NS-Haft in der biographischen Reflexion - Johannes Vogel - E-Book

NS-Haft in der biographischen Reflexion E-Book

Johannes Vogel

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Beschreibung

Nach dem Ende der NS-Herrschaft hatten viele der Verfolgten das Bedürfnis, von ihren Erlebnissen zu berichten. Unterstützt von den alliierten Besatzungsmächten erschienen in den ersten Nachkriegsjahren hunderte Schriften, in denen die Betroffenen die Haft in den NS-Gefängnissen und Konzentrationslagern schildern. Das Buch untersucht einige dieser Texte, die in ihren Rückblicken auf das eigene Erleben immer auch Urteile ableiten und Forderungen formulieren hinsichtlich der Konstituierung des postfaschistischen Deutschland. Mit welchen ästhetisch-narrativen Verfahren diese Texte ihre Folgerungen aus dem Erlebten sowie die zum Teil gravierenden Überschreibungen der eigenen Biographie plausibilisieren, steht im Fokus der Untersuchung. Dabei legt Vogel besonderes Augenmerk auf die komplexen Zusammenhänge, Brüche und Inszenierungen von historischen Ereignissen, individueller Erfahrung und deren schriftlicher Reflexion im Kontext des Nachkriegsdiskurses.

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Johannes Vogel

NS-Haft in der biographischen Reflexion

Schriften über die nationalsozialistischen KZ und Gefängnisse und der kulturelle Transformationsprozess in den westlichen Besatzungszonen

Gleichzeitig Dissertation an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

 

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

 

DOI: https://doi.org/10.24053/9783381109821

 

© 2024 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISBN 978-3-381-10981-4 (Print)

ISBN 978-3-381-10983-8 (ePub)

Inhalt

1 Einleitung1.1 Forschungsüberblick1.2 Zu dieser ArbeitHinweis zur SchreibweiseI Die Bedeutung der Opferperspektive für die Entnazifizierung und den Aufbau Nachkriegsdeutschlands2 Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt3 Verordnete Selbstverpflichtung. Institutionelle Positionen und der alliierte Standpunkt nationaler Neuorientierung3.1 Die neuformierten Parteien3.2 Die beiden christlichen Großkirchen4 Vom „Diktat fremder Siegermächte“. Der deutsche Leugnungsdiskurs4.1 Der Wandel des Opfer- zum Elitendiskurs. Die Debatte um die Innere Emigration5 Die Opfer des Nationalsozialismus zwischen offizieller Anerkennung und kontinuierter Verfolgung5.1 „Winkelzüge“. Die Übernahme nationalsozialistischer Sortierungskriterien im alliierten Opferbegriff5.2 Konkurrierende OpferperspektivenII Die Anmeldung von Führungsansprüchen in der Reflexion erlebter nationalsozialistischer Haft6 Die Notwendigkeit neuer Herrschaft zur Verwirklichung von Gemeinschaft. Isa Vermehren: Reise durch den letzten Akt6.1 Biographische Hinführung6.2 Schock und Deutung des Lagers6.3 Das „Reich des Nihilismus“ auf beiden Seiten der Stacheldrähte6.4 Aspekte eines Herrschaftsdiskurses6.5 Sittlicher Anspruch und Partikularität des Wertekosmos6.6 Fazit7 Rehabilitation des geistlichen Unterstützers als Seelsorger der Nation. Hanns Lilje: Im finstern Tal7.1 Biographische HinführungExkurs: Der Krieg als geistige Leistung7.2 Apologie des belasteten Anwärters7.3 Das Leid als geistige Bereicherung7.4 Zwischen Widerstand und Duldung. Der Christ und die weltliche Obrigkeit7.5 Die Kirche innerhalb der nationalen Deutung7.6 Offenbarung des geistlichen Führers7.7 Fazit8 Die Verkörperung deutscher Kulturtradition als Avantgarde ihres Wiederaufbaus. Ernst Wiechert: Der Totenwald8.1 Biographische HinführungExkurs: „Der reiche Mann und der arme Lazarus“ und die dritte Rede an die deutsche Jugend8.2 Die Johannes-Figur als Verkörperung der Nation8.3 Entgrenzte Gewalt und Bewahrung der nationalen Deutung im Lager8.4 Die Konkurrenz der Märtyrer8.5 Fazit9 Die Wandlung der faszinierten NS-Anhängerin zur Stimme eines neuen Menschenbildes. Luise Rinser: Gefängnistagebuch9.1 Biographische HinführungExkurs: Rinsers Schriften der 1930er Jahre9.2 Ekel und Neugierde. Die Haft und die Konfrontation mit der Vielfalt des Lebens9.3 Hinwendung zu Akzeptanz und Kritikverzicht9.4 Fürsprecherin des neuen Menschenbildes9.5 Fazit10 Das politische Häftlingskollektiv als Stifter von Gemeinschaft. Walter Poller: Arztschreiber in Buchenwald und Udo Dietmar: Häftling … X … in der Hölle auf Erden10.1 Biographische Hinführung10.2 Die humanistische Lagergemeinschaft in Arztschreiber in Buchenwald10.2.1 Skepsis – Überzeugung – Integration. Die Dialektik des politischen Kollektivs10.2.2 Der Nukleus des Humanen in der zurückgehaltenen Lagergemeinschaft10.3 Das Kollektiv als Vollbringer von Recht und Gerechtigkeit in Häftling … X … in der Hölle auf Erden10.3.1 Verfechter rechtsstaatlicher Ordnung in systematischer Willkür10.3.2 „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!“ Die befreite Lagergemeinschaft10.4 Fazit11 NS-Repressionen als Legitimation des Wittelsbacher Thronanspruchs und bayerischen Sonderwegs. Erwein von Aretin: Wittelsbacher im KZ11.1 Biographische Hinführung11.2 Der Monarchismus als Antifaschismus11.3 „Wir kamen dann nicht in ein Schloß, sondern in das KZ.-Lager Oranienburg-Sachsenhausen.“ Das Nicht-Darstellen der Haft11.4 Fazit12 Die Anmeldung intellektueller Führungspersönlichkeiten für den nationalen Zusammenhang im Spektrum ihrer Neuausdeutung. Zusammenfassung12.1 Zur Konstituierung universeller Verbindlichkeiten von Gemeinschaft zur Überwindung des Nationalsozialismus12.2 „Eine groß angelegte Parodie auf die Gerechtigkeit“. Die Forderung eines staatlich gestifteten Zusammenhangs des Rechts12.3 Ekel und Verpflichtung. Die Apostrophierung der Bevölkerung als führungsbedürftig12.4 Die Konstituierung einer neuen Elite12.5 Rezeption von Haftliteratur und Elitenansprüchen12.6 Historisches Ergebnis dieser Deutung des Opfers13 Literaturverzeichnis13.1 Primärliteratur13.2 SekundärliteraturAnhang14 Bibliographie der KZ- und Gefängnisliteratur 1945–1961

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

1Einleitung

Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenbruch NS-Deutschlands drängten die alliierten Siegermächte auf eine umfassende Aufklärung über die Haftbedingungen in den nationalsozialistischen Gefängnissen und vor allem den Konzentrationslagern. Sie selbst schickten Berichterstatterinnen und Journalisten und publizierten Broschüren, die die Weltöffentlichkeit und insbesondere die Deutschen mit der systematischen Gewalt des Regimes konfrontierten. Dazu förderten die Alliierten auch die Texte der Betroffenen. Die Besatzungsmächte waren auf das Material aus erster Hand in mehrfacher Hinsicht angewiesen: zur internen Informierung über die Funktionsweise des Lagersystems innerhalb des NS-Staates, zur juristischen Verfolgung der Täter in der Denazifizierung und nicht zuletzt für die Medienkampagnen ihres Re-education-Programms. Die Schilderungen der Opfer sollten allen Deutschen das Ausmaß des KZ-Systems, die in den Haftanstalten herrschenden Zustände und die tausenden Ermordeten vor Augen halten und so an der moralischen Diskreditierung des Nationalsozialismus mitarbeiten. Von alliierter Warte waren sie Instrumente zur Umerziehung der Massen. Die Berichte der ehemaligen Häftlinge wurden gefördert, eingefordert und zum Teil beauftragt und waren die ersten Schriften überhaupt, die auf dem von den Besatzungsmächten kontrollierten, lizenzierten Buchmarkt erscheinen durften.1 Im Fokus dieser Darstellungen stand zunächst nicht die Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Die Autor:innen dieser ersten nach 1945 erschienenen Texte waren zumeist die als politische Gefangene Inhaftierten, die über ihre Erlebnisse in Gefängnissen und Lager vornehmlich auf Reichsgebiet berichteten. Sie schrieben aus dem persönlichen Bedürfnis, mit den eigenen Erfahrungen an der Delegitimation des Nationalsozialismus mitzuwirken und Perspektiven für die postfaschistische Zukunft aufzuzeigen. Dies taten sie vor allem in autobiographischen Berichten, aber auch Gedichte, Erzählungen und Romane sowie erste sachliterarische Untersuchungen entstanden.2

Gemeinsam ist ihren Texten die ausdrückliche und eindringliche Versicherung der Authentizität des Geschilderten. Auffällig sind die unterschiedlichen Strategien, den Anspruch auf Objektivität und Authentizität zu untermauern. Zahlreiche Texte beglaubigten die Instanz des Autors bzw. der Autorin, indem sie ihrem Namen die einstige Häftlingsnummer hinzufügten.3 Walter Poller etwa, Hamburger Sozialdemokrat und ehemaliger Gefangener im KZ Buchenwald, schreibt über seinen Anspruch beim Verfassen von Arztschreiber in Buchenwald: Bericht des Häftlings 996 aus Block 39 (1946):

„Als ich die Feder zu diesen Aufzeichnungen ansetzte, nahm ich mir vor, unter keinen Umständen ein Zerrbild, sondern nach bestem Wissen und Gewissen ein möglichst naturgetreues photographisch-phonetisches Bild der Wahrheit zu geben, und dieser Vorsatz ist mein oberstes Gesetz bis zum Schlußpunkt.“4

Poller geht in der Betonung seiner Verpflichtung auf die Objektivität des Geschilderten so weit, dass er vor dem Haupttext einen Eid ablegt, „bei meinem eigenen Leben und bei allem, was ich liebe und lebenswert halte, daß ich die reine Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit niederschreiben werde.“ Versehen ist der Schwur mit Datum, Uhrzeit und dem Faksimile seiner handschriftlichen Unterschrift.5

Andere, wie der spätere Hannoveraner Landesbischof Hanns Lilje, unterstrichen den Wahrheitsgehalt ihrer Schriften, indem sie betonten, dass diese nicht auf eine Öffentlichkeit berechnet seien. Im Vorwort seines Gefängnisberichts Im finstern Tal schreibt Lilje, dass ihm selbst die Publikation seiner Erlebnisse widerstrebt habe:

„Solltest Du unversehens, lieber Leser, über dies Büchlein geraten und zu dem Entschluss gelangen, daß es von Dingen rede, die nicht für die Öffentlichkeit geeignet seien, so sei meiner Zustimmung gewiß. Denn hier ist weder von historischen Zusammenhängen unserer jüngsten Vergangenheit die Rede, die bisher unbekannt geblieben wären, noch wäre der Anspruch biographischer Besonderheit gerechtfertigt, denn tausend Andere haben Ähnliches wie ich, Ungezählte noch Schlimmeres durchgemacht, noch wird hier das traurige Geschäft betrieben, den Haß in der Welt zu vermehren. Dies Büchlein ist nichts anderes als ein Bericht, der nur wahrheitsgetreu erzählen, aber nicht dramatisieren oder heroisieren will, und der mit der Öffentlichkeit so viel oder so wenig zu tun hat wie ich selbst.“6

Auch jene Texte, in denen die Autor:innen ihren subjektiven Zugriff auf die Haft­erfah­rungen thematisieren und darin die Allgemeingültigkeit ihrer Darstellungen relativieren, stellen darin das Besondere der eigenen Perspektivierung als einzige Möglichkeit heraus, angesichts des Erlebten eine Wahrheit über die Gefangenschaft zu formulieren. 1946 legte das Autorenduo Erich Kunter und Max Wittmann den Roman Weltreise nach Dachau vor, in dem der Schriftsteller Kunter die Lebensgeschichte des Weltenbummlers und KZ-Häftlings Wittmann verarbeitet. Untertitelt ist der Text als „Tatsachenbericht nach den Erlebnissen“ Wittmanns. In der Einleitung versichert dieser die Faktizität des Dargestellten; es schildere „Tatsachen und wahre Begebenheiten und nennt Menschen bei Namen und Art.“7 Allerdings thematisiert Wittmann auch die Freiheiten, die er seinem Autor Kunter bei der Bearbeitung des biographischen Materials gewährt habe:

„In allem ließ ich jedoch meinem Kameraden und Mitautor die Freiheit, Personen und Handlungen da und dort nach eigenem Ermessen zu gruppieren, Einzelheiten hinzuzufügen, aus eigener Phantasie auszumalen, wenn er es im Interesse des Buches und seines ethischen Gehalts, sowie aus Gründen der Gestaltung und Zweckmäßigkeit für erforderlich hielt. Dies ist so geschehen, daß es wohl da und dort an der photographischen Genauigkeit mangelt, nie aber an der Wahrhaftigkeit.“8

Selbst bei einer nicht näher gekennzeichneten Abweichung vom Postulat der Faktentreue beansprucht der Text, wahrheitsgetreu zu sein. Noch weiter geht der Schriftsteller Ernst Wiechert im Nachwort zu seinem Buchenwald-Text Der Totenwald (1946). Er trennt den Wahrheitsgehalt vom Faktum ab. Erst die literarische Überformung öffne den Blick auf eine „höhere Wahrheit“:

„Der Verfasser […] hat diese Erinnerungen nicht um des Ruhmes willen geschrieben oder um noch vergänglicherer Dinge willen. Er gehört zu den Menschen, die mit den Dingen des Lebens eine Verwandlung vornehmen müssen, um sie in sein Schicksal einordnen zu können. Nicht eine Verwandlung in eine andere Wirklichkeit, sondern in eine höhere Wahrheit, eben in die der Kunst.“9

Wo die Autor:innen nicht die eigene Hafterfahrung thematisieren, greifen sie zu dem Mittel, ihre Autor:innenschaft als bloße Chronistentätigkeit zu beschreiben. So etwa der rechtskonservative Schriftsteller Ernst von Salomon, vor allem bekannt geworden durch seinen Bestseller Der Fragebogen (1951): Seiner 1960 erschienenen Biographie des ehemaligen Buchenwaldhäftlings Arthur Dietzsch, Das Schicksal des A.D. Ein Mann im Schatten der Geschichte, stellte er die Versicherung voran: „Dieser Zeuge hat das Wort. Ich, der ich dies schreibe, bin hier nur Chronist.“10

Es gehört zu den Spezifika jeden autobiographischen Schreibens, die Authentizität der Darstellung zu behaupten und zu inszenieren.11 Doch hier verweist das Beharren auf dem eigenen Erlebnis und der daraus abgeleiteten Authentizität des Berichts auf mehr als auf die Notwendigkeiten eines literarischen Genres. Die Autor:innen setzten sich vielmehr mit der gesellschaftlichen Tatsache auseinander, dass ihre Erfahrungen mit der faschistischen Repression bei großen Teilen der deutschen Bevölkerung auf – gelinde gesagt – taube Ohren stießen, wenn sie nicht gleich in ihrer Dimension in Bezug auf das Ausmaß an erlittener Gewalt wie auf die Zahl der Opfer bezweifelt oder sogar bestritten wurden. Viele Deutsche verstanden die Aufklärungskampagnen der Alliierten als Übertreibung oder gar als aufgezwungene Ideologie der Sieger, der sie vor allem die kollektive Anschuldigung entnahmen, das NS-Regime unterstützt und getragen zu haben, und gegen die sie verschiedene Weisen der Leugnung der Fakten und ihrer Beteiligung vorbrachten. Sie betonten, nichts gewusst zu haben insbesondere von den Konzentrationslagern, weshalb sie also auch nicht für die dort verübte systematische Gewalt zur Verantwortung zu ziehen seien. Man bestritt den Wahrheitsgehalt der Enthüllungen über Lager und Haft, verwarf diese als alliierte Propaganda oder stellte die Legitimität der Quellen infrage, auf die sie sich bezogen. Das besonders Perfide dieser Leugnung bestand darin, dass sie in den seltensten Fällen medial vertreten wurde. Sie hatte vielmehr die Qualität einer Volksmeinung, die im Halböffentlichen gepflegt wurde und sich dementsprechend auch einer sachlichen Auseinandersetzung weitgehend entzog.12 Ihre Wirkungsmacht lässt sich aber ablesen an dem Legitimationsdruck, dem die Betroffenen in den Beschreibungen ihrer Hafterlebnisse gehorchten, indem sie den Wahrheitsgehalt ihrer Berichte nachdrücklich ausstellten.

Ihr Versuch, gegen die Macht der Leugnung anzuschreiben, zeigt sich auch in der besonders drastischen Darstellungsweise, mit denen viele der Autor:innen den zeitgenössischen Diskurs aufrütteln und schockieren wollten.13 Die unmittelbar nach Kriegsende erschienenen Werke, so Roth, „zeichnen sich durch einen hohen Zeugnisdruck aus, der sich in der sprachlichen Gestaltung niederschlägt:“

„Die Darstellung ist häufig voll von sehr drastischen, sehr expressiv geschilderten Szenen, Folter, Gewalt und Mord werden sehr detailliert und Ausführlich [sic!] dargestellt. Auch die paratextuelle Gestaltung der Werke, ihre Coverbilder und Illustrationen, sind sehr drastisch; sie zeigen Leichenberge, arbeiten dominant mit der graphischen Gestaltung mit Blutflecken oder Totenköpfe [sic!]. Viele dieser Texte sind ein leiderfüllter Schrei in Richtung der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland, die sich jedoch ihnen gegenüber meist ignorant zeigte.“14

Viele Autor:innen sprechen das Klima der Leugnung direkt an und benennen es als Beweggrund, ihre Erlebnisse zu verschriftlichen. So etwa Isa Vermehren, ehemalige Insassin des KZ Ravensbrück, wenn sie im Vorwort ihrer 1946 erschienenen Schrift Reise durch den letzten Akt die Motive erläutert, die sie „vor allem zu dieser Arbeit bewogen haben“:

„[D]aß es noch immer so erschreckend viele Menschen gibt, die nicht glauben können oder wollen, daß hinter den glorreichen Kulissen der Nazipropaganda wirklich Ströme von unschuldig vergossenem Blut geflossen sind. In dem dringenden Anliegen, diese Ungläubigen endlich zu widerlegen und zu überzeugen, mag auch ein Versuch wie der vorliegende seinen gerechtfertigten Platz finden können.“15

Richard Schneider schreibt über Dachau, um damit, wie er im Untertitel mitteilt, Antwort auf Fragen von Jedermann zu geben. Er will jene erreichen, die der Aufklärung über die nationalsozialistischen Verbrechen „nicht glauben [wollen], weil sie sonst von ihrer politischen und weltanschaulichen Richtung abrücken müßten.“16 Noch deutlicher wird der unter dem Pseudonym Udo Dietmar schreibende Walter Paul, der in Häftling … X … in der Hölle auf Erden! (1946) auf die zahlreichen Deutschen hinweist, die während der NS-Herrschaft bestritten hatten und auch nach dessen Ende weiterhin standhaft leugneten, von den Lagern gewusst zu haben:

„In Buchenwald verhungerten Tausende und aber Tausende, auch Deutsche, denen das Geschenk eines Stück trockenen Brotes die größte Glückseligkeit bedeutet und manchen zuletzt vielleicht noch das Leben gerettet hätte. Und unten in den umliegenden Dörfern sah man gut genährte Menschen eigenen Blutes, die von alldem nichts gewußt haben wollen.“17

Der Österreicher Guido Kopp konfrontiert in seiner Lagerschilderung Ich aber habe leben müssen … (1946) die Ignoranz der Zivilbevölkerung, die in den befreiten KZ-Insassen sogar gutbetuchte Nutznießer der alliierten Besatzung entdeckte:

„Und zudem fressen wir euch heute den Schweinsbraten weg und unsere Mädchen tragen die seidenen Höschen … Überhaupt, wir KZler, wir saufen und schlemmen, es ist schon nicht mehr schön, und jeder einzelne hat die Taschen voll purem Golde. So ist es, wenn man euch hört, man möchte glauben, man müßte uns beneiden. […] KZler verstehen doch nichts, die kann man nicht brauchen.“18

Kopps Zorn über diese Diffamierungen, die ihm als brutale Verharmlosung der erlittenen Gewalt erscheinen mussten, kulminiert in dem gleichzeitig erbitterten wie ohnmächtigen Ruf: „Haltet euere Schnauze[!]“19

Auf der anderen Seite existieren Texte, die der Leugnung begegnen, indem sie sich von der alliierten Berichterstattung abgrenzen und betonen, nicht als Parteigänger der neuen Machthaber zu sprechen und lediglich die „Propaganda“ der offiziellen Informationspolitik zu wiederholen. Dietmar etwa unterstreicht:

„Wenn ich heute diese Zeilen schreibe, will ich damit nicht die unzähligen Radioberichte wiederholen, die der Welt die erste Kunde von diesen Grausamkeiten vermittelten. Ich will als einer der überlebenden Zeugen in Wahrheit schildern, was sich in den Konzentrationslagern unter meinen Augen und an mir selbst vollzog. Dieses Buch soll mithelfen, die Menschheit, vor allem unser deutsches Volk, das wahre Gesicht des Nationalsozialismus erkennen zu lassen; ihnen die Augen zu öffnen, vor allem den Menschen, die gegenüber den Presse- und Radioberichten noch leise Zweifel hegen und sie eventuell mehr oder weniger als Propaganda ansehen und immer wieder fragen: ‚Sagen Sie, Sie sind doch selbst im Konzentrationslager gewesen. War denn das wirklich so furchtbar?‘ Besonders die ewig Gestrigen soll es wachrütteln, die vom Zeitgeschehen wenig berührt sind, die noch glauben, es wäre alles gut geworden, wenn Deutschland, das heißt der Nationalsozialismus, den Krieg gewonnen hätte. Dieses Buch wird all denen die Wahrheit sagen, welche die Irrlehren des verbrecherischen Nationalsozialismus noch als unverdauten Kloß im Magen liegen haben.“20

Auch der kommunistische Widerstandskämpfer Friedrich Schlotterbeck äußert sich in seiner Broschüre … wegen Vorbereitung zum Hochverrat hingerichtet (1945) nachdrücklich gegenüber dieser Skepsis: Die Schilderung der Leidensgeschichte seiner Familie „schreie“ er „jenen in die Ohren, die auch jetzt noch von ‚Greuelpropaganda‘ murmeln und immer noch an die Allmacht der Lüge glauben.“21 Dabei zeigen Verteidigungen wie die des unter dem Pseudonym A.W. Conrady veröffentlichenden Conrad Wilhelm Albert Stromenger, dass die Äußerungen der Opfer auch als „antideutsche“ Positionierungen diskreditiert wurden, die im Verdacht von „Feindpropaganda“ und „Nestbeschmutzung“ standen. Derartigen Anwürfen versuchte Conrady in seinem Roman Amokläufer (1947) zuvorzukommen, indem er betonte, sich als Deutscher und Patriot zu äußern:

„Nach jedem herben Schicksalsschlage kommen bei uns wie bei anderen Völkern, fast mit Naturnotwendigkeit, Auslassungen zu Worte, die wie Anklagen wirken. Auch das vorliegende Buch wird eine solche Wirkung auslösen … ja, der Verfasser glaubt sogar schon die Kritik sich dahin aussprechen zu hören: Das Werk schwelge in Kraßheiten! […] Aber keine einzige Zeile dieses Buches ist im entferntesten von antideutscher Gehässigkeit diktiert. Vielmehr liebt der Verfasser sein Vaterland so ehrlich über alles, daß aus ihm nichts anderes als vollste Erbitterung über den verbrecherischen Dilettantismus sprechen muß, der das Leid dieser Jahre über uns alle, die wir deutsch empfinden, herbeigeführt hat. … Nur wer sein Volk so liebt, darf auch so schelten. Nehme deshalb niemand an, daß der Verfasser etwa dollarhörig oder anglophil oder sonstwie ‚auslandsbesessen‘ sei, ebenso wie Halb- oder Volljude, um im Nazijargon zu reden.“22

Auch der evangelische Pfarrer und Mitglied der Bekennenden Kirche Kurt Walter insistiert, nicht als Beauftragter der Alliierten zu sprechen, und thematisiert zu Beginn seines Textes Gott im Konzentrationslager von 1946 sogar – konträr zur Täter-Opfer-Definition der Besatzungsmächte – die zahlreichen deutschen Leidensschicksale, angesichts derer ihm das Schildern seiner Hafterfahrung als geradezu moralisch fragwürdig erscheine:

„Wenn ich nach dreijähriger Gefangenschaft im Konzentrationslager Dachau der an mich ergangenen Aufforderung Folge leiste, für eine größere Leserzahl darüber etwas zu schreiben, so sei eins vorausgeschickt: nämlich, daß ich sehr starke Hemmungen habe, davon überhaupt zu reden. […] [D]eshalb, weil ich meine, daß all das Böse und Schwere jener Gefangenschaft nun einmal ein wenig zurückzutreten habe vor dem, was unsere Soldaten im Kriege geleistet und gelitten haben, vor dem, was in den Ostgebieten Deutschlands sich inzwischen abgespielt hat an unvorstellbarem Hunger und grauenvoller Gewalttat, vor den auf den Landstraßen, den Eisenbahnen und Bahnhöfen herumgeisternden Elendsbildern der Ostflüchtlinge und der aus dem Osten heimkehrenden Kriegsgefangenen, vor dem Wissen, daß im Laufe dieses Winters gewiß viele Hunderttausende, vielleicht Millionen deutscher Menschen im Elend umkommen werden, wenn nicht Gott noch ganz bald ein Wunder tut. Wer all das […] förmlich studieren konnte, so wie ich soeben dazu Gelegenheit hatte, dem vergeht sehr gründlich die Lust zu allem anspruchsvollen Gerede über seine Erlebnisse und Leiden im Konzentrationslager.“23

Derart ist auch der Vorgriff des Publizisten Eugen Kogons in Der SS-Staat zu verstehen, „[d]as Argument, daß dieses Buch dem Deutschtum schade“, nicht gelten zu lassen, „selbst wenn man es mir, was ich vermute, hundertfach entgegenhalten wird.“24 Im Gegenteil versicherte der Autor:

„Das Buch ist heute mit keiner deutschen oder ausländischen Propagandastelle, mit keiner Partei, keinem Amt oder Büro und mit keiner Person außer meiner eigenen verknüpft. […] Einseitige propagandistische Auswertung kann ich so wenig verhindern wie gelegentlichen sensationslüsternen Mißbrauch. Beide verabscheue ich – die Sensation beinahe noch mehr als die Propaganda.“25

Diese Klarstellung war Kogon derart wichtig, dass sie schon auf dem Umschlag des Buches allen potentiellen Leser:innen zur Kenntnis gebracht werden sollte: „Dieses Buch dient keiner Propaganda und will keine Sensation wecken.“26 Um dies zu untermauern, positioniert er sich zudem kritisch gegenüber den Aufklärungskampagnen der Alliierten:

„Die ‚Schock‘-Politik hat nicht die Kräfte des deutschen Gewissens geweckt, sondern die Kräfte der Abwehr gegen die Beschuldigung, für die nationalsozialistischen Schandtaten in Bausch und Bogen mitverantwortlich zu sein. Das Ergebnis ist ein Fiasko. Infolgedessen blieb auch die alliierte KL-Propaganda teilweise wirkungslos. Sie sollte, als die Sieger Zahl, Art, Umfang und System der Konzentrationslager in Deutschland selbst erst kennengelernt hatten, der Erhärtung der Schuldthese dienen. Abermals falsch. […] Ein berechtigtes Gefühl von Millionen wehrte sich gegen die Kollektiv-Anklage, die einen egalisierenden Anschein hatte. Es brachte sie in der Selbstverteidigung auf die feinsten Ausflucht-Unterscheidungen […].“27

Zweifeln an seiner Glaubwürdigkeit als aufklärende Instanz über die Lager begegnete Kogon auch dadurch, dass er einige der Ressentiments gegenüber Teilen der befreiten KZ-Häftlinge bestätigte und seinen Text abseits jeglicher tendenziösen Berichterstattung als Handbuch bewarb, mit dessen Hilfe sein Publikum die „wirklichen“ Opfer von den „KZ-Profitierern“ unterscheiden könne:

„Zehntausende Überlebender, die in den Lagern, unter dem Terror und der Arroganz ihrer Mithäftlingsherren manchmal noch mehr gelitten haben als unter den Gemeinheiten der SS, werden mir dankbar dafür sein, daß ich auch diese Seite der Lager aufgehellt, daß ich nicht aus Angst vor gewissen politischen Typen, die heute als radikale Antifaschisten ein großes Wort angeben, ihre Rolle in den Lagern verschwiegen habe. Ich weiß, daß es Kameraden gibt, die beinahe verzweifelten, als sie damals erkennen mußten, wie sehr gewissen SS-Praktiken in den Reihen der Unterdrückten Schule gemacht hatten, erst recht aber, als sie sahen, daß Ungerechtigkeit und Brutalität von einer ahnungslosen, gutgläubigen Umwelt hinterher auch noch mit dem Nimbus des Heroentums bekleidet wurden. Solche KZ-Profitierer werden von gewissen Partien meines Berichtes nicht erbaut sein, denn er bietet die Mittel, falsche Gloriolen zum Erblassen zu bringen: In welchem Lager warst du? In welchem Kommando? In welcher Funktion? Mit welcher Farbe? In welcher Parteizugehörigkeit? Wie lange?, und was dergleichen Fragen mehr sind, die von nun an jeder stellen kann, der dieses Buch gelesen hat und dann über die nationalsozialistischen Konzentrationslager Bescheid weiß.“28

In allen Erfahrungsberichten und autobiographischen Texten über Lager, Haft und Verfolgung schreiben die Autor:innen gegen das Klima der Leugnung an und sahen darin einen entscheidenden Beitrag für die Bewältigung der faschistischen Vergangenheit in Deutschland. Dass ein fundamentaler Bewusstseinswandel bei der Bevölkerung einzusetzen habe und dass gerade die Opfer des Nationalsozialismus kundig und berechtigt waren, diesen Bewusstseinswandel einzufordern und zu forcieren, bringen die Texte deutlich zum Ausdruck. Aber viele von ihnen gehen noch weiter. Sie reklamieren für sich nicht nur den Opferstatus, sie bekennen sich regelrecht zu ihrem Volkserziehungsauftrag, den sie aus ihrem Bekenntnis zur deutschen Nation ableiten: „Nur wer sein Volk so liebt, darf auch so schelten.“ Die Äußerung Conradys erklärt den Patriotismus zur Voraussetzung jeglichen Antifaschismus, den man der Bevölkerung abverlangt, wie umgekehrt die deutsche Bevölkerung sich zur Rettung der Nation zu „bewähren“ habe, wie der Redakteur Conrad Finkelmeier in seinem Erlebnisbericht Die braune Apokalypse (1947) betonte:

„Heute nun befindet sich das deutsche Volk im Glutofen seiner Bewährung. Und es steht nichts Geringeres auf dem Spiele als der Bestand und die Ehre unseres Volkes und unserer Nation. Das deutsche Volk, das zwölf Jahre die unauslöschliche Schande ertrug, von seinen Unwürdigsten regiert zu werden, hat jetzt unter der Kontrolle der Befreier noch einmal die Chance, durch seinen Haß gegen das Gestern die Schmach und Schande zu tilgen, die es durch Duldung der ungeheuerlichsten Verbrechen auf sich geladen hat.“29

Die SPD-Politikerin Jeanette Wolff erklärte hinsichtlich der Wirkungsabsicht von Sadismus oder Wahnsinn (1947?), der Bearbeitung ihrer KZ-Erlebnisse, dass es die Deutschen „einzuspannen“ gelte für eine umfassende Wandlung der nationalen Zusammenhänge:

„Ein neues Deutschland mit Menschen, die geistig und seelisch erneuert werden müssen, ein Deutschland der Demokratie, des Friedens und der Zufriedenheit muß aufgebaut werden. Eine Jugend muß befreit werden aus den Banden Hitlerscher und Goebbelsscher Hypnose, und erzogen werden, abseits von aller Kriegsbereitschaft, zu einer neuen Menschlichkeit im Sinne der Gleichberechtigung aller Menschen, zur Völkerversöhnung und zum Weltfrieden. Eine schwere Aufgabe haben die Erben des Hitler-Himmlerschen Verbrecherregimes übernommen. Ihre Aufgaben sind nur zu erfüllen, wenn die gesamte deutsche Bevölkerung, jeder nach seinem Können, in den Dienst dieser Aufgaben eingespannt wird.“30

Die Auseinandersetzungen in diesen Vorworten beziehen sich in einer neuen Qualität auf den Leugnungsdiskurs: Es stechen Stimmen heraus, die sich den Standpunkt der alliierten Re-education einer notwendigen Wandlung der deutschen Bevölkerung selbst zur Aufgabe machen, für dessen Formulierung und Durchsetzung sie selbst als Opfer der Nationalsozialisten und Teil des künftigen nationalen Zusammenhangs besonders geeignet scheinen.

Die vorliegende Arbeit will an einer Auswahl von Texten aus dem Westen Deutschlands, in denen ein solcher Führungsanspruch formuliert ist, zeigen, dass und wie die in den Vorworten so programmatisch vorgebrachte Qualifizierung für den Aufbau eines neuen nationalen Zusammenhangs geltend gemacht und in die Schilderung der Hafterlebnisse eingeschrieben ist. Als Vertreterin einer auf christlicher Religiosität basierenden Ethik und Sittlichkeit äußerte sich Isa Vermehren in Reise durch den letzten Akt (1946). Als Person der Kirche thematisierte auch der spätere Landesbischof Hanns Lilje seine Gefängnishaft im Gestapo-Gefängnis in Im finstern Tal (1947). Aus dem Bereich der Kultur legte der Bestsellerautor Ernst Wiechert mit Der Totenwald (1946) eine bis heute als mustergültig erachtete literarische Bearbeitung seiner Inhaftierung in KZ Buchenwald vor, während Luise Rinsers Gefängnistagebuch (1946) den Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere in Nachkriegsdeutschland markiert. Auch bezogen sich Personen auf die Haft im Nationalsozialismus, die in ihren Texten sozialdemokratische bis kommunistische Positionen vortragen, wie etwa der Sozialdemokrat Walter Poller in Arztschreiber in Buchenwald (1946) oder Udo Dietmar/Walter Paul, der in Häftling … X … in der Hölle auf Erden (1946) seine Gefangenschaft in mehreren KZ schilderte. Doch auch Vertreter extrem rechter Anschauungen publizierten, wie der Monarchist Erwein von Aretin mit Wittelsbacher im KZ (1949). Die Korpusauswahl hat zum Ziel, die Bandbreite der gesellschaftlichen Sphären aufzuzeigen, aus denen sich ein solcher Anspruch formulierte, und zu ermitteln, mit welchen Perspektiven die einzelnen Autor:innen die Gemeinsamkeit einer Formulierung von Zuständigkeiten für den ideellen Wandel der Bevölkerung in ihren Texten konkretisieren und darin eine Person oder eine Gruppe über ihren Status als Opfer und qua aus der Haft geschöpfter Qualitäten als intellektuelle Führungspersönlichkeiten und kulturelle Orientierungsgeber für die deutsche Nachkriegsgesellschaft anzupreisen.

1.1Forschungsüberblick

Die ersten Schilderungen nationalsozialistischer Haft­erfah­rungen waren lange Zeit nicht Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Forschung. Wenn überhaupt, so wurden sie, ausgehend von ihrem ostentativen Authentizitätsgebot, als historische Fakten oder Quellentexte zur Annäherung an die historischen Opfer der NS-Gewalt untersucht. So existiert eine biographische Forschung, die die Selbstzeugnisse etwa von Hanns Lilje und Isa Vermehren hinsichtlich ihres Informationsgehalts über die Hintergründe und Stationen der Haftschilderungen ihrer Autor:innen befragt, zum Teil aber auch den (selbst)stilisierenden Charakter dieser Texte problematisiert.1

Diese vergleichsweise schwache Repräsentation ist vor allem dadurch begründet, dass sich die Forschung über Dekaden schwerpunktmäßig mit der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden auseinandersetzte und Texte über den Holocaust bzw. die Shoah unter Gesichtspunkten der eliminatorischen Dimension der nationalsozialistischen Gewalt insbesondere in den Vernichtungslagern untersuchte.2 Die Forschungsdiskurse zur Holocaustliteratur haben sich verstärkt mit Fragestellungen zum singulären Charakter der NS-Gewalt auseinandergesetzt, der die Möglichkeiten zu Darstellung und Vermittlung a priori in Frage stelle.3 Es schlossen sich Debatten an über die vermeintliche Unausdrückbarkeit sowie mögliche Poetologien der in den Lagern verübten Verbrechen.4 Insbesondere wurden psychologische Zugänge nutzbar gemacht, die diese Verschriftlichungen im Sinne von Verarbeitungs- und Bewältigungsstrategien des Erlittenen verstanden und als Modi der Versprachlichung von Leiden und Opferexistenz untersuchten.5 Der Perspektivierung der Lager unter diesen Fragestellungen entspricht das in diesen Untersuchungen analysierte Korpus. Dieser umfasst in der Regel chronologisch später erschienene Texte, die sich der Höhenkammliteratur zurechnen lassen und häufig nachdrücklich die Modalitäten einer geeigneten oder angemessenen Darstellung des Erlittenen problematisieren.6

Erst im Zuge einer Erweiterung des Holocaustbegriffs fand eine Auseinandersetzung auch mit Veröffentlichungen statt, die in den Jahren unmittelbar nach Kriegsende erschienen waren. Dieser Begriffserweiterung lag der Versuch einer Ausdifferenzierung der nationalsozialistischen Verfolgungen zugrunde. Seitens der historischen Forschung haben Untersuchungen den Fokus auf eine Reihe nichtjüdischer, als zuvor „vergessen“ bezeichnete7 Opfergruppen gelegt. Ergebnis dieser Forschung sind dezidierte Auseinandersetzungen etwa mit den Zwangsarbeitern,8 Euthanasie-Opfern9 sowie den als Sinti und Roma,10 „Asoziale“11, „Kriminelle“ bzw. Berufsverbrecher12, Zeugen Jehovas13 oder Homosexuelle Inhaftierten.14 Ausgehend von dem Befund, dass es sich weder bei den Lagergemeinschaften noch den von den Nationalsozialisten exekutierten Häftlingssortierungen um homogene Gruppierungen gehandelt hatte, haben neuere Strömungen der Lagerforschung diese vom Wissenschaftsfeld der Soziologie in den Blick genommen.15

Derartige Öffnungsversuche gab es auch in Bezug auf die Literatur über die NS-Verfolgungen. Die US-amerikanische Germanistin und Historikerin Cernyak-Spatz hat in den 1980er Jahren eine Erweiterung des Holocaustbegriffs angestoßen, um Texte nichtjüdischer Opfergruppen sowie biographisch nicht Betroffener ebenfalls einzuschließen. Dazu heißt es im Vorwort ihrer Studie German Holocaust Literature: „Therefore the literature dealing with the concentration camps, German as well as non-German, has become known under the specific sub-heading: Holocaust literature.“16 Weiter haben Rosenfeld und Dresden in ihren Arbeiten der 1980er und 90er Jahre wichtige Impulse gesetzt hinsichtlich der weiteren Öffnung des Holocaustbegriffs hin zum Verständnis als internationale Literatur, welche auch die Texte biographisch nicht Betroffener sowie der sogenannten Kinder- und Enkelgeneration einschließt.17 Kam dabei in der Regel ein enger Literaturbegriff zur Anwendung, erweiterten Rosenfeld und, an diesen anschließend, insbesondere Young diesen dahingehend, auch nicht publizierte Texte, u. a. Tagebücher, Briefe und Notizen, zu verhandeln.18

In der aktuellen literaturwissenschaftlichen Forschung kommt zumeist ein weiter Holocaustbegriff zur Anwendung, prominent vertreten u. a. von der „Arbeitsstelle Holocaustliteratur“ an der JLU Gießen.19 Dieser tritt an, neben den jüdischen Opfern auch alle anderen Opfergruppen des Nationalsozialismus zu umfassen.20 Zugrunde liegt diesem Verständnis von Holocaustliteratur ein weiter Literaturbegriff, welcher sämtliche textlichen Auseinandersetzungen mit Verfolgung und Lagern durch die Nationalsozialisten einschließt. Diese weite Setzung geht davon aus, dass sich diese Literatur weniger hinsichtlich der Zugehörigkeit ihrer Autor:innen zu einer bestimmten Opfergruppe denn als Gattung nach spezifischen poetologischen Gesichtspunkten beschreiben lasse.21

Ausgehend davon haben Untersuchungen jüngeren Datums wiederholt das Spannungsverhältnis zwischen historischem Fakt und subjektiver Perspektive, die durch die Extremsituation der Haft und die Begrenztheit ihres Einblicks in die Zusammenhänge des Haftsystems geprägt ist, problematisiert. Dieser Zugang nutzt die Instrumentarien sowohl von Geschichts- wie Literaturwissenschaften und verhandelt die literarischen Verarbeitungen als „Zeugnisse“ der NS-Gewalt, die als historische Artefakte ihrerseits konstituierende Teile der Erinnerung an den Nationalsozialismus würden.22 Als „Teil moderner Geschichtsschreibung“, so Körte, stehe diese „Zeugnisliteratur“ „in einem Spannungsverhältnis zu den großen Erzählungen der Historiographie.“23 Ausgehend von dem Befund, dass die literarischen Verarbeitungen von NS-Gewalterfahrung bis heute zentrale Bausteine für die Auseinandersetzung, Erinnerung und den heutigen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit seien, widmet sich dieser Forschungsbereich der Frage, wie die Texte die kollektive Erinnerung an die NS-Gewalt beeinflussten und dies im zeitgenössischen Diskurs weiterhin tun.24 Als solche sind auch die unmittelbar nach 1945 erschienenen Texte wiederholt unter Fragestellungen des kollektiven Gedächtnisses und der Erinnerungskultur untersucht worden: Peitsch etwa problematisiert in seiner Studie zur Autobiographik über den Nationalsozialismus nach 1945 in diesen Texten entworfene Muster der Rechtfertigung und Selbststilisierung. Seine Untersuchung widmet sich der Frage, mit welchen literarischen Strategien diese Selbstzeugnisse sich in den zeitgenössischen Erinnerungsdiskurs über die NS-Herrschaft einschrieben, inwiefern diese also aus den Verhältnissen der Nachkriegszeit heraus als „kollektive“ Perspektivierungen des Nationalsozialismus einen Beitrag zum „Gedächtnis der Nation“ leisteten.25 Dazu untersucht Peitsch u. a. Hanns Liljes Im finstern Tal, Ernst Wiecherts Der Totenwald oder Luise Rinsers Gefängnistagebuch. Die kollektive Erinnerung wurde zudem als Wandlungen unterworfene Bezugsgröße in den Blick genommen. So problematisiert Fang in ihrer Untersuchung der Täterbilder in der „Überlebendenliteratur“ den Einfluss zunehmender zeitlicher Distanz zwischen Erleben und literarischer Fixierung auf Konzentrationslagertexte sowie die Wechselwirkungen von individuellem und kollektivem Erinnern:

„Die Erinnerungen der Autoren befinden sich demnach in einem kommunikativen Prozess und werden ständig auch von den Erinnerungen der Zeitgenossen und deren (visueller) Repräsentanz, wie z. B. in Filmen und der Literatur, beeinflusst. In diesem Prozess entwickelt sich das Gedächtnis unbewusst in Richtung der Kanonisierung.“26

Eine ähnliche Fragestellung wie Fang verfolgt auch die Untersuchung von Barboric, die Udo Dietmars Haftschilderung mit der von Elie Wiesel (Nacht, 1958, dt. 1962) vergleicht.27 All diese Forschungsansätze versuchen, die frühen Texte zur nationalsozialistischen Hafterfahrung in einen erweiterten Holocaustbegriff einzuordnen, wo sie als Vorstufen bzw. Vergleichspunkte innerhalb eines größeren literarischen Zusammenhangs untersucht werden.

Ansätze aus jüngster Zeit wiederum versuchen, den seit Längerem parallel genutzten Begriff „Lagerliteratur“ auch theoretisch und in Abgrenzung von dem der Holocaustliteratur zu etablieren.28 Dieses Forschungsfeld problematisiert das Lager als literarischen Stoff innerhalb eines Kontextes historisch gewachsener Darstellungskonventionen und widmet sich insbesondere den Verbindungslinien der Literatur zu den nationalsozialistischen KZ zu anderen Formen der Lager- und Gefangenenliteratur. Dabei greift es Traditionslinien der Gefängnisliteratur von vor 1933 auf, sucht aber auch nach Verknüpfungen etwa zur Lagerliteratur über den sowjetischen Gulag.

Die äußerst zahlreichen Untersuchungen und Forschungsansätze zu „Holocaust‑“, „Zeugnis-“, „Überlebenden-“, „Verfolgten-“ oder „Lagerliteratur“ haben die Texte zu den nationalsozialistischen Verfolgungen unter verschiedenen Gesichtspunkten der Vergangenheitsbewältigung, der Rekapitulation und Deutung des Nationalsozialismus sowie der Aufarbeitung und der Würdigung der Opfer untersucht. Dabei erstellten die unterschiedlichen Forschungsschwerpunkte je nach Opfergruppen, Art der Verfolgungen, Textsorten, Grad der Fiktionalisierung, Zeitpunkt und Region der Publikation sowie Sprache sich zwar überschneidende, doch zum Teil deutlich voneinander verschiedene Literaturkorpora. Allen diesen Forschungsströmungen und Terminologien ist jedoch gemein, dass sie die unmittelbar nach 1945 erschienenen Texte im Spannungsfeld von historischem Faktum und fiktionaler Bearbeitung problematisieren und dabei einer Fragestellung der Vergegenwärtigung des Vergangenen, der Aufarbeitung der Hafterfahrung und des Nationalsozialismus oder der Annäherung an die Opfer, deren Zeugnissen und Traumata nachgehen. Leerstelle dieser Forschungsbereiche sind indessen die Perspektiven, die diese Literatur in der Bewältigung der Hafterfahrung nach vorne entwirft. Worin dieser Antrag an die postfaschistischen Zusammenhänge besteht und wie die Texte diesen plausibilisieren, nimmt die vorliegende Untersuchung sich zu beantworten vor.

Aufgrund dessen sind für dieses Forschungsprojekt einige Ansätze aus dem Umfeld der „Arbeitsstelle Holocaustliteratur“ interessant, die sich dem zeitgenössischen Kontext dieser Literatur sowie den Diskursen, innerhalb derer sie entstand und rezipiert wurde, zuwenden und damit ein bislang kaum untersuchtes Forschungsfeld eröffnen. So lieferten Binsch und Kitzinger erste Hinweise auf die Produktions- und Rezeptionsbedingungen dieser Texte insbesondere mit Blick auf den Einfluss der Zensur- und Lizenzierungspolitik der alliierten Besatzungsmächte.29 Eine umfassende Untersuchung dieses Zugangs ist jedoch weiterhin Desiderat der Forschung. Ebenfalls aus dem Umfeld der Gießener Arbeitsstelle werfen Roth und Feuchert ein, dass insbesondere die unmittelbar nach Kriegsende publizierten KZ-Texte mit dem Anspruch aufträten, sich auch politisch an dem noch offenen Diskurs zur Neugestaltung Nachkriegsdeutschlands zu beteiligen. In der Einleitung zum jüngst erschienenen Sammelband HolocaustZeugnisLiteratur heißt es hinsichtlich der zwischen 1945 und 1949 publizierten Werke:

„Expressive Gewaltdarstellungen und drastische Schilderungen des erlittenen Leids gehen oft einher mit einem (daraus abgeleiteten) politischen Gestaltungsanspruch für die noch offene Entwicklung in Nachkriegsdeutschland.“30

In ihrer „Einleitung“ reißen Roth und Feuchert den Aspekt einer in den Texten ausgebreiteten politischen Legitimationsstrategie als Beleg des „Zeugnisdrucks“ in dieser Produktionsphase an. Eine Ausformulierung der in diesen Texten entworfenen Ansprüche oder die weitere Auseinandersetzung mit ihren Verfahrensweisen ist indessen ebenso Forschungsdesiderat.

Für die Literatur in SBZ und DDR hat die Forschung indessen bereits die Legitimationsmuster der Texte zu KZ und Gefängnis in den Blick genommen und dabei insbesondere ihre Funktion als Formulierungen und Beglaubigungen eines kommunistisch dominierten Führungsnarrativs herausgearbeitet. Einhellig wurde darin festgestellt, dass diese Literatur in ihren Darstellungen von Lager und Gefangenschaft und insbesondere in ihren Schilderungen der Häftlings- als von den politischen Gefangenen geprägten Solidargemeinschaften, die auch im Lager den antifaschistischen Widerstand fortführten, eine gelebte Gegenperspektive zum Nationalsozialismus verbildliche. Darin offenbarten sich diese „Opferhelden“ als Träger des humanistischen Gedankens, was sie gleichzeitig zu Aufbau und Führung der postfaschistischen Gesellschaft legitimiere. Insbesondere Bruno Apitz’ in millionenfacher Auflage erschienener Roman Nackt unter Wölfen (1958) wurde wiederholt dahingehend Forschungsgegenstand, wie dessen Vergegenwärtigung des Vergangenen eine Perspektive auf die zeitgenössische Gesellschaftsordnung stifte. Der Text, in dem die Aspekte von Antifaschismus in Gestalt einer unter kommunistischer Führung agierenden, internationalen Widerstandsgruppe sowie des Humanismus in der handlungstreibenden Frage nach der Rettung eines in Buchenwald ankommenden Kindes, von Apitz selbst einmal als „sentimentale[r] Brennpunkt“ apostrophiert,31 als Zentralthemen aufeinandertreffen, gilt als Entwurf eines kommunistischen Führungsanspruchs bzw. als nachträgliche Legitimation der sozialistischen Führung der DDR sowie des durch diese etablierten Erinnerungsnarrativs, welches in erster Linie auf das KZ Buchenwald sowie die dort als Sozialdemokraten und Kommunisten inhaftierten politischen Gefangenen fokussiere.32 In seiner Studie über den Lagerdiskurs in der DDR konstatiert Taterka, Nackt unter Wölfen sei insbesondere aufgrund dieses historiographischen Potentials zu „dem Lagertext schlechthin auf[gerückt]“:

„Lagertext und nicht Lagerroman, weil man hier vor einem der seltenen Fälle steht, da in der Frühzeit der DDR ein literarischer Text sich nicht am Leisten vorgängiger historiographischer Deutungen messen lassen muß, sondern seinerseits ideologie- und geschichtsstiftend die Geschichtsforschung präformiert, indem kaum andere Fragen zu stellen und Ergebnisse zu verbreiten waren als solche, die sich mit Apitz’ Roman zur Deckung bringen ließen. […] Mit Nackt unter Wölfen erst tritt auf, was auf dem [diskursiven] Feld zuvor fehlte: eine nicht abgezogen wertsetzende, sondern fleischgewordene Axiomatik, die eine nicht nur abschneidende, sondern auch konstruktiv orientierende Norm liefert. Nackt unter Wölfen bot nicht einfach ein an sich gleichgültiges Beispiel, sondern stellte als erzählte Wertvorstellung ein exemplarisches Vorbild dafür, was von den Konzentrationslagern zu welchem Ende wie zu sagen sei.“33

Apitz’ „kardinale“ Position im Koordinatensystem ostdeutscher Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Lagern umfasse zentral das in ihm ausgebreitete kommunistische Führungsnarrativ. Dazu führt Bach weiter aus:

„Ausschlaggebend für den Erfolg von Nackt unter Wölfen war, dass sich der Roman hervorragend in das Geschichtsbild der DDR über die faschistische Vergangenheit einfügte. Der im Roman geschilderte Kampf der kommunistischen Häftlinge für eine bessere, gerechtere Welt liefert den Gründungsmythos der DDR, aus dem antifaschistischen Widerstand hervorgegangen zu sein und diese gerechtere Welt geschaffen zu haben. Aus dem Widerstandskampf, der allein den Kommunisten zugeschrieben wird, leitet sich ihr Führungsanspruch nach dem Krieg ab. Apitz’ Roman untermauert diesen, da er die Kommunisten als sogar im Konzentrationslager humanitär und moralisch handelnd darstellt.“34

Für den Osten Deutschlands existiert somit bereits eine Forschung, die die Vergegenwärtigung des Lagers als Quelle einer Perspektive für die Nachkriegsgesellschaft untersucht, hier in erster Linie das politische Narrativ der Kommunisten und Sozialdemokraten. In SBZ und DDR lag eine klare Definition des NS-Opfers als antifaschistisch vor, aus welchem sich ein politisches System den Gründungsmythos ableitete und mit dem sich dessen Führungselite schmückte. Die Teleologie dieser Opfer des Nationalsozialismus mündete im Osten fraglos im Aufbau des Sozialismus als Garant für die Nichtkontinuität nationalsozialistischer Gewalt und die Durchsetzung einer humanistischen Zukunft.35

Für den Westen Deutschlands existierten weder ein derartiges Narrativ noch die Verbindung zwischen der Rekapitulation der Opfer und den notwendigerweise durchzusetzenden Maßstäben für die neue Gesellschaft. Die Leitfragen dieser Forschungslandschaft und insbesondere den Einwurf von Roth und Feuchert eines aus dem Leid abgeleiteten „Gestaltungsanspruch[s] für die noch offene Entwicklung in Nachkriegsdeutschland“36 aufgreifend, untersucht die vorliegende Arbeit sein Primärtextkorpus hinsichtlich der Perspektiven, welche dieser der Erfahrung von Lager und Gefangenschaft für die Neuorientierung im Westen Deutschlands entnimmt.

1.2Zu dieser Arbeit

Das untersuchte Korpus stellt einen Querschnitt der in den ersten Jahren nach Kriegsende bis 1949 in den westlichen Besatzungszonen und der BRD erschienenen Texte dar, welche den Stoff der Gefangenschaft in den nationalsozialistischen KZ und Gefängnissen thematisieren. Bei diesen Publikationen handelt es sich um biographische Schriften insofern, als sie persönliche Haft­erfah­rungen in unterschiedlichen Graden der Fiktionalisierung und ästhetischen Überformung schildern. Viele der vorliegenden Texte bedienen sich nur bedingt ästhetischer Verfahren und fallen mithin unter einen weiten Literaturbegriff: Dokumentationen und Zeugnisse sowie Erinnerungsberichte, die, wiewohl aus subjektiver Einzelsicht verfasst, kategorisch den Anspruch auf die reine Wiedergabe des Faktischen formulieren.1

Diese Literatur war keine massenhaft rezipierte, aber eine durch den Aufklärungsanspruch der Alliierten massenhaft vorhandene: Texte der Opfer über ihre Erlebnisse aus Lagern und Gefängnissen waren die ersten von den Alliierten lizenzierten Publikationen überhaupt nach Kriegsende. Zu Hunderten wurden diese Texte als Broschüren oder Buchausgaben publiziert. Diese Zahl überstiegen die Beiträge in Tageszeitungen und Zeitschriften noch bei weitem. Roth und Feuchert sprechen von mehr als eintausend derartiger, unselbstständig publizierter Texte bis 1949, deren genaue Anzahl heute kaum noch festzustellen ist.2 Die Textauswahl ist der Versuch, das breite Spektrum der mehreren hundert selbstständig erschienenen Publikationen abzubilden. Dabei wurde der Schwerpunkt auf die vergleichsweise öffentlichkeitswirksamen Schriften gelegt: die in zeitgenössischen Rezensionen besonders virulent diskutierten „Bestseller[..] der frühen Lagerliteratur“.3

Dazu konzentriert sich die Auswahl vor allem auf umfangreichere Prosatexte, die in Gestalt der als autobiographisch firmierenden Berichte den größten Anteil dieses Korpus ausmachen. Diese Setzung erklärt auch, warum zwar zu dieser Zeit verfasste, aber erst Jahrzehnte später publizierte Texte insbesondere in Form von Briefen, Tagebüchern u.Ä. nicht Teil der Untersuchung wurden. Ausgangspunkt der Analyse ist somit eine stoffliche wie rezeptionsgeschichtliche Gemeinsamkeit der Texte. Das bedeutet, dass sie Texte versammelt, die sich in ihrer Machart und ihrem Genre stark unterscheiden. Die Verschiedenartigkeit der Texte sowie ihr variabler Grad von Fiktionalisierung soll durch ihre Nebeneinanderstellung in der Untersuchung keineswegs nivelliert werden. Mit welchen auch stilistischen Charakteristika die Texte ihre Sicht der Dinge elaborieren, ist Teil der Einzelkapitel.

Die Einschränkung auf den Westen begründet sich einerseits durch das Vorhandensein ähnlicher Forschungsansätze für die Literatur in SBZ und DDR, andererseits durch die grundsätzlich verschiedenen Publikationsbedingungen in Ost und West. Zwar wäre es verkürzt, für den Osten Deutschlands von einer sich unmittelbar nach Kriegsende formierenden, offiziellen Leitlinie zu sprechen, die sich im Narrativ der Widerstandstätigkeiten der Kommunisten vor allem in Buchenwald niederschlage und die mit Erscheinen von Bruno Apitz’ Nackt unter Wölfen 1958, spätestens der Einweihung des Buchenwald-Mahnmals 1961, zur Staatsdoktrin avancierte.4 Insbesondere Taterka hat mit Blick auf die Entwicklung des Lagerdiskurses in SBZ und DDR auf die Unschärfen und Widersprüche in Bezug auf das dominante Widerstandsnarrativ der Kommunisten sowie die internen Machtkämpfe der „Buchenwalder“ gegenüber den „Moskauer Eliten“ im ersten Nachkriegsjahrzehnt hingewiesen.5 Zudem deckten sich die Publikationsstrategien der Alliierten mit Blick auf die Aufklärung über die Lager zumindest bis 1946 und damit bis in die Hochphase der Textproduktion zu den Lagern.6 Auch existierten trotz der zunehmend divergierenden politischen wie kulturellen Orientierung der östlichen und westlichen Hälften Deutschlands über Jahre zahlreiche interzonale Autoren- und Verlagsbeziehungen und Institutionen wie den „Kulturbund“, die sich für eine gesamtdeutsche kulturelle Repräsentation einsetzten. Von diesen Bemühungen zeugen eine ganze Reihe von Parallelpublikationen von KZ-Texten in Verlagen mehrerer Besatzungszonen: Häftling … X … in der Hölle auf Erden! erschien 1946 im Mainzer Rheinischen Volksverlag unter französischer sowie im Thüringer Volksverlag in Weimar unter sowjetischer Lizenz.7 Ernst Wiecherts im gleichen Jahr erschienener Text Der Totenwald wurde sowohl bei Kurt Desch im amerikanisch besetzten München, in der Schweiz bei Rascher in Zürich sowie 1947 im Ostberliner Aufbau-Verlag publiziert. In der britischen Besatzungszone, im Alter Verlag Curt Brauns in Wedel in Holstein, erschien 1947 Hiltgunt Zassenhaus’ Erinnerungsschrift über das Zuchthaus Fuhlsbüttel Halt Wacht im Dunkel, das im Folgejahr auch in der sowjetischen Zone Berlins im Verlag Neues Leben vorgelegt wurde.8 Indessen gingen die Alliierten beim Wiederaufbau von grundsätzlich verschiedenen Kultur- und Literaturbegriffen aus, was sich in unterschiedlichen Konzeptionen der Stellung und Funktion von Literatur und, davon abgeleitet, in grundlegend anderen Lizenzierungs- und Produktionsbedingungen in Ost und West niederschlug.9 Auch unterschied sich der von den Alliierten durchgesetzte Opferbegriff erheblich: Während im Osten bereits 1945 in erster Linie die verfolgten Kommunisten im Zentrum der antifaschistisch orientierten Narrativbildung standen, galt die Opferdefinition von politisch, rassisch und religiös Verfolgten in erster Linie für die westlichen Besatzungszonen.10 Daher ist von einer grundsätzlich anderen Literaturlandschaft sowie anderen Diskursen auszugehen, auf die sich die Literatur der jeweiligen Besatzungszonen bezog. Dabei ist indessen von sich überschneidenden bzw. über die Zonengrenzen hinaus wirksamen Interessenlagen auszugehen, wie insbesondere das Vorhandensein der angesprochenen Parallelpublikationen zeigt.

Die zeitliche Dimension des Korpus umfasst Texte, die in den ersten Jahren nach 1945 erschienen sind. Diese Begrenzung erschließt sich aus der Forschungsfrage. Die Publikationen sollen hinsichtlich der Perspektiven untersucht werden, die die Darstellung der Vergangenheit für die neuen Verhältnisse in Nachkriegsdeutschland etabliert. Dazu brauchte es notwendigerweise die Zäsur von 1945: Erst die Gewissheit über den Kriegsausgang und die Zerschlagung des nationalsozialistischen Regimes ermöglichte eine umfassende Darstellung und Aufarbeitung der KZ und der Haft­erfah­rungen in ihnen. Zudem konstituierten sich erst nach 1945 die die Nachkriegszeit bestimmenden Gegebenheiten des Verlustes staatlicher Souveränität und alliierter Besatzung. Die zeitweise Offenheit der Entwicklung Nachkriegsdeutschlands nach dem Ende des Nationalsozialismus, innerhalb derer sich die Texte positionieren, ist nach hinten durch einige Zäsuren historisch klar begrenzbar. Für die weitere politische Entwicklung des bzw. fürderhin der beiden deutschen Staaten waren dies einerseits die doppelte Staatengründung 1949 und der Bau der Berliner Mauer 1961. Die Gründung der BRD und die damit verbundene weitgehende Rückerlangung staatlicher Souveränität konsolidierten die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse und ebneten den Weg für Westdeutschland, in den folgenden Jahren als demokratischer Staat Teil der internationalen westlichen Staatengemeinschaft zu werden. Die Produktion von KZ-Texten reagierte insofern deutlich auf diese Konsolidierung, als nach 1949 und während der gesamten 1950er Jahre kaum Neupublikationen dieser Textformen zu verzeichnen waren.11 Der Beginn des Mauerbaus zementierte 1961 die getrennte Entwicklung, die die beiden deutschen Staaten, deren Gesellschaften und auch literarischen Öffentlichkeiten für die kommenden Dekaden gehen sollten. Zum einen änderte sich im Zuge des sich verschärfenden Kalten Kriegs die Rhetorik, mit der der jeweils andere Staat und dessen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und den Lagern thematisiert wurde. Zum anderen änderten die in den 1960er Jahren in Frankfurt öffentlichkeitswirksam abgehaltenen Prozesse gegen Auschwitz-Wachpersonal sowie die Rezeption des in Jerusalem stattfindenden Eichmann-Prozesses in Westdeutschland grundlegend den Diskurs über die KZ und stifteten eine neue Form der öffentlichen Auseinandersetzung mit den Lagern.12

Im engeren Sinne umfasst das zu untersuchende Korpus somit Texte, die in der Zeit zwischen 1945 und 1949 erschienen sind. Diese Begrenzung deckt sich mit den Phaseneinteilungen zur Entwicklung der KZ-Literatur, die Reiter sowie darauf aufbauend Roth für die deutschsprachige und insbesondere die westdeutsche Entwicklung vorschlugen.13

Die Korpuserweiterung des Lagerstoffes um textliche Bearbeitungen von Haft in nationalsozialistischen Gefängnissen erschließt sich einerseits aus dem zeitgenössischen Diskurs zur NS-Opferschaft, andererseits aus dem Korpus selbst. Zum einen weisen die Autor:innen selbst auf die stete Bedrohung durch die KZ hin, denen auch die in Zuchthaus und Gefängnis Inhaftierten ausgesetzt waren. Luise Rinser berichtet in Gefängnistagebuch ausführlich von Überstellungen von KZ-Häftlingen ins Münchner Gefängnis Traunstein, wobei ebenso die Gefahr einer Rücküberstellung der Gefängnisinsassen in die KZ bestand. Die verschiedensten Delikte, die der Nationalsozialismus als Vergehen identifizierte, konnten, für Rinser undurchsichtig, mit Haft in allen Formen geahndet werden: „Alle diese Verbrechen werden heute bestraft mit Haft, von der vier, acht oder zwölf Wochen langen Polizeihaft bis zu Gefängnis, Zuchthaus und Konzentrationslager.“ Beglaubigt wird dies durch Äußerungen der Traunsteiner Aufseherinnen wie: „Für euch ist Dachau noch zu gut.“ Für Rinser zählen alle vom NS-Regime Angeklagten, Verurteilten, Inhaftierten und in die KZ Deportierten zu einer nur durch das Kriegsende beendeten Opfergemeinschaft. In Vorwort ihres Textes zählt sie auch sich zu den „Viele[n]“, die „nur durch den Zusammenbruch des Dritten Reiches dem Fallbeil oder dem K.Z. entrannen“.14 Auch für Hanns Lilje ist klar, dass der Ausgang seines Prozesses vor dem Volkgerichtshof mit zwei Ergebnismöglichkeiten enden werde:

„Denn die wesentliche Frage bei allen Freisler-Prozessen bestand in der elementaren Alternative: Todesurteil oder nicht. Wurde jemand nicht zum Tode verurteilt, so war bei einer Freiheitsstrafe das Strafmaß völlig gleichgültig. Wer freigesprochen wurde, kam in der Regel sofort ins Kz, die andern entsprechend später“.15

Zum anderen verwischen auch in der zeitgenössischen Rezeption die Grenzen zwischen den textlichen Erzeugnissen aus den beiden Inhaftierungsformen. In ihren ersten Resümees der Literatur zu den nationalsozialistischen Gräueln versammeln sowohl Rudolf Schacht im Aufbau wie auch Rudolf Küstermeier in Die Welt explizit Texte sowohl aus Lager wie auch Gefängnis.16 Beredt sind auch die Beiträge von Wolfgang Borchert und Heinz Rein: Borchert verhandelt in seiner Sammelrezension zur „KZ-Literatur“ mit Luise Rinsers Gefängnistagebuch auch einen Text, der bereits im Titel darauf hinweist, nicht die Lager zu schildern.17 Gleiches gilt für Rein, der in seinem Konspekt der „neuen Literatur“ unter der Rubrik „Die Konzentrationslager“ ebenfalls Rinsers Text wie auch Maria Langners Die letzte Bastion verhandelt, in welcher die Autorin ihre Erlebnisse in der in der Endphase des Kriegs von den Nationalsozialisten zur „Festung“ erklärten Stadt Breslau schildert.18 Diese Subsumierung von Gefängnistexten unter die literarischen Erzeugnisse aus den Lagern zeigt, dass in der Nachkriegszeit der Terminus „KZ-Literatur“ als Gattungsbegriff der Beschreibung aller Verschriftlichungen von Hafterfahrungen im Nationalsozialismus diente. Dabei wurden die KZ-Schilderungen auch als Einschreibungen in Traditionslinien der Gefängnisliteratur verstanden: Oskar Jancke etwa rezensierte Ernst Wiecherts Der Totenwald für die Literaturzeitschrift Welt und Wort und verglich das Werk als „menschliches Dokument“ mit „Dostojewskis ‚Aufzeichnungen aus dem Totenhaus‘ oder Silvio Pellicos ‚Meine Gefängnisse‘, mit denen es künftig wird zusammen genannt werden.“19 Das mag auch darin begründet sein, dass ein Großteil der KZ-Texte auch die Inhaftierung im Gefängnis schildern: Der Totenwald zeigt zunächst die Gefangenschaft im Münchener Untersuchungsgefängnis, Isa Vermehrens erste Haftstation ist der Zellenblock in Ravensbrück, Walter Poller schildert seine Haftbiographie bis 1938 als Aufenthalte in verschiedenen Zuchthäusern und Durchgangsgefängnissen. Aber auch andere Texte dieser Opferliteratur – u. a. etwa Wolfgang Langhoffs Die Moorsoldaten (1935) oder A.W. Conradys Amokläufer (1947) – schildern sowohl die Gefangenschaft im Gefängnis wie auch im Lager. Obgleich in Drastik und Ausmaß der Leiderfahrungen verschieden, galten die Gefängnisse in der unmittelbaren Nachkriegszeit als von den Lagern lediglich graduell verschiedene Form nationalsozialistischer Verfolgung und Gewalt.

Es sei darauf verwiesen, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit und Produktionszeit der im Korpus versammelten Texte keine einheitliche Terminologie des NS-Lagersystems existierte, eine solche vielmehr noch von den Verschleierungsstrategien der Nationalsozialisten überdeckt wurde. In den Augen der Nachkriegsgesellschaft perspektivierten die Texte aus Lager und Gefängnis den Nationalsozialismus gleichermaßen als Gewaltherrschaft aus einer Position absoluten Ausgeliefertseins dieser gegenüber. Die begriffliche Differenzierung der nationalsozialistischen Inhaftierungsmethoden entlang der verschiedenen Hafträume (Konzentrations‑, Umerziehungs‑, Arbeitslager, Gestapogefängnis, Festung, Zuchthaus) war ein Ergebnis der geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die erst nach oder zumindest parallel mit der literarischen Produktion stattfand.20 Zudem firmierten zum Teil auch alliierte Internierungslager als „Konzentrationslager“, wohl auch, weil einige von ihnen auf Geländen ehemaliger NS-Lager eingerichtet worden waren.21 Besonders deutlich wird die Unschärfe des Konzentrationslagerbegriffs indessen anhand des Lagers Theresienstadt, dass in der nationalsozialistischen Propaganda als „Altersghetto“, intern aber als Sammel- und Durchgangslager bezeichnet wurde.22

Die in dieser Arbeit vorgenommene Erweiterung des Korpus um Texte aus den Gefängnissen bringt die Untersuchung auch methodologisch in die Nähe zur Gefangenenliteratur. Streng genommen handelt es sich auch bei KZ-Literatur um einen Teil dieser übergeordneten Gattung, insofern von einem derartigen Gattungsbegriff überhaupt ausgegangen werden kann.23 In der Vergangenheit haben einige Forschungslinien versucht, eine derartige Gattung begrifflich abzustecken, partikuläre Gattungsmerkmale und einen theoretischen Zugang zu dieser Literatur zu bestimmen: Verwiesen sei dabei insbesondere auf die Arbeiten von Weigel, Koch und Klein sowie Keßler.24 Trotz vieler Überschneidungen in Thematik und Darstellungskonventionen, insbesondere des Authentizitätstopos,25 weist die darin bestimmte Gefangenenliteratur ihre eigenen Bezüge und Traditionslinien auf, die bei Boethius’ 524 entstandener Schrift Trost der Philosophie ansetzen. Auch weisen die Forscher:innen selbst auf die Grenzen einer Subsumption der Lagertexte unter die Gefangenenliteratur hin. Weigel etwa führt aus:

„Die Deutung der Gefängnisliteratur des Dritten Reiches müßte auf einer Analyse der Auslese- und Vernichtungspläne der Nazis aufbauen, bezogen auf die historische Voraussetzung einer ausgebildeten Gefängnissituation. Die Gefängnisse, Internierungs-, Arbeits- und Vernichtungslager des Faschismus […] bilden […] eine Synthese aller bis dahin erdachten Straf- und Zerstörungspraktiken, eingesetzt für eine expansive Ausgrenzungspolitik, bei der es [spätestens seit Kriegsbeginn, J.V.] nur im geringeren Teil um ‚Besserung‘ der Inhaftierten, im größeren Teil um Vernichtung und ‚Verwertung‘ derjenigen Menschen ging, die das nationalsozialistische Bild einer politischen und rassischen Volksgesundheit störten.“26

Auch Klein rückt in ihrer Besprechung von Luise Rinsers Gefängnistagebuch die in Texten zu nationalsozialistischen Gefängnissen dargestellten Überlebensstrategien in die Nähe einer von der Gefangenenliteratur zu differenzierenden KZ-Literatur.27

Darüber hinaus ist die Annäherung zur Gefangenenliteratur nicht unproblematisch. In der Einleitung wurde bereits auf Ernst von Salomons Text zu Arthur Dietzsch, Das Schicksal des A.D. Ein Mann im Schatten der Geschichte, hingewiesen. Dabei konnte von Salomon zumindest in Teilen auch auf seine eigenen Hafterfahrung in der Weimarer Republik, u. a. aufgrund seiner Verurteilung für die Beteiligung am Fememord an dem liberalen Politiker Walther Rathenau, zurückgreifen, die er selbst in einigen Schriften der 1920er Jahre thematisiert hatte.28 Bei von Salomons KZ-Schilderung von 1960 liegt die Vermutung nahe, dass er eine Verbindungslinie zwischen den drei in Das Schicksal des A.D. geschilderten Haftabschnitten der Biographie Arthur Dietzschs ziehen wollte: republikanischen Gefängnissen, nationalsozialistischen KZ und amerikanischen Internierungslagern. Das Einschreiben in die Traditionslinien der Gefangenenliteratur, die sich hier im Parallelisieren der Haft­erfah­rungen in Republik, Nationalsozialismus und bei den alliierten Besatzungsmächten manifestiert, führt zwangsläufig auch zu einer Relativierung und Verharmlosung der NS-Gewalt, die nicht im Sinne der vorliegenden Untersuchung ist und sein kann.

Aufgrund dieser Problematik sowie der oben nachgezeichneten theoretischen Differenzierungen ist der methodische Zugang dieser Arbeit zum Primärmaterial die KZ-Forschung, die von der Partikularität der NS-Gewalt ausgeht. Die Texte dieser Opferliteratur sollen nicht gattungsgeschichtlich erschlossen und eingeordnet, sondern hinsichtlich ihrer Aussagekraft zu Nationalsozialismus und Nachkriegsgesellschaft aus dem zeitgenössischen Diskurs heraus untersucht werden. Nichtsdestoweniger kommen die Forschungslinien der Gefangenliteratur an den Stellen, an denen das Material es erforderlich macht, ergänzend zur Anwendung.

Als Anhang ist der Untersuchung eine Bibliographie beigegeben, die eine erste Übersicht eines nach diesen Kriterien gefassten Korpus der Opferliteratur aus Gefängnis und Lager darstellt. Zwar existieren Bibliographien, insbesondere im Bereich der Holocaustliteratur. Diese weisen Überschneidungen mit dem im Forschungsvorhaben untersuchten Korpus auf, unterscheiden sich aber zuweilen drastisch hinsichtlich der In- wie Exklusionskriterien. Die vorliegende Bibliographie soll einen ersten Überblick geben zur deutschsprachigen Literatur, die sich in der Nachkriegszeit mit der Gefangenschaft im Nationalsozialismus auseinandersetzte, und dient so als Grundlage für weitere Forschungsvorhaben auf diesem Gebiet.

Hinweis zur Schreibweise

Die zeitgenössischen Quellen weisen noch keine einheitliche Terminologie der nationalsozialistischen Gewalt auf. Verschiedene Schreibweisen und Begriffsvarianten kursierten etwa für die Lager: die offizielle NS-Bezeichnung „KL“/„K.L.“ sowie das härter klingende „KZ“, „Kz“, „K.Z.“, das in Nachkriegsdeutschland zur gängigen Abkürzung für die Konzentrationslager wurde.1 Ähnliches gilt für die „SS“ bzw. „S.S.“ oder die „Kapos“ bzw. „Capos“.

Im Fließtext wurden die Begriffe entsprechend den heute gängigen Abkürzungskonventionen vereinheitlicht. In direkten Zitaten wurden die Schreibweisen im Original erhalten und nur bei uneindeutigen oder missverständlichen Varianten separat erläutert.

I Die Bedeutung der Opferperspektive für die Entnazifizierung und den Aufbau Nachkriegsdeutschlands

2Die alliierten Aufklärungskampagnen über die nationalsozialistische Gewalt

Bei ihrem Vormarsch durch das nationalsozialistisch besetzte Europa wussten die alliierten Truppen von der Existenz der Konzentrationslager. Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Errichtung der ersten dieser Lager 1933 berichteten Geflohene und Freigelassene über die Gewalt in ihnen und warnten das Ausland.1 Unterstützt durch neue Quellen der Militäraufklärung wurde während des Kriegs verstärkt über die Deportationen und das Netzwerk der Zwangsarbeitsstätten des nationalsozialistischen Lagersystems informiert. Doch das Ausmaß dieses Systems, bestehend aus Stamm‑, Außen- und Nebenlagern, Zwangsarbeitsstätten sowie angeschlossener Infrastruktur, die Anzahl der dort Inhaftierten, deren katastrophale Verfassung aufgrund von Zwangsarbeit, Mangelversorgung und der hygienischen Zustände, letztlich die ganze Dimension der von der SS ausgeübten Gewalt und der Vernichtungseinrichtungen offenbarten sich den Alliierten erst während der Invasion und der Befreiung der Lager.2

Insbesondere die Amerikaner und Briten machten ihre Erkenntnisse über die Lager in Aufklärungskampagnen in internationalen Zeitungen publik. Unmittelbar nach der Befreiung der ersten größeren Lager schickten die westalliierten Aufklärungsstellen Untersuchungskommissionen und Kriegsberichterstatter, die im Rücken der kämpfenden Truppen als unmittelbare Beobachter die Zustände in den befreiten KZ dokumentierten. Obwohl die Rote Armee bereits Monate vor den Westalliierten die ersten großen Konzentrationslager befreit hatte, spielten Berichte über Majdanek und Auschwitz in den sowjetischen Presseorganen zunächst eine untergeordnete Rolle.3 Aufgrund dessen waren es weniger die Vernichtungslager im Osten, sondern KZ auf deutschem Reichsgebiet, die im Zentrum der ersten Berichterstattung standen.4 Der Befreiung der Lager Buchenwald, Dachau und Bergen-Belsen, aber auch vergleichsweise kleiner Nebenlager wie Ohrdruf, Nordhausen oder Leipzig-Thekla folgten Berichte in zahlreichen britischen und US-amerikanischen Zeitungen und Radiostationen. Für die US-amerikanischen Illustrierten Life Magazine und Vogue berichteten u. a. prominente Journalist:innen wie Lee Miller, Margaret Bourke-White oder George Rodger aus den KZ Dachau und Buchenwald. Photographien von Leichenbergen und Häftlingen, die die Lager überlebt hatten, begleiteten die Berichterstattung und führten der Öffentlichkeit in Amerika das Ausmaß der nationalsozialistischen Gewalt mit entsprechender Schockwirkung vor Augen.5 Berichte über die KZ nahmen für die Alliierten eine zentrale Rolle ein, den Vorwurf der illegitimen Gewaltherrschaft, die zu beenden sie mit ihrer Invasion angetreten waren, zu untermauern. Am 12. April 1945, einen Tag nach dessen Befreiung, ließ die amerikanische Generalität ihre Soldaten das KZ Buchenwald besichtigen, damit diese, heimgekehrt in die USA, Augenzeugenberichte von der Menschenverachtung des NS-Regimes ablegen konnten. Rolf Weinstock, Häftling in KZ Buchenwald, berichtet über die Besichtigungen: „Diese Greuel und Grausamkeiten wurden den amerikanischen Soldaten gezeigt, damit sie nach ihrer Rückkehr in die Heimat erzählen konnten, wofür sie kämpften.“6 Bereits wenige Tage nach der deutschen Kapitulation titulierte eine Divisionszeitung der amerikanischen Armee: „Dachau Gives Answer To Why We Fought“ – „Dachau beantwortet, warum wir kämpften“.7

Gleichzeitig richtete sich diese Aufklärung auch an die deutsche Bevölkerung. In Buchenwald schickten die amerikanischen Truppen die Weimarer Bürgerinnen und Bürger in das befreite Lager. Mit eigenen Augen sollten sie das Ausmaß der Gewalt wahrnehmen, die der Nationalsozialismus in ihrem (stillschweigenden) Einverständnis ausgeübt hatte. Die Bildunterschrift in einer der ersten alliierten Aufklärungsbroschüren, Deutsche Konzentrations- und Gefangenenlager. Was die amerikanischen und britischen Armeen vorfanden, April 1945, erklärt: „Um im deutschen Volk alle Zweifel an den Grausamkeiten unter dem Nazi-Regime zu zerstreuen, zeigt man Zivilisten auf Befehl alliierter Militärbehörden die Lager.“8 Derartige Dokumentationen der Lager waren die ersten genehmigten Druckerzeugnisse in Nachkriegsdeutschland, die, so Peitsch, sogar das im Zuge des militärischen Zusammenbruchs von den Alliierten verhängte generelle Publikationsverbot umgingen.9 Rasch wurden die Lager Zentrum einer groß angelegten Medienkampagne, ausgearbeitet unter Federführung der angloamerikanischen Militärnachrichtendienste in der Psychological Warfare Division.10 Alle verfügbaren Publikationskanäle – Texte, Photographien, Radioberichte und Filme – sollten genutzt werden, die ganze Bevölkerung mit dem wahren Gesicht des Nationalsozialismus zu konfrontieren.11 Plakate und Anschläge präsentierten sichtbar für alle Passant:innen Photographien aus den Lagern. Die von den amerikanischen und britischen Siegermächten initiierte Wochenschau Welt im Film zeigte bereits im Juni 1945 mehrere ausführliche Berichte aus den KZ Bergen-Belsen, Ohrdruf und Gardelegen.12 Von den zahlreichen Dokumentarfilmen (Nazi atrocity films, im zeitgenössischen Sprachgebrauch auch einfach „KZ-Filme“) dürfte Die Todesmühlen, entstanden 1945 unter der Regie von Hanuš Burger und unter der Aufsicht von Billy Wilder, ausgestrahlt im Winter 1945/46, der bekannteste gewesen sein. In den zum Teil noch völlig zerstörten Ortschaften in Bayern, Hessen und Berlin lief der Film nicht nur ohne Alternativprogramm in den noch funktionstüchtigen Kinos. Begleitet von zahlreichen Zeitungsankündigungen wurde er auch in Schulen, Theatern und Gefangenenlagern gezeigt.13 Die Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Lagern wurde von offizieller Seite erwünscht, angeordnet und, wenn nötig, aufgezwungen. Im zerstörten Deutschland war es schier unmöglich, ihr aus dem Weg zu gehen. „Wir hören täglich“, so berichtet der Zeitzeuge Karl Orth aus Friedberg in Hessen, „aus dem Rundfunk entsetzliche Erzählungen über die Zustände in den Konzentrationslagern.“14 In seiner KZ-Schrift Gebändigte Dämonen (1946) unterstreicht der Journalist und Dozent für Pädagogik Gerhart Binder, dass Aufklärung fraglos nötig sei, äußert sich aber durchaus kritisch den alliierten Meldungen gegenüber: Um die Unmöglichkeit zu betonen, sich dieser zu entziehen, nutzt er sogar die militärische Metaphorik des Artilleriebeschusses und spricht von einem „Trommelfeuer der Propaganda“.15

Sowohl für die interne wie auch die öffentlich aufbereitete Aufklärung hatten die Allliierten einen massiven Informationsbedarf über das zerschlagene Lagersystem. Angewiesen auf Informationen aus erster Hand bei der Ermittlung der Zusammenhänge der Lager wandten sie sich an die Opfer der Lager. Die offiziellen Stellen riefen die einstigen Häftlinge auf, Informationen zusammenzutragen über Aufbau, Umfang und Organisation des NS-Lagersystems, seiner Netzwerke innerhalb des NS-Staates und der deutschen Kriegswirtschaft, sowie über das Lagerleben und die internen hierarchischen Strukturen, die Zusammensetzung des Wachpersonals, die Lebensbedingungen und allgegenwärtigen Todes- und Tötungsarten, denen die Gefangenen ausgesetzt waren. Man appellierte an die Befreiten, Aussagen zu Protokoll zu geben, selbst schriftlich ihre Erlebnisse zu dokumentieren und diese den alliierten Informationsstellen zur Verfügung zu stellen.16 So zitiert ein bereits im Mai 1945 im Auftrag der 7. US-Armee für den internen Nutzen zusammengestellter, 67 Seiten umfassender Bericht über das befreite KZ Dachau mehrere Abschnitte mit Aussagen und heimlich geführte Tagebücher befreiter Häftlinge direkt.17

Den Häftlingen kam in den von den Militäradministrationen angestrengten Prozessen gegen die SS-Wachtruppen häufig die Rolle von Kronzeugen zu. In den zuerst in Dachau, in rund 400 Folgeprozessen auch an anderen Standorten der ehemaligen Lager durchgeführten Verhandlungen lieferten sie entscheidende Informationen über die Vergehen der SS-Wachmannschaften.18 Erste umfangreiche Materialsammlungen wie etwa der Buchenwald-Report entstanden aus der Zusammenarbeit der Psychological Warfare Division