dass du jetzt noch hübscher bist, Kati?“ Er unterdrückt ein Lächeln.

„Kann sein.“ Mir fällt jetzt ebenfalls auf, dass er noch besser aussieht als zuvor auf der Straße. Seine bräunliche Haut ist mir in dem grellen Straßenlicht gar nicht aufgefallen. Thomas sieht aus wie ein typischer Frauenschwarm. Einer von dieser Sorte, die genau wissen, wie sie sich geben müssen, um bei Frauen landen zu können. Meine Augen wandern durch seinen Flur, die Wände sind weiß und bis auf ein Bild mit der Aussicht auf New York kahl. Vom Boden aus steht ein mir bis zur Hüfte gehender Schuhschrank, daneben eine Garderobe für Jacken, mit Regenschirmhalterung.

Thomas geht an mir vorbei. „Also……“, er deutet mit dem Zeigefinger auf die linke Tür vor ihm. „Das ist das Badezimmer.“ Im Uhrzeigersinn zählt er die weiteren Räume seiner Wohnung auf: „Gästezimmer oder auch mein Büro, Küche, Wohnzimmer und mein Schlafzimmer.“ Er sieht mich prüfend an, ob ich auch alles verstanden habe.

Ich nicke, gerade jetzt kommt mir sein Badezimmer recht, um mich zu sammeln, gedanklich zu ordnen und etwas frisch zu machen. „Ich werde wohl schnell dein Bad benutzen.“

Thomas legt seine Hand auf den Türgriff, drückt ihn hinunter und öffnet die Tür einen Spalt weit. „Nur zu.“

Ich husche an ihm vorbei, schalte das Licht im Badezimmer ein und schließe die Tür. Das Bad ist schön geschnitten und groß. Es findet sich Platz für eine Dusche, eine Badewanne, zwei Regale und ein Waschbecken mit großem Spiegel darüber, daneben befindet sich die Toilette. Genau den Spiegel brauche ich jetzt. Mit Adleraugen betrachte ich mich darin. Im Großen und Ganzen sehe ich aus wie vor zwei Stunden, als ich mein Zuhause verlassen habe. Mein Blick fällt auf das kleine Abstellbrett zwischen Waschbecken und Spiegel, wo Thomas seine Parfums aufgereiht hat. Welches wird er wohl jetzt gerade tragen? Meine rechte Hand will nach dem schwarzen Fläschchen greifen, als es an der Tür klopft. „Alles in Ordnung?“, fragt Thomas nach.

Ich ziehe meine Hand zurück, werfe einen letzten Blick in den Spiegel und trete mit meiner Tasche zur Tür. „Natürlich“, versichere ich Thomas, als er in ihrem Rahmen steht.

„Dann ist es ja gut. War schon in Sorge.“ Ein neckisches Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. In dem Licht fällt mir sein trainierter Oberkörper unter dem weißen T-Shirt noch besser auf. Er packt meine Hand und zieht mich sanft den Flur entlang. Wieder komme ich in einen Raum, der groß und geräumig ist. Zwei Drittel davon nimmt ein opulentes dunkelgrau gepolstertes Sofa ein, vor dem ein gläserner Couchtisch steht. Meine Aufmerksamkeit fällt auf die Wand dahinter, während alle anderen mit Fotografien oder Ansichten von New York ausgeschmückt sind, hängt an dieser ein großer Flachbildschirmfernseher. Das restliche Drittel ist mit einem langen in schwarz gehaltenem Sideboard ausgefüllt. „Gefällt dir mein Wohnzimmer?“, unterbricht Thomas meinen Gedankengang.

„Ja, es ist sehr schön eingerichtet. Bist du ein Fan von New York?“ Ich deute auf die Bilder.

„Ja“, er lächelt mich begeistert an. „Diese Stadt ist der Wahnsinn.“

Ich gehe auf die Bilder zu und betrachte sie eingehend. Auf dem ersten ist die Freiheitsstatue aus der Ferne abgebildet, beim zweiten das Rockefeller Center aus der Luft, das dritte zeigt den Times Square bei Nacht. „Warst du schon mal dort?“

Thomas stellt sich neben mich. „Die sind alle von mir.“

„Die Bilder hast du gemacht?“ Erstaunen packt mich.

„Ja“, er nickt. „Sind toll geworden, nicht wahr?“

„Sie sind mehr als toll“, erwidere ich.

„Freut mich, wenn sie dir gefallen“, nimmt er mein Kompliment an.

„Wie oft warst du schon dort?“

„Leider nur einmal. Für zwei Wochen. Viel zu kurz, um diese Stadt richtig auszukundschaften.“

„Dann musst du eben nochmal hin.“ Mein Ton ist rechthaberisch.

„Auf jeden Fall.“ Thomas wendet sich von den Bildern ab und geht aus dem Zimmer. Ich betrachte sie nochmals eingehend und drehe mich zu seinem Sideboard, das mit Büchern und Topfpflanzen dekoriert ist. Er hat wirklich Geschmack. Thomas gesellt sich wieder zu mir und hält zwei halbvolle Gläser mit klarer Flüssigkeit in seiner Hand. Er reicht mir eines davon. Ohne zu fragen, was wir trinken, proste ich ihm zu. Wodka wäre nicht meine erste Wahl, aber vielleicht lockert er mich ein wenig. Moment mal? Ich setzte mein Glas ab und rieche daran. „Das ist ja Wasser???!!“

„Tut mir leid etwas anderes hab ich nicht“, entschuldigend zuckt er mit den Schultern.

„Macht ja nichts. Bin sowieso keine Freundin der Happy Hour“, entgegne ich lächelnd, um nicht die Stimmung zu vermiesen. Er wirkt immer noch etwas betrübt. „Mir gefällt dein Sofa“, wechsle ich schnell das Thema, um ihn abzulenken. „Es sieht sehr bequem und teuer aus.“

Sein Blick wandert zur Sitzgarnitur. „Das ist und war es auch“, ein Lächeln umspielt seinen Mundwinkel.

„Was arbeitest du überhaupt?“, hake ich nach und setze mich auf seine Couch. Mein Glas stelle ich auf dem Tisch ab, während meine Tasche ihren Platz darunter findet.

„Ich bin Technischer Zeichner und arbeite nebenbei jeden Freitag, als Barkeeper im Lenoxx.“

„Wirklich?“, frage ich irritiert nach. „Heute aber nicht.“

„Nein, heute nicht. Mir ging es den ganzen Tag über nicht so gut.“ Er kommt auf mich zu, stellt sein Glas neben meinem ab und lässt sich lässig auf sein Sofa fallen. „Und du?“

„Ich bin gerade mit meinem Abitur fertig geworden, jetzt genieße ich meine Ferien ausgiebig und danach studiere ich in Regensburg Medizin.“

„Abitur? Medizin?“ Ungläubigkeit breitet sich auf seinem Gesicht aus.

„Ja, gestern war unsere Abschlussfeier. Mein Vater ist Chirurg, von daher wurde es mir schon in die Wiege gelegt.“ Er sieht mich immer noch etwas argwöhnisch an. Erst jetzt fällt mir auf, wie unlogisch sich das anhört. Eine Prostituierte aus gutem Hause mit Abitur. Einem inneren Instinkt folgend, greifen meine Hände nach der Designertasche.

„Im Ansatz wirke ich wie eine“, um ihn an seine Worte von vorhin zu erinnern. Thomas strenger Blick weicht einem süßlichen Lächeln. Mein Gefühl sagt mir, dass er mit sich selbst ringt, ob er mir die Frage nach dem ‚Warum tust du es dann?‘ stellen soll. Es ist mir egal, ob Thomas sie stellt oder nicht. Ich würde ihm sowieso keine plausible Antwort liefern können. Er würde meine Beweggründe nicht verstehen.

Thomas nimmt sein Glas zur Hand, nippt kurz daran und stellt es wieder an seinen Platz zurück. Für einen kurzen Moment verharrt seine Hand in der Luft. Sein Gesicht ist wachsam auf mich gerichtet, als er seine Hand sanft auf meinen Oberschenkel legt. „Stört dich das?“

Ich sehe ihn leicht verdutzt an. „Nein, tut es nicht.“

Es erregt mich sogar etwas. Seine Finger massieren zuerst meine Knöchel, arbeiten sich höher und fahren die Konturen meines Knies nach. Ich betrachte ihn dabei. Mein Blick bleibt bei meinen schwarzen Pumps hängen. Plötzlich ist da ein stechender Schmerz. „Ah!!!“, seufze ich und atme schwer ein.

In Sekundenschnelle nimmt er seine Hand von meinem Bein. „Alles in Ordnung?“

„Ja, aber diese Schuhe bringen mich noch um.“ Meine Finger deuten auf die hohen Absätze.

„Ja, die sind mörderisch“, pflichtet Thomas mir bei. „Was machen wir jetzt bloß damit?“ Sein Ton strotzt vor falschem Mitleid, das mich dazu bringt von meinen Schuhen zu ihm aufzuschauen. Sein Blick ist spitzbübisch. Er packt meine Beine mit einem solchen Schwung, dass mir ein flacher Schrei herausrutscht, und legt sie auf seinen Schoß. „Darf ich?“, will er wissen und deutet auf meine Schuhe, die er mir wohl ausziehen will. Immer noch leicht benommen nicke ich nur zustimmend. Behutsam befreit er meine Füße von den Schuhen und betrachtet ihre Innenseite. „War ja klar, MaryLous.“ Schmunzelnd legt er sie zur Seite. Meinen verärgerten Blick übergeht er. Thomas winkelt sein linkes Bein an und legt es auf seine Couch, das rechte berührt immer noch den Boden. Meine Füße liegen mitten in seinem Schoß, auf seinen Lenden. Dieses Wissen und wie er meine Füße massiert, erregt mich innerlich. Seine Bewegungen sind sanft kreisend. „Oh Gott, tut das gut“, stöhne ich auf und schließe die Augen. Pure Entspannung macht sich in meinem Körper breit. Nach ein paar Minuten ist der Schmerz in meinen Füßen nicht mehr zu spüren. Meine Augen wandern zu Thomas. Sein Gesicht ist leicht errötet, als er den Kopf hebt. Was hat er denn bloß? Ich komme von den Kissen hoch und als sich dadurch kaum merklich meine Füße bewegen, spüre ich Thomas steifes Glied. Oh Shit!!!! Scheinheilig greife ich nach meinem Wasser. Vielleicht hat er es gar nicht bemerkt, dass es mir aufgefallen ist. Keine Sekunde später erhalte ich meine Antwort. Natürlich hat Thomas es mitbekommen, denn er lässt im gleichen Moment meine Füße los und dreht sich ebenfalls weg von mir in Richtung Couchtisch. Sofort schießen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Was nun? Wie kommst du aus dieser peinlichen Situation wieder heraus? Ist es denn überhaupt peinlich? Nein, ist es nicht. Thomas gefällt mir. Ich stelle das Glas ab. Bevor mich der Mut verlässt, ergreife ich Thomas Gesicht und küsse ihn auf seinen Mund. Kaum liegen meine Lippen auf seinen, packt er mich mit einer seiner Hände am Kinn und zieht mich an sich heran. Was mit flüchtigen Küssen anfängt, steigert sich schnell zu leidenschaftlichen mit Zunge. Meine Hände vergraben sich in seinen Haaren. Thomas zieht mich auf seinen Schoß. Unser beider Atem ist schwer und als ich sanft an seinem Ohrläppchen knabberte, spürte ich noch intensiver die Erektion in seiner Hose zwischen meinen Beinen. Rhythmisch bewegt er sich unter mir auf und nieder. Wieder küssen wir uns. Meine Hände fassen unter sein T-Shirt und berührten seinen stählernen Körper. „Zieh dein Oberteil aus“, befehle ich ihm keuchend.

Ein komischer Ausdruck macht sich in seinem Gesicht breit. „Lass uns dafür ins Schlafzimmer gehen.“ Das war keine Frage sondern eine Aufforderung. Mit mir auf seinem Schoß kommt er von seiner Couch hoch. Seine Hände liegen auf meinem Gesäß, während wir uns wieder küssen. Vollkommen überrascht von seiner Kraft weicht mein Kopf zurück.

„Hör nicht auf“, bettelt er. Wieder liegen meine Lippen auf den Seinigen, während er mich ins Schlafzimmer trägt.

Ich weiß nicht, was mich aus meinem Schlaf gerissen hat, denn es ist weder ein Wecker, noch sonst ein lautes Geräusch zu hören. Ich schlage die Augen auf und bin hellwach. Etwas orientierungslos wandert mein Blick durchs Schlafzimmer. Ein Kleiderschrank, eine Kommode und ein Nachttisch befinden sich darin. Meine Aufmerksamkeit fällt auf das Fenster im Raum, wo die Jalousien heruntergezogen sind, und durch die sanftes Tageslicht hereinbricht. Wie spät wird es wohl sein? Die Uhr auf Thomas Bettseite kommt mir in den Sinn. Es war kurz nach ein Uhr Samstagmorgen, als ich einen kurzen Blick darauf warf. Keine Sekunde später war Thomas über mir und zog sein T-Shirt aus. Gott, gestern Nacht! Die Erinnerungen daran hallen in meinem Kopf wieder: Das Gefühl seiner Haut auf meiner, die Küsse voller Leidenschaft, der Oralverkehr, der Sex, als er in meinem Mund kam und wir von neuem anfingen, bringen mein Blut vor Erregung in Wallung. Ich halte mir die Hand vor mein Gesicht und atme tief ein. Sie riecht immer noch nach seinem Schweiß. Wir haben uns letzte Nacht völlig verausgabt und sind danach in einen tiefen Schlaf gefallen. Kati, jetzt reiß dich zusammen, du willst wissen, wie spät es ist, tadelt mein Unterbewusstsein mich. Ich drehe meinen Kopf seitlich zu Thomas. Er gibt nur ein leises Schnarchen von sich. Behutsam strecke ich meinen Kopf in die Höhe, um an ihn vorbeisehen zu können. Doch mein Blick bleibt an seinem schlafenden Gesicht hängen. Was für ein Mann! Dieses markante Gesicht, diese kräftigen Oberarme, selbst seine zerzauste Frisur macht Eindruck auf mich. Dieser Kerl wäre mein Traummann!

Ja, wir wissen, er ist perfekt, jetzt schau doch mal auf die verdammte Uhr, mault mein Unterbewusstsein mich nochmal an. Ungern wende ich mich von ihm ab und betrachte die Uhr. Mist, es ist kurz vor zehn! Ich hätte schon vor Stunden zu Hause sein müssen. Meine Eltern machen sich bestimmt schon unnötig Sorgen. Mit einem Satz werfe ich die Decke über mich hinweg. Mir fehlt die Zeit, mich behutsam aus ihr zu schälen und lautlos aus dem Bett zu steigen. Durch mein eiliges Handeln ist Thomas natürlich aufgewacht. Mit geschlossenen Augen dreht er sich auf den Rücken und streckt seine verspannten Oberarme aus. Als er die Augen aufschlägt, bleibe ich erstarrt stehen, denn ich habe weder meinen BH noch mein Höschen gefunden.

„An diesen Anblick könnte ich mich gewöhnen“, entgegnet er mir mit einem frechen Unterton. Eilig fassen meine Hände nach dem Bettlaken. „Nein, nicht die schöne Aussicht versperren“, sagt er enttäuscht. Ich schrecke einen Schritt zurück, als er sich aufrichtet um nach dem Laken zu schnappen.

„Weißt du, wo meine Klamotten sind?“, frage ich und übergehe sein Grinsen.

„Ähm, ich glaube, ich liege auf ihnen – und…“, er dreht sich zu seiner Seite des Bettes. „Ja, da sind die restlichen Klamotten von dir und mir.“ Er hält mein Oberteil hoch.

„Kannst du mir bitte alles zuwerfen?“, frage ich süßlich.

„Hol sie dir doch“, seine Stimme klingt herausfordernd.

„Nein“, antworte ich knapp.

Er sieht mich belustigt an. „Dann werde ich sie dir wohl bringen müssen.“ Ehe ich etwas erwidern kann, dreht er sich zu seiner Seite des Bettes raus und steht auf. Die Decke gleitet von seinem Körper. Thomas ist wie ich von Kopf bis Fuß nackt und es macht ihm nichts aus. In aller Ruhe sucht er nach meinen Sachen. Man könnte sagen, ich habe einen schönen Rundumblick. Als er nun meine kompletten Klamotten beisammen hat, kommt er auf mich zu und reicht sie mir mit einem selbstgefälligen Grinsen. „Gefällt dir, was du siehst?“

„Das hat es mir gestern schon“, gebe ich zurück.

Wie auf einem Präsentierteller hält er meine Kleidung hoch.

Er wartet darauf, dass ich meine Sachen nehme, doch wenn ich das tue, muss ich die Decke loslassen. „Du weißt hoffentlich, dass ich nur wenig Kraft brauche, um dir das Bettzeug wegzunehmen, oder?“ Ein gewinnendes Lächeln breitet sich in seinem Gesicht aus.

„Das ist mir bewusst. Ich muss dich aber enttäuschen. Ich halte sie nicht vor mir aus Schüchternheit, sondern weil die Zeit drängt und ich deine Reaktion darauf nicht abschätzen kann.“ Jetzt setze ich mein Siegerlächeln auf.

„Da hast du Recht“, er hält kurz inne. Seine Augen betrachten mich hungrig. „Aber lass es uns riskieren.“ Er wirft meine Sachen aufs Bett und sieht mich herausfordernd an. Ehe ich die Decke loslasse, fällt sie schon zu Boden und genau so lang dauert es, bis mich Thomas in die Arme nimmt und küsst. Eng umschlungen spüre ich seine Erektion an mir. Er streift mit beiden Händen meinen Rücken entlang, während meine Hände seine Pobacken massieren. Sein Glied pocht an meinem Körper. Mit der linken Hand wandere ich sanft von seinem Hintern über seine Hüfte bis hin zu seinem Schritt. Um ihn in die Irre zu führen, fahren meine Finger langsam seinen Pfad der Lust hinauf, vom Schambereich zu seinem Bauchnabel und als er es am wenigsten erwartet, nehme ich seinen Schwanz in einen festen Griff. Für einen kurzen Moment ist er so erschrocken, dass seine Atmung aussetzt. Mit geweiteten Augen starrt er mich an. Als er meinen hämischen Ausdruck im Gesicht bemerkt, packt ihn die angestaute Lust. Ohne zu fragen wirft er mich aufs Bett und ist in Sekundenschnelle über mir.

Gedankenversunken liegt mein Kopf auf seiner Brust. Sein sanfter Herzschlag hat eine beruhigende Wirkung auf mich. Wir liegen so eng zusammen, dass mir trotz fehlender Decke heiß ist. Als meine Fingerspitzen sanft seine Brustwarzen liebkosen, entfährt ihm ein zufriedenes Stöhnen, das mich aus meinen Gedanken reißt. Ich sehe zu ihm hoch und merke, dass er mich die ganze Zeit beobachtet hat. „Weißt du eigentlich wie sexy das ist, was du da so belanglos tust?“

„Nein“, meine Antwort ist kaum hörbar.

„Es ist ein wahnsinniges Gefühl.“ Er hält kurz inne. „Du bist der Wahnsinn.“

„Danke.“ Sein Kompliment macht mich verlegen.

Er gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. „Als ob dir das nicht bewusst wäre.“ Ich ignoriere seinen kleinen Seitenhieb. Mach bloß nicht die Stimmung kaputt, Thomas!

Völlig unbewusst fällt mein Blick auf die Uhr. Der kleine Zeiger deutet auf eins, während der große gerade auf fünf hüpft. Erschrocken fahre ich hoch und löse mich aus seiner Umarmung. „Es ist Mittag vorbei?“

Verwundert über mein Entsetzen schreckt auch er hoch. „Und? Es ist Samstag?“ Ich springe hastig aus dem Bett, greife nach meinen Klamotten. „Warum hast du es so eilig?“, fragt er verblüfft über meine Hektik. „Es ist Samstag und du hast doch Ferien.“

Leicht genervt ziehe ich meinen Minirock hoch. „Ja schon, aber wenn ich daran denke, dass ich seit Stunden zu Hause sein sollte und weder meine Eltern noch meine beste Freundin wissen, wo…“, ich breche mitten im Satz ab und hoffe dass Kerstin nicht bei mir zu Hause angerufen hat.

„Das ist natürlich ein kleines Problem.“ Blanke Ironie schwingt in seinen Worten mit.

Ein missbilligender Blick meinerseits trifft ihn. „So lange du deine Witze machen kannst, fehlt es dir an nichts, was?“

Nun begreift auch Thomas, dass zum jetzigen Zeitpunkt keine Späße mit mir zu treiben sind. Fertig angezogen wende ich mich ab von ihm und gehe zur Tür hinaus Richtung Wohnzimmer. Meine Schuhe liegen immer noch am selben Platz wie gestern. Ich bücke mich und nehme meine Tasche gleich im selben Schwung mit. Während meine Füße in die Pumps hinein gleiten, kommt Thomas durch die Tür. Er hat nichts weiter als seine weißen Shorts von heute Nacht an, die lässig an seinen Hüften hängen. Nachdem ich alles beisammen habe, drücke ich mich im Eiltempo an ihm vorbei. Thomas Unwohlsein auf meine abweisende Art entgeht mir nicht. Vom Wohnzimmer aus gehe ich zügig ins Badezimmer. Eifrig betrachte ich mein Spiegelbild. Bis auf die Haare passt alles. Schnell mache ich sie mir zurecht. Es kommt mir so vor, als ob die Zeit rasen würde. In diesem Moment ist sie mein größter Feind. Nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel komme ich in den Flur zurück, wo Thomas bereits auf mich wartet. Meine Anspannung verfliegt etwas bei dem Wissen, bereit zum Gehen zu sein. „Sorry, aber ich muss jetzt wirklich los“, sage ich und umarme ihn.

Er drückt mich fester an sich. „Sehen wir uns wieder?“

Darüber muss ich nicht lange nachdenken. „Ja.“

Thomas drückt mich erneut fest an sich und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Mein Kopf liegt an seiner blanken Brust und keiner von uns sagt etwas. Ich muss los. „Hast du irgendetwas zum Schreiben da?“, durchbreche ich die Stille.

Er lässt ein wenig ab von mir und lacht selbstgefällig. „Sehe ich so aus?“ Jetzt muss auch ich lachen, da er kaum Kleidung am Leib trägt. „Aber warte“, er greift nach einer seiner Jacken, die an der Garderobe hängen und zieht einen dicken schwarzen Permanent Marker hervor. „Jetzt fehlt nur noch ein Schmierzettel.“ Er lässt mich los und geht ins Wohnzimmer. Wenn du jetzt nicht aufbrichst, Kati, kommst du niemals hier weg, schießt es mir durch den Kopf.

Ich drehe mich um und drücke den Türgriff hinunter. Bevor ich aus der Wohnung trete, halte ich kurz inne und lege danach den Stift auf dem Schuhschrank ab. Die Tür fällt lautlos ins Schloss. Am Parkplatz vor Thomas Mietshaus vibriert mein Handy in der Tasche. Dafür ist später auch noch Zeit, jetzt ist es wichtig, nach Hause zu kommen. Es vergehen keine fünf Minuten, bis ich die Seitenstraße erreiche, wo mein Auto steht, ein schnittiger Wagen in schwarz. Ein Geschenk meiner Eltern zum bestandenen Abitur. Ich drehe eine kurze Runde, um festzustellen, ob er Kratzer oder Dellen aufweist. Das hätte noch gefehlt! Nein, er sieht genauso aus wie gestern, als ich ihn hier geparkt habe. Ich hole meinen Wagenschlüssel aus der Tasche und drücke den oberen Knopf, der ihn entriegelt. Ich öffne die Tür, steige ein und werfe meine Tasche gekonnt auf den Beifahrersitz. Vorsichtig wende ich mein Auto auf die Straße.

„War ja klar, wenn es am eiligsten ist, schaltet jede Ampel auf Rot“, ärgere ich mich, als ich zum fünften Mal vor einer anhalten muss. Auf den Straßen ist für einen Samstag kaum etwas los, was ziemlich selten der Fall ist. Mit der Stadt im Rückspiegel fährt mein Wagen die letzte Ampel hindurch.

Das Haus meiner Eltern ist nur knapp einen Kilometer entfernt, in einer Siedlung, die angrenzt. Es ist groß und wie die anderen Häuser in weiß gestrichen, mit roten Dachziegeln. Trotz allem unterscheidet es sich durch den gepflegten Garten mit all den blühenden Blumen, die meine Mutter entlang des dunkelbraunen Zaunes angepflanzt hat, dem langen Balkon, der sich fast um die ganze zweite Etage zieht und durch das dritte Stockwerk, das ich mir zur Hälfte mit dem Büro meines Vaters teile. In unserer Einfahrt kommt mein Wagen zum Stehen. Jetzt, wo ich zu Hause bin, überkommt mich leichte Panik. Was wird mich wohl erwarten, sobald ich die Haustüre aufschließe?

„Auf in den Kampf“, spreche ich mir selbst Mut zu, greife nach meiner Tasche und steige aus. Von außen sieht alles friedlich aus, als ich den flachen Hügel zur Haustür hinaufgehe, die offen steht. Ein mulmiges Gefühl steigt in mir hoch. Oh Gott, sie werden dich töten. Im Flur stehen drei Koffer. Aber davor schicken sie dich zu den Nonnen auf die Alm. Der Gedanke bringt mich zum Grinsen. Die Vorstellung entspannt mich, daher nutze ich die Chance und gehe, ohne mich weiter selbst verrückt zu machen, hinein. Stimmen, die aus der Küche zu kommen scheinen, dringen an mein Ohr. Hastig folge ich ihnen durch das Esszimmer in die Küche. „Hey Mum!“, begrüße ich sie.

Meine Mutter steht an der Kochinsel angelehnt und studiert die Tageszeitung. Ihr Gesichtsausdruck ist unergründlich, aber sauer wirkt sie nicht.

„Hallo Schatz!“, nickt sie mir zu und lächelt dabei.

Damit habe ich jetzt nicht gerechnet, aber vielleicht ist das nur die Ruhe vor dem Sturm. Meine Hände fassen nach der Kühlschranktür. „Bist du allein?“ Ich nehme die Karaffe mit frischen Orangensaft aus dem Kühlschrank. Sie sieht mich irritiert über meine Frage an. „Ich dachte mehr als eine Stimme gehört zu haben“, gebe ich ihr zu verstehen und hole zwei Gläser aus dem Schrank, die ich mit dem Saft fülle.

„Dein Vater ist noch hier. - Danke“, sagt sie, als ich ihr den Orangensaft reiche.

Kaum nippe ich an meinem Glas, kommt mein Vater schon durch die Tür in die Küche. „Was ist mit mir?“

Ich drehe mich ein weiteres Mal um und greife erneut zu einem der Gläser im oberen Fach. „Deine Tochter wollte wissen, wer noch da ist, außer mir“, antwortet meine Mutter.

„Ach, sieh mal an, wer uns doch noch mit seiner Anwesenheit beehrt.“ Seine Stimme klingt tadelnd, aber sein Gesichtsausdruck ist milde gestimmt.

„Ich weiß nicht, was du meinst“, sage ich und strecke ihm sein Glas entgegen. Er nimmt es mir ab und trinkt einen kräftigen Schluck davon.

„Ich dachte schon, wir sehen dich erst nach unserem Urlaub wieder.“ Dieses Mal ist seine Stimme etwas ernster, aber der Ausdruck ist derselbe wie vorher.

„Genau, wo kommst du überhaupt so spät her?“, hakt nun meine Mutter ein. „Bist du bei Kerstin über Nacht geblieben?“ Mir fällt ein Stein vom Herzen, sie hat nicht angerufen, zum Glück. „Ja, es wurde schon hell und da habe ich beschlossen, gleich bei ihr zu bleiben, außerdem haben meine Füße geschmerzt.“ Zumindest das ist nicht gelogen.

Meine Mutter betrachtet meine Pumps. „Gott sei Dank, bin ich aus diesem Alter heraus in dem ich mich mit solchen Schuhen plagen musste“, sagt sie erleichtert. Man merkt meiner Mutter ihr Alter nicht an. Sie wirkt eher wie Mitte dreißig als wie dreiundvierzig. Ihre schwarzen Haare trägt sie schulterlang, ihre Figur ist kurvig. Die stahlblauen Augen habe ich von ihr. Wir beide wirken eher wie Schwestern, das bekommen wir auch oft zu hören, wenn wir im Supermarkt einkaufen oder in Modestores shoppen gehen. Sie liebt Hosen und Röcke aus feinem Stoffgewebe - die sind komfortabler als Jeans meint sie immer - dazu weitgeschnittene Blusen.

Als mein Vater die Spülmaschine aufmacht und das Glas klirrend hineinstellt, werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ich betrachte ihn vor der halbvollen Maschine. Er ist um einen guten Kopf größer als sie und um 6 Jahre älter, er hat kurzgeschnittene braune Haare und eine normale Figur. Zwar wirkt er nicht ganz so jugendlich wie meine Mutter, aber dennoch passen sie perfekt zusammen. Ich leere das Glas mit einem Zug. Nachdem ich es in der Spülmaschine verstaut habe, wird mir sein Gerede bewusst: >nach unserem Urlaub<. Die Beiden fliegen morgen für zwei Wochen nach London, deswegen die Koffer im Flur. Wie konnte ich das nur vergessen? Es ist seit gestern Abend zu viel passiert, der Straßenstrich, Fiona, Thomas, der Sex und die verbrachte Nacht bei ihm, da kann schon das eine oder andere untergehen, beschwichtige ich mich selbst. Plötzlich macht sich ein Gefühl von Sehnsucht in meinem Körper breit, aber es sind nicht meine Eltern, die ich vermisse, sondern Thomas. Diese Erkenntnis lässt mich erstarren. Ich bin keine von diesen Mädchen, die nach nur einer Nacht mit einem Typen verliebt sind. Liebe? Was ist das? Ich habe sie noch nie empfunden. Ich habe noch nie >Ich liebe dich< gesagt. Ich war zwar schon in Beziehungen, aber da kam dieses Gefühl nie auf. Liebe ist mir unbekannt aber trotzdem stehe ich hier mit meinen Eltern und denke an Thomas. Was hat das zu bedeuten?

Mein Vater boxt mir sanft gegen die Schulter. „Alles in Ordnung, Kleines? Du wirkst abwesend.“

Ich schaue in sein besorgtes Gesicht. „Es ist nichts, ich bin nur etwas geschlaucht von letzter Nacht.“

Als ich mich zum Gehen aufmache, kommt meine Mutter auf mich zu. „Morgen wird ein extrem stressiger Tag werden, daher haben wir nur noch heute Abend…“

Ich unterbreche sie mitten im Satz. „Ich wäre heute wegen euch sowieso zu Hause geblieben.“

„Wirklich?“, meine Mutter strahlt über ihr ganzes Gesicht.

„Dann ist es ja gut, und jetzt ab mit dir.“

Ich wende mich von den beiden ab und gehe hoch zu meinem Zimmer, lege meine Tasche zur Seite und ziehe mich aus. Aus dem Kleiderschrank ziehe ich ein weißes T-Shirt hervor und kurze Jeansshorts. Auf dem Weg zum Bad kommt mir mein Handy in den Sinn. Ich fasse in meine Tasche und hole es heraus. Sechs Anrufe in Abwesenheit und fünf Nachrichten. Ich drücke auf >Anrufliste<, fünf davon sind von Kerstin und eine von Chris. Ich kann mir schon vorstellen von wem die Nachrichten stammen. Vier sind von Kerstin:

Wo bist du denn?

Es ist nach elf und wir sind schon alle im Boomarang.

Warum gehst du nicht an dein Handy?

Ist alles ok?

Wo bleibst du?

Hat dein Auto eine Panne?

Alles andere wäre nicht zu entschuldigen.

Den Abend habe ich mir wirklich anders vorgestellt, Kati.

Scheiße sie ist sauer und wie! Als ich sie anrufen will, fällt mir die ungelesene Nachricht ins Auge. Die Nummer ist mir nicht bekannt.

Hättest du nicht warten können, bis ich zurück bin, anstatt mir die Wand voll zu schmieren????????

LG Thomas

Mein Herz macht einen Sprung vor Freude. Hastig verfasse ich eine Nachricht an ihn.

Zu welchem Nutzen?

Jetzt hat zumindest dein Flur etwas Farbe bekommen

LG Kati

Ich versende sie und speichere Thomas‘ Nummer in meinen Kontakten ab. Etwas angespannt betrachte ich mein Handy. Die Stunde der Wahrheit naht. Wird mir Kerstin den Kopf abreißen nach dem gestrigen Abend? Ich drücke auf das Anrufzeichen. Es dauert nicht lange, schon ist eine genervte Stimme zu hören. „Ich hasse dich.“

„Ich habe dich auch lieb, Kerstin“, entgegne ich ihr prompt.

„Spar dir das, Kati“, ihr Ton ist hart.

Shit! Sie ist immer noch angefressen. „Es tut mir wirklich leid“, meine Stimme bebt vor Aufrichtigkeit.

„Das sollte es auch. Was sollte der Scheiß? Erst schreibst du, du kommst und dann gehst du weder ans Handy noch schreibst du zurück. Was hat dich aufgehalten?“ Ihr Tonfall ist kein bisschen weicher geworden.

„Keine Ahnung, was mich geritten hat. Ich saß schon im Auto auf dem Weg zu euch“, meine Stimme bricht ab. Was soll ich ihr nur sagen?

„Aber?“ Wie soll ich es ihr bloß erklären? Hey, ich hab mich als Nutte ausgegeben und bin mit einem fremden Kerl mitgegangen, der mich dreimal Mal gefickt hat.

„Kati?“ Scheiße, Kerstin, lass mir noch einen Moment Zeit!

„Kati???“ Warte doch noch kurz! „Kati???!!“

„Verdammt! Ich war bei einem Typen, Kerstin“, sprudelt es aus mir heraus. Plötzlich herrscht Stille am anderen Ende der Leitung. „Kerstin?“, frage ich vorsichtig nach ihr. Keine Antwort kommt zurück. „Kerstin?“ Wieder nichts. „Hallo?“

Plötzlich schießt mir ein Schwall von Fragen entgegen. „Du warst bei einem Typ? Wie bist du zu ihm gekommen? Kenne ich ihn?“, ihre Stimme bebt vor Neugierde. Sie lässt mir keine Zeit auf eine der Fragen zu antworten, schon kommen die nächsten. „Hattest du Sex? Trefft ihr euch erneut? Warum antwortest du mir nicht?“

„Ja wie denn auch, wenn du mich nicht zu Wort kommen lässt“, zicke ich. Sofort verstummt sie. Meine Antworten sind kurz und bündig nach einer kleinen Pause. „Ja, ich war bei einem Kerl. Er hat mich angesprochen, du hast ihn noch nie gesehen, ich hatte Sex mit ihm und ein weiteres Treffen steht noch in den Sternen.“

Ich kenne Kerstin gut genug um zu wissen, dass ihr das nicht ausreicht, daher warte ich, dass sie mich mit Fragen weiter löchert. „Okay und wie war es?“

„Es war schön.“

„Ah schön.“ Als ob ich nicht wüsste, was dieser Ton bedeutet. „Schön ist die kleine Schwester von Scheiße“, gebe ich zurück.

„Wenn es das war.“

„Nein, war es nicht. Es war perfekt. Er wusste, was zu tun ist, und hatte eine Ausdauer, die ich noch nie bei einem Kerl erlebt habe.“

„Du schwärmst ja richtig von ihm.“

„Setz mir bloß keinen Floh ins Ohr“, ermahne ich sie.

„Wie sieht er aus?“, fragt sie weiter ohne auf meine Mahnung Rücksicht zu nehmen. Das bist du ihr schuldig, Kati, nachdem du sie gestern sitzen gelassen hast. „Er ist der Wahnsinn, so gutaussehend, so männlich“, ich schwärme schon wieder, kommt mir der Gedanke. Die nächsten zehn Minuten reden wir über Thomas. Hier und da vermeide ich ein paar pikante Details. „Wie war es bei euch?“ Scheiß drauf, irgendwann muss ich in den sauren Apfel beißen, also warum nicht gleich, vielleicht ist sie milde gestimmt, nachdem ich ihr alles über meinen Abend erzählt habe.

„Er war nicht so befriedigend wie deiner.“

Bei dieser Wortwahl fangen wir beide zu lachen an. „Toll, das musstest du jetzt so ausdrücken.“

Erneut fangen wir zum Kichern an. „Nein, jetzt ernsthaft“, ihre ausgelassene Stimmung ist wie weggeblasen. „Es war Scheiße, Moonlight war gestochen voll, Boomarang hatte einen beschissenen DJ und mir fehlte meine bessere Hälfte.“

„Zumindest war Tobias und unsere ganze Truppe dabei“, entgegne ich ihr.

„Das machte die Sache auch nicht besser“, erwidert sie trocken. „Das sollte unser letzter gemeinsamer Abend werden, bevor ich mit Tobi und seinen Eltern nach Frankreich fliege.“ Auch Kerstins Abreise mit ihrem Freund und seinen Eltern habe ich vollkommen verschwitzt.

Dieses Jahr fahren fast alle unsere Freunde in den Urlaub, bis auf mich. Ich wollte mir einen entspannten Sommer zu Hause machen mit Shoppen, Relaxen und Allem, was dazu gehört, bevor ich meiner Heimatstadt den Rücken kehre und nach Regensburg ziehe. Auch wollte ich die Situation ausnutzen, das Haus vollkommen für mich allein zu haben. „Wann geht’s los bei euch?“, frage ich nach.

„Morgen früh fahren wir zu seinen Großeltern, bei denen übernachten wir und am Montagmorgen fliegen wir von München aus nach Paris“, rattert sie runter. „Warum?“

„Du könntest noch zu mir kommen“, schlage ich ihr vor.

Sie hält kurz inne. „Hört sich gut an. Bis wann?“

„Wenn du willst sofort, muss nur schnell duschen.“

„Soso du musst duschen? Wohl eine dreckige Nacht hinter dir gehabt“, zieht sie mich auf. Als ich zum Gegenschlag ausholen will, redet sie weiter. „Okay bis gleich“, schon hat sie aufgelegt.

Ich werfe mein Handy aufs Bett, packe meine frischen Klamotten zusammen und gehe ins Bad. Es dauert keine halbe Stunde, schon stehe ich angezogen und mit feuchten Haaren im Zimmer. Ich fasse nach meinem Handy auf dem Bett.

Ich hoffe die letzte Nacht behältst du auch in so guter Erinnerung wie ich.

LG Thomas

Allein schon beim Lesen der Nachricht wird mir heiß. Er denkt an mich. Ich muss ihn ja wirklich beeindruckt haben.

Vielleicht habe ich sie in besserer Erinnerung als du

LG Kati

Ich klicke auf >Senden< und lege mein Handy zurück. Prüfend schweifen meine Augen durchs Zimmer, vorbei an meinem Bett, Richtung TV-Ecke mit der weißen Couch davor und den Regalen voll von DVDs. Ein Film rentiert sich jetzt auch nicht mehr. Ich gehe an meinem Sofa vorbei zur Balkontür und trete zur Sonne hinaus. Die Wärme und die frische Prise tun meiner Haut richtig gut. Der Moment völliger Entspannung ist nur von kurzer Dauer, denn schon reißt mich Kerstin ins Hier und Jetzt zurück.

„Na? Alles in Ordnung?“ Ihre Stimme strotzt vor Ironie, als sie mich in den rechten Oberarm zwickt.

Ich schaue sie selbstgefällig an. „Sicher doch.“

„Kann ich mir vorstellen“, sie verdreht die Augen und geht in mein Zimmer zurück. Kerstin ist die blonde Variante von mir und ihre Haut ist braun gebrannt. Ich folge ihr durch die Balkontür. Sie macht es sich auf meinem Sofa bequem. Bevor ich mich zu ihr setze, hole ich mein Handy vom Bett und lege es auf meinen ovalen Fernsehtisch, der zwischen uns und dem TV-Gerät steht. Ehe ich sitze, fängt Kerstin an nochmal nach dem gestrigen Abend zu fragen.

„Ich habe dir schon alles erzählt“, sage ich leicht gelangweilt.

„Ja, die Kurzversion, aber ich will es genauer wissen“, stellt sie klar. „Besonders die schmutzigen Einzelheiten.“ Sie zwinkert mir zu.

Ein missbilligender Ausdruck macht sich auf meinem Gesicht breit. „Was willst du hören? Es war Sex. Du weißt besser als ich, wie der abläuft.“ Ich versuche neidisch zu klingen. „Hast ja auch schon Tobi jahrelang.“

„Eben“, sie boxt mir gegen mein Knie. „Ich brauche Abwechslung.“

„Dann kauf dir einen Porno, in dem sie ein Gruppending schieben“, antworte ich ihr trocken darauf.

„Das wäre zu billig“, stellt sie fest. „Obwohl einen Kerl am ersten Abend gleich ran zu lassen auch nicht besser ist.“

„Du musst es ja wissen. Warst du nicht die Schlampe, die Tobi mit ihren Titten und nicht mit der Hand begrüßt hat, als er neu in unsere Klasse kam?“

Sie fasst an ihre Brüste und drückt sie hoch. „Wer? Ich? Ich weiß nicht, was du meinst.“

Darüber muss ich lachen. Sie erwidert es flüchtig und sieht mich erneut neugierig an. Erzähl es ihr schon. Sie weiß es ja bereits, erzähl es noch ausführlicher, aber lass die bestimmten Punkte trotzdem weg. Ich fange von Neuem an von meiner letzten Nacht zu berichten.

Außer Fragen und Einwänden hört Kerstin nur zu und als ich fertig erzählt habe, bringt sie nur ein erstauntes

„Wahnsinn!!!“, über ihre Lippen.

„Allerdings“, stimme ich ihr zu.

„Wahnsinn“, sie schüttelt ungläubig den Kopf. „Dreimal?“

Ich nicke und grinse selbstgefällig.

„Verdammt, da hab ich eher Grund, neidisch zu sein.“ Ihr Lächeln verrät jedoch den Witz dahinter. Nachdem wir dieses Thema und meine Ansicht über ein Wiedersehen mit Thomas vom Tisch haben, erzählt sie mir nochmal von ihrem Abend.

„Was ist mit Chris?“, werfe ich ein als sein Name fällt. „Hat er oft nach mir gefragt.“

„Nein“, sie ist verwundert darüber. „Er wollte nur wissen, wo du bleibst. Es war ja eigentlich auch dein Abend.“ Das war ein Seitenhieb von ihr.

Ich übergehe ihn. „Er hat dir nicht in den Ohren gelegen wegen mir?“

„Nein. Jetzt wo du es sagst fällt es mir auch auf.“ Kerstin fasst sich grübelnd ans Kinn. „Er war wie früher. Ohne diesen Kati-Ausdruck im Gesicht.“

„Lass diese Bezeichnung!“, maule ich sie an.

„Warum?“ Kerstins Ton strotzt vor Spott. „Wo ist Kati? Kati ist so hübsch? Ich vermisse Kati. Kati, Kati, Kati.“

„Wann ist das endlich vorbei???“ Ich vermisse den alten Chris. Meinen besten Freund neben Kerstin.

„Das wird schon“, beschwichtigt sie mich.

„Hoffen wir es“, sage ich erwartungsvoll.

„Weißt du, wen ich gesehen habe?“, wechselt sie das Thema. Danach geht es um ihren Urlaub und die Hoffnung darauf, dass Tobias Eltern ihnen auch mal Privatsphäre gönnen. Irgendwann dazwischen klingelt mein Handy, aber ich ignoriere es, da ich mich voll und ganz auf unsere Unterhaltung konzentrieren will. Es ist kurz nach 19 Uhr, als wir uns voneinander verabschieden.

„Lass von dir hören und bring mir was aus Frankreich mit!!“, rufe ich Kerstin nach, als sie sich auf den Weg zu ihrem Auto macht.

„Was hältst du von einem Baguette? Franzosen sind doch dafür bekannt. Etwas Passenderes wird es nicht geben“, neckt sie mich.

„Ich dachte eher an eine Miniaturausgabe vom Eifelturm“, entgegne ich ihr und mache ein paar Schritte auf sie und ihr Auto zu, um nicht so schreien zu müssen.

Kerstin nickt zustimmend. „Alles klar.“ Sie winkt mir ein letztes Mal zu und steigt in ihren Wagen. Ich schaue ihr bis zur Hauptstraße hinterher und gehe danach ins Haus zurück. „Wir essen jetzt dann“, ruft mir meine Mutter aus der Küche zu, als ich die Treppen hinauf gehe.

„Bin sofort da“, antworte ich knapp. Eilig hole ich mein Handy aus meinem Zimmer und lese darin.

Hast du eine Ahnung. Egal wo in meiner Wohnung,

überall erinnert sie mich an dich,

im Besonderen mein Bett.

Aber mal abgesehen davon, du fehlst mir.

Freu mich schon auf das nächste Mal.

LG Thomas

Keine Smileys, es ist ihm Ernst: Thomas vermisst mich.

Ich lese die vorletzte Zeile nochmal. >Freu mich schon auf das nächste Mal< Er will mich wieder sehen. Ein breites Grinsen tritt in meinem Gesicht auf. Zufrieden darüber gehe ich die Stufen hinunter und schreibe ihm zurück. Am liebsten würde ich ihm erwidern, dass auch er mir fehlt, aber ich fühle mich unsicher dabei. Wir kennen uns gerade mal einen halben Tag. Ich kann dieses neue Empfinden nicht einordnen.

Ich mich auch.

LG Kati

PS: Beim nächsten Mal sollten wir unter die Dusche gehen

Mein PS ist nicht ernst gemeint, aber es sollte ein kleiner Vorgeschmack auf das, was kommen könnte, und eine Art Antwort auf >Du fehlst mir< sein. Ehe das Handy in meiner Hosentasche verstaut ist, piept es erneut. Ich übergehe es und setze mich an den Esstisch, der schon fertig gedeckt ist.

Der Abend verläuft ereignislos. Wir reden über meine Abschlussfeier und wie stolz meine Eltern auf mich sind.

„Wer hätte das gedacht? Ich glaubte schon, du gehst nie vom Gymnasium ab“, ärgert mein Vater mich.

„Du musst es ja wissen“, gebe ich trocken zurück.

Das Thema wechselt zu ihrem Trip nach London, was sie unbedingt sehen wollen und was nicht.

Für kurze Zeit reden Mum und Dad über die Arbeit und mein Studium. Nach dem Essen holt Dad die Spielkarten heraus. Die Zeit vergeht wie im Flug bei guter Stimmung, denn es ist nach Mitternacht bei meinem zweiten Blick zur Uhr. Meiner Mutter ist die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben, während mein Vater immer noch hellwach zu sein scheint. Es vergeht noch einige Zeit, bis auch mein Vater zu gähnen beginnt. „Es wird Zeit ins Bett zu gehen“, stellt er fest.

„Da ist uns jemand wohl schon einen Schritt voraus, Dad“, belehre ich ihn belustigt.

Wir lenken beide unsere Blicke auf die leicht schnarchende dritte Person in unserer Mitte. „Sie war noch nie ein großer Nachtmensch“, witzelt er. „Ein Wunder, dass sie in der Hochzeitsnacht bis nach elf auf war.“

„Dad??????“, fahre ich ihn irritiert an.

„Was ist denn los?“ Durch mein lautes Entsetzen ist nun Mum wach geworden.

„Nichts ist los, Anita, deine Tochter kann nur nicht verlieren“, flunkert er ihr unter meinem grimmigen Blick vor.

„Wie spät ist es überhaupt?“, fragt sie mit schläfriger Stimme nach und übergeht seine Antwort.

Dad schaut auf die Uhr. „Es ist kurz nach halb drei, Schatz.“ Ehe er den Satz beendet hat, schnarcht Mum erneut. „Wir sollten für heute wirklich Schluss machen“, wiederholt er.

„Ja sollten wir, bevor ich noch zum Heulen anfange vom ständigen Verlieren“, entgegne ich ihm sarkastisch.

„Es steht ja auch 31 zu 17, Kati“, witzelt er, steht auf und hebt Mum hoch. Sie wird weder wach, noch gibt sie einen Mucks von sich. Selbst als er sie durch das Esszimmer zur Treppe hinauf trägt, schlummert sie sanft weiter. Ich betrachte den Spielstand und verziehe das Gesicht. „Ja, für mich Dad!“ Mich überkommen Zweifel, ob er es noch gehört hat, denn beide sind schon aus meinem Blickfeld verschwunden.

Kapitel 2

Die Nacht ist sehr kurz für mich, obwohl ich tief und fest geschlafen habe. Es ist 7:33 Uhr auf meinem Handy. Drei Nachrichten sind darauf. Zwei stammen von Thomas.

Ist das eine Frage oder ein Befehl?

Allein die Vorstellung von uns beiden in meiner Dusche erregt mich schon.

LG Thomas

Hast du vielleicht den Mund zu voll genommen, Kati?

Weil nichts mehr kommt?

LG T.

Das hättest du wohl gerne! Meine Nachricht ist überfällig.

Guten Morgen!

Nein, hab ich nicht.

Es war nur der letzte Abend mit meinen Eltern, bevor sie für zwei Wochen nach London fliegen.

LG K.

Ich lese die nächste Nachricht. Sie ist von Kerstin.

Auf ins Gefecht. Drück mir die Daumen, dass wir einen schönen Urlaub haben und dass ich und Tobi noch zusammen sind, wenn wir zurückkommen.

HDL Kerstin.

Die beiden könnte nicht einmal die Pest trennen, soviel steht fest.

Ich wünsche euch einen tollen Urlaub und vergiss nicht: ihr beide passt zusammen wie „Die Faust aufs Auge“ romantisch ausgedrückt

HDAL Kati

Ich drehe mich im Bett noch einige Male hin und her bis ich aufstehe. Meine Eltern stehen im Flur bereit zu gehen. „Guten Morgen.“ Mum und Dad schauen zu mir die Treppe hoch. „Wolltet ihr ohne Abschied fahren?“

Meine Mutter sieht mich verärgert an. „Nein, natürlich nicht. Georg wollte gerade die Koffer ins Auto tragen und ich hätte dich währenddessen geweckt.“

Mein Vater nimmt zwei von den drei Koffern und tritt zur Tür hinaus. „Ich wollte ohne Abschied gehen.“ Seine Belustigung darüber ist bis ins Haus zurück hörbar.

Mum schüttelt nur missbilligend den Kopf, hakt sich bei mir unter und zieht mich ins Wohnzimmer. Unser Wohnzimmer ist groß und stilvoll eingerichtet. In der Mitte steht eine riesige champagnerfarbene Couch mit weißen Kissen, die restlichen Möbel sind dunkelbraun gehalten und ergänzen sich perfekt dazu. An den Wänden hängen Bilder von Blumen und Stillleben, die meine Mutter gezeichnet hat. An einer Wand ist eine komplette Bücherfront hochgezogen und neben dem Fernseher steht eine gläserne Vitrine mit Fotos.

„Was hast du vor in den nächsten zwei Wochen?“, hakt meine Mutter ein.

„Keine Ahnung, so wenig wie möglich.“

„Gute Idee. Entspann dich nochmal richtig, bevor der Lernstress weitergeht. Du wirst es brauchen.“

Dad kommt durch die Tür auf uns zu und zieht sein Portmonee aus der Fronttasche seiner Hose. „So Liebes, das ist für dich.“ Er reicht mir vier grüne Geldscheine. „Sollte es nicht reichen, nimmst du dein Taschengeld her, wenn wir zurückkommen ersetze ich es dir.“

„Danke Mum.“ Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange. „Danke Dad.“ Meinem Vater ebenfalls und verstaue das Geld in meiner Hosentasche. Die nächste knappe Stunde sitzen wir noch zusammen und reden einfach über alles, was uns einfällt. Der Abschied fällt uns allen drei schwer.

Nachdem sie gefahren sind, schließe ich die Haustüre hinter mir ab und atme kurz durch. Plötzlich kommt Freude in mir auf. Ich liebe meine Eltern zwar, aber dieses Gefühl, die nächsten 14 Tage mein eigener Herr zu sein, ist einfach unbeschreiblich. Das Mittagessen lasse ich ausfallen, jetzt kann ich mir alles selbst einteilen. Gegen 15 Uhr mache ich mir ein Sandwich mit Salat, Tomate, Schinken, Käse und bleibe beim Zappen durch die TV-Kanäle bei einem alten schwarzweißen Kriminalfilm hängen. Nachdem das Wort Ende im Bild aufgetaucht ist, beginnt sofort der nächste Teil der Reihe. Die restliche Zeit vertreibe ich mir mit Musik hören. Immer wieder schaue ich auf mein Handy, bis endlich eine Nachricht von Thomas auf dem Display erscheint.

Du hast ein ganzes Haus für dich allein?

Wenn du dich fürchten solltest, kann ich jederzeit vorbeikommen, du musst nur ein Wort sagen.

LG T.

Ich ignoriere meinen innerlichen Drang, ihm sofort zurückzuschreiben. Die Dämmerung bricht herein, als ich anfange mich zurechtzumachen. Ich ziehe einen roten Rock, ein weißes Trägertop und darüber eine schwarze Lederjacke an. Die Uhr schlägt zehn. Ich tippe eine Nachricht an Thomas ein.

Irgendwie habe ich das Gefühl,

dass du kommst, auch ohne dass ich Angst habe

Was hast du heute noch vor?

LG Kati

Mit meinem Handy in der Tasche mache ich mich auf zum Auto. Hoffentlich ist heute mehr geboten als Freitag.

Ich schalte das Radio ein und drehe die Musik soweit zurück, dass sie nur die Stille durchbricht, aber meine Gedanken nicht stört. Ich parke mein Auto wie das letzte Mal und gehe mit meiner Handtasche bepackt in Richtung Bahnhof. Er ist menschenleer. Ich schaue auf mein Handy. Eine neue Nachricht.

Ich komme gerne zu dir, egal wegen was, ob es aus Angst ist oder um zu kuscheln.

Ich werde heut nicht mehr viel machen.

Bin noch geschlaucht von Freitag und Samstag, außerdem ist morgen wieder arbeiten angesagt.

Du?

LG T.

Ich werde noch anschaffen gehen. Mist, das kann ich nicht schreiben. Ich schaue mich um, es ist immer noch keine von den anderen Frauen zu sehen. Was ist nur heute los? Mein Handy zeigt kurz nach halb elf Uhr an. Wo sind die alle bloß? Alleine hier zu stehen fühlt sich verloren und hilflos an. Meine Aufmerksamkeit fällt auf die Holzbank, wo ich Thomas zum ersten Mal gesehen habe. Meine Augen wandern zum Mietshaus, wo er wohnt, es ist kein Licht darin zu sehen. Vielleicht schläft er schon und ich wecke ihn immer wieder auf mit meinen Nachrichten. Ich packe mein Handy in die Tasche und beschließe, es für heute mit dem Schreiben gut sein zu lassen. Antworten kann ich ihm morgen auch noch. An der Situation hat sich nichts geändert, ich bin immer noch alleine am Parkplatz. Noch 10 Minuten, dann geh ich. Plötzlich höre ich jemanden mit hochhakigen Schuhen hinter mir laufen. Eine dünne Frau mit kurzen blonden Haaren geht an mir vorbei. Alles andere ist nicht zu erkennen. Sie lehnt sich gegen den Laternenpfosten am anderen Ende des großen Parkplatzes. Obwohl die Blondine eine Fremde für mich ist, fühlt es sich sofort besser an hier zu stehen. Es vergehen weitere Minuten und wieder kommt eine über die Straße auf den Platz. Sie setzt sich auf die Bank, die mittig zwischen mir und der Blonden steht, und zündet sich eine Zigarette an. Im Minutentakt fahren Autos an uns vorbei, doch keines davon hält an. Irgendwann kommt ein roter Flitzer um die Ecke gebogen und hält am Punkt genau neben der Holzbank. Die Frau wirft ihre Zigarette weg und steigt auf der Beifahrerseite ein. Mein Handy vibriert erneut in der Tasche. Bevor ich jedoch nachschauen kann, durchdringt ein rasender Motor die Stille. Ein schwarzes Auto hält an einer Straßenleuchte, gute 15 Meter entfernt von mir. Die Beifahrertür fliegt auf und eine Frau wird gewaltsam aus dem Auto gestoßen. „Gib mir meine Tasche, du Wichser!!“, brüllt sie mit weinerlicher Stimme. Beim genaueren Hinsehen fällt mir auf, dass ihre Nase blutet und ihr Gesicht übel zugerichtet aussieht. Als sie zurück ins Auto klettern will, höre ich einen lauten Schrei ihrerseits. Verdammt, was passiert da? Ich gehe auf das Auto zu, als die Stimme der anderen Frau, die vor kurzem noch am Laternenpfosten gelehnt war, an mein Ohr dringt. „Lauf weg, verdammt noch mal! Lauf!!“ Ihr Kopf ist zu mir gedreht.

„Aber?“ Ich bringe nichts mehr heraus und stehe immer noch wie angewurzelt am selben Fleck. Sie bückt sich, nimmt irgendetwas in die Hand und wirft es auf mich. Es sind lauter kleine Kieselsteine. Ich hebe schützend die Hand vor mein Gesicht. Wieder ist da ihre Stimme. „Lauf!“