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Von Schleswig-Holstein ins schweizerische Engadin – die Geschichte der Sina Brodersen geht weiter. Von wegen Kleinigkeit! Der für den Tod ihres Liebsten Verantwortliche befindet sich noch immer auf freiem Fuß, die Justiz zeigt sich weiterhin passiv. Kein Wunder, dass Sina zur Selbstjustiz greift. Sie will Gerechtigkeit und dazu scheint ihr jedes Mittel recht. Nach dem Motto: "Friss oder stirb" setzt sie alles auf eine Karte. Dann aber trifft sie eine fatale Entscheidung. Dunkle Geheimnisse und seelische Abgründe in einer Welt von Macht und Gewalt – ein Thriller über das Netzwerk der Mafia.
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Seitenzahl: 605
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Anja Gust
Nur eine Petitesse
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Nur eine Petitesse
Impressum
Zitat
Ein kühner Plan
Der Ausflug
Die Kontaktaufnahme
Das verkannte Genie
Eine geniale Idee
Ein überhitzter Entschluss
Eine große Peinlichkeit
Es ist angerichtet
Die Intention
Eine letzte Chance
Fioretta
Ein fataler Geistesblitz
Die Ernüchterung
Das Manöver
Den Tod vor Augen
Die Befreiung
Das Interview
Die Vorahnung
Die Falle
Hüter des Schicksals
Der Weg zum Berg
Die Plage des Gewissens
Die Abrechnung
Epilog
Danksagung
Nachwort
Über die Autorin
Erklärung der Fußnoten
Impressum neobooks
Anja Gust
Ein düster-romantischer Thriller
Titel: Nur eine Petitesse © 2019 by Anja Gust
Postalische Adresse: Gust c/o Becker
Danziger Str. 24
24790 Ortsteil Schacht-Audorf
E-Mail.: [email protected]
Umschlaggestaltung / Idee & Umsetzung: K. Winter (unter Verwendung des Motives ©lekcej – iStock Nummer: 852855116)
Lektorat: Mélanie Guettaï
Korrektorat: Lisa Zacher
Satz & Layout: A. Gust – unter Zuhilfenahme:
c/o Autorenservice Patchwork
Schlossweg 6
A-9020 Klagenfurt
Alle Rechte vorbehalten
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.
Dieser Krimi wurde unter Berücksichtigung der neuen deutschen Rechtschreibung verfasst, lektoriert und korrigiert. Es handelt sich um eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen und Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne die Zustimmung der Autorin unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Deutsche Erstausgabe: 2019
Eine Produktion der Winter Diamonds
»Was Menschen Gutes tun, überdauert sie«
(Frei nach William Shakespeare)
Vorbemerkung
In Anlehnung an meinen vorangegangenen Roman ‚Monstratorem‘, setzt sich die Handlung hier nahtlos fort.
Was wird aus einem Menschen, wenn man ihm alles nimmt, was er liebt?
Fernab ihrer norddeutschen Heimat kommt es in den südlichen Alpen zur Entscheidung zwischen der von blinder Rache getriebenen Sina Brodersen und dem manisch-depressiven Baron Lorenzo von Billow. Obwohl dieser in seiner Eigenschaft als Pate der dortigen ‘Ndrangheta für den gewaltsamen Tod ihres Liebsten verantwortlich ist, kann er aufgrund mangelnder Beweislage nicht belangt werden. Während er sich dessen sicher wähnt und seiner Genusssucht in vollen Zügen frönt, hat Sina längst ihre eigene Rechnung aufgemacht. Nach dem Motto: „Friss oder stirb“ setzt sie, ungeachtet der zunehmend unüberwindlichen Barrieren, alles auf eine Karte und wagt selbst das Unmögliche.
© 2019 Anja Gust
Ganze zwei Monate waren inzwischen vergangen, aber Sinas Schwermut ließ nicht nach. Sie begann, den Hof zu vernachlässigen und fand an nichts mehr Gefallen. Immer häufiger musste ihr alter Freund und Nachbar Volker Grimmel unabdingbare Arbeiten übernehmen, da sie stundenlang auf dem Sofa lag und an die Decke starrte. Bisweilen lief sie mit Boy über die Felder und führte sinnlose Monologe. Doch was sie auch tat – sie kam nicht zur Ruhe.
Hierbei war es weniger die Tatsache, jemanden getötet zu haben. Vielmehr quälte sie der Umstand, den dafür Verantwortlichen noch immer auf freiem Fuß zu wissen. Daran änderte auch das abschließende Urteil des Staatsanwaltes nichts, das ihr neben Notwehr und Nothilfe eine große Besonnenheit attestierte.
Wiederholt hatte sie die Beamten darauf hingewiesen und sogar den Namen des Auftraggebers genannt. Da man diese Person jedoch nicht weiter verifizieren konnte (oder wollte), hielt man das für eine Art Wahnvorstellung infolge einer emotionalen Übersteigerung. Dies wäre in Extremsituationen wie der ihren durchaus denkbar. Ein konkreter Verdacht ließe sich daraus jedoch nicht ableiten.
Das war natürlich völlig inakzeptabel und nichts weiter als der untaugliche Versuch, die Sache abzuwürgen. Also zog sie einen renommierten Rechtsanwalt zurate. Zu ihrer Verärgerung schwamm dieser auf gleicher Welle und zeigte von Anfang an kein sonderliches Engagement. Zudem gab er nur spärliche Auskünfte und verschleppte das Ganze, sodass sie sich schließlich selbst einmischte.
Sie studierte Akten, besorgte Informationen und stellte Recherchen an, was ihm gar nicht gefiel. Ihre Eigenmächtigkeiten gefährdeten die Ermittlungen, so sein lapidarer Kommentar. Außerdem schade das ihrer Gesundheit. Sie sähe blass aus und wirke wie ein Nervenbündel, meinte er und empfahl ihr ein gutes Buch oder einen Tapetenwechsel. ‚Quatschkopf‘, dachte Sina und hätte ihm am liebsten in die gerötete Nase gekniffen.
Schon wollte sie sich einen anderen Anwalt suchen. Da sie aber niemandem mehr traute, verwarf sie es gleich wieder. Und doch war ihre Lage jetzt eine völlig andere. Tom hatte ihr sein Schweizer Konto überschrieben. Als sie von der Höhe des Guthabens erfuhr, musste sie sich erst mal setzen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie realisiert hatte, ab jetzt vermögend zu sein.
Handelte es sich doch um einen siebenstelligen Betrag. Zunächst wollte sie davon nichts anrühren und alles einer karitativen Einrichtung spenden. Als ihr Anwalt allerdings zaghaft andeutete, dass Geld Macht bedeutete und geschickt angewandt Wunder bewirken könne, erkannte sie ihre Chance. Selbstverständlich meinte er das in einem anderen Zusammenhang, mehr in ermittlungstaktischer und somit anwaltschaftlicher Hinsicht, löste damit aber ungewollt eine Initialzündung in ihr aus.
Sogleich begann sie, mit ihrem Smartphone zu recherchieren. Noch bevor dieser Advokat etwas begriff, war sie schon aufgesprungen. Aber die plötzliche Idee ließ sie nicht mehr los. Mit wenigen Worten verabschiedete sie sich und versprach diesem alten Fuchs eine Urlaubskarte. Sprachlos starrte er ihr nach.
Nun gab es kein Halten mehr. Sofort begann sie alles Nötige in die Wege zu leiten, angefangen von organisatorischen Fragen über die Weiterführung des Hofes bis zur nötigen Betreuung für Boy. Schweren Herzens brachte sie ihren kleinen Liebling für die nächsten Wochen in die Hundepension nach Bad Bramstedt. Dort wähnte sie ihren Mops in besten Händen und würde sich auch regelmäßig nach ihm erkundigen.
Den Hof überließ sie für die nächste Zeit Volker Grimmel, den sie vorab zu seiner Verwunderung fürstlich entlohnte. „Sei vorsichtig und vergiss nie, dass man auf dich wartet“, waren seine letzten Worte, gefolgt von einer ungelenkigen Umarmung, die sie nur widerstrebend ertrug.
Noch am selben Abend packte sie ihre Koffer, vorrangig mit erlesener Kleidung der neuesten Haute Couture. Allein dafür gab sie ein kleines Vermögen aus. Aber von jetzt an wollte sie nichts mehr dem Zufall überlassen. Sie scheute weder Kosten noch Mühe, um Garderobe, Schmuck und Make-up optimal aufeinander abzustimmen. Alles musste stimmig sein, denn ihr Vorhaben verlangte den perfekten Auftritt.
Standesgemäß gehörte dazu ein angemessenes Automobil. Daher gönnte sie sich einen silbergrauen, topausgestatteten Porsche 991. Mit diesem 450 PS starken Boliden bretterte sie via München, Garmisch und Chur in das schweizerische Engadin. In St. Moritz buchte sie sich für die nächsten vier Wochen im Badrutt’s Palace ein – dem führenden Hotel am Platz.
Zuvor hatte sie ihre Identität geändert und gab sich als Geschäftsfrau Maria Antonelli aus Zürich aus. Unlängst hatte sie sich die Papiere illegal für ein paar Scheinchen besorgt.
In der Tat mangelte es diesem Hotel an nichts. Das Frühstück glich täglich einem Festbankett, dessen Exklusivität höchsten Erwartungen entsprach. Selbstredend sprach man hier nicht über Preise. Man gab sich ‚en vogue‘. Wie von Zauberhand wurden die Türen von Herren in dunklen Anzügen und mit Knöpfen in den Ohren geöffnet. Alle Flure waren mit dunkelrotem Läufer ausgelegt und die goldfarbenen Treppenläufe glänzten im Licht der schweren, kristallenen Kronleuchter. Wer hier logierte, war am Ziel.
Sina beschloss, so schnell wie möglich Nägel mit Köpfen zu machen. Folglich traf man sie allabendlich entweder in einem langen malvenfarbenen Kleid oder einer Designerkollektion im Casino des in der Nähe befindlichen Kempinski des Bains. Dorthin ließ sie sich von einem Chauffeur im hoteleigenen Royce fahren und wurde beim Eintreffen – wie in dieser Preisklasse üblich – von einem Portier mit tiefer Verbeugung empfangen. Da sie durch ihr generöses Trinkgeld bald auffiel, hielt man sie für eine inkognito reisende Aristokratin, um die sich bald erste Gerüchte rankten.
Im Casino erregten neben dem stetigen Treiben vor allem das französische Kartenspiel ‚Trente et quarante‘ und Roulette ihr Interesse. Geschickt mischte sie sich unter die skurrilen Gäste, um deren Gehabe und Denkmuster zu studieren.
Und was war hier nicht alles vertreten: Versnobte Bänker, die in ihrer Flegelhaftigkeit ganz unmöglich waren, alternde Playboys mit ihren aufgetakelten Gespielinnen, bis hin zu exaltierten Damen edler Herkunft, die so viel Blasiertheit an den Tag legten, wie es selbst im ‚Grand Elysee‘ in Hamburg undenkbar wäre – und das will schon etwas heißen.
Das Stimmengewirr an den Spieltischen glich einem unstimmigen Chor. Den meisten Effekt machten dabei diejenigen mit dem größten Gleichmut und der meisten Nonchalance: Wer selbst bei immensen Verlusten gelassen blieb und sich darüber noch amüsierte, war auf der Siegerstraße. Es war unfassbar, wie wenig Bedeutung man dem Geld beimaß und je gelassener man blieb, desto größer die Bewunderung.
So war es nur natürlich, dass Sina in ihrer Unbeschwertheit schnell hervorstach und damit anderen die Show stahl. Wirkte doch ihre Zwanglosigkeit angesichts der gespielten Naivität ungemein erheiternd und verlockend zugleich. Das weckte Neugier und sie gab sich alle Mühe, diese durch manch ungelenke Bemerkungen noch zu steigern.
Kein Wunder, dass von der alten Sina nicht mehr viel blieb. Aus der Nudel vom Lande wurde eine Dame des Jetsets und Lifestyles. Sogar ihr Gestikulieren deutete auf eine gekünstelte Verspieltheit hin, wie sie jeden Vertreter höherer Gesellschaftsschichten auszeichnete. Man sprach nicht direkt, sondern deutete nur an und das meist nasal. Anstatt zu lachen, lächelte man leicht angesäuert, um den Eindruck eines Hochmutes zu erwecken. Hinzu kam der Vorteil einer singlereisenden, vermögenden Frau, die sie für gewisse Herren interessant machte.
Ihr Haar trug sie jetzt schulterlang und gewellt. Außerdem benutzte sie neben einem exklusiven Eau de Cologne viel Make-up. So schminkte sie sich die Lippen mit Swarovski Liploss und drehte ihre Wimpern ein. Es verstand sich von selbst, dass sie ihre Brust auspolsterte und tiefere Ausschnitte bevorzugte.
Hin und wieder sah man sie, einen Zigarillo mit Spitze rauchend, im Foyer, wo sie sich, die Beine übereinandergeschlagen, in ein Buch vertiefte, jedoch aus den Augenwinkeln das Publikum beobachtete. Sprach man sie auf die Lektüre an, schwärmte sie von James Joyce oder Hermann Hesse und verstand es, jeden Interessenten mit dem Eindruck hoher Belesenheit zu verblüffen.
Kurzum, sie war sozusagen über Nacht von einer schlichten Newcomerin zum genusssüchtigen, intellektuellen Vamp mutiert, welcher ganz offen auf Männerfang aus war.
Es dauerte nicht lange und die ersten Interessenten stellten sich ein. Das war gleichermaßen erheiternd wie beschämend. Einige maßen sie krankhaft aufdringlich auf der Suche nach irgendeinem Makel. Andere zwinkerten ihr dreist zu und machten anzügliche Bemerkungen. Einmal setzten sich zwei Typen ungeniert zu ihr. Als sie festgestellt hatte, dass es sich nur um Blender handelte, begann sie diese mit einer ausgedachten Sprache zu vergraulen. Sina benötigte jemand Bestimmtes. Und dieser musste als Einheimischer über das nötige Insiderwissen verfügen, das sie für ihre Zwecke benötigte. Alles andere war vertane Zeit.
Bereits am folgenden Abend spielte ihr der Zufall eine erste Chance in die Hand. Nachdem sie das Treiben beim Roulette beobachtet und erstmals einen kleinen Betrag gesetzt hatte, gewann sie unerwartet.
Als sie es erneut wagte und sich der Gewinn wiederholte, zog sie eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich. Darunter befanden sich die Herren jener Sparte, die den ganzen Abend nichts anderes taten, als den Gewinnern Tipps zu geben, in der Hoffnung auf kleinere Gratifikationen. Einer stach dabei besonders hervor.
Er ‚betreute‘ neben ihrer Person zwei weitere Damen, die im Moment recht erfolgreich waren. Eine grauhaarige, ältere Frau mit kostbarem Chinchilla Fummel um den Hals und riesigen Ohrgehängen schien seine Favoritin zu sein. Sie hatte vor Eifer bereits ein ganz fleckiges Gesicht bekommen und konnte sich gar nicht mehr bremsen.
An den Nägeln kauend starrte sie mit banger Erwartung auf die rollende Kugel, als hinge davon ihr Leben ab. War diese dann gefallen, zuckte die Dame jedes Mal wie nach einem Stromstoß zusammen und schaute verwundert auf. Kurz, sie befand sich in einer von gereizter Stimmung beherrschten krankhaften Spielsucht, worauf sich der Typ spezialisiert hatte.
Es war nur natürlich, dass es auch Sina mal versuchte. Sogleich riet er ihr vor dem ‚Rien ne va plus‘ zu einem Einsatz auf ‚Zéro schwarz‘. Von einem unbestimmten Impuls getrieben, ließ sie sich darauf ein. Auf die Frage nach dem Warum erklärte er ihr anhand einiger unklarer Fakten, dass sie mit mathematischer Sicherheit gewinnen würde, wenn sie jetzt setzte.
Und wieder drehte der Croupier das Rad. Zu ihrer Überraschung kam Zéro. Sina hatte jetzt vervierfacht und bekam gleich zwei Dutzend Jetons zugeschoben. „Wie machen Sie das nur?“, fragte sie ihren im dunklen Anzug und gelber Krawatte gekleideten Ratgeber erstaunt, worauf er dies grinsend als sein Berufsgeheimnis erklärte.
„Sagen Sie, warum spielen Sie nicht selbst, Herr …?“
„Edouard Corleone, gnädige Frau.“ Er deutete eine leichte Verbeugung an. „Für gute Freunde auch Eddi. Eddi, der Glücksbringer.“
„Angenehm“, erwiderte sie höflich.
„Wissen Sie, weil es dann kein Geheimnis mehr wäre“, kam er auf ihre Frage zurück.
„Ach, kommen Sie.“ Sina winkte ab. „Geben Sie zu, dass Sie vom Hotel engagiert wurden, um die Spieler zu motivieren! So läuft das. Das habe ich längst durchschaut!“
„Aber nicht doch! Es ist mehr eine Gabe der Natur“, erwiderte er in aller Bescheidenheit und machte eine unbestimmte Geste.
„Natürlich. Und die Erde ist eine Scheibe!“ Sie lachte unbeschwert, was ihm sichtlich missfiel.
„Sie sollten diese Dinge nicht abwerten. Alles hat seine Berechtigung. Wenn Sie verzeihen ...“ Flugs verschwand er und tauchte an einem anderen Tisch wieder auf. Dort gesellte er sich neben seine grauhaarige Diva, die momentan am Verlieren war. Nachdem er sich zu ihr hinabgeneigt und ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte, setzte sie erneut.
Schlagartig brachte ausgerechnet jener windige Vogel Sina auf eine Idee. Sie winkte einen Kellner herbei und übergab ihm ihre Visitenkarte mit der Bitte, diese jenem Herrn dort – sie wies beiläufig auf Eddi – zu überbringen.
Sie selbst schlenderte in Richtung Bar, wo ebenfalls ein reges Treiben herrschte. Hier blieb sie stehen und sah sich suchend um. Letztlich wählte sie das Foyer. Dort platzierte sie sich auf der Chaiselongue, legte ihren schwarzen Fuchskragen ab und erwartete, einen Zigarillo rauchend, diesen zwielichtigen Herren. Und siehe, der ließ nicht lange auf sich warten.
„Frau Antonelli“, überschlug er sich mit vor Wonne bebender Stimme und blickte demonstrativ auf die Karte, als müsse er sich von diesem Glückstreffer noch einmal überzeugen. „Sie sehen mich zutiefst erfreut. Schon immer wollte ich die Bekanntschaft einer Geschäftsfrau aus Zürich machen.“
„Sie Charmeur“, schmeichelte sie ihm augenblicklich, worauf sich seine Lippen genüsslich spitzten und er ihr einen galanten Handkuss gab.
Auch wenn er mit seinem dunklen, vollen Haar auf den ersten Blick recht ansehnlich wirkte, machte er bei näherer Betrachtung einen verlebten Eindruck. So hatte er tiefe Ringe unter den Augen und einen ungesunden gelben Teint, was auf ein Alkoholproblem hindeutete. Dass er nichts anbrennen ließ, verriet schon sein überaus süßliches Lächeln, das absolut nicht mit dem starren Blick harmonierte, womit er sie bereits auszog. Er mochte so um die fünfzig sein, hatte ein wuchtiges Kinn und eine etwas schiefe Nase. Unter buschigen Brauen verbargen sich zwei unruhig funkelnde Augen, die ständig auf der Suche zu sein schienen.
Wie alle Machos war er maßlos von sich eingenommen. So wippte er leger mit dem Knie und verstand sich auf großartige Posen; kurzum, er hielt sich für unwiderstehlich, was vor allem in seiner durchgedrückten Brust und dem beim Reden zurückgezogenen Kinn deutlich wurde.
Durch gewisse Signale bestärkte ihn Sina in diesem Glauben: Galant schlug sie die Beine übereinander und ließ ihn durch den seitlichen Rockschlitz mehr sehen, als gut für ihn war. Dazu lehnte sie sich entspannt zurück und zupfte versonnen an ihrem Ohrläppchen, während er sich über sein sorgsam schmalrasiertes Oberlippenbärtchen strich.
Nur eine aufgedonnerte Brünette, die in wenigen Metern Entfernung seitlich von Sina stand, war irritierend. Warum starrte diese derart unverhohlen zu ihr herüber? War sie etwa eifersüchtig? Aber Sina lächelte das Problem weg und beugte sich so weit vor, dass sie ihr die Sicht auf Eddi nahm. Trotz allem verspürte sie deren bohrende Blicke. Doch Sina setzte voll auf Sieg. Aus leichtgeöffneten Lippen hauchte sie ihm ein: „Ich finde Sie ungemein charmant“ ins Ohr.
Daraufhin nahm seine Miene einen kapriziösen, spöttischen und zugleich koketten Ausdruck an, wie er affiger kaum möglich war. Als ihm Sina dann noch den Dunst ihres Zigarillo entgegenhauchte, konnte er sich nicht mehr zügeln.
„Zwei Champagner, bitte!“, rief er dem vorbeieilenden Kellner zu und hob lässig den Finger. Dieser nickte und trabte weiter.
Abermals wandte sich ihr Eddi keck die linke Braue hebend zu und frohlockte: „Ich weiß nicht, was Sie bislang über mich erfahren haben. Aber ich bin für meine Qualitäten bekannt, Frau Antonelli.“ Und als wäre das noch nicht genug, wurde er jetzt unverschämt direkt mit der Frage, ob sie einen kultivierten Schwätzer bevorzuge lieber einen ganzen Mann.
Oh Gott, wie primitiv! Sina zeigte sich entsetzt und erwiderte in gespielter Empörung: „Na, hören Sie mal! Was denken Sie von mir?“
„Nun, dass Sie eine Frau sind, die ein Abenteuer sucht“, erwiderte Eddi verletzend direkt.
„Falsch, mein Bester!“, wies ihn Sina kühl zurecht.
„Was dann?“ Eddi zog ein überaus dummes Gesicht, das ihm erstaunlich gut stand.
„Am besten, wir reden Klartext!“
„Na dann. Nur zu!“ Er lächelte unsicher.
„Nun, wie ich sehe, wissen Sie, wie der Hase läuft. Vor allem, wie man andere Leute bestiehlt!“, schockierte sie ihn.
Schlagartig zuckte er zusammen und sein feistes Grinsen wich einer erschrockenen Grimasse. „Wie bitte?“
Lächelnd bemerkte sie: „Oder wie war das vorhin mit dem Desigual-Portemonnaie, das Sie der älteren Dame aus der Tasche gezogen haben, während Sie ihr ein paar wertvolle Tipps ins Ohr flüsterten?“
„Das ist … Also, das ist ja wohl ...“ Er schnappte nach Luft wie ein ans Ufer gespülter Karpfen. Schließlich versicherte er ihr, dass es sich nur um ein Missverständnis handeln könne oder eine optische Täuschung. Selbst eine Verwechslung bot er als Alternative an.
„Oh nein! Aus der Nummer kommen Sie nicht mehr heraus!“
„Wie meinen? Ähm … Ich wollte nur …“ Eddi wand sich jetzt wie ein Aal in salzigen Sägespänen und verschluckte die letzten Worte. Umgehend malte sich eine tiefe Bestürzung in sein Gesicht und ließ ihn seine missliche Situation begreifen. Jetzt bekam die Szenerie einen sehr hässlichen Anstrich und ließ die Temperaturen um ein paar Grad sinken.
„Wollen Sie mir die Brieftasche gleich übergeben oder bevorzugen Sie eine andere Lösung?“, bot ihm Sina kalt lächelnd an.
Eddi überlegte einen Moment, knickte dann ein und übergab ihr die Brieftasche. „Ich bitte Sie von Herzen, bloß keinen Skandal“, begann er zu wimmern und zog sich verstört den Kragen auf, als leide er plötzlich unter Atemnot. Ach Gott, war ihm das unangenehm. Fast hätte sie ihm das Köpfchen gestreichelt.
Ein Kellner brachte die perlend gefüllten Gläser auf einem silbernen Tablett und durchbrach die unerfreuliche Stille. „Ein Gruß vom Hause“, sagte er, überreichte die Getränke und zog sich, als er die finsteren Blicke der Beiden bemerkte, verwirrt zurück. Aus dem Augenwinkel fiel Sina erneut die Brünette auf, die wieder ungeniert zu ihr hinüberschaute. Kurz darauf verschwand die Fremde im Gedränge.
„Können Sie es nicht so arrangieren, dass es die Dame selbst verloren hat? Ich wäre Ihnen außerordentlich verbunden“, bedrängte er sie.
„Natürlich könnte ich das. Aber warum sollte ich?“
„Weil Sie … Herrgott! Was treiben Sie eigentlich hier für ein Spiel?“, fuhr Eddi sie an.
„Mäßigen Sie bitte Ihren Ton! Man kann Sie ja überall hören!“, wies ihn Sina zurecht. Langsam gefiel sie sich darin, diesen Kerl zu quälen.
Verärgert runzelte er die Stirn. „Was verlangen Sie von mir?“
„Aber Herr Corleone, wie sollte ich von Ihnen etwas verlangen? Wäre das nicht unangemessen? Sie sollten mich besser fragen, welchen Gefallen Sie mir tun könnten. Das klänge schon ganz anders.“
Eddi stand kurz vorm Platzen. „Also gut. Bitte. Womit kann ich Ihnen einen Gefallen tun?“, überwand er sich jetzt.
„Ich benötige einige Auskünfte, nichts weiter.“
„Auskünfte? Was für Auskünfte?“ Seine Stimme überschlug sich.
„Über Dinge, die mich interessieren. Das Syndikat zum Beispiel.“
Augenblicklich verschluckte er sich und wurde kreidebleich. „Sie sind verrückt!“
„Und wenn? Ist das schlimm?“, hielt ihm Sina entgegen.
Er schluckte erneut. „Wissen Sie, was Sie da von mir verlangen?“
„Ja natürlich. Deshalb habe ich ja auch Sie dafür ausgesucht“, schockierte sie ihn kaltschnäuzig.
Eddi fühlte sich überrollt. „Wer sind Sie?“, wollte er jetzt mit großen Augen wissen.
„Eine Geschäftsfrau aus Zürich. Das sagte ich doch.“
„Unsinn. Wer sind Sie wirklich?“
„Ist das wichtig?“
„Hören Sie! Ich bin kein Idiot!“
„Das sagt doch auch keiner!“, erwiderte Sina verwundert.
„Um eines klarzustellen: Wenn Sie mich reinlegen wollen, breche ich Ihnen das Genick!“, drohte er ihr an und war kurz davor aufzuspringen.
„Aber ich bitte Sie. Wie kommen Sie denn darauf?“
„Weil ich so etwas kenne! Und das geht nie gut aus. Glauben Sie mir. Ich habe Erfahrung!“ Während Eddi das sagte, sah er sich ängstlich um.
„Das lassen Sie meine Sorge sein“, erwiderte Sina unbeeindruckt.
„In Ordnung. Wenn Sie die Sache mit dem Portemonnaie bereinigen, dann stehe ich Ihnen zur Verfügung.“
„Ich werde mein Bestes geben“, versprach Sina im Gegenzug. Sie stellte den Champagnerkelch beiseite und steckte das Portemonnaie in ihre Handtasche. Wenig später war sie im Spielsalon verschwunden.
Dort trat sie seitlich an die noch immer spielende Dame heran und wartete einen geeigneten Augenblick ab. Dann agierte Sina geschickt mit ihrer Handtasche, spielte für einen Moment die Hilflose und bückte sich blitzschnell, um die vermeintlich verloren gegangene Brieftasche aufzuheben.
„Oh, wie nett.“ Zum Dank schenkte ihr die Frau fünf Jetons. Kurz darauf widmete sie sich mit wilder Ungeduld erneut dem Spiel.
Sina kehrte ins Foyer zurück. Sogleich kam ihr Eddi aufgelöst entgegen. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin tief in Ihrer Schuld, gnädige Frau“, bestürmte er sie, als er merkte, dass sie Wort gehalten hatte. Ungeachtet des Publikums kniete er vor ihr nieder und küsste demütig ihre Hand.
Unangenehm berührt entzog sie sich ihm. „Lassen Sie den Unsinn“, zischte sie ihn an. „Ich werde zu gegebener Zeit darauf zurückkommen. Bitte gehen Sie jetzt, bevor wir Aufsehen erregen!“
Oje, wie war ihr das peinlich, zumal einige Bedienstete von der Rezeption abschätzig zu ihr herüberschauten. Auf der Stelle beschloss Sina, zurück ins Badrutt’s zu fahren.
Unerwartet kam ihr in der Hotellobby der Chauffeur entgegen, ein unscheinbarer junger Mann, den sie bisher erst zweimal flüchtig gesehen hatte, aber nicht unsympathisch wirkte. „Dürfte ich Sie etwas fragen, gnädige Frau?“
Sie sah ihn verwundert an. Irgendwie sah es komisch aus, wie er in seiner mausgrauen Hoteluniform mit den goldenen Knöpfen plötzlich vor ihr stand und verlegen die Mütze drehte.
„Bitte. Nur zu“, ermunterte sie ihn.
„Wie haben Sie das angestellt?“
„Was meinen Sie?“ Sina stand jetzt auf dem Schlauch.
„Ich meine diesen Mann. Wie haben Sie ihn dazu gebracht, Ihre Hand zu küssen?“, fragte er erstaunt.
„Das haben Sie gesehen?“
„Ja, von der Tür aus und konnte es einfach nicht glauben.“
„Warum nicht?“ Sinas Stirn legte sich in Falten.
„Normalerweise macht der das nicht. Er ist sehr eitel, müssen Sie wissen, und glaubt, alle Frauen lägen ihm zu Füßen.“
„Sie kennen ihn?“
„Wer kennt den nicht.“ Er verzog angesäuert das Gesicht. „Das ist Eddi Corleone, ein stadtbekannter Hochstapler und Betrüger. Er ist der Katalysator der hiesigen Glücksspielerszene. Normalerweise hat er im Casino Hausverbot. Doch er versteht es, das immer wieder zu umgehen. Inzwischen wird er vom Personal geduldet, da er durch sein Engagement letztlich den Umsatz ankurbelt.“
„Wirklich? Das ist ja ungeheuerlich.“ Sina zeigte sich empört.
„Und noch eins: Manche Frauen vergöttern ihn tatsächlich. Ist er mal abwesend, erkundigen sie sich sogleich nach seinem Verbleib. Sie sollten sich vor ihm vorsehen.“
„Danke für den Hinweis. Ich bin überrascht, Herr …“
„Schönleitner. Maurice Schönleitner.“
„Angenehm. Maria Antonelli aus Zürich.“ Sie gab ihm geziert die Hand. Sodann geleitete er sie zum Fahrzeug und öffnete die Tür. „Vielen Dank“, sagte sie und musterte beiläufig seinen Siegelring an der rechten Hand, die er im selben Moment, so wollte ihr scheinen, übereilt zurückzog.
Sina fand das ungewöhnlich für einen gewöhnlichen Bediensteten. Nachdem sie eingestiegen war, schloss er sanft die Wagentür, die sich, wie von Zauberhand, fester an die Gummilitze saugte. Die Nacht war mild und sternenklar. Die Straßen wirkten menschenleer.
„Wie lange machen Sie das schon?“, fragte sie, während der Wagen majestätisch aus der Kurve rollte.
„Sie meinen, Chauffeur?“ Er warf ihr einen kurzen Blick durch den Rückspiegel zu. Sina nickte. „Noch nicht lange. Geschenkt wird einem heutzutage ja nichts.“
„Was erwarten Sie? Niemandem wird etwas geschenkt.“
„Eben. Daher muss man sehen, wo man bleibt. Vor allen Dingen in der heutigen Zeit.“
„Das hört sich ja recht missmutig an“, bemerkte sie.
„Wie man’s nimmt. Schließlich gibt es hier nicht viel Auswahl. Früher habe ich auf einem Hof gearbeitet, Kühe gemolken und Felder bestellt. Doch nachdem die Milchpreise in den Keller rutschten, ging es nur noch bergab. Den Rest können Sie sich denken. Aber das sind Dinge, die sich jemand wie Sie sicher kaum vorstellen kann. Das ist ein echter Knochenjob. Man hat immer zu tun. Das Vieh muss versorgt werden. Feierabend gibt es dort nicht. Eine riesige Schinderei rund um die Uhr. Das ist jetzt kein Vorwurf gegenüber jemandem, der das nicht kennt. Im Gegenteil, ich bewundere jeden, der den Vorzug hat, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen“, seufzte Maurice.
„Das ist tröstlich zu hören. Aber Sie können mir glauben, ich habe mir manches auch nicht ausgesucht.“
„Das klingt ja, als wären Sie mit Ihrem Leben nicht zufrieden.“ Erstaunt sah er sie durch den Rückspiegel an.
Augenblicklich winkte Sina ab. „Wer ist das schon? Zufriedenheit ist nicht nur eine Frage des Geldes. Luft nach oben ist immer.“
„Da haben Sie recht!“, lachte Maurice und meinte daraufhin, dass es da bei ihm noch viel Platz gäbe. „Ich habe mir vor ein paar Jahren von einer Dame Ihres Standes sagen lassen, dass man selbst im Glück unglücklich sein kann. So gesehen gehört zum wahren Glück wohl immer ein Quäntchen Pech, um es wertzuschätzen. Ich glaube, sie wollte damit sagen, dass es schwer ist, als Millionärin einen Mann zu finden, der es ehrlich meint. Vordergründig sieht man bei einer solchen Frau immer nur das Geld. Und wer das bestreitet, lügt.“
„Finden Sie?“
„Unbedingt, denn wie sollte man einer Millionärin das Gegenteil beweisen können? Ich meine, immerhin hat sie alles. Womit könnte man sie also erfreuen? Mit einer Blume oder einem Gedicht? Natürlich“, beeilte er sich hinzuzufügen, „ist die Kunst der Poesie absolut lobenswert.“
„Haben Sie es denn bereits versucht?“
„Ich? Ein Gedicht?“ Schmunzelnd winkte er ab.
„Warum nicht? Oder irgendetwas, was man auf dem Affenfelsen der Moderne perfekt inszenieren kann?“
„Um Gottes willen.“ Er verdrehte die Augen. „Das würde ich niemals wagen.“
Sie winkte ab. „Die meisten Millionäre sind nur durch Erbschaft oder Heirat zu ihrem Reichtum gekommen. Erarbeitet haben ihn die wenigsten. Glauben Sie denn nicht an das Wunder eines glücklichen Zufalles?“
„Oh, durchaus. Nur trifft es mich nicht.“
„Warum so pessimistisch?“
„Weil ich es mir nicht vorstellen kann. Wenn man Sie reden hört, glaubt man nicht, dass Sie, ich meine, dass Sie …“ An dieser Stelle geriet er ins Stocken.
„… zu denen gehören, die aus einer Laune heraus mehrere Wochen am Stück Urlaub in einem Luxushotel machen?“, ergänzte Sina seine Gedanken.
„Nein, nein. So würde ich es nicht sagen“, korrigierte Maurice. „Sie sind so verdammt aufgeschlossen. Das ist man hier nicht gewohnt.“
„Oh, danke schön.“ Sie lächelte. Durch das Kompliment ermutigt, wandte sie sich ihm erneut fragend zu. „Sagen Sie, Herr Schönleitner, Sie erwähnten vorhin diesen Eddi Corleone. Habe ich den Namen richtig verstanden?“
„Ja, so heißt er“, entgegnete Maurice.
„Tut mir leid, doch das lässt mir keine Ruhe. Ich meine, ich habe diesen Nachnamen irgendwo schon mal gehört. Sagen Sie … kommt Eddi etwa auch aus Pontresina?“
„In der Tat. Dort kommt er her.“
„Ist er zufällig mit einer Frau Carlotta Corleone verwandt?“
Kaum hatte sie den Namen ausgesprochen, bemerkte sie im Rückspiegel Maurices erschrockenen Blick. Nervös ließ er seine Augen zwischen der Fahrbahn und dem Spiegel wandern. Und nicht nur das. Mit einem Schlag verwandelte er sich vom unbeschwerten Plaudermaul zu einem verschlossenen Griesgram. Es dauerte eine ganze Weile, bis er darauf einsilbig antwortete. Zwar bejahte er ihre Frage, wies aber zugleich auf die Unmöglichkeit hin, darüber offen zu sprechen – und schon gar nicht mit Eddi.
„Warum diese Geheimniskrämerei?“
„Frau Antonelli. Sie hinterfragen Dinge, über die man besser schweigt.“
„Jetzt machen Sie mich aber neugierig“, gestand Sina ihm ein.
„Darf ich offen sein?“
„Ich bitte darum.“
Maurice blinkte, fuhr rechts ran und stellte den Motor in den Leerlauf. Dann legte er den Arm über die Lehne und wandte sich ihr zu. „Wissen Sie, es könnte mich den Job kosten, wenn ich Ihnen Näheres sage. Doch um alles in der Welt – woher haben Sie diesen Namen?“
„Sie meinen, Carlotta Corleone?“
Er nickte.
Sina errötete und stammelte fadenscheinig: „Ich meine, mich zu erinnern, vor Jahren in einem Zeitungsartikel – ich glaube, es war die Neue Zürcher – etwas über einen Mord gelesen zu haben. Und da wurde der Name erwähnt.“
„Das wurde er eben nicht“, korrigierte er sie. „Frau Corleone ist durch einen Unfall ums Leben gekommen und das war der Presse nicht mal eine Randnotiz wert. Von einem Mord war keine Rede. Wie kommen Sie also darauf?“ Durchdringend starrte er sie an.
„Kann sein, dass ich es verwechsle … Ich erinnere mich nicht mehr genau. Tut mir leid.“
„Die Entschuldigung liegt ganz meinerseits. Aber ich wünsche mir, dass es zu keinerlei Missverständnissen kommt. Sie sind als Gast und Tourist herzlich willkommen. Nur sollten Sie nicht versuchen, irgendwelche Dinge aufzuwühlen, über die man besser schweigt.“
„Ist das jetzt eine Warnung?“, fragte Sina erstaunt.
„Nur ein gut gemeinter Rat.“
„Das lässt ja auf einiges schließen.“
„Hören Sie, Frau Antonelli“, wand er sich, „ich möchte einfach nicht, dass ...“ Abrupt stockte er.
„Was möchten Sie nicht?“, fragte sie rasch nach.
„Nichts. Vergessen Sie es.“
„Ich verstehe nicht …“ Sina biss sich auf die Unterlippe.
„Es tut mir leid. Mehr kann ich Ihnen ehrlich nicht sagen.“ Maurice drehte sich nach vorn zurück. Blinkend fuhr er an und fädelte den Wagen sanft in den fließenden Verkehr ein.
Den Rest des Weges verbrachten sie schweigend. Wenig später rollte der Rolls-Royce vor das Eingangsportal des Hotels und Sina stieg ernüchtert aus.
Kurz darauf betrat sie ihre Suite. Vom Fenster aus sah sie auf die dunklen Berge. Sollte dahinter das gelobte Land liegen?
Zerknirscht wachte Sina am Morgen auf. Nachdem sie sich in der Nacht vor Scham und Wut in den Schlaf geheult hatte, fürchtete sie, jetzt alles verbockt zu haben. Aber ihre Reaktion war Folge der neuen Situation. Dabei hatte sie sich fest vorgenommen, nicht leichtfertig zu sein. Was sollte sie jetzt tun? Freilich könnte sie jederzeit abbrechen und nach Hause fahren. Dann käme sie aber niemals zur Ruhe, zumal sich erste Hinweise ergaben.
Kein Wunder, dass sie sich beizeiten zum Frühstücksbuffet einfand. Dies wurde übrigens von keinem Geringeren als einen in hiesiger Gegend bekannten Sternekoch kreiert. Doch das erschien Sina jetzt nebensächlich, ebenso wie die Reklame um dessen handwerkliche Kunst. Schließlich war sie nicht zum Schlemmen hier. Also setzte sie sich an ihren Tisch, nahm eine Zeitung und beobachtete beiläufig die Gäste. Diese trudelten nach und nach ein und wurden von den Servicekräften höflichst platziert.
Prompt fiel ihr neben einigen Stammgästen, die unschwer an ihrer Vertraulichkeit den Bediensteten gegenüber zu erkennen waren, der lila-grau gefärbte Haarschopf einer Mittsechzigerin auf. Sie trug ein hellgraues Seidenkleid von unglaublichem Umfang und hatte ein fettes hängendes Kinn, das den ganzen Hals verdeckte und kleine boshafte Augen.
Diese Dame führte einen kleinen pinkfarbenen Chihuahua bei sich, der bis zur Unmöglichkeit verunstaltet war. So zierte eine orangenfarbene Schleife den Kopf des Hündchens und silberfarbene Rügen die Vorderläufe. Kurz darauf kredenzte ein Butler mit weißen Handschuhen dem Tier einige Leckerlis in einer eigens auf dem Tisch platzierten Schale. Sogleich tollte der Kleine bellend und quiekend auf dem Schoß seiner Besitzerin herum und begann zunehmend auch die anderen Gäste zu nerven. Aber nicht nur deswegen empfand Sina sofort eine tiefe Antipathie gegen diese Dame. Es lag vor allem an ihrer ständigen Nörgelei.
So hatte sie ihre Servierkraft – eine junge Frau mit dichtem, dunklem Haar und hübschem Gesicht, die irgendwie an die junge Liz Taylor erinnerte – wiederholt ziemlich ruppig angefahren, weil ihr irgendetwas an den drei Spiegeleiern – aber nur mit Eigelb – nicht passte. Zuletzt drohte sie sogar mit einer Beschwerde. Das arme Mädel wusste gar nicht, wie ihr geschah, zumal keinerlei Anlass für eine Verärgerung bestand. Ob der Dame der Tee zu heiß oder die Butter zu hart war, ließ sich nicht feststellen. Vielmehr schienen ihre Vorwürfe einer gewissen Launenhaftigkeit zu entspringen, die bei ewigen Nörglern nun mal vorkamen.
Ohne sich ihrer Lächerlichkeit bewusst zu sein, keifte die Dame lautstark herum und warf nach jeder Tirade, in Erwartung einer Entschuldigung, empört den Kopf zurück. Mittlerweile war aufgrund ihrer schrillen Stimme der halbe Frühstücksraum alarmiert und man schaute verwundert zu ihr hin. In jedem Fall schien sie sich in ihrer Rolle einer gekränkten Leberwurst zu gefallen und nannte die Bedienstete wiederholt unerhört und dreist.
Bald reichte es Sina und sie rief der Krakeelerin zu: „Madame! Ich möchte darum bitten, sich zu benehmen! Ich weiß ja nicht, wo Sie sich sonst herumtreiben, aber wir sind nicht in einer Bahnhofskneipe! C’est incroyable1!“
Die nachfolgende Szene glich einem einzigen Skandal. Während die vor Schreck erstarrte Servierkraft wie elektrisiert zu ihr herübersah und dem Dickerchen vor Entsetzen die Gabel aus der Hand fiel, begannen andere Gäste amüsiert zu tuscheln.
Sofort war hier und da ein unterdrücktes Kichern zu vernehmen, durchbrochen von anerkennenden Bemerkungen. Selbst ein Bravo war von irgendwoher zu vernehmen. Das übrige Personal blieb indes wie in Starre verharrt. Es dauerte eine ganze Weile, bis diese Dame die offenkundige Provokation realisierte.
„Genau, Sie meine ich! Offenbar lässt Ihre Kinderstube zu wünschen übrig!“, setzte Sina nach und fand es seltsamerweise erfrischend, diese Mastgans bis aufs Blut zu reizen.
Es dauerte nicht lange und ein Hotelmanager in Anzug, Krawatte und gestärktem Hemd erschien an ihrem Tisch. Von dem heiklen Vorfall berührt, trat er verlegen von einem Fuß auf den anderen und suchte nach einem möglichst diplomatischen Einstieg. Mit wohlbedachten Worten gab er ihr zu verstehen, dass die Dame nur ihren Unmut über das mangelnde Vermögen der Servierkraft bekundet habe. Das wäre auch ihr gutes Recht, wenn es am Service etwas zu bemängeln gäbe. Man sei schließlich hier ein führendes Haus usw. usf.. Augenblicklich widersprach Sina und behauptete das Gegenteil, obwohl sie von der jungen Frau nicht bedient worden war.
Doch das schien ihr in diesem Moment egal. Sie brach schon aus Prinzip für die Angestellte eine Lanze, nur um dieser eingebildeten Schnepfe eins auszuwischen.
Nach einigem Hin und Her sicherte ihr der Manager eine baldige Klärung zu. Hierfür kehrte er zu der dicken Dame zurück, die dessen Auftritt aufmerksam beobachtet hatte und wechselte mit ihr einige Worte.
Daraufhin guckte sie ihn voller Empörung an und erwiderte etwas, worauf er nur ratlos die Schultern hob. Wutschnaubend warf sie die Serviette auf den Tisch, klemmte pikiert ihr Hündchen unter den Arm und verschwand.
Sichtlich zufrieden kehrte Sina jetzt zu ihrem Frühstück zurück und hätte der Sache sicher keine weitere Bedeutung beigemessen, wäre nicht kurz darauf die betreffende Servierkraft an ihrem Nebentisch erschienen. Und während sie dort eindeckte, flüsterte sie ihr ein unerwartetes: „Danke“ zu.
Sina reagierte darauf mit einem beherzten: „Keine Ursache.“
Die junge Frau lächelte darauf verschämt und verschwand.
Nach dem Frühstück war Sina über ihre Vorgehensweise noch unentschlossen. Sollte sie nochmals das Gespräch mit diesem Chauffeur suchen oder das Terrain auf eigene Faust abklopfen? Ersteres barg ein hohes Risiko, denn im Grunde hatte dieser Maurice nur wenig Entgegenkommen gezeigt. Allein der Umstand, dass ihr seine ungezwungene Art gefiel, bot noch keine Erfolgsgarantie. Andererseits schien er einiges zu wissen und es wäre töricht, das nicht zu nutzen. Kurzerhand forderte sie ihn über die Rezeption mit dem Rolls-Royce erneut an und buchte vorsorglich für den gesamten Tag. Danach frischte sie ihr dezentes Tages-Make-up auf und kleidete sich sportlich-elegant.
Etwa zwanzig Minuten später erschien Maurice im Foyer in seiner mausgrauen Hoteluniform und erwartete sie mit der Mütze in der Hand. Man sah ihm seine Verlegenheit an. Nur knapp brachte er ein ‚Guata Morga‘ über die Lippen. Doch das war unwichtig. Sina war entschlossen, ihn unter allen Umständen für sich ‚abzuschöpfen‘.
Schweigend geleitete er sie zur, vor dem Hotel parkenden, Nobelkarosse. Nachdem er ihr in aller Form die Tür geöffnet und sie sich im Fond des Wagens platziert hatte, setzte er sich hinters Lenkrad und fuhr los.
„Wohin?“, erkundigte er sich mit einem kurzen Blick in den Rückspiegel, während seine Rechte auf dem Lenkrad ruhte.
„Irgendwohin, wo wir ungestört reden können.“ Und während Sina das sagte, öffnete sie beiläufig ihre Tasche und vergewisserte sich, auch alles Nötige dabeizuhaben: Kreditkarte, ausreichend Bargeld, bis hin zur Walther Model 2. Das war eine platzsparende Pistole, die sie sich extra zugelegt hatte. Sie trug sie im linken Ärmel ihres Marccain Fieldjackets. Dort hatte sie sich ein kleines Fach einnähen lassen, welches selbst bei einer Leibesvisitation nur schwer zu finden war.
Verstohlen nahm sie einen kleinen Taschenspiegel heraus, begutachtete kritisch ihr Gesicht und bemerkte den überschüssigen Lippenstift. Hastig zog sie ein Kosmetiktuch hervor und korrigierte es.
„Ich möchte Ihnen danken“, überraschte Maurice sie. „Woher wussten Sie, dass Rosanna meine Schwester ist?“
Irritiert sah sie ihn an und schloss abrupt die Handtasche. „Ihre Schwester?“
„Sie ist die Servierkraft, die Sie beim Frühstück verteidigt haben. Ohne Ihren Einspruch wäre sie garantiert geflogen. Das geht im Badrutt’s schnell. Und mit einer solchen Empfehlung ist sie woanders so gut wie erledigt. Die stecken hier alle unter einer Decke, müssen Sie wissen. Seit Maxis Geburt ist es für sie nicht leichter geworden. Als alleinerziehende Mutter muss man heutzutage sehen, wo man bleibt.“
„Keine Ursache, gern geschehen“, erwiderte Sina sichtlich überrollt.
„Rosanna bat mich, Ihnen das auszurichten, denn so etwas kommt hier von den Gästen selten vor. Die Gäste sind eher launisch und behandeln die Bediensteten von oben herab. In solchen Situationen ist es nicht einfach, die Ruhe zu bewahren … Nach der Geburt meines Neffen habe ich ihr geholfen, in diesem Hotel unterzukommen. Das ist alle Male besser, als vom Staat zu leben.“
„Und ich dachte immer, die Schweiz sei ein Sozialparadies?“
„Von wegen. Dieses Bild wird den Besuchern nur aus Reklamegründen vermittelt“, beklagte Maurice. „Außer Tourismus gibt es nichts. Zudem werden viele Stellen unterbezahlt oder von Leiharbeitern besetzt. Das ist ein großes Problem. Im Extremfall landet man in irgendeiner Schuldenfalle. Ich versuche, Rosanna davor zu bewahren.“
„Das ist sehr lobenswert.“
„Ich denke, eher selbstverständlich“, erwiderte er daraufhin bitter. „Gerade in dünn besiedelten Gegenden, wo es keine Perspektive gibt, versucht man, aus der Not der Betroffenen Kapital zu schlagen. Zum Beispiel werden einem Billigjobs angeboten, die das morgendliche Aufstehen nicht wert sind. Umso mehr danke ich Ihnen für Ihren Einsatz.“
„Ach, das war nicht der Rede wert“, wiegelte Sina ab. „Diese Dame benahm sich einfach unmöglich. Nur traute sich keiner, etwas zu sagen.“
„Umso besser, dass Sie da waren.“
Sina tat es mit einer beiläufigen Geste ab.
„Ja, Sie haben recht! Aber manche Touristen benehmen sich hier tatsächlich wie die Axt im Walde. Nur weil sie bezahlen, glauben sie, sich alles herausnehmen zu können“, begann er sich jetzt zu ereifern, schaute dabei aber immer wieder in den Rückspiegel, als wollte er ihre Reaktion testen. „Leider ist das ganze System so korrumpiert, dass ihnen das Geld einen großen Vorteil verschafft. Und das steigt manchem zu Kopf. Ich erinnere mich an einen Fall, wo ein älterer Herr darauf bestand, mit ‚Exzellenz‘ angeredet zu werden und der Portier vor ihm die Mütze abnahm, im Ernst. In Wahrheit war er nur ein kleiner Nudelverkäufer, wie sich herausstellte.“
„Nudelverkäufer? Oha!“
„Ja, in der Tat. Und er hatte sich den Aufenthalt hier mühsam erspart. Dann lebte er endlich einmal seinen Traum und machte dazu einen auf ‚dicken Max‘, wie man auf Deutsch sagt. Aber das Gefühl, jemand zu sein, war ihm wichtiger als die Realität. Irre, oder?“
„Allerdings“, stimmte ihm Sina zu. „Ich hoffe nur, dass Sie mich nicht für eine Nudelverkäuferin halten!“
Maurice lachte. „Dafür sind Sie ein ganz anderer Typ.“
„Was für ein Typ bin ich denn?“
„Ein sympathischer.“ Er räusperte sich. „Jedenfalls wollen Sie bestimmt nicht mit ‚Contessa‘ angeredet werden“, setzte er schnell hinzu, nachdem er ihre rollenden Augen bemerkt hatte. „Ich glaube, dass Sie humorvoll sind und keineswegs jedes Wort auf die Goldwaage legen.“
„Sie scheinen sich ja auszukennen“, folgerte Sina amüsiert.
„Das kommt dabei heraus, wenn man Chauffeur in so einem Nobelschuppen ist“, gestand er augenzwinkernd. „Dennoch steht man als Fahrer auf der untersten Ebene. Selbst ein Portier ist besser dran. Dabei ist das der stumpfsinnigste Job, den ich kenne. Genau genommen handelt es sich lediglich um einen tradierten Repräsentanten, der für etwas bewundert wird, wofür er gar nichts kann. Oder haben Sie schon mal erlebt, dass ein Portier etwas Qualifiziertes von sich gibt? Wie sollte er auch? Das ist nicht seine Aufgabe. Er öffnet Türen und hält dafür die Hand auf. Einst kannte ich einen, der starrte den ganzen Tag vor sich hin, ohne eine Miene zu verziehen. Stellen Sie sich vor, er reagierte wie ein Automat: Lächeln auf Knopfdruck, gefolgt von einem stumpfsinnigen Glotzen. Als ich ihn fragte, ob das langweilig sei, zuckte er nichtssagend mit den Schultern.“
„Sie mögen keine Portiers?“, folgerte Sina.
„Sagen wir es mal so: Ich kann sie nicht verhindern. Sie gehören einfach zum Repertoire.“
Augenblicklich musste sie die Lippen zusammenpressen, um nicht laut loszulachen. Zu ihrer Verwunderung verspürte sie übel Lust, ihm das Haar zu wuscheln, diesem Lauser, der sich um Kopf und Kragen redete. Offenbar konnte er nur schwerlich sein loses Mundwerk halten.
„Ich bitte Sie, nicht alles so bierernst zu nehmen!“, schwächte er mit schelmischem Blick ab. „Es gehört zu unseren Aufgaben, die Gäste zu unterhalten, egal mit welchen Mitteln.“
„Keine Bange“, beruhigte sie ihn „aus dem Alter bin ich raus.“ Entspannt lehnte sie sich zurück und sah hinaus. Später, nachdem Maurice eine ganze Zeit lang ziellos drauflosgefahren war, fragte er, ob sie ein bestimmtes Ziel favorisiere.
„Irgendwohin, wo es schön ist“, entgegnete sie. „Sagen Sie, warum steckt ständig dieses Mikrofon in Ihrem Ohr?“ Damit spielte sie auf den kleinen Knopf an, der an einer gedrillten Schnur in seinem linken Ohr steckte.
„Ich muss erreichbar sein – jederzeit“, erklärte er überaus sachlich.
„Reicht kein Handy?“
„Nein.“
„Verstehe, die Variante ist abhörsicherer“, bemerkte sie trocken.
„Genau“, gab er unumwunden zu. „Mein Chef hat jederzeit die Kontrolle.“
„Wird er nicht verärgert sein, wenn er das hört?“
„Ach was“, winkte Maurice ab. Dann setzte er verschmitzt hinzu, dass sich das durch einen kleinen Zwischenschalter verhindern lässt.
„Alles andere hätte mich auch gewundert“, bekannte Sina. Dann sah sie zum Fenster hinaus.
„Entschuldigen Sie“, bemerkte er wenig später und räusperte sich. „Dürfte ich Sie etwas fragen, Frau Antonelli?“
„Ja bitte?“
„Nun …“ Er stockte.
„Nur zu“, ermunterte sie ihn, „fragen Sie.“
Wie aus der Pistole geschossen sagte er: „Sehen Sie Männer immer so an?“
Sina errötete. „Wie meinen?“
„Tschuldigung. Ich … Das war dumm … Sie sind mir jetzt böse?“
„Nein, nein.“ Sie schüttelte den Kopf und beugte sich ein wenig vor. „Herr Schönleitner, ich muss gestehen, Sie machen mich neugierig. Wie sehe ich Sie denn an?“
„Prüfend“, erklärte er, ohne den Blick von der Fahrbahn zu nehmen. „Nun gut. Was heißt schon prüfend. Genauer gesagt, Sie examinieren mich. Ich meine nicht wegen des Knopfes in meinem Ohr. Sie versuchen, mich zu ergründen. Dann wägen Sie ab, ob Sie richtig liegen. Noch sind Sie sich unsicher, wähnen sich aber kurz vor dem Ziel. Kann das sein?“
„Ist das nicht normal?“, entgegnete sie.
„Ja, sicher. Aber Sie machen das anders. Ich glaube, Sie inszenieren eine ganze Menge, um ein Bild von sich zu projizieren, das Sie nicht sind.“
„Wow! Woher nehmen Sie das alles?“
Unbeirrt fuhr er fort: „Sie lassen mich glauben, was Sie sein möchten. Das ist mir gestern bereits aufgefallen. Natürlich ist das für eine allein Reisende ein legitimer Selbstschutz. Doch bei Ihnen wirkt das anders. Sie versuchen, mich zu verunsichern, in der Absicht, etwas Bestimmtes zu erreichen.“
„Interessant“, folgerte Sina. „Leider muss ich Sie enttäuschen. Ich mache hier Urlaub – nichts weiter.“
„Sehen Sie? Und genau das glaube ich nicht.“
„Das steht Ihnen frei. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“
„Komisch. Etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet.“
„Warum fragen Sie denn?“
„Aus Neugier“, entgegnete Maurice und sah sie durch den Spiegel an.
„Und? Liegen Sie richtig?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Dann habe ich ja offenbar alles richtig gemacht“, spöttelte Sina und zündete sich einen Zigarillo an. „Gestatten?“
„Der Gast ist bei uns König.“
„Mit anderen Worten, es passt Ihnen nicht, wenn Ihnen jemand hier die Luft verpestet.“
„Es geht nicht um mich. Es geht um Ihre Zufriedenheit.“
„Welch’ charmante Art der Maßregelung“. Sie drückte den Zigarillo wieder aus. „Im Übrigen weiß ich jetzt, wohin Sie mich fahren können. Ich möchte gerne zum Diavolezza Massiv.“
„Wieso gerade das? Es gibt andere schöne Orte.“
„Ich würde es aber gerne sehen.“
„In Ordnung!“ Maurice schaltete in den sechsten Gang. Jetzt flogen sie geradewegs über die Route 29 an Pontresina vorbei in Richtung Tirano. Unterwegs entblätterte sich vor ihr die Landschaft in atemberaubender Schönheit. Sina war berauscht von dem wild-bizarren Hochgebirge, in dem es nur geringe Vegetation gab. Ab und an wuchs am Straßenrand eine Mohnblume von lebhaftem Rot, ein bizarrer Farbfleck vor einer schiefergrauen Leinwand. Während der Fahrt erzählte ihr Maurice allerlei Geschichten von den Besonderheiten des Landstrichs, der Natur und den Menschen. Das machte deutlich, wie tief er mit dieser Gegend verwurzelt war.
Auch wenn er kaum von sich erzählte, genügte es, sich ein Bild von ihm zu machen. Hier geboren und auf einem der hiesigen Höfe aufgewachsen, war ihm die Schwere und Mühsal der ländlichen Arbeit nicht fremd. Bald meinte sie, gewisse Parallelen zum eigenen Lebenslauf zu empfinden.
Sicherlich war vieles von dem, was er erzählte, überzogen. Aber es kam von Herzen. Das spürte sie genau. Irgendwie hatte er etwas Besonderes. Aber konnte sie ihm trauen? Wiederholt beobachtete sie ihn aus dem Augenwinkel.
Er schien nur wenig älter als sie, war von mittlerer Größe und schlanker Statur. Seine klaren blauen Augen waren von klugem, bisweilen tiefem Ausdruck, wenngleich auch irgendwie unergründlich. Vor allem, wenn sein Blick nicht unbedingt zur vorgeschützten Lockerheit passte, ahnte man, dass er in Gedanken ganz woanders war. Das war irritierend und beunruhigend zugleich. Ebenso war sein dunkelblondes Haar von eigenartiger Fasson. Obwohl es straff nach rechts gekämmt war, fiel es ihm in unregelmäßigen Abständen über die Stirn und zwang ihn, es zurückzustreichen. Auf diese Weise bestimmte eine stete Unruhe seine Bewegungen, die ihn nervös erscheinen ließ. Zweifellos eine Marotte, die man ihm austreiben sollte.
Aber offenbar tat das niemand, obgleich eine verdächtig helle Stelle an seinem linken Ringfinger auf eine vormalige Verbindung schließen ließ. Wenn er redete, sprudelten seine Worte wie ein Wasserfall. Zudem machte er einen sympathischen und vertrauenswürdigen Eindruck, wie jemand, mit dem man Pferde stehlen konnte, solange man ihn zu nehmen wusste. Kurzum, er wirkte wie ein Edelweiß, das die Bergziegen fürchtete. Festverankert und doch ungeschützt.
Bald darauf hielt Maurice auf einem Parkplatz am Fuß des Massivs. Von hier aus fuhren in regelmäßigen Abständen Seilbahnen hinauf aufs Hochplateau. Kaum angekommen, entschuldigte er sich, stieg aus und entledigte sich seines mausgrauen Jacketts und der Mütze. Nun sah er wie ein gewöhnlicher Tourist aus.
„Ich glaube, das ist Ihnen angenehmer“, erklärte er, nachdem er Sina aus dem Wagen geholfen hatte.
„Mich hätte es nicht gestört.“
„Ich will hoffen, Sie verraten mich nicht. Und jetzt nehmen Sie bitte meinen Arm.“
„Wie bitte?“
„Sie sollten sich lieber bei mir einhaken. Oder wollen Sie den Eindruck vermeiden, den ich damit erzeugen will?“
Sina fühlte sich von seiner Forschheit überrollt. Gleichzeitig wäre es in der Tat sonderbar, von einem Bediensteten begleitet zu werden, der wie ein Dackel in zwei Schritten Abstand hinter einem herlief. Damit nicht genug: Überhastet bestand er darauf, sie einzuladen. Das erinnerte sie an Volker Grimmel. Auch er war stets beleidigt, sobald sie bei einem Ausflug ihr Eis selbst bezahlte. Daher widersprach sie nicht.
Nach einer zwanzigminütigen Seilbahnfahrt, vorbei an Gletscherzungen und kargen Steinwänden, näherten sie sich der Hochebene. Je höher sie stiegen, umso heller wurde es. Bei 2500 Meter durchbrachen sie die Wolkendecke und wurden von einem strahlend blauen Himmel begrüßt. Den Glanzpunkt bildete die Bergkette des Diavolezza Massivs, die sich in Gestalt von schneebedeckten Hängen und Bergspitzen mehrerer Viertausender vor dem Betrachter auftürmte.
Während die gesamte linke Seite des Bergmassivs unter dem Schatten eines großen kupferfarbenen Wolkenfetzens lag, wurde dessen Mitte durch einen breiten Sonnenstrahl erhellt, der ein grelles Gleißen entfachte. Hoch über den Gipfeln, wo die schneebedeckten Spitzen in den blauen Himmel ragten, schien das Gebirge wie von Sonnenstaub umflort, was seine majestätische Anmut ins Unermessliche steigerte. Mit einem sanften Ruck hielt die Seilbahn auf dem Plateau an. Die Türen öffneten sich und die beiden stiegen aus. Dann gingen sie zu einer eigens dafür eingerichteten Aussichtsplattform eines nahegelegenen Restaurants.
Sina hielt angesichts der unbeschreiblichen Schönheit der Umgebung inne und betrachtete die majestätischen Berge. Als ihr Maurice erklärte, dass es abends noch viel grandioser sei, vor allem, wenn die schrägen Strahlen vom Westen die Wolken golden färbten, standen ihr plötzlich Tränen in den Augen. Innig vereinnahmte sie diese Schönheit gleichsam einer bezaubernden, zu Herzen gehenden Klaviersonate.
„Was ist? Habe ich etwas Falsches gesagt?“, erkundigte er sich erschrocken, als er ihre plötzliche Beklommenheit bemerkte.
„Im Gegenteil. Ich habe …“ Sina stockte und versuchte, die sie übermannende Erinnerung an Tom zu verdrängen, der ihr mal etwas Ähnliches gesagt hatte. „Wohin führt dieser Weg?“ Sie wies auf einen kleinen Schotterweg.
„Das ist der Wanderweg zur sogenannten Echoschlucht.“
„Worauf warten wir?“ Sogleich stürmte Sina los.
„Stopp!“ Maurice hielt sie an ihrer Jacke fest. „Dahinten gibt es einen besseren Ausblick.“ Er wies in entgegengesetzte Richtung. „Es gibt eine Abkürzung – wir müssen nur ein paar Meter über eine ungesicherte Strecke gehen.“
„Ist das nicht gefährlich? Vorn habe ich noch gelesen, man sollte so etwas unbedingt vermeiden!“
„Nicht, wenn man sich auskennt“, beruhigte er sie.
„In Ordnung. Führen Sie mich.“ Kurz darauf verließen sie die Piste. Maurice schritt leichtfüßig und trittsicher voran. Da Sina kaum Schritt halten konnte, verringerte er das Tempo. Es ging vorbei an schroffen Wänden und von Geröll überdeckten Flächen. Hin und wieder querten sprudelnde Bäche oder Rinnsale ihren Weg, durchbrochen von kleineren Gletscherzungen. Doch je weiter sie kamen, umso unwirklicher und bizarrer wurde die Landschaft.
Der Wind hatte die Wolken vom Gipfel vertrieben. Jetzt war es beinahe lautlos. Ab und an vernahm man den spitzen Schrei eines Bussards, der hoch oben seine Kreise zog. Sina konnte sich nicht sattsehen an den wundervollen Bergen.
„Der mittlere Berg mit der abgeflachten Spitze, das ist der Munt Pers“, erklärte er ihr abrupt innehaltend und schaute in die Ferne. „Ihn umgibt eine Sage, woraus sich der Name der Diavolezza ableitet. ‚La Diavolezza‘ – die schöne Teufelin. Dort soll einst eine wunderschöne Bergfee gehaust haben. Sie lebte in ihrer Felsenburg hoch oben zwischen Chapütschöl und Munt Pers. Man sagt, sie wurde mitunter von Jägern gesehen, wenn sie über die Felswände zum ‚Lej da la Diavolezza‘ hinüberwechselte, um in einem der kristallklaren Gebirgsseen zu baden. Bei ihrem Anblick war es um die Männer geschehen. Von ihrer wundervollen Schönheit befangen, folgte ihr einer nach dem anderen auf ihr Bergschloss und wurde nie wieder gesehen. Munt Pers bedeutet ‚verlorener Berg‘.“
„Eine romantische Geschichte“, räumte Sina ein und warf einen Blick in die vor ihr liegende Tiefe. Eine leichte Brise wehte von den zerklüfteten Felsformationen herüber. Vereinzelt kraxelten Bergziegen in dem unwegsamen Gelände herum. Abgesehen von einigen Sträuchern, Flechten und Moosen erblickte sie, soweit das Auge reichte, nur noch nacktes Schiefergestein. Ihr Herz raste. Trotz des geringen Tempos wurde sie jetzt sehr kurzatmig, was an der Höhenluft lag.
„Das passt wie die Faust aufs Auge“, stellte sie fest.
„Wie meinen Sie das?“ Fragend sah Maurice seine Begleiterin von der Seite an.
„Es liegt an der Natur. Hier oben gibt es keine Vegetation und somit kein Leben. Nur Schnee, Eis und Felsen. Dennoch ist diese Landschaft atemberaubend schön. Demnach müssen Schönheit und Tod kein Widerspruch sein. Ist das nicht komisch?“
„Es klingt, als wollten Sie dem Tod etwas Schönes abgewinnen“, bemerkte Maurice und wandte sich ihr vollends zu.
„Warum nicht?“, gestand sie. „Nur weil er am Ende des Lebens steht, muss er doch nicht hässlich sein. Ich jedenfalls stelle mir den Tod erhaben und großartig vor, vor allem, wenn er vor einer solchen Kulisse eintritt. Es wäre wie ein Feuerwerk, wenn man rücklings gegen einen Felsen gelehnt, noch einmal das abendliche Verglühen der Sonne am Horizont betrachten könnte.“
„Merkwürdig, wie Sie das sagen.“ Er maß sie von oben nach unten.
„Finden Sie?“
„Es klingt schon seltsam, vor allem, wenn das von jemandem kommt, der auf der Sonnenseite des Lebens steht. Da vergisst man schnell den Schatten … Vorsicht!“, schrie er.
Sina hatte sich unbemerkt einem linksseitig befindlichen Abhang genähert. Als sie instinktiv zurückweichen wollte, stieß sie rücklings gegen Maurice. Dieser war in diesem Moment an sie herangetreten, als wollte er genau das verhindern. Erschrocken fuhr sie um. Als sie dann aber sein starres Gesicht bemerkte, durchfuhr sie ein Riesenschreck. Was hatte er vor? Lag es an dem, was sie jetzt glauben musste? Schon wollte sie zur Pistole greifen. Doch blitzschnell packte er sie am Arm und hielt sie für einen Moment in einer sehr instabilen Lage. Dann aber zog er sie zurück.
„Sie sollten sich nicht so weit vorwagen. Die Kante könnte brüchig sein“, ermahnte er sie. „Seien Sie bitte vorsichtig.“
„Ja, ich … danke Ihnen, aber ich weiß auch nicht ...”
„Was ist mit Ihnen, Frau Antonelli? Sie zittern ja.“
„Es liegt sicher an der Höhe. Ein leichter Schwächeanfall“, schützte sie vor und bat um eine kleine Verschnaufpause.
„Wir sollten besser umkehren“, schlug Maurice vor und führte sie auf dem kürzesten Weg zum Plateau zurück. Danach begaben sie sich in das Aussichtsrestaurant, nahmen vor einem der großen Panoramafenster Platz und bestellten zwei Kaffee.
„Vielleicht war es doch keine so gute Idee, herzufahren?“, fragte er und betrachtete besorgt ihr leichenblasses Gesicht. „Möchten Sie lieber etwas Kühles trinken? Eine Cola? Oder ein Wasser?“
„Nein danke, Alles in Ordnung. Ich war nur für einen Moment etwas durcheinander. Entschuldigung.“
„Da gibt es doch nichts zu entschuldigen. So etwas ist normal ... Sehen Sie, wie sich die Leute drängen?“, fragte Maurice und deutete mit dem Kinn in Richtung Plattform. „Bald wird es ungemütlich. Der Massentourismus bringt zwar Geld, ist aber Gift für die Umwelt.“
Doch Sina hatte gar nicht zugehört. Noch immer war sie tief in Gedanken. Plötzlich legte sie die Hand auf seinen Arm. „Hören Sie, Maurice. Was ich vorhin gesagt habe, entspricht nicht der Wahrheit“, begann sie ihm jetzt zu gestehen. „Ich bin absichtlich hier und habe eine Aufgabe zu erfüllen. Dazu brauche ich Hilfe. Könnte ich dabei auf Sie zählen?“
„Das kommt auf die Aufgabe an“, entgegnete er nüchtern.
„Sie haben gestern recht komisch reagiert, als ich den Namen Carlotta Corleone nannte. Aber genau das interessiert mich. Was hat es damit auf sich?“, fragte sie und brachte ihn damit in erneute Verlegenheit.
„Das ist doch Schnee von gestern“, wehrte er sichtlich nervös ab. „Bei uns gibt es ein Sprichwort: Soihäfeli – Soideckeli! Das heißt so viel wie: Schweineklo und Schweinedeckel. Diese verdammte Vetternwirtschaft! Um es frei heraus zu sagen: Frau Corleone ist laut offizieller Version bei einem Unfall ums Leben gekommen.“
„Und wie lautet die inoffizielle Version?“, setzte Sina unbeirrt nach, wobei ihr Herz bis zum Hals schlug.
„Es gibt Dinge, über die man besser nicht redet. Damit erspart man sich eine Menge Ärger“, empfahl er ihr. Im selben Atemzug benannte er ein paar ungeschriebene Regeln: Hinterfrage nie, was bereits öffentlich erklärt worden war. Bezweifele niemals eine Begründung. Vor allem, falle nicht durch unbequeme Fragen auf.
„So einfach ist das aber nicht – jedenfalls nicht für mich.“ Sie neigte sich ihm vertraulich zu. „Ich suche eine bestimmte Person. Ihr Name lautet Baron von Billow. Ich habe den begründeten Verdacht, dass mir dieser Mensch einige wichtige Antworten geben könnte.“
Unmittelbar malte sich ein Schreck in sein Gesicht. „Sie sind nicht bei Verstand“, flüsterte er nach einer Weile und schaute sich ängstlich um. „Woher nehmen Sie das? Ich meine, wie kommen Sie darauf, dass er etwas damit zu tun haben könnte?“
„Instinkt!“
„Vergessen Sie es. Sie haben keine Chance“, antwortete er knapp.
„Das wird sich zeigen.“
„Wie stellen Sie sich das vor?“
„Indem Sie mir helfen, ihn zu finden.“ Sina hatte vor Eifer rote Wangen bekommen. Ob diese Forschheit ein Fehler war, wusste sie nicht. Doch sie war entschlossen, jetzt alles zu riskieren.
„Tut mir leid. Dafür bin ich eine Nummer zu klein“, antwortete Maurice entschieden.
„Aber Sie kennen jemanden, der die nötige Nummerngröße hat.“
„Ich muss Sie warnen. Ist Ihnen klar, in welche Gefahr Sie sich begeben?“
„Das ist mein Problem. Also? Wer kann mir helfen?“
Maurice überlegte einen Moment. Man sah ihm an, wie er mit sich rang. Dann aber erwiderte er knapp: „Wenden Sie sich an Eddi Corleone. Er verfügt über genügend Verbindungen.“
„Sie meinen den Typen aus dem Casino?“ Sina glaubte sich verhört. „Diesen prolligen Macho?“
„Genau den. Sagen Sie ihm, Sie hätten den Tipp von mir. Er kennt mich und wird Ihnen mehr sagen können. Er hält sich zwar für den Nabel der Welt und schneidet gern auf, aber es gibt kaum jemanden, der besser informiert ist. Und da er sich schon einige Male das Maul verbrannt hat, kommt es auf einmal mehr nicht an. Doch eines noch – hüten Sie sich vor Lola!“
„Wer ist Lola?“
„Eine seiner Flammen. Sie hat überall die Finger drin und weicht ihm nicht von der Seite. Die beiden arbeiten zusammen, müssen Sie wissen.“
„Ich glaube, ich habe diese Lola im Casino gesehen“, meinte Sina, sich jetzt zu erinnern. „Das ist so eine Brünette, nicht wahr?“
„Vorsicht, das kann täuschen. Sie wechselt öfter die Frisur. In der letzten Zeit hat sie sich auf ältere Herren spezialisiert. Eddi ist ihr persönlicher Beschützer.“ Er malte hierzu Gänsefüßchen in die Luft.
„Beschützer?“
Maurice hüstelte. „Oder „Abschöpfer“, ganz wie Sie wollen.“
„Ihr Lude also. Oh!“ Erschrocken hielt Sina sich die Hand vor den Mund. „Nun fällt der Groschen.“ Plötzlich musste sie lachen.
„Was ist daran so lustig?“
„Nichts. Aber irgendwie passt das zu ihm. Ich bin in der Tat noch keinem größeren Stutzer und Maulhelden begegnet. Was meinen Sie, kann man ihm trauen?“
„Natürlich nicht. Deshalb sollten Sie ja auch vorsichtig vorgehen. Am besten, Sie setzen ihn mit irgendetwas unter Druck. Dann hätten Sie eine Chance. Anderenfalls wird er Sie gnadenlos auffliegen lassen.“
„Ich glaube, da hätte ich was“, erwiderte Sina zu seiner Verwunderung.
„Wirklich?“
„Ich denke schon.“
„Seien Sie bloß vorsichtig.“
„Das werde ich. Verlassen Sie sich darauf.“ Kurz darauf entschuldigte sie sich und suchte den Waschraum auf. Sie schaute sich im Spiegel an und atmete tief durch. Im Anschluss ließ sie kaltes Wasser über ihre Arme laufen und überdachte den neuen Anknüpfungspunkt. Eddi also. Na, der konnte was erleben.
Sina fackelte nicht lange. Bereits am selben Abend suchte sie das Casino im Kempinski auf. Über ihrer Schulter baumelte nonchalant ihre kleine Handtasche an einer goldenen Kette. Sie trug zu ihrem dunklen Rock eine beigefarbene Tunika mit Perlen-Dekolleté und eine pelzverbrämte Jacke. Vor allem zeigte der lange Seitenschlitz viel Bein, was bei den Vertretern des „starken“ Geschlechtes ausgesprochen gut ankam. Nachdem sie einen der frequentierten Roulette-Tische aufgesucht hatte, dauerte es nicht lange und Eddi fand sich zu ihrer Linken ein. „Fünf auf Noir“, raunte er ihr unauffällig zu.
„Wieso?“
„Laut meinem Schema ist die Wahrscheinlichkeit eines Treffers hier am größten.“
„Faites vos jeux“, forderte der Croupier zu den Einsätzen auf.
Sina setzte hundert Franken.
„Rien ne va plus!“ Die Kugel rollte und blieb auf Sechs Rouge liegen.
„Offenbar ist heute nicht Ihr Tag, Eddi.“
„Ich bin untröstlich, Madame. Aber nach meinen Berechnungen ist …“
„Ach, geben Sie es zu. Sie sind ein Scharlatan! Das kann man nicht berechnen. Entweder man hat Glück oder man hat keines. Der Zufall lässt sich nicht überlisten. Wie so oft ist der Wunsch die Mutter des Gedankens.“
„Man kann aber die Wahrscheinlichkeit abschätzen“, erwiderte er pikiert. „So lassen sich die meisten Gewinne zumindest erahnen. Der Rest bleibt Risiko.“
„Nun gut. Sie geben einem wenigstens etwas Hoffnung“, seufzte Sina und steckte ihm den erwarteten Schein ins Revers.