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Besser gut abgehangen als zu früh gekommen: Jürgen von der Lippes Romandebüt
Neulich sagte meine Frau zu mir: »Warum schreibst Du nicht endlich mal was mit Niveau? Ich würde gerne mal eine welthaltige, vielschichtige Romanhandlung von Dir lesen, ein Panoptikum an Figuren, eine ausgebuffte Mischung aus Action und Reflexion, Gesellschaftskritik und psychologischem Tiefgang, vielleicht sogar auch eine raffiniert eingebaute Krimihandlung, meinetwegen gern auch mit ein bisschen geschmackvoll beschriebenem Sex gewürzt, mach doch, Du kannst das!« Und ich setzte mich an mein Notebook und schrieb: »Ich möchte Ihnen eine ziemlich unglaubliche Geschichte erzählen. Ich weiß, das ist kein glücklicher Anfang für ein Buch, das seine Leser vom ersten Satz an in den Schwitzkasten nehmen und bis zum letzten Wort nicht mehr rauslassen soll. ›Sie hatten ihm die Kehle durchgeschnitten und ihn dann im Urinal ausbluten lassen‹ ist da schon ein anderes Kaliber, aber in der Welt der sinnlos waltenden rohen Kräfte bin ich nicht so zu Hause wie in der Psyche der Sanftmütigen, Unscheinbaren mit ihren kleinen liebenswerten Macken. Menschen wie Gregor und sein Hund Waldmeister…«
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Seitenzahl: 272
Besser gut abgehangen als zu früh gekommen: Jürgen von der Lippes Romandebüt
Neulich sagte meine Frau zu mir: »Warum schreibst du nicht endlich mal was mit Niveau? Ich würde gerne mal eine welthaltige, vielschichtige Romanhandlung von dir lesen, ein Panoptikum an Figuren, eine ausgebuffte Mischung aus Action und Reflexion, Gesellschaftskritik und psychologischem Tiefgang, vielleicht sogar auch eine raffiniert eingebaute Krimihandlung, meinetwegen gern auch mit ein bisschen geschmackvoll beschriebenem Sex gewürzt, mach doch, du kannst das!« Und ich setzte mich an mein Notebook und schrieb: »Ich möchte Ihnen eine ziemlich unglaubliche Geschichte erzählen. Ich weiß, das ist kein glücklicher Anfang für ein Buch, das seine Leser vom ersten Satz an in den Schwitzkasten nehmen und bis zum letzten Wort nicht mehr rauslassen soll. ›Sie hatten ihm die Kehle durchgeschnitten und ihn dann im Urinal ausbluten lassen‹ ist da schon ein anderes Kaliber, aber in der Welt der sinnlos waltenden rohen Kräfte bin ich nicht so zu Hause wie in der Psyche der Sanftmütigen, Unscheinbaren mit ihren kleinen liebenswerten Macken. Menschen wie Gregor und sein Hund Waldmeister …«
Jürgen von der Lippe, Jahrgang 1948, ist seit Jahrzehnten als erfolgreicher Meister humoristischer Feinarbeit und Moderator auf Bühnen und im Fernsehen unterwegs. Er lebt in Berlin und ist unter anderem Träger des Bambi, des Grimme-Preises und der Goldenen Kamera. Seine beiden letzten Bücher »Beim Dehnen singe ich Balladen« und »Der König der Tiere« standen wochenlang auf der Bestsellerliste.
»Jürgen von der Lippe durchwandert die deutsche Humorwüste, um Wortwitze spuckend den Eindruck zu widerlegen, der Esprit habe hierzulande keine Advokaten.« Oliver Jungen, FAZ
»Seit 40 Jahren lacht, kringelt und kichert sich Jürgen von der Lippe über die Bühnen der Republik, eher unaufgeregt als brüllend.« Hörzu
»Beste Unterhaltung vom Altmeister – immer wieder ein großer Spaß!«SR3 Saarlandwelle über »Der König der Tiere«
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JÜRGENVONDERLIPPE
NudelimWind
ROMAN
Dramatis Personae
Gregor Zöller, 48, Witzbold und Hobbykoch, geschieden, Privatier, stinkreich (Erbschaft plus gute Anlageberater), Hundebesitzer (Basset Waldmeister, genannt Waldi), Schachfan, liebt Bücher und nutzloses Wissen
Lisa Haiter, 35, Visagistin, gut im Geschäft, mit Mops Horst. Blitzgescheit, hat ein paar Semester Germanistik, Psychologie und Theaterwissenschaft studiert, was ihr spektakuläres Äußeres nicht vermuten lässt.
Justus Lenz, 37, Ex-Zuhälter mit goldenem Herzen, anglizismenaffin, Kampfsportexperte, mittlerweile Privatdetektiv
Hermjo Benek-Söderbaum, Bilderbuch-Macho, Geschäftsführer von »Allround-TV«, der momentan erfolgreichsten TV-Produktionsfirma
Ursel, seine Sekretärin
Wolle, Produktionsleiter
Stefan Tümmler, Regisseur
Axel Herbst, Autor, seit 30 Jahren im Geschäft
Diether Liebherr, TV-Autor und Jungspund, Spezialität One-Liner, nach allen Seiten offen, wie er gern betont
Chris Brause, 62, Moderator
Jenny Meister, 33, Moderatorin
Bernhard Löblein, 32, Verantwortlicher Redakteur von High5, dem erfolgreichsten TV-Privatsender
Ellroy Duncan, Drill-Sergeant, Spitzname »Duty«. Die Kandidaten seiner Gruppe, Spitzname »die Rekruten«: Fatih Güldürün, Tom Wirtz, Lutz Helferath,Hunor Ader, Ungarndeutscher
Kirk Mc Kinney, Basketball-Coach, Spitzname »Centerfold«. Die Kandidatinnen seiner Basketball-Gruppe: Fatima Komuglu, Slawica Miftali, Ireti Müller, Alina Westphal
Paula Perlig, Ex-DDR-Handballnationalspielerin und Völkerball-Coach (Dodge-Ball). Ihre Kandidatinnen, Spitzname »Dodge-Daysies« oder auch »Ballerinen«: Patti Schlesinger, Nadine Reuben, Aiko Kagawa, Heide Schleewald-Nussbaum
Florian Wessely, Österreicher, Strongman-Trainer, Inhaber eines Gyms und mehrerer Meistertitel, allerdings nicht international. Seine Gruppe, Spitzname »Strongmänner«: Timo »Grizzly« Bär, aus Heidenheim, Gastronom; Henry Nüsslein, Filialleiter Supermarkt; Bodo Müller, Ingo Schaller
Paul Kling, aus Gotha, Schlafwandler, Mitinhaber eines Schrottplatzes
Monty Krautbichler, aus Bayern
Hugo Hannemann, aus Celle, Friedhofsgärtner
David Armbruster, aus Scheveningen, Holland
Peter Magin, Küchenchef des Sporthotels »Vogelsang«
B., geheimnisvolle männliche Person mit Neigung zu physischer und psychischer Gewalt
Jewgenij Gogol, russischer Schachboxer
Nebukadnezar, sein Papagei, muss jeden Tag ein Fremdwort lernen
Fred Nussig, Trainer, hat mehrere Geheimnisse
Bubi, Boxrivale von Justus
Bernd Dengelbaum, Unterhaltungschef von High5
Barbara Dengelbaum, seine Gattin
Dr. Geza von Treutlein, Psychologe
Christian, Warm-Upper
Ein Privatdetektiv, möchte nicht namentlich genannt werden wegen einer Unterhaltsklage
Marvin Lenz, Zwillingsbruder von Justus, Koch im »Löffelchen« in Bochum
Anja Maiwein, Kriminaloberkommissarin
Steven Beuschel, Kriminalassistent
Irma Germer, Köchin im »Sporthotel«
Erwin Läutermann, Besitzer der Boxbude »Geld oder Hiebe«
Meine Frau als Gisela Hilden-Söderlapp
Meine Frau als meine Frau
Kaum zu glauben
Ich möchte Ihnen eine ziemlich unglaubliche Geschichte erzählen. Ich weiß, das ist kein glücklicher Anfang für ein Buch, das seine Leser vom ersten Satz an in den Schwitzkasten nehmen und bis zum letzten Wort nicht mehr rauslassen soll. »Sie hatten ihm die Kehle durchgeschnitten und ihn dann im Urinal ausbluten lassen« ist da schon ein anderes Kaliber, aber in der Welt der sinnlos waltenden rohen Kräfte bin ich nicht so zuhause wie in der Psyche der Sanftmütigen, Unscheinbaren mit ihren kleinen liebenswerten Macken. Menschen wie Gregor und sein Hund Waldmeister.
Gregor
Gregor könnte genau sagen, wie viele Diskussionen er schon geführt hat, die alle in etwa so abliefen: »Wie heißt der Hund?«
»Waldmeister.«
»Warum haben Sie ihn nicht Waldi genannt?«
»Tu ich ja, das ist sein Rufname.«
»Aber Waldi heißen doch alle Dackel!«
»Die heißen aber nicht mit vollem Namen Waldmeister, und das ist kein Dackel, sondern ein Basset.«
»Der ist doch viel zu klein für einen Basset!«
»Er ist eingelaufen beim Waschen, 60 Grad sind wohl zu viel für so einen Hund.«
»Wollen Sie mich verscheißern?«
»Nein, warum so misstrauisch? Weil hier ein paar Dinge nicht in Ihr Weltbild passen? Wollen Sie darüber reden?«
An dieser Stelle macht der Gesprächspartner meist eine abschätzige Geste, mal ein Kopfschütteln, mal den Scheibenwischer, wendet sich ab, seinem Getränk zu oder nimmt den nächsten Abzweig vom Waldweg. 96-mal war das jetzt so oder ähnlich gelaufen, Gregor führte nämlich Tagebuch, und häufig wiederkehrende Dinge nummerierte er durch.
So auch seine Versuche, eine Frau für sich einzunehmen. Sein Einstiegssatz variierte von Monat zu Monat. Im Moment setzte er auf: »Entschuldigung, haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie nackt zeichne?«
57-mal war die Antwort: »Hau bloß ab, du Penner, oder ich rufe meinen Typ!«
32-mal: »Das kostet aber, und nicht zu knapp!«
12-mal: »Ich soll mich ausziehen, damit Sie mich nackt zeichnen können?«
Das gab ihm immerhin die Möglichkeit zu sagen: »Wenn das ein Problem für Sie ist, ziehe ich mich eben auch aus.«
Daraufhin gab es dann 18-mal wieder die Antwort A, sodass Gregor sich eine andere Erwiderung einfallen ließ, nämlich: »Muss nicht sein, ich kann Sie auch so zeichnen, wie ich Sie mir vorstelle.«
Daraufhin kam immerhin dreimal die Erwiderung: »Na, dann machen Sie mal.« Einmal sogar noch mit dem Zusatz: »Da bin ich aber mal gespannt.«
Das Ergebnis seiner künstlerischen Bemühungen wurde dann in allen drei Fällen fast wortgleich so kommentiert: »Das soll ich sein? Sie können ja überhaupt nicht zeichnen!«
Woraufhin Gregor zweimal sagte: »Das habe ich doch auch nie behauptet«, und einmal, da hatte er allerdings auch etwas getrunken, fügte er an: »Wenn ich auf der Kirmes an der Schießbude nichts treffe, sagt der Budenbesitzer doch auch nicht: ›Sie können ja gar nicht schießen!‹«
Daraufhin gingen die Wogen der Erregung doch recht hoch, ob er damit sagen wolle, dass sie eine Schießbudenfigur sei oder habe oder was und: »Thomas, kannst du mal kommen?«
Nach einer Backpfeife und der Androhung etlicher weiterer wurden Gregor zwei Dinge klar: Er brauchte eine neue Stammkneipe und eine neue Anmachstrategie.
Lisa
Lisa überprüfte ein letztes Mal ihren Lidstrich, gab noch einen Hauch Lipgloss auf die beiden ungemein an Julia Roberts erinnernden Lippen und korrigierte mechanisch den Sitz ihrer beiden größtenteils freiliegenden »Referenzen«, wie sie sie nannte, wobei das »Z«, Sie ahnen es vielleicht schon, wie ein englisches »th« klang, denn Lisa lispelte. Sie entsprach ausnahmslos jedem Klischee der blöden blonden Tusse, leicht zu haben und schwer zum Schweigen zu bringen. Sie wusste das und genoss es. Lisa war freischaffende Visagistin und wurde häufig von Produktionsfirmen für Film oder TV-Projekte gebucht, wo sie sich meist um männliche Schauspieler, die als schwierig galten, zu kümmern hatte. Wenn Lisa mit einer Kollegin gut sichtbar in einem Straßencafé saß, machte sie sich einen Spaß daraus zu zählen, wie vielen Männern, vorzugsweise in Begleitung ihrer Frau, bei ihrem Anblick der Unterkiefer herunterklappte.
Es waren immer annähernd 100 Prozent. Einmal sagte Leonie, eine Kollegin, die sie gerade erst kennengelernt hatte und die gerne ihr Halbwissen versprühte: »Das ist ja wie bei Pawlow und seinen Hunden!«
»Nicht ganz, Mausi«, lispelte Lisa, »da fehlt der Klingelton.«
»Häh? Pawlow hatte doch noch kein Handy!«
»Nein, aber sein Experiment bestand darin, dass seine Versuchshunde jedes Mal vor dem Füttern denselben Klingelton hörten und er nachwies, dass nach einiger Zeit die Verdauungssäfte bei den Hunden schon zu fließen begannen, wenn das Glöckchen bimmelte, auch wenn sie dann gar nichts zu fressen bekamen, stimmt’s, Horst?«
Horst war Lisas Mops, und er hatte die Eigenart, immer wenn Lisa saß und das rechte Bein über das linke geschlagen hatte, auf der Spitze ihres linken Pumps zu liegen, als wolle er ihn ausbrüten. Lisa hatte ein paar Semester Germanistik, Theaterwissenschaft und Psychologie studiert, dann aber beschlossen, dass die Eierköpfe auf Dauer kein Umgang für sie und das Lehramt keine Option seien, woraufhin sie dann ein paar Schminkkurse absolvierte und quasi aus dem Stand sehr gut ins Geschäft kam.
Gregor
Gregors Glückssträhne hatte einen Tag nach seinem 26. Geburtstag begonnen. Da hatte er einen Liebesbrief an seine Frau gefunden, der außerordentlich ins Detail ging, offenbar inspiriert vom berühmten »Tampon-Telefonat« zwischen Camilla und Prinz Charles vom 18. 12. 1989, das, wie Sie wissen, erst 1993 an die Öffentlichkeit geriet. Die Scheidung war schnell und finanziell folgenlos verlaufen, denn Gregor hatte als freier Mitarbeiter verschiedener unbedeutender Zeitungen keine Reichtümer anhäufen können. Das änderte sich allerdings, als er noch während der Trennungs-Depri in einer Bar einen alten Herrn kennenlernte, dem es noch viel schlechter zu gehen schien als ihm, woraufhin Gregor sofort in den Seelsorge-Modus switchte und Josef tatsächlich von seinem geplanten Selbstmord abbringen konnte. Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, denn beide spielten leidenschaftlich gern Schach, waren begeisterte Hobbyköche und mochten dieselben Bücher. Wenig später erlag Josef seinem Krebsleiden, woraufhin sich Gregor zu seiner Überraschung als Alleinerbe von 26 Millionen – damals noch D-Mark – wiederfand. Das, was ihm nach Abzug der Erbschaftssteuer blieb, vermehrte ein seriöser Anlageberater seitdem langsam, aber stetig, sodass Gregor sein Hauptaugenmerk nicht mehr auf den Broterwerb richten musste, sondern das Schreiben entspannt betreiben konnte, wobei noch genug Zeit für den Garten seines kleinen Häuschens blieb. Es wollte also nur noch der freie Platz im Doppelbett ausgefüllt werden, aber erst war die Vakanz im Herzen dran, da war Gregor ganz old school, und das war nur eine seiner Macken. Eine andere war seine Unfähigkeit, eine halbwegs normale Unterhaltung mit einer Frau zu führen, wie wir an seiner letzten Anmachmasche schon gesehen haben.
Die nächsten waren auch nicht besser. So verfiel er auf die Idee, sich im Supermarkt herumzutreiben, und wenn er eine schlanke junge Frau sah, zu ihr zu gehen und zu sagen: »Entschuldigen Sie, mein Arzt hat mir empfohlen abzunehmen, und da dachte ich, wenn ich mich so ernähre wie Sie, müsste es eigentlich klappen, darf ich mir kurz aufschreiben, was Sie eingekauft haben?«
Je nach Laune sagte er aber auch: »Diesen Scheiß wollen Sie doch wohl nicht ernsthaft essen?«
Er hielt das nicht nur für witzig, sondern verband damit auch die Erwartung, dass eine sagen würde: »Hey, das habe ich mich auch schon gefragt, haben Sie vielleicht bessere Ideen? Vielleicht können wir ja auch mal zusammen kochen, wie wäre das?«
Ich denke, Sie sehen Gregors Hauptproblem: Seine Liebe zum Scherz blieb oft unerwidert.
Meine Frau hat es mir zwar verboten, aber eine von Gregors Top-Fünf-Peinlichkeiten muss ich Ihnen einfach erzählen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man das ganze Jahr über 1. April gefeiert. Gregor war verrückt danach, Mitmenschen zu verarschen. In einem Sommerurlaub – man hatte zu acht ein Ferienhaus an der holländischen Küste gemietet – hatte er folgendes Strandspiel angeregt: Einer bekam die Augen verbunden, dann führte man dessen Zeigefinger in ein unbekanntes Objekt ein, und er musste raten, was es war. Dazu schmierte sich einer der Kumpels Sonnencreme in die Ellenbeuge, das Opfer steckte seinen Finger rein, zog ihn wieder raus und stellte eine Zeitlang abwegige Vermutungen an. In der Zwischenzeit hatte sich ein anderer die Badehose heruntergezogen und stellte sich gebückt vor ihn. Die Binde wurde abgenommen, und Gregor genoss es haltlos, wie dem Ärmsten dämmerte, dass er seinen Zeigefinger augenscheinlich vor kurzer Zeit aus einem eingeölten Anus gezogen hatte. Alle waren peinlich berührt, zumal der Gefoppte auf einmal nicht mehr glauben wollte, dass er einer Täuschung erlegen war. Die Stimmung blieb tagelang getrübt.
Gregor beschloss daraufhin klugerweise, der Gruppe einen Kurzurlaub von sich zu gönnen, zog sich in sein Zimmer zurück und brachte ein TV-Konzept zu Papier, das ihm schon seit geraumer Zeit im Kopf herumspukte: ein Wettkampf verschiedener Diätkonzepte, vertreten durch jeweils einen Coach und ein Team mit vier Probanden, die sich während der Produktionsdauer nicht nur streng an den jeweiligen Diät- und Sport-Plan zu halten hatten, sondern auch in körperlichen und geistigen Disziplinen gegeneinander antreten sollten. Gregor machte sich begeistert an die Ausformulierung seiner Idee. Einziger Wermutstropfen: Sein Lieblingstitel »Die Hungerspiele« war nicht mehr frei.
Justus
Er wusste nicht mehr genau, wie alt er war, als er zum ersten Mal auf die Frage »Was willst du einmal werden?« sagte: »Schutzengel«.
Es ist sinnlos, in seinem Umfeld nach Gründen für diesen Berufswunsch zu suchen. Es gab keine familiären Vorbilder, sein Vater war Straßenbahnfahrer, seine Mutter Hausfrau, in der ganzen Familie würde man vergeblich nach Sozialausreißern wie Seeleuten oder Nonnen suchen. Bei Licht besehen, ging es schon in der Volksschule los. Er war verliebt in Barbara, häkelte ihr Puppenmützchen, brachte ihr geklaute Kirschen mit, was verknallte Achtjährige halt so machten. Aber irgendwie konnte er nicht so richtig bei ihr landen, bis zu einem Montag im Mai. Ein Typ aus der 6. Klasse, also zwei über ihm, stellte Barbara ein Bein, sie flog hin, ihre Puppe drei Meter weiter, der Typ schnappte die Puppe und sagte: »Danke, genauso eine hat sich meine Schwester zum Geburtstag gewünscht.« Und weg war er. Justus hinter ihm her, hechtet ihn von hinten an, er geht zu Boden, Justus immer noch auf seinem Rücken, packt den Arm mit der Puppe und dreht ihn ihm auf den Rücken, bis es kracht, der Typ schreit wie am Spieß, lässt die Puppe los, Justus gibt ihm einen Stoß und steht auf.
Dann ging Justus mit der Puppe zu Barbara. »Du hast was verloren«, sagte er.
»Danke schön, das war ganz toll, wie du das gemacht hast«, sagte sie.
Diesen Satz würde er später noch oft von den schönsten Frauen aus aller Welt hören, aber die Art, wie Barbara es sagte und ihn dabei ansah, würde er nie vergessen. Vor allem, weil er sich übergeben musste. Keine Ahnung warum, die Aufregung, er hatte sich wohl auch den Solarplexus geprellt, shit happens.
Jedenfalls passierten ihm von da an dann dauernd solche Sachen, dass er Mädchen raushauen musste, denen irgendein Typ blöd kam. Manchmal passten sie ihn schon vor der Schule ab und sagten: »Justus, der Eric hat gesagt, wenn ich ihn nicht küsse, wird er mir wehtun.«
Irgendwann, nachdem sie in der Schule auch Englisch dazubekommen hatten, sprachen die Mädels und bald auch alle anderen »Justus« englisch aus, sodass es wie »Justice« klang. Er hatte nichts dagegen, fand es sogar ultracool und fing an, englische Brocken zu verwenden, so was wie: »Hot shit, Digger«, wenn ihm einer ein schönes Pornofoto zeigte oder so. Mittlerweile war er auch in einem Box- und einem Judoclub und so war auf dem Schulhof immer öfter »Justice-time«.
Mittlerweile suchten auch schon Erwachsene Schutz, Mütter, deren verhätschelte kleine Streber dauernd vermöbelt wurden, die Religionslehrerin, die von einem besonders fiesen Typen terrorisiert wurde und die sich dann auf eine sehr besondere Art und Weise bedankte. Wahrscheinlich war er einer der ganz wenigen Jungs, die entjungfert wurden, während der Plattenspieler »Großer Gott, wir loben dich« dudelte.
Und weil er nicht nur Fäuste aus Stahl, sondern auch ein Herz aus einer Gold-Butter-Legierung besaß, ließ er sich später, nach der Bundeswehrzeit, tatsächlich von etlichen ungemein attraktiven Frauen überreden, ihren Beschützer zu spielen, wobei er immer darauf achtete, dass sein Anteil am Liebeslohn weit geringer war als ihrer. Trotzdem wurden irgendwann seine Skrupel zu groß, und er beschloss, sich als Privatdetektiv niederzulassen. »J.-Investigations« stand auf seinem Klingelschild, und innerhalb von nur zwei Jahren erwarb er sich in der Branche einen Ruf wie Donnerhall und konnte sich unter den vielen Angeboten die Sahnestückchen aussuchen.
Gerade hatte er einer steinreichen Witwe, die auf einen Heiratsschwindler hereingefallen war, einen Großteil ihres Schmucks wiederbeschafft, und die Dame hatte ihm mit den Worten: »Ich würde Ihnen ja Liebe anbieten, aber ich vermute, dass Sie Geld bevorzugen«, das Doppelte des vereinbarten Honorars in die Hand gedrückt und ihm so die Entscheidung erspart. Jetzt kam er gerade aus dem Fitnessstudio und wollte im Supermarkt ein paar Dinge einkaufen, da sah er, wie ein dicklicher Mann eine ungeheuer attraktive Blondine anquatschte und sich am Inhalt ihres Einkaufswagens zu schaffen machte. Aus alter Gewohnheit ging er hin und sagte: »Entschuldigung, belästigt der Herr Sie, und soll ich ihn vielleicht entfernen?« Der »Herr« sah ihn überrascht, aber nicht unfreundlich an, streckte ihm den kleinen Finger der linken Hand entgegen und sagte: »Könnten Sie bitte mal daran ziehen?« Konsterniert folgte Justus der Aufforderung, und ein veritables Furzgeräusch erklang. Die hübsche Blonde schüttete sich aus vor Lachen und sah dabei so toll aus, dass Justus seine erste Anwandlung, nämlich den Blödmann ins Gewürzregal zu schubsen, unterdrückte und ebenfalls lächelte. Der Dicke freute sich wie ein Kind, holte sein Handy raus und sagte: »Das ist die neueste Furz-App, doppelt so laut wie die bisherigen, klasse, oder? Darf ich Sie beide vielleicht auf einen Kaffee und ein Stück Rhabarberstreuselkuchen einladen?«
Er durfte. Und so lernten Justus, Gregor und Lisa sich kennen.
Meine Frau
Wider besseres Wissen konnte ich der Versuchung einmal mehr nicht widerstehen, meiner Frau den Anfang meines ersten Romans zum Lesen zu geben. Ihre Reaktionen sind eigentlich immer eher semi-euphorisch. Beispiel: »Tja, ich weiß nicht, was das soll, ich kann nicht lachen, und ich lerne nichts.«
Ich denke, es ist eine Mischung aus voraussetzungsloser Liebe, übersteigertem Harmoniebedürfnis und Unfähigkeit, auf die Reaktionen der Leser warten zu können, die mich immer wieder ins Messer laufen lässt.
So auch diesmal: »Och, wie öde, eine Dreiecksgeschichte! Lisa verliebt sich natürlich erst mal in den tollen Justus, um dann Gregors innere Werte zu entdecken und mit ihm eine Familie zu gründen.«
Ich sagte: »Frau, kannst du eigentlich Weltliteratur nur unter dem Aspekt möglicher erotischer Kombinationen beurteilen? Es wäre doch denkbar, dass ich die drei Hauptfiguren nur kurz vorgestellt habe, um den Leser in der Folge auf eine Wildwasserfahrt voller Gefahren, überraschender Wendungen, Überschläge und tödlicher Spannung zu entführen!«
»Glaub ich zwar nicht, aber mach ruhig!«
Das Konzept
Die drei mochten sich auf Anhieb, und als Gregor von seinem Abnehm-TV-Konzept erzählte, bei dem fünf verschiedene Trainer mit unterschiedlichen Methoden gegeneinander antreten sollten, waren Lisa und Justus sofort Feuer und Flamme.
»Da weiß ich genau den richtigen Produzenten, dem du das vorschlagen kannst«, sagte Lisa, »der sucht gerade was in der Richtung!«
»Toll, und wenn es klappt, würde ich gerne mitmachen.« Justus hatte richtig glänzende Augen. »Das wäre genau die richtige Challenge für mich: eine Gruppe von vier Fettsäcken fit machen: ausgewogene Ernährung und Boxtraining, was Besseres gibt es nicht, das Ding hab ich schon so gut wie gewonnen, weißt du schon, mit welcher Methode die anderen gegen mich verlieren wollen?«
»Na ja, da muss man natürlich überlegen: Was gibt die besten Fernsehbilder? Boxen ist super, keine Frage, dann dachte ich an Tanzen, Triathlon oder vielleicht Zehnkampf.«
»Zehnkampf?«, lachte Lisa. »Bist du ganz sicher, dass du einem 150-Kilo-Trampel Stabhochsprung beibringen kannst?«
»Ja, dann eben Neunkampf, obwohl der Hürdenlauf auch nicht ganz einfach wird, fällt mir gerade ein, vielleicht ist Geräteturnen doch besser.«
»O. k., das sind vier interessante Sportarten, was hast du dir als fünfte Methode gedacht?«, fragte Lisa.
»Jetzt kommt der Knaller, die fünfte Gruppe macht gar keinen Sport, die machen einfach eine von den Wunderdiäten, die im Internet kursieren und zwölf Kilo Gewichtsverlust in drei Wochen versprechen.«
»Nee«, meinte Justus, »das kannst du echt nicht machen, das ist ein viel zu großes Risiko, diese ganze Scheiße ist nicht getestet, da wird dir jeder Arzt abraten. Und das mit dem Triathlon würde ich auch nicht machen, weil du da drei verschiedene Sportarten zeigst. Ich bin für eine klare Abgrenzung: Mein Team lernt Boxen, ein Team tanzt, eins schwimmt, eins turnt, und eins macht Leichtathletik. Das sind ganz klare Bilder.«
»Ja schon«, sagte Lisa, »aber dann hast du schon mal einen Vorteil, weil Boxen spannender ist als Schwimmen, dann würde ich eher noch eine Sportart nehmen, wo es Mann gegen Mann geht, Tennis zum Beispiel.«
»Alles richtig, aber Boxen ist auch noch interessant, wenn die beiden nicht so gut sind, Hauptsache, sie hauen sich ordentlich in die Fresse«, sagte Gregor, »aber beim Tennis zugucken, wenn beide es erst noch lernen, ist echt öde, dann lieber eine militärische Spezialausbildung bei irgend so einem Schleifer, der die richtig rundmacht!«
»Richtig«, sagte Justus, »tolle Idee!«
»O. k.«, meinte Lisa, »dann rede ich mal mit dem Produzenten.«
Hermjo
»Morgen mache ich die blonde Schminkmaus klar, die will mir ein Konzept von einem Freund verkaufen«, sagte Hermjo und bedeutete dem Barmann, dass er noch einen Negroni wolle.
Hermjo war Geschäftsführer von AllroundTV, einer Produktionsfirma, die gerade fünf Formate am Start hatte, die alle zwischen zwei und fünf Prozentpunkten über dem Senderdurchschnitt lagen, quotenmäßig.
»Du meinst doch nicht etwa Lisa?«, fragte Stefan, Hermjos Leib-und-Magen-Regisseur, »50 Euro, dass du bei der nicht landest!«
»Wie kommst du denn auf dieses schmale Brett?«
»Das Mädchen ist richtig klasse, sieht rasend gut aus, hat jede Menge in der Birne und außerdem Humor und Selbstbewusstsein, also wenn ich nicht schwul wäre, wäre das meine Traumfrau!«
»Und warum meinst du, dass ich nicht bei ihr lande?«
»Hermjo, du sammelst Wanderpokale, jeder und vor allem jede weiß das, du bist unreif und bindungsunfähig, um es mal positiv auszudrücken, Lisa hat schon ganz andere abblitzen lassen.«
»Hallo, was heißt hier ganz andere? Bin ich vielleicht irgendein Arsch?«
»Damit meine ich gute Typen, die es ernst meinten und nicht so einen Windhund, der sich nur ’ne weitere Kerbe in den Colt machen will.«
»Ich lass dir den Spruch mal durchgehen, aber zur Strafe erhöhe ich auf 200 Euro, einverstanden?«
»Jede oder jeder ist ihres oder seines Glückes Schmiedin oder Schmied, wie wir Gendersensiblen sagen, willst du mir die Kohle gleich geben?«
Justus
»Gregor, hier ist Justus, erinnerst du dich? Wir haben uns letztens im Supermarkt kennengelernt, nachdem ich dir eins auf die Mütze geben wollte, ich bin der Boxtrainer in deiner Fernsehshow.«
»Ja natürlich, ich habe aber von Lisa noch nichts gehört, was kann ich für dich tun?«
»Du hast doch erzählt, dass du ganz gut Schach spielst, könntest du mir das beibringen? Ich hab mich auf eine Wette eingelassen.«
»Was für eine Wette denn? Also Schach lernt man nicht in zwei Stunden.«
»Dann bin ich beruhigt, wir haben zwei Tage Zeit. Wann kann ich vorbeikommen?«
»Justus, um was geht es?«
»Ich habe den Veranstalter der Weltmeisterschaft im Schach-Boxen kennen gelernt, der derzeitige Weltmeister ist Russe, und der Gegner wäre ein Holländer gewesen, der ist aber krank geworden, und ich habe gesagt, da springe ich halt ein.«
»Und du hast wirklich keine Ahnung vom Schach?«
»Nein, aber ich bin ganz gut in so was, Gregor, du musst mir helfen, aus der Nummer komm ich nicht mehr raus, ich muss die ersten drei Minuten im Schach überstehen, dann kommen drei Minuten Boxen, da haue ich ihn sowieso um.«
»Ja, ich kenne den Sport, elf Runden, sechs mal drei Minuten Schach und fünf mal drei Minuten boxen. Aber sag mal, die fordern doch ein Elo-Rating von 1600 Punkten und mindestens 50 Kämpfe als Amateur, wie willst du das denn schaffen?«
»Ich habe 73 Amateurkämpfe gewonnen, davon 60 durch k. o. oder TKO, und bei diesem Elo-Scheiß musst du mir helfen!«
»Justus, dazu muss man in einem Schachverein sein, dann wird man nach einigen Spielen geschätzt, und dann werden die Spielergebnisse nach einem für den Laien recht komplizierten Schlüssel gewertet. So kommt man dann zu seinem aktuellen Rating. Ich habe zum Beispiel im Moment 2112 Elo-Punkte, bin also Meisteranwärter.«
»Das klingt doch toll, dann kannst mich also fit machen, ich bin gleich bei dir!«
Hermjo
Hermjo hatte schon drei Boxazin genommen, aber die Kopfschmerzen waren offenbar fest entschlossen zu bleiben. Um vier Uhr war er im Bett gewesen, wie viele Negronis, Weißweine und Red-Bull-Wodkas er gehabt hatte, verlor sich im Nebel des Vergessens.
Das sind so Sachen, die ich nur schreibe, wenn meine Frau mir gerade nicht über die Schulter guckt, weil sie sonst wieder anfängt zu meckern.
»Warum schreibst du nicht einfach: hatte er vergessen? ›Verlor sich im Nebel des Vergessens‹ klingt so schwurbelig, als wolltest du mit aller Gewalt originell sein!«
Ich könnte ihr dann erklären, dass jeder Künstler nach Möglichkeiten sucht, sein Persönlichkeitsprofil zu schärfen, bei Grönemeyer ist es das Knödelige, das ihn nach dem ersten Ton schon erkennbar macht, bei Chinas Top-Pianisten Lang Lang ist es die Art, wie er nach einem einzelnen Ton die Rechte über Kopfhöhe nach oben schleudert, bei mir ist es eben eine gewisse verspielt-mystische Metaphorik, wenn’s passt.
Jedenfalls war Hermjo ganz schlecht drauf, als seine Sekretärin ihm Lisa avisierte. Sie rauschte herein, eingehüllt von einer Wolke Chanel Nr. 5 und einem zum Bersten gestrafften Blüschen, und sagte: »Hermjo, du siehst so versoffen aus, dass ich dir, bevor du irgendetwas sagst, das dir später leidtut, erst mal den Kopf wasche, denn fettige Haare hast du auch noch, und dann kriegst du gratis meine berühmte Kopfmassage für schwere Fälle, auf geht’s!«
Sie zerrte ihn in das Badezimmer, das zu seinem Büro gehörte, und fünfzehn Minuten später war er schmerzfrei, angenehm beschwingt und erregt genug, um nicht mehr allzu kritikfähig zu sein. Lisa machte ihm Gregors Abnehm-Wettbewerb samt den eingestreuten Battles in den verschiedensten Disziplinen so schmackhaft, dass er, ohne sich überhaupt Bedenkzeit auszubitten, sofort zusagte. Zumal sie ihm auch noch anbot, ein Sporthotel an einem See klarzumachen, dessen Besitzer sie jederzeit heiraten würde. Das war sein Stichwort, er fühlte sich stark genug, um es mit dem Hotelbesitzer aufzunehmen.
»Lisa, wann gibst du mir endlich die Chance, dir zu beweisen, dass ich der einzig richtige Kerl für dich bin. Es ist doch nicht normal, dass ein Mädchen mit einem Mann wie mir nicht mal essen gehen will!«
»Weil Mädchen wie ich wissen, dass bei Männern wie dir das Essen nur das Vorspiel zum Flachlegen ist. Du willst keinen tollen Abend mit schönen Gesprächen und einem Essen, das du noch nie probiert hast, dazu einen Wein, den du auch nicht kennst, danach vielleicht noch einen Spätfilm oder eine schöne Bar, du willst einfach nur eine neue Alte klarmachen. Du setzt voraus, dass jede auf dich fliegt, weil du Kohle hast und fürs Fernsehen arbeitest. Ich stehe aber auf Jungs, die mich überraschen können, zum Beispiel damit, dass sie was in der Birne haben.«
»Lisa, meine Einladung ablehnen ist das eine, mich beleidigen ist eine andere Sache. Ich habe zwar schon angedeutet, dass mir das Konzept deines Freundes gefällt, aber das kann ich mir auch noch anders überlegen!«
»Glaub ich nicht, weil der Unterhaltungschef deines Leib-und-Magen-Senders, der mich auch immer zum Essen einladen will, mir erzählt hat, dass, wenn du nicht bald mit einem neuen Konzept rüberkommst, sie sich anderweitig umsehen müssen.«
Hermjo gab auf. Er machte noch einen Anstandsversuch, sie zu umarmen, aber Lisa wich mit Leichtigkeit aus.
Sie rief noch aus seinem Büro Gregor an, um einen gemeinsamen Termin auszumachen, am besten gleich zusammen mit Justus, und erfuhr, dass am nächsten Abend die Schachbox-Weltmeisterschaft anstünde. Hermjo war gleich Feuer und Flamme: »Wunderbar, da komme ich mit, und anschließend gehen wir essen, irgendwas, was ich nicht kenne, o. k.?«
Lisa
So schnell Justus mit den Fäusten war, so langsam kapierte er die Laufwege der Schachfiguren. Besonders der Springer stellte ihn vor Probleme. Gregor war aber leider auch als Pädagoge keine Traumbesetzung. In der Absicht, Justus zu zeigen, wie einfach der Springer-Move ist, demonstrierte er in drei Minuten, wie das Pferd alle 64 Felder des Schachbretts ansteuern kann, ohne eine einzige Dopplung. Man hatte das auch schon bei »Wetten dass?« gesehen, aber nicht so schnell. Justus war kurz davor, aufzugeben. Es klingelte, Gregor öffnete, und Lisa füllte den Raum mit guter Laune. Natürlich waren beide begeistert, dass das Konzept so schnell Gestalt annahm, aber das vorrangige Problem waren Justus und das königliche Spiel.
Lisa war zur allgemeinen Überraschung voll im Thema und sagte: »Jeder Kämpfer hat insgesamt neun Minuten Zeit für die Schachpartie, wobei er disqualifiziert werden kann, wenn er auf Zeit spielt, vorher muss er aber zweimal verwarnt werden, was heißt das konkret? Wie lange kann er dasitzen, ohne einen Zug zu machen? Weiß keiner? Egal, Justus sagt, er haut ihn in der ersten Boxrunde um. Also, nehmen wir an, Justus hat Weiß, dann eröffnet er mit dem Königsbauern, dann Bauer F3, dann den Damenbauern, beide Pferde, den Läufer auf C raus und Rochade, egal, was der andere spielt, das sind sechs Züge, damit kommt er über die ersten drei Minuten.«
Gregor war gekränkt, Justus begeistert: »Baby, that’s kinky, you’re the funk!«
Partnerschaftskrisendeeskalation
Ich wusste es! Das würde mir meine Frau nicht durchgehen lassen.
»Ich kann nicht Schach spielen, und ich bin sicher nicht die Einzige, also wenn ich da eine halbe Seite Schachzüge lese, die ich nicht verstehe, dann habe ich keine Lust mehr, und was soll dieses idiotische Englisch? Die Kinder lernen doch ohnehin schon kein Deutsch mehr heute!«
»Ich habe dir schon so oft angeboten, dir Schach beizubringen, du wolltest nie.«
»Ja, weil es mich nicht interessiert!«
»Und was stört dich an den zwei Brocken Englisch? Der Mann hat halt die Macke, dass er gerne amerikanischen Slang einstreut, ein Zeichen dafür, dass er tief drinnen unsicher ist, und die Bedeutung erschließt sich doch ohne Probleme aus dem Kontext!«
»Die Bedeutung erschließt sich aus dem Kontext: Trittst du die Hegel-Nachfolge an oder was?«
Der normale männliche Autor wäre jetzt gekränkt, würde die Stimme heben oder eine Tür knallen. Nehmt das Folgende also ruhig als kleine Lektion in Sachen Partnerschaftskrisendeeskalation (was für ein herrliches Wort!).
Ich sagte also: »Liebling, ich bin untröstlich, dass du mit mir unzufrieden bist, aber ich bin sicher, jeder Nichtschachspieler bekommt mit, dass es hier nur darum geht, dass Lisa Gregor die Show stiehlt, und das müsste dir doch eigentlich gefallen, und »erschließt sich aus dem Kontext« glaubte ich sagen zu dürfen, weil du doch auch studiert hast, es war also lediglich so ein kleiner Insider-Gag zwischen liebenden Akademikern! Und jetzt kannst du mir einen Kaffee machen, wenn du magst.«
Statt des letzten Satzes hätte bei Karl May gestanden: »Hugh, ich habe gesprochen!«, aber mittlerweile ist die Literatur eben weiter.
Den Kaffee für uns beide habe dann doch ich gemacht. Und Kuchen habe ich auch geholt.
Schachboxen
Die Mehrzweckhalle war gut gefüllt, es waren sicher sechs- bis siebenhundert Leute da, eine sehr bunte Mischung. Lisa und Gregor tippten spaßeshalber, wer eher aus der Box- oder der Schach-Ecke kam. Hermjo kam sich etwas deplatziert vor in seinem Boss-Anzug, war auch maulig, weil es keinen Schampus-Stand gab, aber da musste er durch.