Nummer Sieben muss sterben - Martin Willi - E-Book

Nummer Sieben muss sterben E-Book

Martin Willi

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Beschreibung

Ein Todesfall aus heiterem Himmel, ein Opfer nur aus Zufall ausgewählt? Kriminalkommissarin Petra Neuhaus und ihr Team stehen vor einem Rätsel. In einer Vollmondnacht wird ein junger Mann auf offener Strasse erschossen, vom Täter keine Spur. Im Umfeld des Opfers gibt es keine Hinweise auf mögliche Tatmotive. Kann es sein, dass sich der junge Mann einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort befand? Kurz nach der Tat erhält die Kommissarin ein anonymes Schreiben mit dem Hinweis, dass es zu weiteren Zufallsopfern kommen wird. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Kann Petra Neuhaus den Täter fassen, bevor es zu weiteren Mordfällen kommt? Zur gleichen Zeit geschehen mysteriöse Dinge im Umfeld der Kommissarin und sie kommt zur Erkenntnis, dass sie von einem Stalker namens «Mister XL» verfolgt wird. Kann es sein, dass der Stalker und der Täter ein und dieselbe Person ist?

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Martin Willi

Nummer Sieben muss sterben

Dritter Fall der Kriminalkommissarin Petra Neuhaus

Impressum

© 2023 Edition Königstuhl

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.

Bild Umschlag:

doc_lopez/photocase.de

Gestaltung und Satz:

Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Bern

Lektorat:

Manu Gehriger

Druck und Einband:

CPI books GmbH, Ulm

Verwendete Schriften:

Adobe Garamond Pro, Artegra Slab

ISBN 978-3-907339-33-6

eISBN 978-3-907339-73-2

Printed in Germany

www.editionkoenigstuhl.com

Martin Willi (*1964) ist seit 1990 nebst der Arbeit in einem Brotberuf im Kulturbereich tätig. Als Theaterpädagoge wirkt er sowohl als Dozent, Regisseur und Schauspieler, als auch als Dramaturg und Autor. 1995 verfasste er sein erstes von über 40 Theaterstücken, 2001 folgte das Theaterbuch «Entspannen, Konzentrieren, Darstellen». Im Jahre 2008 hat er mit dem Jugendroman «Abenteuer in Calgary» sein Erstlingswerk in der Belletristik abgeliefert. 2018 erschien mit «Das Ende des Laufstegs» der erste Fall der Kriminalkommissarin Petra Neuhaus, dem 2020 der Roman «Skelett des Grauens» folgte. Zudem ist der in Laufenburg wohnhafte Künstler Betriebsleiter des dortigen Eventlokals kultSCHÜÜR.

www.willimartin.ch

«Je planmässiger der Mensch vorgeht,umso wirkungsvoller trifft ihn der Zufall.»

Friedrich Dürrenmatt

«Zufall ist ein Wort ohne Sinn.Nichts kann ohne Ursache existieren.»

Voltaire

Eine Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig und frei erfunden.

Bemerkung: KW steht in der Folge für Kalenderwoche.

Inhalt

Prolog

KW 15 – Mittwochabend

KW 15 – Donnerstag, Nacht auf Freitag

KW 15 – Freitag

KW 15 – Samstag/Sonntag

KW 16 – Montag

KW 16 – Mittwoch

KW 16 – Donnerstag

KW 18 – Montag

KW 19 – Freitag

KW 19 – Samstag, Nacht auf Sonntag

KW 20 – Montag

KW 20 – Mittwoch

KW 20 – Donnerstag

KW 21 – Donnerstag

KW 22 – Freitag

KW 23 – Mittwoch, Nacht auf Donnerstag

KW 23 – Donnerstag

KW 24 – Dienstag

KW 24 – Mittwoch

KW 24 – Donnerstag

KW 24 – Freitag

KW 25 – Montag

KW 25 – Dienstag

KW 26 – Mittwoch

KW 26 – Donnerstag

KW 26 – Freitag

KW 27 – Montag

Epilog

Herzlichen Dank an…

Prolog

Mit seinen schmalen hellbraunen Augen sah er durchs Küchenfenster zum Himmel empor, der Mond war bereits letzte Nacht so rund und schön, wie er es noch selten erblicken konnte. Jetzt war es noch zu hell, aber schon bald würde der einzige natürliche Satellit der Erde in seiner ganzen Pracht am Himmel erstrahlen. Nun war es wiederum so weit, der Vollmond versprach ihm beste Aussichten auf Erfolg seines Planes. Wer wird wohl sein drittes Opfer sein?

Er schaute sich in seinem Wohnzimmer um, alles schien ihm perfekt zu sein, alles war genauso, wie er es liebte. Jeder Gegenstand befand sich an seinem angestammten und angedachten Platz. Doch was war das? Das Bild von Petra auf dem Sideboard stand offensichtlich etwas mehr rechts als sonst. Schnell schritt er zum Foto und stellte es so hin, wie es sein sollte, wie es gestern war, wie es morgen und allezeit sein würde.

Zwei Minuten später verliess er seine Wohnung, das Jagdmesser mit einer zwölf Zentimeter langen Klinge in seiner rechten Brusttasche liess ihn in schönster Vorahnung auf seine Tat in erwartungsvolle Ekstase versetzen. Ich bin zu aufgeregt, ich muss ruhig bleiben, es wird wunderbar sein, wenn ich zusteche. Ruhig atmen, ruhig. Keine Hektik. Wen darf ich heute wohl von seinem menschlichen Dasein erlösen? Wessen Leid werde ich heute beenden können? Wer wird es sein – ein Mann, eine Frau oder sogar ein Kind?

Den Brief an Petra warf er auf dem Bahnhof in den Briefkasten. Anschliessend fuhr er mit der Bahn nach Baden, um sich auf seine dritte Vollmondtat vorzubereiten.

Die Altstadt von Baden hatte er sich heute für seine Handlung ausgesucht. Dies erschien ihm nach seinen beiden ersten Taten ein optimaler Ort zu sein, vor allem eine logische Örtlichkeit. Er begann die Rathausgasse entlangzugehen, es herrschte ein emsiges Treiben an diesem lauen Sommerabend. Sein Jagdmesser hatte er aus seiner Brusttasche gezogen und umklammerte es fest mit seiner rechten Hand. Nun begann er wieder leise flüsternd zu zählen: «Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf, Sechs, Sieben!» Eine Frau Mitte vierzig kam auf ihn zu und er stellte sich ihr in den Weg.

«Was soll das, was wollen Sie?»

Lächelnd sagte er: «Tut mir leid, du bist Nummer Sieben.» Im selben Moment stach er zu, das Jagdmesser durchbohrte das Herz der unschuldigen Frau und liess sie röchelnd sterben.

KW 15 – Mittwochabend

«Was meinst du, wollen wir morgen wieder einmal ins Kino gehen?» Alexandra Meili stand etwas gelangweilt, beinahe schon unmotiviert, an der Küchenkombination und scrollte auf ihrem Smartphone, um in Erfahrung zu bringen, was am Donnerstagabend in der Region kulturell so angeboten wurde. Alexandra, die in Aarau als Kundenberaterin in einer Drogerie tätig war, fuhr durch ihre gelockten roten Haare, eine Frisur wie eine Löwenmähne besass sie, worauf sie einen durchaus berechtigten Stolz hatte. Sie glaubte zu wissen, dass es nur wenige Frauen mit einer solch wunderbaren Haarpracht gibt. Manchmal im Sommer, so wünschte sie sich zwar des Öfteren, dass ihre Haare kürzer und nicht so dicht wären. Aber sie wusste auch, dass ihre Haare bei Männern sehr gut ankamen, dass sie mit ein Grund waren, dass sie so attraktiv und anziehend auf das männliche Geschlecht wirkte. Und welche heterosexuelle Frau möchte nicht begehrenswert und reizvoll für das männliche Geschlecht erscheinen?

Ihr Lebenspartner Kevin Sutter sass auf dem Sofa, hatte die Beine auf den Salontisch hochgelagert, obwohl Alexandra das nicht gerne sah, tat er es zu ihrem Verdruss immer wieder. Kevin schaute sich einen Fussballmatch an. Conference-League stand auf dem Programm, kein besonderes Spiel, Bordeaux gegen Napoli. Kevin war Fan des FC Aarau und sympathisierte zudem mit Leeds United und Union Berlin. Aber diese Mannschaften waren allesamt nicht oder nicht mehr in den europäischen Wettbewerben vertreten, da sah er sich in der Not auch andere Spiele an. Hauptsache Fussball. «Kino, okay, warum eigentlich nicht, waren wir schon eine Weile nicht mehr. Was läuft denn so, gibt es was Interessantes?»

«Im Ideal ist ‘Die göttliche Ordnung’ zu sehen. Den will ich mir doch schon lange anschauen, das weisst du doch. Beim Kinostart habe ich ihn damals irgendwie verpasst. Immer kam etwas dazwischen und plötzlich war es zu spät.» Alexandra wusste sehr wohl, dass Kevin eher Actionfilme liebte, Star Wars oder James Bond standen bei ihm ganz hoch oben im Kurs. Aber er kann ja auch mal über seinen eigenen Schatten springen und mir zuliebe «Die göttliche Ordnung» anschauen, er wird schon nicht gleich einen jahrelangen oder sogar bleibenden Schaden davon bekommen. «Und was hältst du davon?», hakte sie nach, da Kevin ihr noch keine Antwort gegeben hatte.

«Wenn ich ehrlich bin, so habe ich dazu wirklich keine Lust. Ist der Film nicht langweilig oder sogar ätzend? Scheint mir doch irgendwie so eine Frauensache zu sein, irgendwas Emanzipiertes oder nicht? Ich stehe nicht so auf diesen feministischen Kram, das weisst du doch.»

Na klar, das musste ja so kommen. Alexandra ging zu Kevin, stand hinter das Sofa und begann seinen Nacken mit wohltuenden und gekonnten Handgriffen zu massieren. «Ach komm schon Kevin, ich schau mir auch immer wieder Filme mit dir an, die ich nicht so toll finde. In einer Beziehung muss man sich auch mal einen Gefallen tun.»

«Jaja, ist ja gut Alexandra, ich komme ja mit. Und du, tust du mir auch einen Gefallen?»

Alexandra wusste genau, was Kevin mit diesen Worten meinte, was er liebte und von ihr nun wünschte. Sie beugte sich über ihn, küsste und knabberte an seinem rechten Ohr und sagte: «Jederzeit, mein Schatz, soll ich jetzt sofort?»

«Warum nicht, spricht etwas dagegen?»

«Aber nur, wenn du das Fussballspiel abstellst, kleiner Macho, was du bist. Das törnt mich jetzt echt nicht an.» Alexandra ging um das Sofa herum, lächelte verführerisch, kniete sich vor Kevin hin und öffnete seine Jeanshose. Schön langsam, Millimeter um Millimeter.

Kevin lehnte sich zurück, mit seinen Händen fuhr er durch Alexandras wilde Haarpracht. Geniessen, jetzt nur noch geniessen, war sein Gedanke. Was ihn erwartete war das Höchste der Gefühle, die er sich vorstellen konnte. Nichts auf der Welt liebte er so sehr, als wenn Alexandra ihn mit ihren Händen, ihrer Zunge und ihrem Mund verwöhnte und er so zu einem einzigartigen erotischen Höhepunkt gelangen konnte.

KW 15 – Donnerstag, Nacht auf Freitag

Vereinzelte Regentropfen vermochte der auf der Lauer liegende Mann auf dem Dach des Mehrfamilienhauses zu verspüren. Regentropfen, die sachte auf seinen angespannten Kopf herunter nieselten. Regen? Davon habe ich aber auf meiner Wetter-App nichts gesehen. Nicht mal auf die Apps kann man sich heutzutage verlassen. Dabei dachte ich, wenigstens beim Wetter gibt es keine Fake-News. Fortwährend wird man angelogen. In Gedanken an Lug und Trug fiel ihm das Lied «Good Liar» von der jungen Luzerner Band Milde ein. Darin heisst es auf Deutsch übersetzt «Ich weiss nicht, ob ich ein guter Lügner bin.» Wenn es wirklich so weit kommt, dass man mich erwischt, dann muss ich bei der Polizei ein richtig guter Lügner sein. Aufgeregt, nervös und in heller Vorfreude auf das, was in den nächsten Sekunden passieren sollte, pochte sein Herz. Es schien ihm, es würde so laut schlagen, dass man es unten auf der Strasse zu hören bekam, was aber natürlich eine reine Einbildung seinerseits war.

Seine Augen sahen scharf zur Aarauer Stadtkirche hinüber, die Uhr zeigte kurz vor 23 Uhr. Die Kirchenglocken würden jedoch nicht zu vernehmen sein, denn seit 2011 hat die reformierte Kirche ab 22 Uhr den Stundenschlag abgestellt, damit hatte sie sich der katholischen Kirche angepasst. Dies sehr zur Freude all derer, die sich nachts am stündlichen Glockengebimmel störten. Und von denen soll es offenbar immer mehr geben, wie er unlängst in den Medien gelesen hatte. Er blickte hinunter auf die Strasse, er hatte sich eine wahnwitzige Idee überlegt und sich vorgenommen diese umzusetzen. Ein Plan, der ihm selbst einerseits absurd erschien, andererseits aber auch genial und nicht durchschaubar für die Polizei. Ein Plan, der heute seinen Anfang nehmen sollte. Die siebte Person, die nach 23 Uhr in dieser Vollmondnacht über die Strasse ging, diese Person sollte sein erstes und mit Bestimmtheit nicht letztes Opfer sein. Sieben, das war seine Glückszahl, seine Lieblingsnummer, daher entschied er sich für diese Ziffer. Und da er schon solange er denken kann, fasziniert ist von der Pracht des Vollmonds, entschied er sich dafür, seine Tat in dieser Nacht zu vollbringen. Denn es war ihm bewusst, dass der Mond Auswirkungen auf die menschliche Stimmung hat. Der Mond und das menschliche Gemüt sind eng miteinander verwoben, das belegen inzwischen zahlreiche Studien. Er war überzeugt davon, dass der Vollmond eine positive Wirkung auf ihn und seine Tätigkeiten hatte. Daher war es für ihn ganz klar, dass er seine Tat nur an einem Vollmond begehen konnte. Das Sturmgewehr SIG 550 war auf die Strasse gerichtet, seine Armbanduhr zeigte genau 23 Uhr, sein rechter Zeigefinger lag leicht zitternd auf dem Abzug. Nochmals ein Blick zur Uhr, er wusste, dass diese sekundengenau stimmte, denn er hatte sie am Abend noch mit der telefonischen Zeitansage auf der Nummer 161 verglichen. Diese automatische Auskunft erfreut sich auch heute noch einer grossen Beliebtheit, wird sie doch öfters gewählt als zum Beispiel die Notrufnummer. Für den Mann war dies etwas verwunderlich, denn in der heutigen Zeit mit den Smartphones erschien ihm das nicht nachvollziehbar. Allerdings meinte er darin zu erkennen, dass die Menschen sich nach einer genauen Zeit sehnten. Für viele Menschen war es offenbar wichtig, dass ihre Uhren ganz genau stimmten, dies gab ihnen wohl Sicherheit. Mit der linken Hand trocknete er seine Stirn und seine Augen, die vom schwachen Nieselregen etwas genässt waren, er musste sich einen klaren Blick bewahren. Es muss beim ersten Mal klappen, ich habe nur eine Chance, eine einzige Möglichkeit. Für den Mann war es klar, dass er nur einmal schiessen konnte, danach musste er sofort verschwinden, er durfte kein unnötiges Risiko eingehen.

Leise flüsternd begann er die Personen zu zählen, die er da zu sehen bekam. Nummer Eins überquerte die Strasse, eine junge Frau in einem roten Minirock, ein Rock, der für diese Jahreszeit zu kurz war, meinte der Schütze in Gedanken mit sich selbst. Aber immerhin ein Kleidungsstück, das zu ihren Haaren und ihrem sonstigen Outfit passte. Vielleicht ist sie ja unterwegs, um ein Abenteuer zu erleben. Drei junge Männer folgten der Frau in einem Abstand von einigen Metern, ihr leicht frivoles Gespräch vermochte er bis in sein Versteck hinauf zu vernehmen. Sein rechtes Auge blickte gestochen scharf durch das Nachtzielgerät als ein älteres Paar, so um die siebzig, mit langsamen Schritten gemächlich die Strasse hinüberwechselte.

Einen Sekundenbruchteil schloss er die Augen. Ruhig, es ist gleich so weit, es wird grossartig sein. Hoffentlich kommt nur eine einzelne Person, wenn eine Gruppe kommt, so ist es eminent schwierig. Wen soll ich denn da auswählen? Macht es mir bitte nicht so schwer da unten. Nicht bei meinem ersten Mal, bei meiner Premiere als Killer. Ein junger Mann in einem hellbraunen Sakko und blauen Jeans kam eiligen Schrittes daher. Offenbar war er auf der Suche nach etwas oder verfolgte er gar jemanden? Der Schütze zögerte einen minimalen Augenblick, hielt den Atem an, tätigte dann den Abzug. Ein lauter Knall, ein kurzer Schrei des in sich zusammensinkenden Mannes, und alles war vorbei, schon vorbei. Schneller, als sich der Täter dies vorgestellt hatte. Nun schnell verschwinden und keine Spuren hinterlassen. Er wusste, dass er keine Zeit verlieren durfte. Jede Sekunde konnte entscheidend sein.

«Hallo, hier ist Petra, was gibt es denn?» Kriminalkommissarin Petra Neuhaus nahm um 23.17 Uhr mehr widerwillig denn erfreut den eingehenden Anruf auf ihrem Mobiltelefon entgegen. Um diese Zeit konnte es sich nur um ein Verbrechen handeln, was sollte es denn sonst sein? Sie lag bereits in ihrem Bett, nur mit einem T-Shirt und einem engen Slip bekleidet, sie trug nie mehr, wenn sie ins Bett ging, auch nicht bei Eiseskälte. Heute wollte sie etwas früher als gewohnt schlafen, doch damit wurde wohl nichts. Dies wurde ihr in dem Augenblick klar, als sie den ersten Ton ihres Telefons vernehmen musste.

Auf der Fahrt mit Blaulicht von ihrem Wohnort nach Aarau dachte sie zurück an den Anruf. Ein junger Mann auf offener Strasse erschossen, wie in einem Wildwestfilm aus Hollywood. Und das in unserem beschaulichen und idyllischen Aarau, das gibt es doch nicht. In den Millionenstädten gibt es solche Fälle des Öfteren, aber hier in der Provinz? Da bin ich mal gespannt, was mit diesem Fall alles auf mich zukommen wird. Hätte Petra Neuhaus zu diesem Zeitpunkt geahnt, welche Bedeutung dieser Fall für sie höchstselbst nehmen würde, vielleicht wäre sie auf der Stelle umgekehrt. Doch wie soll man als Ermittlerin zu Beginn eines Falls wissen, wie der Verlauf, wie das Ende sein wird? Petra konnte nicht ahnen, dass es zu einem ganz persönlichen Fall werden sollte.

Sie fuhr so nahe an den Tatort heran, wie sie nur konnte. Bereits konnte sie ihre Kollegin Bettina Leutenegger erkennen, die sich schon am Tatort befand. War ja auch kein Wunder, wohnte Bettina doch nur wenige Strassen von hier entfernt. Erwin hats gut, der hat heute keinen Bereitschaftsdienst. Na, dann ist halt Frauenpower angesagt. Auf die Dauer hilft nur Frauenpower. Diesen Spruch hatte sie irgendwann mal als Graffitispruch in Zürich in der Nähe des Hauptbahnhofs gelesen und sich eingeprägt. Schliesslich sollte dies nach fünfzig Jahren Frauenstimmrecht in der Schweiz allen Männern längst klar sein. Soll sich Erwin um seine Familie kümmern, mir scheint sowieso, dass zwischen ihm und seiner Frau irgendwas nicht mehr so richtig stimmt. Na ja, geht mich ja auch nichts an. «Hallo Bettina, ist wieder mal nichts mit der wohlverdienten Nachtruhe, nicht wahr?»

«Allerdings Petra, warum geschehen eigentlich die meisten Mordfälle in der Nacht? Das ist doch nicht normal. Kannst du mir das bitte erklären?»

«Ach Bettina, das bildest du dir doch nur ein. Und, was haben wir denn?»

«Eine verrückte Sache, wird der einfach auf offener Strasse abgeknallt wie ein räudiger Hund. Ich habe den Schuss sogar bei mir Zuhause gehört.»

«Kein Schalldämpfer? Da war sich der Täter aber sehr sicher, nicht erwischt zu werden. Und wer ist das Opfer?»

Bettina hielt den Identitätsausweis des Toten in der Hand und las ihrer Berufskollegin vor: «Kevin Sutter, 22 Jahre alt, wohnhaft in Suhr.»

«22 Jahre? Echt jetzt? Verfluchte Scheisse!»

«Das kannst du laut sagen, immerhin musste er nicht leiden, er war sofort tot.»

«Ein schwacher Trost, das nützt ihm und seinen Angehörigen jetzt auch nichts mehr.» Petra schüttelte den Kopf. «Das ganze Leben noch vor sich und innert einem Sekundenbruchteil ist alles aus und vorbei! Gibt es irgendwelche Zeugen?»

«Wie er getroffen und umgefallen ist, das hat offenbar niemand beobachtet. Aber der Schuss hat einige Passanten angelockt, von denen dann auch der Notruf bei uns einging. Die Streife hat die Personen bereits befragt, aber da gibt es wohl nichts, was uns weiterbringen kann. Einen möglichen Täter hat nach den ersten Erkenntnissen niemand gesehen.»

Super, das wird bestimmt eine harte Nuss, die wir armen Schweine da zu knacken haben. Warum muss es eigentlich immer regnen? Ich habe das Gefühl, es gibt viel mehr Untaten bei schlechtem Wetter und in der Nacht als am Tag bei Sonnenschein. Ach, vielleicht hatte Bettina doch recht mit ihrer soeben gemachten Äusserung. Natürlich wusste Petra, dass sie sich dies nur einbildete, so wie Bettina auch. Vermutlich war es einfach so, dass ihr diese Fälle besser in Erinnerung geblieben waren. Es schien für Petra so zu sein, dass das Schlechte den Menschen ganz allgemein besser in Erinnerung blieb als das Gute. Dies hatte ihr auch ein Psychotherapeut vor Jahren so bestätigt.

Sutter/Meili war auf dem Namensschild neben der Klingel zu lesen. Das Mehrfamilienhaus stand ganz im Dunkel vor Petra Neuhaus und Bettina Leutenegger. Nur in drei Wohnungen war knapp nach ein Uhr wohl noch jemand wach. Dies deutete Petra zumindest aufgrund der Tatsache, dass bei drei Fenstern noch Licht zu sehen war. Petra drückte auf den Klingelknopf. Ein friedlicher dunkler Klotz aus Beton, niemand darin ahnt etwas Schlimmes. Na, dann wollen wir mal. Oh, wie ich das hasse. Ich werde mich nie daran gewöhnen, jemandem die Nachricht zu überbringen, dass eine ihm nahestehende Person tot ist. Manchmal habe ich einen richtig dreckigen Scheissjob. Dabei könnte ich ja einem ordentlichen Beruf nachgehen und schon längst zuhause im Bett sein. Sekunden später bereits war der Türsummer zu vernehmen und die Türe der Parterrewohnung auf der rechten Seite öffnete sich.

«Kevin, endlich bist du da, hast du schon wieder deinen Schlüssel vergessen?» Eine junge Frau um die zwanzig mit roten gelockten Haaren stand vor dem Kriminalduo und verstand ganz offenbar die Welt nicht mehr. «Aber, wer sind denn Sie, was wollen Sie?»

Seit knapp einem Jahr wohnten Alexandra Meili und Kevin Sutter in dieser einfachen, aber gemütlich eingerichteten Dreieinhalbzimmerwohnung im sechsstöckigen Mehrfamilienhaus. Es war die erste gemeinsame Wohnung des jungen Paares, nachdem sie bei ihren Eltern ausgezogen waren. Wie Petra und Bettina von der sichtlich geschockten und fassungslosen Alexandra erfahren konnten, so gab es am heutigen Abend nach dem Kinobesuch eine unwichtige Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden, so fuhr sie bereits mit dem Bus nach Hause, während Kevin noch in Aarau verblieb. Alexandra glaubte, dass Kevin wohl noch irgendwo ein Bier getrunken habe.

«Gerade in dem Moment, als ich in den Bus gestiegen bin, habe ich einen lauten Knall gehört. Aber ich habe doch nicht geahnt, dass das ein Schuss gewesen war und nicht, dass Kevin …», schluchzte die völlig aufgelöste Alexandra.

Bettina ergriff ihre wie Espenlaub zitternde Hand. «Können Sie sich denn vorstellen, warum auf ihren Freund geschossen wurde? Hatte er irgendwelche Probleme, kennen Sie eventuell Feinde, die ihn bedroht haben?»

«Aber nein, er ist … Er war der liebenswürdigste Mensch, den ich kenne. Manchmal wirkte er etwas machomässig und sturköpfig, deshalb auch die kleine Differenz nach dem Kino. Dabei ging es nur um eine Kleinigkeit, eine Lappalie, nicht der Rede wert. Ich war müde und wollte nach Hause. Kevin hingegen wollte noch irgendwo etwas trinken gehen. Dabei hätten wir uns ja auch zuhause einen Schlummertrunk genehmigen können. Dann würde Kevin jetzt noch leben! Dreimal habe ich ihn versucht anzurufen, seit ich zuhause bin, ohne Erfolg. Aber ich dachte, dass er wohl wieder mal vergessen hatte, den Akku aufzuladen.» Weinend fiel Alexandra der Kriminalkommissarin in die Arme.

Gegen halb drei Uhr in der Nacht war es bereits, als Petra Neuhaus nach Hause fuhr. Zuvor hatte sie noch Bettina in Aarau bei deren Wohnung abgesetzt. Sie war müde, sie rieb sich während der Fahrt immer wieder die Augen und tätschelte mit den Händen ihre Wangen. Petra dachte über diese, gemäss ihrer Ansicht, überaus wahnwitzige Tat nach. Warum wird ein junger 22-jähriger Mann auf offener Strasse erschossen? Ein Mann, der offensichtlich keine Probleme und auch keine Feinde hatte. Das macht doch keinen Sinn. Oder gab es etwas im Leben von Kevin Sutter, das seine Freundin nicht wusste? Etwas, das diesen Mord gerechtfertigt? Quatsch, was denke ich denn da? Ein Mord ist nie gerecht. Und warum hat der Täter keinen Schalldämpfer benutzt? Der Mord war ganz klar geplant, da benutzt man doch einen Schalldämpfer. Morgen müssen die Forensiker die umstehenden Häuser absuchen, mal schauen, ob sie irgendwelche Spuren des Täters finden können. Hoffentlich kann die junge Frau sich beruhigen, sie wollte ja keine psychologische Hilfe annehmen, obwohl wir ihr das angeboten und dringend empfohlen haben. In der Tat war es so, dass Petra bereits die Kriminalpsychologie anrufen wollte, dies dann aber auf Wunsch von Alexandra Meili unterliess. Sie konnte die junge Frau nicht dazu zwingen, auch wenn sie selbst davon überzeugt war, dass es gut für Alexandra gewesen wäre und ihr in dieser Situation geholfen hätte.

Zuhause angekommen trat die Kommissarin rasch in alle Räume ihrer Viereinhalbzimmerwohnung und machte überall das Licht an. Nach dieser Tat musste sie Licht haben, Helligkeit behagte ihr jetzt mehr als die dunklen einsamen Räume, die sie antraf. Sie zog ihre Jacke aus, streifte ihre Schuhe von den Füssen, die sie an Ort und Stelle liegenliess und blickte sich im Wohnzimmer um. Sie trat zum Weinregal, entnahm ihm eine bereits geöffnete Rotweinflasche, nahm sich ein Glas und liess sich auf ihrem Sofa nieder. Sie konnte nicht sofort ins Bett, zu aufgewühlt war sie noch vom in den letzten Stunden Erlebten. Früher trank ich oft ein Glas Rotwein mit Ulrich, wenn ich nach Hause kam. Wie es ihm wohl geht? Gerne hätte sie jetzt mit jemandem gesprochen, sich an eine stärkende Schulter angelehnt. Sie blickte auf die Uhr, die ihr zwölf Minuten nach drei anzeigte. Susanne wird bestimmt schon lange schlafen. Soll ich sie anrufen? Nein, das würde sie nicht verstehen. Ach, Susanne, ich vermisse dich so sehr! Sie schloss ihre Augen und lehnte sich zurück, ihr Nacken schmerzte und dies strahlte wieder mal in ihren Kopf aus, Spannungskopfschmerzen nannte dies ihr Neurologe Emanuel Wohlers. Diese Kopfschmerzen werde ich wohl nie los. Seit ihrer Jugend wurde sie davon geplagt, auch wenn es ihr grundsätzlich besser ging als noch vor Jahren, so gab es immer wieder ganz schlechte Tage. Ich muss ins Bett, bevor es noch schlimmer wird, sonst leide ich morgen darunter. Hoffentlich kann ich schlafen, ohne ein Medikament zu nehmen.

KW 15 – Freitag

Das Arbeitszimmer der Viereinhalbzimmerwohnung in der Altstadt von Aarau war in ein dämmerhaftes Licht gehüllt, denn die dunkelblauen, beinahe blickdichten Vorhänge waren zugezogen. Es gab keinen offensichtlichen Grund dafür, denn es war ein schöner, ein warmer Aprilmorgen. Vom Regenschauer, der letzte Nacht unangekündigt über die Region hereinbrach, war praktisch nichts mehr zu sehen. Ein paar nasse Strassenecken noch, aber sonst war es ein Tag, so richtig, um die wärmende Sonne zu geniessen. Doch davon wollte der Mann, der im Zimmer an seinem Schreibtisch sass, im Moment nichts wissen. Vielleicht später, zunächst hatte er etwas Unaufschiebbares zu erledigen. Er zog die alte Hermes Schreibmaschine, die er letzte Woche in einem Heilsarmee-Brockenhaus für zehn Franken erwarb, näher an sich heran, spannte ein Blatt Papier ein und wollte zu schreiben beginnen. Zuerst suchte er im Internet nach einer solchen Schreibmaschine, dann aber entschied er sich für den Kauf in einem Brockenhaus, da er sich sicher war, dass dies anonymer und gefahrloser für ihn sei. Fünf Brockenhäuser musste er aufsuchen, bis er dieses mintgrüne seltene Exemplar endlich fand und erwerben konnte. Er trug Gummihandschuhe, denn er durfte keine Fingerabdrücke hinterlassen, seine Tat musste mit höchster Vorsicht erledigt werden. Seine Augen blickten gestochen scharf auf die Tastatur, nach wenigen Sekunden legte er seine Finger auf die Tasten: «An Petra Neuhaus, du kleine scharfe Lesbenschlampe. Ich bin der Mörder! Ja, der Mann, der letzte Nacht den jungen Mann auf offener Strasse erschossen hat. Jetzt bist du schon mal sprachlos, nicht wahr? Und ich bin der Mann, der am 15. Mai, am nächsten Vollmond, wieder einen Mord begehen wird. Du wirst nicht herausfinden, wer ich bin und weshalb gerade diese Menschen sterben müssen. Aber eines kann ich dir jetzt schon versprechen, es werden nicht die einzigen Taten, nicht die einzigen Mordfälle sein. Es wird immer so weitergehen, bis du herausfindest, wer ich bin. Oder es wird so lange dauern, bis du dich von deiner Susanne trennst und dich wieder dem männlichen Geschlecht zuwendest. Es ist eine Schande, dass so eine tolle Frau, wie du es bist, nicht mehr für uns Männer zur Verfügung steht!»

Noch einmal las er den Text durch, dann ein zweites Mal, dreimal sogar. Er war überaus zufrieden mit sich, das hatte er gut gemacht, meinte er in Gedanken und klopfte sich sinnbildlich auf seine Schulter. Dann zog er das Blatt heraus, faltete es liebevoll und steckte es in einen Briefumschlag, der adressiert war mit der Anschrift von Petras Büro bei der Kriminalpolizei. Für die Adresse verwendete er Buchstaben, die er aus einer Zeitschrift herausgeschnitten hatte. Der Mann war stolz auf sich und seine Arbeit. Bestärkt in seiner Absicht und guten Mutes stand er auf, trat zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Das eintretende Licht blendete ihn, er kniff seine Augen zusammen und schaute hinaus. Seine Wohnung lag auf der vierten Etage und sein Blick wanderte hinunter auf die Strasse in der Fussgängerzone, auf der ein emsiges Treiben herrschte. Dort unten auf der Strasse liess er gestern einen jungen Mann sterben. Ein seltsam erhebendes Glücksgefühl überkam ihn, als er an die letzte Nacht zurückdachte. Daran, wie er seine neu entdeckte Macht ausspielen konnte. Wie er entscheiden durfte, wer durch sein Sturmgewehr den letzten Atemzug machen sollte. Die Medien schrieben heute von einer Wahnsinnstat. Von einem jungen Mann, der viel zu früh sterben musste. Selber schuld, der Junge, er muss ja nicht als Siebter über die Strasse gehen. Tja, da kann ich nichts dafür! Obwohl, eigentlich wäre mir ein alter Mensch schon lieber gewesen. So zum Start meines Planes. Ach, egal, ich habe mich dazu entschieden, das muss ich jetzt so durchziehen und vollenden. Schnellen Schrittes trat er wieder zum Schreibtisch und nahm den Briefumschlag an sich. Er musste sich beeilen, denn er wollte den Brief noch heute Morgen bei der Kriminalpolizei in den Briefkasten werfen. Seine Gedanken trieben ihn voran, sie duldeten keinen Aufschub. Man sollte seine Vorhaben gezielt und zeitnah durchführen und nicht immer alles nur planen und dann auf die Warteliste, auf die Reservebank schieben. Solche Leute gab es seiner Ansicht nach genug, er selbst fühlte sich als Macher.

Kurz nach zehn Uhr trat der Mann auf den Eingang der Kriminalpolizei zu. Er hatte trotz des warmen Wetters eine Jacke übergestreift und den Kragen weit ins Gesicht hinaufgezogen, soweit es überhaupt möglich war. Zudem trug er eine Sonnenbrille und einen Hut, damit man ihn nicht erkennen konnte auf den Filmaufnahmen, denn natürlich wusste er, dass der Eingang videoüberwacht wurde. Schon 1979 sang der viel zu früh an Lungenkrebs verstorbene Liedermacher Georg Danzer: «Wir werden alle überwacht, kein Grund, dass man sich Sorgen macht.» Heute war dies ja fast schon zur Normalität geworden. Schätzungen zufolge gibt es in der Schweiz über eine halbe Million Überwachungskameras. Er selbst glaubte jedoch, dass es in Wirklichkeit weitaus mehr solcher Objekte gab als es bekannt war, die Dunkelziffer war wohl enorm hoch. Kurz hielt er inne, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war. Dann setzte er mit gesenktem Kopf zielstrebig seinen Weg fort und befand sich innert Sekunden beim Briefkasten. Mit der linken Hand drückte er den Briefschlitz nach oben, mit der rechten Hand warf er den Brief ein. Gelernt ist eben gelernt, denn als junger Mann hatte er mehrmals Ferienjobs, wo er Zeitungen und Werbesendungen austrug. Wehmütig dachte er an diese Zeit zurück, was ist bloss aus ihm geworden in all diesen Jahren? Wohin sind sie entschwunden, die Träume, die er damals noch hatte?