Nur die richtige Meinung ist frei - Danhong Zhang - E-Book

Nur die richtige Meinung ist frei E-Book

Danhong Zhang

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Beschreibung

Leben wir in einem Land mit Meinungsfreiheit? Die allermeisten würden die Frage mit einem klaren "Ja" beantworten. China dagegen hat den Ruf, keine freie Presse zu haben und auch die Meinungsfreiheit nicht zu einzuhalten. Da fällt es besonders ins Auge, das eine chinesischstämmige Journalistin der deutschen Mainstream-Medien ihre Stelle bei der Deutschen Welle nach dreißig Jahren kündigt, weil sie den Maulkorb der ausgesprochenen und unausgesprochenen Regeln der deutschen Medien abschütteln will. Dass sie nach China zurückkehrt, um frei über ihre Erfahrungen schreiben zu können, statt wie die Kollegen Kritik an China zu üben, scheint noch überraschender. Entspricht das Bild des bösen China und der gerechten und freien öffentlich-rechtlichen Medien nicht so vollumfänglich der Realität, wie die Berichterstattung uns glauben lässt?

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Seitenzahl: 268

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Ebook Edition

Danhong Zhang

Nur die richtige Meinung ist frei

Erfahrungsbericht einer Journalistin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-94677-850-9

1. Auflage 2024

© Fiftyfifty Verlag Imprint der Buchkomplizen GmbH, Siemensstr. 49, 50825 Köln

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz: Publikations Atelier, Weiterstadt

In Gedanken an Xiu Haitao, den ehemaligen Herausgeber der Chinesischen Handelszeitung, der mich durch die Kampagne 2008 wohlwollend begleitet hatte und im Sommer 2021 in Frankfurt verstarb.

Inhalt

Cover

Endlich frei

Wie entsteht eine Meinung

Zum Mittagessen Tonband hören

Deutsche Welle – der Tiger, der mir Angst einjagte

China-Redaktion – rein in die Tigergrube

Übersetzungsbüro – oder doch ein feindlicher Sender?

Arbeitsvertrag – lebenslänglich in der Anstalt?

Meine ersten Fake News

Meine Kollegen waren mehrheitlich rot und grün

Die großzügigen Öffentlich-Rechtlichen

Das Schreiben auf Deutsch – aller Anfang ist schwer

Einfluss auf die Meinungsbildung über China

Vorurteile – bis zur Perfektion gehegt und gepflegt

Das schiefe China-Bild – Medien außer Rand und Band

Steile Karriere – auch die Fallhöhe steigt

War es früher besser um die Meinungsfreiheit bestellt?

Causa Zhang – Vor der Meinungsfreiheit sind nicht alle gleich

»Expertin lobt Chinas KP« – die Kampagne kommt ins Rollen

Der Nazi-Geist und eine Medienschlacht zwischen Deutschland und China

Drei offene Briefe und die Degradierung

Unterstützung und Ehrenrettung

Weitere offene Briefe und eine Kampagne ohne Ende

Gesinnungstest und Anhörung im Bundestag

Goldwerte Rehabilitation und Schweigen des Intendanten

Bitterer Beigeschmack und Nachwehen der Kampagne

Wie frei ist die Meinung in Deutschland?

Herden- und Haltungs­­journalismus – wie die Meinung gelenkt wird

Drei Jahre »Hausarrest« – Folgen der Kampagne

Christopher Jahns – ein weiteres Kampagnenopfer

Kampagnenjournalismus – das Gegenteil vom Qualitätsjournalismus

Herdenjournalismus – mit dem Strom schwimmen ist am sichersten

Haltungsjournalismus – im Namen der Haltung ist (fast) alles erlaubt

Cursor-Journalismus – wissen, wo der Cursor steht

Mediokratie – Einheitsfront zwischen Politik und Leitmedien

Eine eindeutige Schieflage – der linksgrüne Mainstream

Lügen- oder Lückenpresse?

Copy and paste: So werden Nachrichten erstellt

Stichtage – stereotype Berichterstattung

»Ich lasse meine Geschichte doch nicht kaputtrecherchieren«

Feste freie Mitarbeiter – Zwang zur Meinungsloyalität?

Wer kann sich eine freie Meinung leisten?

Sensible Themen und verängstigte Meinung

Flüchtlingskrise – ein Chor der Willkommenskultur

Corona – im Gleichschritt mit der Regierung

Ukraine-Krieg – Journalisten machen Politik

Die Vielfalt der Geschlechter – keine Widerrede erlaubt

Gendern – gegen den Willen des Volkes

Kritik am Islam – ein ganz heißes Eisen

China – das ewige Minenfeld

Der Weg nach China ist kürzer, als man denkt

Links hui, rechts pfui

Politische Korrektheit – Kulturrevolution à la Germany

Cancel Culture – damit sind auch Menschen gemeint

Zensur von oben und die Schere im Kopf

Auch das Deutschlandbild in China ist verzerrt

Die Demokratie steht auf dem Spiel

Anmerkungen

Orientierungspunkte

Cover

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Endlich frei

Es war Montag, der 21. Oktober 2019. Ich nahm ein Taxi und fuhr zur nächstgelegenen Poststelle. Die Herbstsonne in Peking umarmte mich, das gab dem Vorgang einen unspektakulären Rahmen. Vor dem Schalter füllte ich meine Adresse in Peking und die der Deutschen Welle aus. Ein Rückzieher war nicht mehr möglich. Denn bevor ich zur Post fuhr, hatte ich bereits mein Kündigungsschreiben per Mail an die Personalabteilung geschickt.

Dreißig Jahre lang habe ich für die Deutsche Welle gearbeitet, den steuerfinanzierten deutschen Auslandssender, der 1953 gegründet wurde, 32 Fremdsprachenredaktionen unterhält und rund 1 500 Mitarbeiter zählt. Ein Traumjob, aber nun war er vorbei.

Jahrelang habe ich auf diesen Tag hingearbeitet. Ich habe Kolumnen und Bücher für den chinesischen Markt geschrieben und mir ein zweites Standbein in China aufgebaut. Im August 2019 hatte ich mich von der Deutschen Welle für ein Jahr beurlauben lassen und war nach China zurückgekehrt. Eine Hintertür hatte ich mir gelassen, um zu schauen, ob eine Resozialisierung in die chinesische Gesellschaft nach mehr als dreißig Jahren Deutschland reibungslos vonstatten gehen könnte. Und tatsächlich ging sie geräusch- und reibungsloser zu, als ich dachte. In dem Kulturkreis, in dem ich geboren und aufgewachsen war, fühlte ich mich wie ein Fisch im Wasser. Nach knapp drei Monaten dachte ich, die Hintertür zuschlagen zu können, um ein neues Leben anzufangen. Denn ich war immer davon überzeugt: Es gibt ein Leben nach der Deutschen Welle.

Vorbei sind die Zeiten, in denen ich immer wieder Anrufe von meinem Vorgesetzten bekam mit der Bitte, den einen oder anderen Tweet zu löschen. Dabei sorgte er sich um meine Glaubwürdigkeit, wenn ich Tweets absetzte, nur um sie wieder zu löschen. Das rührte mich beinahe zu Tränen. Einmal wies mich die Programmdirektorin darauf hin, dass ich zu viele Follower aus der AfD-Ecke hätte. Was kann ich dafür, wer mir folgt? Und haben meine Chefs nichts Besseres zu tun, als mich und meine Follower zu beobachten? Nun aber entlasse ich mich selber in die Freiheit und befreie meine Vorgesetzten von ihrer ideologischen Fürsorgepflicht.

Durch eine Kündigung bei der Deutschen Welle würde ich mich wie neugeboren fühlen. Davon war ich seit dem Skandal im Jahr 2008, der »Causa Zhang«, überzeugt. Nur war die Zeit für eine Kündigung damals noch nicht reif. Ich brauchte mein Gehalt, um meine Familie zu ernähren. Nun aber bin ich nicht mehr auf das Brot der Deutschen Welle angewiesen. Der Tag der Freiheit ist endlich gekommen. Zu meiner Freude gesellen sich auch Erinnerungen, Erinnerungen an meine dreißig Jahre bei dem deutschen Auslandssender, meine Höhen und Tiefen und wie ich vom Stolz meines Arbeitgebers zum Troublemaker wurde.

Über allem schwebt die absurd anmutende Tatsache, dass ich nach China zurückkehren musste, um meine Meinungsfreiheit wiederzuerlangen, immerhin ein Land, dem alles Mögliche nachgesagt wird, nur nicht, sich frei äußern zu können. Das ist natürlich zugespitzt formuliert. Sicherlich kann ich nicht die chinesische Regierung kritisieren, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Aber hier kann ich frei von finanziellen Sorgen leben; hier habe ich Zeit, über Deutschland nachzudenken und über die Frage, ob die vom Grundgesetz garantierte Meinungsfreiheit noch existiert. Wäre ich noch bei der Deutschen Welle angestellt, hätte ich dieses Buch nicht schreiben können, ohne eine Entlassung zu riskieren.

Mit der Kündigung habe ich meine Rede- und Meinungsfreiheit wiedergewonnen, und davon will ich nun Gebrauch machen. Ich wollte den deutschen Lesern von meinen Erlebnissen in den Mainstream-Medien erzählen, im Jahr 2008 und 2015 und auch danach.

Dass ich von der »Causa Zhang« und anderen Anekdoten aus der Deutschen Welle berichte, soll nicht als Abrechnung mit meinem ehemaligen Arbeitgeber verstanden werden. Ich schreibe dieses Buch, weil mir durch meine Biografie und meinen Journalistenberuf die Meinungsfreiheit besonders am Herzen liegt.

Dabei fing mein Leben eigentlich ganz anders an. Geboren in einer Diktatur, verbrachte ich meine Kindheit in den Wirren der Kulturrevolution. Ein Nachbarjunge wurde für mehrere Monate in ein Arbeitslager gesteckt, weil er versehentlich aus einer Zeitschriftenseite mit dem Konterfei von Mao ein Schiffchen gebastelt hatte. Öffentliche Kritik am Großen Vorsitzenden mussten etliche Chinesen mit dem Leben bezahlen. Von der Meinungsfreiheit war China so weit entfernt wie von Peking zum Mond und wieder zurück. Nicht nur das, wir wurden gehirngewaschen bis zum Äußersten. Wir dachten beispielsweise lange, dass Amerikaner, aber auch Bürger anderer kapitalistischer Länder oft Hunger leiden würden. Solche Erfahrungen machen mich besonders empfindlich für Propaganda jeglicher Art.

Da ich von der Gnade der späten, aber nicht zu späten Geburt profitierte, durfte ich während meiner Studienzeit Mitte der 1980er-Jahre das liberalste China der letzten Jahrzehnte erleben. Von 1983 bis 1988 studierte ich Germanistik an der Peking-Universität. Damals lenkte der Reformpolitiker Deng Xiaoping die Geschicke Chinas. China öffnete sich der Außenwelt, auch dem westlichen Gedankengut. An der Peking-Universität wurden Studentenparlamente frei gewählt. Beispielsweise war der im Oktober 2023 verstorbene Ministerpräsident Li Keqiang damals Vorsitzender des Studentenparlaments an der Peking-Universität. Abends lauschte ich prominenten Schriftstellern, Philosophen und Komponisten und lernte allerlei Strömungen und Meinungen kennen. Der süße Duft der Freiheit und auch der Meinungsfreiheit schwebte in der Luft.

Davon süchtig geworden, wollte ich nach draußen in die weite, freie Welt. Und in meiner zweiten Heimat – Deutschland – wurde auch noch mein Kindheitstraum, Journalistin zu sein, wahr. In den dreißig Jahren meiner journalistischen Laufbahn, von 1989 bis 2019, wurde ich jedoch Zeugin eines besorgniserregenden Prozesses, bei dem der Korridor für die Meinungsfreiheit immer weiter verengt wurde.

Meine Sorgen fingen 2008 an, als eine Kampagne gegen mich, gegen die China-Redaktion des Senders und schließlich gegen die ganze Deutsche Welle losgetreten wurde. Damals wurde mein Glaube an die Meinungsfreiheit in Deutschland noch nicht völlig erschüttert, aber er bekam einen substanziellen Kratzer. 2015 und 2016 schrieb ich dann Kolumnen über die Flüchtlingskrise und wurde dadurch erneut zur Zielscheibe vor allem von grünen Kritikern. Nun wuchsen Zweifel, ob die viel gerühmte Meinungsfreiheit bei etlichen Themen nicht doch erheblichen Einschränkungen unterliegt. Der Kratzer wurde zu einem Riss. Nachdem ich in den Jahren danach immer wieder ein Déjà-vu mit 2008 erlebt hatte, gab ich im Frühjahr 2018 auf, politische Themen in meiner Kolumne aufzugreifen. Ich schrieb stattdessen meine eigene Integrationsgeschichte auf, was sicherlich auch eine politische Botschaft war. Da es sich aber um mein eigenes Leben handelte, machte mich das unangreifbar.

Kurz nach meiner Rückkehr nach China kam, aus heiterem Himmel, die Corona-Pandemie, gefolgt vom Ukrainekrieg. Die Berichterstattung der Mainstream-Medien in Deutschland fiel von einem Tiefpunkt zum nächsten. Der Riss in meinem Glauben an die Meinungsfreiheit wurde zu einem riesigen Loch. Inzwischen hege ich ernsthafte Zweifel, ob die von der Verfassung garantierte Meinungsfreiheit überhaupt noch das Papier wert ist, auf dem sie steht. Mit diesem Buch möchte ich einen winzigen Beitrag leisten, dieses hohe Gut zu verteidigen, bevor es zu spät wird.

Kapitel 1

Wie entsteht eine Meinung

»Die Meinungsfreiheit ist in Gefahr.« »Der Meinungskorridor wird verengt.« Von solchen Klagen ist heutzutage oft zu lesen und zu hören.

Was ist überhaupt die Meinungsfreiheit? Wie ist sie definiert? Werfen wir einen Blick ins Grundgesetz. In Artikel 5 steht:

(1)»Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

(2)Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.«

Diese sehr umfangreich klingende Meinungsfreiheit ist also in der Verfassung verankert und von der Verfassung garantiert. Um von der Meinungsfreiheit Gebrauch zu machen, muss man erst mal eine Meinung haben.

Um zu dieser Meinung zu gelangen, sollte man sich informieren. Und das geschieht oft durch die Massenmedien. »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien«, schreibt Niklas Luhmann.1 Deshalb setze ich mich in diesem Buch mit den Medien und deren Machern auseinander. Können wir uns auf die Medien verlassen? Ist das, was wir durch die Medien erfahren, tatsächlich die Wirklichkeit? Oder ist sie verzerrt, verformt oder gar verfälscht?

Und was ist mit der Meinung? Wird die Breite des Meinungsspektrums in unseren Medien gespiegelt? Anscheinend nicht. Dem Kabarettisten Dieter Nuhr fiel einmal auf, dass er mit der Bemerkung »Nie war die Differenz zwischen der öffentlichen Meinung und der veröffentlichten Meinung so groß wie heute« seinen sichersten Szenenapplaus hat. Nuhr erzählte das auf einer Veranstaltung der Brost-Stiftung in der Zeche Zollverein im Juni 2023, wo er mit dem Verfassungsrichter Peter Müller diskutierte und die von The Pionier gesendet wurde.2 Auch Müller war eine Diskursverengung aufgefallen. Die sei dadurch charakterisiert, »dass die Auseinandersetzung über den richtigen Weg überlagert wird durch moralisierende Argumente, die die Auseinandersetzung ersetzen, die stattfinden muss«, sagte er.

War das immer schon so? Als jemand, die dreißig Jahre lang Journalistin bei deutschen Mainstream-Medien war, habe ich diese Diskursverengung am eigenen Leib gespürt. Alles, was Sie hier lesen, stammt aus meinen eigenen Erfahrungen und Beobachtungen. Aber zunächst möchte ich erzählen, wie ich zur deutschen Sprache kam und dann Journalistin bei der Deutschen Welle wurde.

Zum Mittagessen Tonband hören

1978, zwei Jahre nach dem Ende der Kulturrevolution, öffnete die Pekinger Fremdsprachenschule, eine Diplomatenschmiede Chinas, wieder ihre Pforten. Meine Eltern, beide damals beim Förderungskomitee für den Außenhandel tätig, witterten vor den meisten Chinesen die Wichtigkeit der Fremdsprachen und meldeten mich für die Aufnahmeprüfung an. Bei der mündlichen Prüfung mussten wir Prüflinge, die meisten wie ich zwölfjährig, verschiedene fremdartige Sprachen nachplappern. Besonderen Gefallen fand ich an einer etwas metallischen und sehr rhythmischen Sprache. Nach der Prüfung erfuhr ich, dass es sich dabei um die deutsche Sprache handelte.

Wie der Zufall wollte, hatte ich gerade Goethes Faust gelesen. Vom Inhalt wenig verstanden, spürte ich die Schönheit der Sprache trotzdem sogar durch die Übersetzung hindurch. Ich fragte meinen Papa, die Schule zu bitten, mich in die deutsche Klasse einzuteilen. Das deckte sich perfekt mit den Vorstellungen meiner Eltern. Ihrer Generation steckten Hungerleiden und materielle Not noch in den Knochen. Sie wünschten sich nichts sehnlicher, als dass ihre Kinder von solchen Erlebnissen so weit entfernt wie nur möglich bleiben würden. Da sich sämtliche deutschsprachigen Länder im wohlhabenden und friedlichen Mitteleuropa befinden, sei die Gefahr, dass ihre Tochter als Diplomatin bei einem Auslandseinsatz in Krieg und Hunger involviert wird, gleich null, dachten sie.

So schwang sich Papa Zhang aufs Fahrrad und radelte quer durch Peking zur Fremdsprachenschule. Als er nach dem Tagesausflug heimkehrte, las ich in seinem Gesicht voller Staub und Schweiß: Mission accomplished! »Eigentlich musste ich gar nichts tun«, erzählte er mir später einmal. »Die Lehrerin sagte mir, dass du bereits für die deutsche Klasse vorgesehen bist.« Der Grund: Deutsch gilt unter den vier zur Verfügung stehenden Sprachen (die anderen drei sind Englisch, Französisch und Japanisch) als die schwierigste (aus chinesischer Sicht), deswegen habe die chinesische Deutschlehrerin darauf bestanden, die besten drei Schüler bei der Aufnahmeprüfung unter ihre Fittiche zu nehmen. Unter den 5 000 Bewerbern belegte ich den zweiten Platz.

Von nun an widmete ich mich wie besessen der deutschen Sprache. Ich übte alleine einen Monat lang, um das »R« ins Rollen zu bringen. Dann folgte das Auswendiglernen des bestimmten Arti­kels, der vier Fälle, der Beugung der regelmäßigen, unregelmäßigen und reflexiven Verben sowie Hilfsverben in jedem Tempus und Modus. Was mir am meisten Kopfzerbrechen bereitete, war das Fehlen einer deutschsprachigen Umgebung. Außerhalb des Deutschunterrichts war nirgendwo Deutsch zu vernehmen. Aber auf meinen Papa war immer Verlass. Er lieh von einem Kollegen, der früher einmal Deutsch gelernt hatte, stapelweise Kassetten von Klassikern der deutschen Kinderliteratur aus.

In den darauffolgenden Winterferien habe ich dem Hören auf Deutsch absolute Priorität eingeräumt. So lautete damals mein recht detaillierter Stundenplan: »7:30 – 8:00 Frühstücken und Tonband hören«, »10:10 – 11:00 Tonband hören«, »12:00 – 12:30 Mittagessen und Tonband hören«, »18:00 – 18:30 Abendessen und Tonband hören«. Das machte zusammen 140 Minuten täglich. Mir tut im Nachhinein meine Oma leid, die zu allen drei Mahlzeiten schweigen und sich diese komische Sprache anhören musste.

Mein Plan auf Deutsch für die Winterferien an der Pekinger Fremdsprachenschule

Deutsche Welle – der Tiger, der mir Angst einjagte

Nach fünf Jahren Büffeln und Pauken fing ich an der Peking-Universität mit einem Germanistik-Studium an. Das erste Studienjahr lief gut; aber im zweiten Studienjahr stand das Fach »Hörverständnis« auf dem Plan. Da habe ich wohl am wenigsten zu fürchten, dachte ich. Doch ich irrte. Nachrichten der Deutschen Welle mit Störgeräuschen sind ein ganz anderes Kaliber als die professionell auf Tonband gesprochenen Romane meiner Kindheit wie »Das fliegende Klassenzimmer« oder »Das doppelte Lottchen«. Der dickste Brocken aber wartete Ende Juni 1985 auf uns Studenten, als die Semesterprüfung anstand. Es handelte sich um die berühmte Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs in Europa. Unser Dozent zeichnete sie auf, als die Deutsche Welle sie live ausstrahlte.

Weizsäcker mit seinem geschliffenen und intellektuell niveauvollen Deutsch stellte für Nichtmuttersprachler ohnehin eine gewaltige Herausforderung dar. Und dann auch noch jene Rede, die den Zuhörern ein fundiertes Wissen der deutschen Geschichte und der deutschen Erinnerungskultur abverlangte. Was sollen die armen Studenten aus dem fernen China unter »Stunde null« verstehen? Und worin besteht der Unterschied zu einem »Neubeginn?« Jener viel zitierte Satz, dass der Tag des Kriegsendes in Europa für die Deutschen kein Tag der Niederlage, sondern ein »Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« gewesen sei, fordert beim Mitlesen bereits höchste Konzentration. Ihn trotz Störgeräusche zu verstehen und simultan ins Chinesische zu übersetzen, ohne den nächsten Satz zu verpassen, grenzte an ein Ding der Unmöglichkeit. Die ganze Rede wurde zweimal abgespielt. Wer sie zur Hälfte übersetzt bekam, konnte sich glücklich schätzen. Obwohl die Deutsche Welle weder für die Störgeräusche noch für den Schwierigkeitsgrad der Weizsäcker-Rede etwas konnte, wirkten deren Sendungen auf uns wie der Tiger aus einem chinesischen Sprichwort: »Wenn vom Tiger die Rede ist, ändert sich die Gesichtsfarbe der Menschen.« Es bedeutet, dass etwas furchteinflößend ist.

China-Redaktion – rein in die Tigergrube

Im Herbst 1988 brach ich das Aspirantenstudium, eine Art Masterstudium, an der Peking-Universität ab, um nach Köln zu ziehen. Ich wollte endlich in die sprachliche Umgebung eintauchen, die mir zehn Jahre lang gefehlt hatte. Das Studium war kostenlos, ich musste nur für den Lebensunterhalt sorgen. Von den deutschen Kommilitonen erfuhr ich zufällig, dass sich die Deutsche Welle ebenfalls in Köln befand.

Also schickte ich im Februar 1989 ein Bewerbungsschreiben an die China-Redaktion der Deutschen Welle. Das Schreiben versank wie ein Stein im tiefen Meer (auch ein chinesisches Sprichwort). Erst vier Monate später, Anfang Juni, erhielt ich einen Anruf vom stellvertretenden Leiter der China-Redaktion. Gerade hatte die chinesische Führung die Studentenbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking niederschlagen lassen. Aus diesem Anlass wolle die China-Redaktion ihr tägliches Programm um zwanzig Minuten erweitern und brauche dafür Hilfskräfte. Ob ich am nächsten Tag für ein Gespräch vorbeikommen könne?

Am nächsten Tag nieselte es. Vor lauter Lampenfieber vergaß ich meinen Regenschirm an der Bushaltestelle am Kölner Neumarkt. Ich fragte den Busfahrer nach der Haltestelle für die Deutsche Welle. Der wollte wissen, ob ich den Sender das erste Mal besuche. »Ja, ich gehe zu einem Vorstellungsgespräch. Wenn ich Glück habe, fahre ich die nächste Zeit öfter mit diesem Bus«, antwortete ich.

»Aber Sie haben ja gar keinen Regenschirm dabei. Die Haltestelle ist zwar ganz in der Nähe der Deutschen Welle. Aber die paar Schritte reichen aus, um klitschnass zu werden.« Kein idealer Zustand, sich dem potenziellen Arbeitgeber zu präsentieren. Zu meiner Überraschung gab mir der Busfahrer seinen eigenen Schirm samt einem kleinen Zettel mit seiner Personalnummer darauf: »Sie können den Schirm mit meiner Nummer dran in jedem Büro der Kölner Verkehrsbetriebe abgeben. Dann bekomme ich ihn garantiert zurück.« Noch am selben Abend brachte ich den Schirm zum Neumarkt und drückte auch einem der dortigen Mitarbeiter einen Dankesbrief in die Hand. Darin ließ ich den großherzigen Busfahrer wissen, dass das Gespräch inklusive einer kleinen Übersetzungsprüfung gut gelaufen sei und dass ich gleich am nächsten Tag anfangen werde. Und dass dies ohne seine Unterstützung wahrscheinlich buchstäblich ins Wasser gefallen wäre.

Als die Deutsche Welle uns Studenten in China noch als ein furchteinflößender Tiger erschien, hätte ich nie gedacht, dass ich eines Tages die Tigergrube betreten würde.

Übersetzungsbüro – oder doch ein feindlicher Sender?

Dass ich die Deutsche Welle mit einer Tigergrube verglich, lag nicht nur daran, dass wir als Studenten von deren Sendungen »gequält« wurden. Auslandssender in westlichen Staaten wurden in China als feindlich eingestuft. Zudem wurden diese Sender nach dem Gefährdungsgrad aus chinesischer Sicht klassifiziert. »Voice of America« galt als der Sender, der China am feindseligsten gegenüberstand, und wurde daher die meiste Zeit blockiert. Die Deutsche Welle wurde als relativ zahm gesehen und von daher nur mit Störgeräuschen bedacht.

In den zweieinhalb Monaten, die ich als studentische Aushilfskraft in der China-Redaktion der Deutschen Welle verbrachte, konnte ich keine offene Feindseligkeit gegen China erkennen. Im Gegenteil, das Sonderprogramm war um Objektivität bemüht. Einmal habe ich einen Text von Erwin Wickert ins Chinesische übersetzt, der die Errungenschaften der Öffnungs- und Reformpolitik der vergangenen Dekade lobte. Erwin Wickert war lange Jahre deutscher Botschafter in China und der Vater des Fernsehmoderators Ulrich Wickert.

Ein anderes Mal bat mich Andreas Donath, der damalige Leiter der China-Redaktion, in sein Büro und zeigte mir ein Manuskript, das über freudigem China-Bashing jedes Maß verlor. Den Text hatte Tienchi Martin-Liao geschrieben. In Taiwan aufgewachsen, wanderte Martin-Liao in den 1970er-Jahren nach Deutschland aus und war an mehreren Universitäten als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Übersetzerin tätig. Später lernte ich sie persönlich kennen. Von ihrer Fachkompetenz und ihrer Warmherzigkeit – sie engagierte sich für die Unterstützung der 1989 nach Deutschland geflüchteten chinesischen Studenten und Wissenschaftler – war ich beeindruckt. 2001 ging sie in die USA, um in leitender Position für die Laogai-Foundation zu arbeiten. Die Stiftung wurde von dem chinesischen Menschenrechtsaktivisten Harry Wu gegründet, der zuvor wegen regierungskritischer Äußerungen 19 Jahre im Gefängnis in China verbracht hatte. Laogai bedeutet Arbeitslager, ein Ort, wo Chinesen ohne Rechtsurteile festgehalten werden. Die Laogai-Foundation hat sich zum Ziel gesetzt, die Situation in chinesischen Arbeitslagern ans Tageslicht zu bringen.

Entsprechend kritisch war Martin-Liao in ihrem Text für die Deutsche Welle. Sie behauptete darin beispielsweise, dass die Kommunistische Partei Chinas die blutigste und menschenfeindlichste Regierung in der 5 000-jährigen Geschichte Chinas gewesen sei. Grausame Herrscher hat es in der chinesischen Geschichte allerdings mehr als genug gegeben. Diese in einem Jahrtausend-Ranking miteinander zu vergleichen, fand ich schwierig. Das teilte ich Donath unumwunden mit. »Ich schließe mich Ihrer Meinung an und werde den Text ablehnen«, sagte er. Dass sich ein Redaktionsleiter auf die Meinung einer Studentin stützt, schmeichelte mir sehr. In dem Moment wurde mir aber auch bewusst, dass die China-Redaktion der Deutschen Welle ein umkämpfter Platz von Überseechinesen aller möglichen Strömungen war. Ich konnte damals noch nicht ahnen, dass es Martin-Liao sein würde, mit der ich 2008 ein Gefecht austragen würde.

Während die Texte über China meist von freien Autoren in chinesischer Sprache geliefert wurden, stammten andere Manuskripte aus dem Haus. Dafür hatten wir eine Zentralredaktion, die aus deutschen Muttersprachlern bestand, welche die damals rund vierzig Fremdsprachen-Redaktionen mit deutschsprachigen Texten über Themen aus der ganzen Welt versorgten. Das war sinnvoll, denn ohne eine Zentralredaktion könnten womöglich Dutzende von Journalisten in den Fremdsprachen-Redaktionen am gleichen Thema arbeiten und vielleicht gar den gleichen Experten befragen. Das wäre nicht nur eine gigantische Ressourcenverschwendung, sondern das würde auch einen unkoordinierten Eindruck machen. Die Zentralredaktion bot also eine Art Buffet an, an dem sich die Fremdsprachen-Redaktionen bedienen konnten. Aber das führte eben auch dazu, dass die Fremdsprachen-Ressorts eher wie ein Übersetzungsbüro aus dem Deutschen in ihre jeweilige Muttersprache funktionierten und weniger wie autonome Redaktionen.

Arbeitsvertrag – lebenslänglich in der Anstalt?

Redaktionsleiter Andreas Donath war mit meinem zweieinhalbmonatigen Einsatz hochzufrieden und bot mir Ende August 1989 an, an zwei Wochenenden im Monat zu kommen, um Nachrichten zu übersetzen. Das würde mich samstags und sonntags jeweils vier Stunden beanspruchen und mir 800 D-Mark einbringen. Mein damaliges Zimmer im Studentenwohnheim kostete nur 150 Mark. Mit einem 1600-Mark-Monatseinkommen würde ich unmittelbar zur Mittelschicht aufsteigen.

Mit diesem rosigen Ausblick ging ich erst einmal auf Reisen. In Kairo besuchte ich meinen Bruder, der damals in der Handelsabteilung der chinesischen Botschaft tätig war. Anschließend flog ich nach Peking, um meine Oma und meine Eltern wiederzusehen. Meine Eltern waren allerdings nicht begeistert, dass ich nun meinen Lebensunterhalt bei einem feindlichen Sender verdiente. Ich beruhigte sie: Vorerst sei ich doch nur eine Übersetzerin und brauche nichts Feindliches über China zu schreiben. Wie das Schicksal so wollte, war mein Vater ebenfalls zum Journalismus gewechselt. Er arbeitete nun als Chefredakteur einer Handelszeitung. »Nun agieren wir in zwei gegensätzlichen Lagern«, scherzte ich und merkte sofort, dass der Witz nicht besonders gut ankam.

Dass die Tätigkeit bei der Deutschen Welle aus chinesischer Sicht nicht so schlimm war, bekam ich kurz vor der Ausreise amtlich. Damals mussten Chinesen für die Ausreise ein Formular bei der örtlichen Polizeibehörde ausfüllen. »Wo verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt in Deutschland?«, fragte die Polizistin mit wohlwollender Neugierde. »Bei der Deutschen Welle«, antwortete ich und hätte mir am liebsten sofort auf die Lippe gebissen. »Das ist ja super. Da haben Sie aber Glück!« Ich konnte meine Eltern beruhigen: Nicht einmal die Polizei störe sich an meinem Job.

Nach der kleinen Weltreise ging es in Köln Schlag auf Schlag weiter. Nach einem halben Jahr wurde mir ein befristeter Einstellungsvertrag angeboten. Zwei Monate später wurde eine unbefristete Stelle frei, auf die ich mich bewarb. Mit dem Hausvorteil, bereits einen Vertrag zu haben, setzte ich mich gegen rund zwanzig Mitbewerber durch, darunter übrigens auch Martin-Liao, die Autorin des bereits erwähnten Textes, die damals in Köln lebte.

Als ich am 22. Juni 1990 den Festanstellungsvertrag unterschrieb, war ich gerade 24 Jahre alt. »Wenn Frau Zhang möchte, kann sie nun 41 Jahre bei der Deutschen Welle arbeiten«, verkündete Donath auf der Redaktionskonferenz. Damals lag das Renteneintrittsalter bei 65. Was als Gratulation gedacht war, klang irgendwie nach einer Drohung. 41 Jahre? Das ist doch lebenslänglich, oder?

Mit Papa in einem Pekinger Park. Copyright: Danhong Zhang

Meine ersten Fake News

Kaum in der China-Redaktion angekommen, stieß ich eine Reform an. Wir waren damals eine Art Live-Übersetzungsbüro: Die Texte von der Zentralredaktion wurden ins Chinesische übersetzt, um dann direkt gesendet zu werden. Natürlich wurde das Vier-Augen-Prinzip gewahrt. Jede Übersetzung wurde von einem anderen Kollegen gegengelesen. Im Studio verlas dann jeder seine eigene Übersetzung. Wer nicht vor dem Mikrofon sprechen konnte, dessen Text wurde von einem anderen übernommen. Jede Sendung glich einer Aneinanderreihung von losen Steinen, die nach einer Moderation riefen, um zu einer ansehnlichen Kette geschnürt zu werden. Ich nahm allen Mut zusammen und schlug Donath eine Moderation vor. »Dann machen Sie das mal«, war seine kurze Antwort. So wurde ich, eine blutige Anfängerin im Journalismus, gleich mit einer der anspruchsvollsten Tätigkeiten beauftragt – der einer Moderatorin.

Diese Laufbahn begann fast zeitgleich mit einem der ersten heißen Kriege nach dem Ende des Kalten Krieges – dem ersten Golfkrieg. Am 2. August 1990 überfiel der Irak das benachbarte Emirat Kuwait. Fünf Monate später drängte eine internationale Koalition unter Führung der USA die irakischen Truppen zurück. Ich hörte mir das deutsche Programm an, schaute von den Kollegen ab und gab mir selber einen Crashkurs in Sachen Weltpolitik. Die Anforderung, die ich an mich stellte, war nicht hoch und von daher realistisch – ich wollte mich nur nicht durch Unkenntnis blamieren. Ich setzte mich dermaßen intensiv mit dem Krieg auseinander, dass ich eines Nachts davon träumte, mit Saddam Hussein und George H.W. Bush im persischen Golf zu baden.

Ich ahnte nicht, dass ich mich gleich am Anfang meiner journalistischen Laufbahn an der Verbreitung von Fake News beteiligt hatte. Es ging um die sogenannte »Brutkastenlüge«. Viele Medien berichteten, dass irakische Soldaten bei der Invasion Kuwaits im August 1990 kuwaitische Frühgeborene getötet hätten, indem sie diese aus ihren Brutkästen gerissen und auf dem Boden hätten sterben lassen. Dies wurde 1990 von Nayirah al-Sabah vor dem Kongress der Vereinigten Staaten vorgetragen, die als Krankenschwester vorgestellt wurde. Das wurde vom damaligen US-Präsidenten George H.W. Bush Sr. und von Menschenrechtsorganisationen vielfach zitiert und beeinflusste die Debatte über das militärische Eingreifen zugunsten Kuwaits. Erst nach der US-geführten militärischen Intervention zur Befreiung des Emirats stellte sich die Geschichte als Erfindung der amerikanischen PR-Agentur Hill & Knowlton heraus. Nayirah al-Sabah war nicht einmal Krankenschwester, sie war die Tochter des kuwaitischen Botschafters.

Dass die Wahrheit immer das erste Opfer im Krieg ist, lernte ich erst im Lauf der Zeit. Das liegt auch an der menschlichen Vorliebe für ein Feindbild. »Wenn man weiß, wer der Böse ist, hat der Tag Struktur«, kalauerte der Fernseh-Kabarettist Volker Pispers einmal.

Die Zeit floss dahin, mit der Zeit verschwand auch mein Reformeifer. Donath war sehr gebildet und außerdem auch ein großartiger Journalist. Er übersetzte Gedichte aus der Tang-Dynastie ins Deutsche und schrieb Features für andere Sender. Aber als Redaktionsleiter war er nicht sehr geeignet. Denn sein Ehrgeiz, das Programm zu verbessern, tendierte gen null. Einmal am Tag kam er in die Büroräume der Kollegen und verteilte Texte zum Übersetzen. Danach ließ er sich oft nicht mehr blicken. Mit mindestens 110 Kilo Gewicht und einer Körpergröße von 1,90 Metern ging er langsam und schlurfend, wie in Zeitlupe. Wir bezeichneten seinen Gang als historische Schritte, denn auf Chinesisch werden historische Schritte mit Schwere und Melancholie assoziiert. Doch dafür ließ er uns in Ruhe. Und wir ihn auch.

Meine Kollegen waren mehrheitlich rot und grün

Die ersten Jahre bei der Deutschen Welle war ich mehr Übersetzerin als Journalistin. Nur ab und zu, wenn sich eine chinesische Delegation nach Deutschland verirrt hatte, durfte ich eine kleine Reportage machen. Wie man so etwas tut, habe ich allerdings nicht gelernt. Dafür habe ich Hunderte von Berichten, Kommentaren und Reportagen aus dem Deutschen ins Chinesische übersetzt, die aus den Federn der Kollegen von der Zentralredaktion stammten. Es lief frei nach dem chinesischen Sprichwort: »Selbst wenn man kein Schweinefleisch gegessen hat, hat man doch Schweine laufen sehen.« So brachte ich mir das journalistische Handwerk mittels Abschauen von den deutschen Kollegen selber bei. Heute allerdings muss man bei der Deutschen Welle erst ein Volontariat absolvieren, bevor man in einer der Fremdsprachen-Redaktionen anfangen darf.

Wie sehr habe ich die scharfen Kommentare einiger Kollegen geliebt! In Erinnerung geblieben ist mir vor allem Heinz Dylon, der unter einer unheilbaren Krankheit litt, immer magerer wurde und sich beim Laufen immer schwerer tat. Manchmal holte ich ihm das Mittagessen aus der Kantine und wir aßen zusammen in seinem Büro. Ich tat das nicht nur aus Nächstenliebe und Kollegialität. Ich wollte die Zeit nutzen, um ihn mit Fragen über die deutsche Innenpolitik zu löchern. Den Gesprächen entnahm ich, dass Heinz ein SPD-Sympathisant war. So wie etliche andere Kollegen aus der Zentralredaktion auch. Mit der Zeit erkannte ich auch, wer den Grünen nahestand. Da die Parteienlandschaft in China völlig anders geartet ist, fand ich die unterschiedliche Parteipräferenz der deutschen Kollegen erfrischend und sympathisch.

Es war nicht schwer zu erkennen, dass die überwiegende Mehrheit der Kollegen rot oder grün wählte. Deshalb fiel es ihnen bei der damals herrschenden schwarz-gelben Koalition nicht schwer, den Regierenden auf die Finger zu schauen. Ich lernte den Begriff der »vierten Gewalt« kennen. Das ist kritischer Journalismus, so soll es sein. Einmal fragte ich Heinz, ob er wegen seiner Kommentare schon mal zum Intendanten Dieter Weirich zitiert wurde, der in der CDU war. Heinz musste lachen: »Nein, bei uns gilt die Meinungsfreiheit.«

Als 1998 Gerhard Schröder Kanzler wurde und Rot-Grün an die Macht kam, machten viele Kollegen aus ihrer Freude keinen Hehl. Ich werde nicht vergessen, wie viele sich am Tag nach der Bundestagswahl entweder rot oder grün oder rot-grün kombiniert gekleidet hatten. Es herrschte Aufbruchsstimmung.

Wahrscheinlich unter dem Einfluss meiner lieben Kollegen gab ich 2002 bei der ersten Bundestagswahl nach meiner Einbürgerung meine Stimme der SPD.

Die großzügigen Öffentlich-Rechtlichen

Bei der Deutschen Welle ist es ungeschriebenes Gesetz, dass der Intendant von der Regierungspartei kommen sollte. Da die Amtszeit des Deutsche-Welle-Intendanten sechs Jahre beträgt, eine Legislaturperiode aber nur vier Jahre, gibt es unweigerlich Zeiten, in denen die Partei des Intendanten nicht mehr auf der Regierungsbank sitzt. Das sind meist schwierige Zeiten, sowohl für den Intendanten als auch für die Deutsche Welle insgesamt, vor allem für die Budget-Verhandlungen. CDU-Intendant Dieter Weirich wollte deshalb seine Amtszeit vorzeitig beenden. Die Kollegen witzelten, dass jeder von uns eine D-Mark an Weirich spenden sollte, um seine Übergangszeit zu versüßen. Als Nächstes hörten wir über den Flurfunk, dass er eine Million Mark Abfindung bekommen sollte. Dabei verdiente der Intendant doch schon mehr als der Bundeskanzler. Und Weirich wurde ohnehin sofort eine Topstelle in der freien Wirtschaft angeboten.

Nicht zum ersten Mal dachte ich, dass die Öffentlich-Rechtlichen das Geld des Steuerzahlers ganz schön aus dem Fenster rauswerfen. Ähnlich das Geld des Gebührenzahlers: Anfang 1989, bevor ich bei der Deutschen Welle anfing, hatte ich einen Auftrag vom Westdeutschen Rundfunk, während einer Live-Fernsehsendung für einen chinesischen Kung-Fu-Meister zu dolmetschen. Die Moderatorin plauderte mit dem Meister rund zwei Minuten. Dann sagte der Meister: »Nun muss ich mich konzentrieren. Reden Sie bitte nicht mehr mit mir.« Nach der Sendung klopfte mir ein WDR-Kollege väterlich auf die Schulter: »Sie bekommen 800 D-