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Man sagt, das Böse verliert seinen Schrecken, sobald man es versteht. Sina Brodersen lebt nach dem Tod ihrer Eltern allein mit ihrem Hund auf einem Hof in Schleswig-Holstein. Als sie durch Zufall in den Besitz eines mysteriösen Schlüssels gelangt, ahnt sie nicht, dass er für ein verbrecherisches Syndikat von großer Bedeutung ist. Ein inzwischen mit seiner Suche beauftragter 'Spezialist' geht äußerst skrupellos vor, um in dessen Besitz zu gelangen. Bald gerät auch Sina in seinen Fokus und somit in tödliche Gefahr. Doch als die Situation eskaliert und sich die Schlinge bereits um ihren Hals zuzieht, geschieht etwas Unglaubliches. Der Killer verschont sie, selbst auf die Gefahr des eigenen Untergangs. Jetzt bemerkt Sina, dass sich hinter seiner kalten Fassade ein empathischer und sensibler Mensch verbirgt, und empfindet bald mehr für ihn. Da inzwischen ein weiterer Spezialist mit der Lösung des Problems beauftragt wurde, beschließt sie, dem Abtrünnigen Schutz und Unterkunft zu gewähren. Damit beginnt für beide ein Wettlauf mit dem Tod.
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Seitenzahl: 447
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Anja Gust
Monstratorem
Geschichte einer unbeschreiblichen Liebe: Kriminalroman Tatort: Schleswig-Holstein
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Monstratorem – Die Geschichte einer unbeschreiblichen Liebe
Zu diesem Buch
Impressum
Zitat
Der Pate
Alltag
Wolkenbruch
Landwirtschaft 4.0
Die Töpferstube
Billers Gasthof
Der Versuch
Kett- und Schussfäden
Oleg Budniak
Pontresina
Volker Grimmel
Tabeas Weigerung
Der Eklat
Klare Fronten
Nachwehen
Ein kühner Hasenfuß
Dunkle Erwartungen
Der Interessent
Helgas Schmerzen
Toms Geständnis
Peters Dilemma
Die Unternehmung
Das Duell
Anmerkungen / Erklärungen der Fußnoten
Zu der Autorin
Danksagung
Impressum neobooks
Kriminalroman
Tatort: Schleswig-Holstein
Man sagt, das Böse verliert seinen Schrecken, sobald man es versteht. Sina Brodersen lebt nach dem Tod ihrer Eltern allein mit ihrem Hund auf einem Hof in Schleswig-Holstein. Als sie durch Zufall in den Besitz eines mysteriösen Schlüssels gelangt, ahnt sie nicht, dass er für ein verbrecherisches Syndikat von großer Bedeutung ist. Ein inzwischen mit seiner Suche beauftragter ‚Spezialist‘ geht äußerst skrupellos vor, um in dessen Besitz zu gelangen. Bald gerät auch Sina in seinen Fokus und somit in tödliche Gefahr. Doch als die Situation eskaliert und sich die Schlinge bereits um ihren Hals zuzieht, geschieht etwas Unglaubliches. Der Killer verschont sie, selbst auf die Gefahr des eigenen Untergangs. Jetzt bemerkt Sina, dass sich hinter seiner kalten Fassade ein empathischer und sensibler Mensch verbirgt, und empfindet bald mehr für ihn. Da inzwischen ein weiterer Spezialist mit der Lösung des Problems beauftragt wurde, beschließt sie, dem Abtrünnigen Schutz und Unterkunft zu gewähren. Damit beginnt für beide ein Wettlauf mit dem Tod.
Ein Cosy-Krimi
Titel: Monstratorem – Geschichte einer unbeschreiblichen Liebe
© 2018 by Anja Gust
Idee und Umsetzung: ©Anja Gust, [email protected]
Der Text wurde anhand der Erstausgabe AAVVAA Verlag, Hohen Neuendorf, neu durchgesehene.
2. Auflage 2019
Umschlaggestaltung/ Idee und Umsetzung: by Anja Gust unter Verwendung des Motives: Shutterstock, Inc. / NY 10118 USA - Illustrationsnummer: 44075842 - Pencil sketch of God and Adam's hands from the Sistine Chapel ceiling. (Bildquelle: aleisha)
Lektorat: Jörg Querner, Anti-Fehlerteufel
Korrektorat: Lisa Zacher
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages gestattet. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Sämtliche Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
„Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.“
F. Nietzsche
Vorwort
Auch wenn ich nichts mehr hasse als Vorworte, komme ich in diesem Fall nicht umhin. Man wird sich bei diesem Titel sicher fragen, was ein ‚Monstratorem‘ genannter Fingerzeig mit einer unbeschreiblichen Liebe verbinden soll? Ja mehr noch, wieso widmet man ihr ein ganzes Buch, wenn sie doch unbeschreiblich ist? Genau darin liegt das Problem. Gerade diese Unbeschreiblichkeit verlangt ein ganzes Buch und selbst das umreißt nur im Ansatz, was beide Protagonisten umtreibt. In diesem Fall ist es wieder einmal der höchste Grad der Unvernunft, der jeden Unbeteiligten verschreckt, unsere beiden Protagonisten aber zusammenschweißt. Vielleicht verlangt der Weg zum Glück ein gehöriges Maß an Unvernunft, um zu seiner Bestimmung zu finden? Aber da sich Liebe bekanntlich nicht rational erklären lässt, will ich mit dieser Geschichte das Unmögliche, wenn schon nicht erklären, so doch zumindest fassbar machen. Sicher wird kaum jemand behaupten, alle nur denkbaren Varianten einer Liebe zu kennen, denen man das Prädikat unbeschreiblich oder gar unmöglich zubilligen könnte. Doch dieses Beispiel ist so außergewöhnlich, dass es beides erfüllt und schon deshalb eine Niederschrift verdient.
© 2018 Anja Gust
Die untergehende Sonne über den Bergen des Diavolezza-Massivs in der Nähe Pontresinas verwandelte den Himmel in eine Feuersbrunst aus kupfernen Wolkenfetzen. Ihre schrägen Strahlen entzündeten die schneebedeckten Gipfel mit sprühenden Funken und verliehen ihnen einen absonderlichen Glanz. Der Wind hatte sich erhoben und rauschte durch eine Tannenschonung. Unverhofft traten zwei Hirsche aus der Deckung, hielten majestätisch inne und lauschten. Behutsam näherten sie sich einem Bachlauf, der sich wie ein silbern schimmerndes Band durch das Tal schlängelte und irgendwann in dunstiger Ferne verlor. Die Tiere senkten die Hälse und tranken.
„Möge das Wild unbesorgt äsen und der Atem Gottes über ihr Fell streichen“, flüsterte Baron von Billow ergriffen, der die malerische Szene von seiner Veranda aus beobachtete.
Sein Gast, der ehemalig hochdekorierte Kundschafter der Abteilung A XII der Hauptverwaltung für Aufklärung, Diethard Säuberling, ein stämmiger Mann mit blondem, schütterem Haar, hoher Stirn und auffallend stechenden Augen, stimmte ihm zu. Allerdings dachte er sich seinen Teil. Was blieb ihm auch anderes übrig, kannte er doch die Neigung dieses sentimental verschrobenen Aristokraten zu romantischen Anwandlungen, selbst wenn man sie ihm gar nicht zutraute.
Der Baron war eher klein, unscheinbar und hatte einen leichten Buckel. Sein Gesicht war recht gewöhnlich, drückte nichts weiter aus und wirkte gar etwas vertrottelt. Man hätte ihn glatt für einen beflissenen, mit Ärmelschonern und Mütze versehenen Postbeamten halten können, dessen schlechtsitzendes Gebiss für eine feuchte Aussprache sorgte. Schon deshalb war eine zu große Nähe nicht ratsam, besonders bei längeren Debatten. Er gab sich gelehrtenhaft zerstreut, wobei sein gewaltsam unterdrückter Hochmut immer wieder hervorbrach und ihn als das auszeichnete, was er war: ein pedantischer, gern in Allegorien schwadronierender Möchtegernschöngeist.
Natürlich pflegte er als Mäzen und Poet höchste Umgangsformen und schätzte Stil und Eleganz. Er las auch gern schwere Kost, vor allem Nietzsche und Schopenhauer. Sogar an Kant hatte er sich schon herangewagt, selbst wenn er kaum etwas davon verstand. Doch gerade das verlieh ihm noch mehr Würde. Kein Wunder, dass er Geschwätzigkeit verachtete und Geistreichelei liebte, selbst wenn er beides nicht immer zu trennen vermochte.
Allerdings tat man gut daran, ihn nicht darauf anzusprechen. Folglich verzichtete Säuberling vorerst darauf, dessen Seelenlabsal durch die Nichtigkeit seines Problems zu stören, auch wenn er eigens deswegen aus Mailand angereist war. Durch den entstehenden Eindruck der Beiläufigkeit beließ er den Baron bewusst im Glauben an dessen heile Welt mit einer nur ihm vorbehaltenen einzig gültigen Wahrheit. Und Billow dankte es ihm durch sein Wohlwollen, obwohl er den Grund des Besuches längst ahnte, oder genauer, fürchtete.
Doch statt endlich zur Sache zu kommen, wie es eigentlich zu erwarten war, zeigte der Hausherr keine Eile. Lieber führte er seinen Gast in bester Plaudermanier in das großzügige Kellergeschoss – einem im römischen Stil mit weißem Alabaster verkleideten Gewölbe, dessen Deckenbögen mit feinstem Berkovitza-Marmor überzogen waren. Die Wände bestachen durch sorgsame Stuckarbeiten. Hier befand sich die hauseigene Sauna.
Unter gedimmtem Licht aus gusseisernen, schwarzverschnörkelten Lampen an den Wänden entkleideten sich die beiden Herren. Lediglich mit einem um die Hüften geschlungenen Baumwolltuch platzierten sie sich bäuchlings auf zwei Liegen aus massivem Mahagoni mit Auflagen aus schneeweißem Byssus. Der Baron mochte Antikes und trank seinen Tee entsprechend aus einem silbernen Becher mit aus griechischen Mythologien entlehnten Ziselierungen.
Danach wies er eines der im Hintergrund wartenden, spärlich bekleideten Mädchen an, mit der Massage zu beginnen. Sichtlich genoss er die Geschmeidigkeit der flinken Hände, dieses Prickeln und Kribbeln, was seinen Kreislauf wieder in Schwung brachte, so dass er sich wonnevoll in den Arm biss. Augenblicklich fühlte er sich um zehn Jahre verjüngt und könnte glatt einen Ochsen niederringen, zumindest theoretisch.
Sein Gast tat es ihm gleich und ließ sich auf selbe Weise durchkneten. Jedoch schien er, im Gegensatz zu seinem Gastgeber, nicht so recht bei der Sache. Er blieb sehr nachdenklich und verspannt, weshalb seine Blockierungen einfach nicht zu lösen waren. Selbst als sein Mädchen zu weiteren Aktivitäten ansetzte und dazu langsam ihr Tuch von den Hüften löste und damit einen makellosen Körper entblößte, drückte er sie weg.
Das entging dem Hausherrn nicht und er begann sich nach Säuberlings Befinden zu erkundigen. Immerhin beliebte der Baron in seiner Großzügigkeit, jedem ankommenden Besucher allen nur denkbaren Luxus zu bieten, selbst erotischen. Schließlich war man hier unter sich, und die eigens dazu verpflichteten mandeläugigen Schönheiten aus Borneo verstanden sich vorzüglich auf weitere Künste. Dennoch beinhaltete die Atmosphäre etwas Beklemmendes, Unwirkliches. Hier wurde nicht gesprochen, nicht mal geflüstert. Man hatte nur zu gehorchen, vor allem aber zu funktionieren. Der Baron machte dem Mädchen ein Zeichen, worauf sie mit der Massage innehielt und eifrig Tee nachschenkte.
„Was haben Sie denn, Säuberling? Gefällt Ihnen die Kleine nicht?“, fragte er seinen Gast verwundert. Diesem blieb daraufhin nichts anderes, als mehr oder weniger herumzudrucksen, was den Hausherrn zur allgemeinen Überraschung ganz von selbst zum Thema führte.
„Und Sie meinen, der Vorfall könnte für uns unangenehm werden?“
„Nun ja, wenn Sie mich so fragen …“, erwiderte sein Gast und zog ein besorgtes Gesicht.
„Ich frage Sie so, also antworten Sie bitte auch so, Säuberling!“, fuhr ihn der Baron unerwartet scharf an.
„Wir haben ein Problem mit der Sicherheit!“, räumte dieser nach einigem Zögern ein.
„Das heißt, Sie haben die Schlüssel noch nicht gefunden?“, folgerte daraufhin der Baron.
„Leider nein. Dabei haben wir alle nur möglichen Varianten durchgespielt und bestimmt nichts ausgelassen. Ich versichere Ihnen, Herr Baron, in Erwägung aller Umstände hätte das gar nicht passieren dürfen. Das ist mir unbegreiflich!“
Es folgte ein längeres Schweigen. Dieses wurde nur von den in Leinöl getauchten Händen der beiden leichtfüßigen Masseusen unterbrochen, sobald das Gleichmaß ihrer Massage durch leichtes Klopfen zur Lockerung der Muskulatur in kreisende Bewegungen überging. Und wie bogen und wanden sie sich dabei mit ihren Körpern gleich einer eigens dafür entworfenen Choreografie. Da glitt schon mal eine unbedeckte Brust über eine Wange oder verlockte ein leichtes Lippenspiel am Ohr zur Sünde. Das beherrschten sie und vermochten dem alten Bock schon mal ein gelegentliches „Ah“ oder „Oh“ zu entlocken. Einmal bäumte er sich sogar auf, um gewisse sich im Schritt des Mädchens abzeichnende Details genauer zu betrachten (er war nämlich kurzsichtig). Danach sank er in lustvoller Verzückung mit dem Ausruf: ‚Che grazia meravigliosa‘1 wieder zurück und starrte selig lächelnd vor sich hin.
Säuberling hingegen blieb völlig unterkühlt, obgleich sich seine kaffeebraune Masseuse nicht weniger bemühte. Im Gegensatz zum Baron wusste er längst, wie kompliziert die Angelegenheit war und dass sich deren Tragweite noch gar nicht abschätzen ließ. Aber es lag wohl in der Natur der Sache, unangenehme Dinge zu verharmlosen, vor allem dann, wenn sie von besonderer Brisanz waren. Nun hätte er durchaus dabei bleiben und den Baron in seiner Hoffnung belassen können, zumal er selbst nicht der direkte Verursacher war. Doch schon aus persönlichen Gründen wollte er die Sache so schnell wie möglich bereinigen.
Freilich wäre der Verlust von fünf Schlüsseln durchaus zu kompensieren. Doch darin bestand nicht das Problem. Dieses ergab sich ganz einfach aus dem damit verbundenen Code, der im Fall seiner Dechiffrierung unüberschaubare Folgen für die Sicherheit des ganzen Syndikats bewirken könnte. So weit dachte Herr von Billow natürlich nicht. Dafür hatte er ja auch seine Leute.
Außerdem musste er nicht wissen, dass sich im Syndikat längst ein Maulwurf von der Konkurrenz tummelte. Nachdem dieser die Schlüssel an sich gebracht und in verschiedene Gartenzwerge versteckt hatte, um sie seinem Auftraggeber zukommen zu lassen, wurden sie ihm jedoch gestohlen und über eBay in mehrere Länder verkauft. So jedenfalls seine letzte Aussage kurz vor dessen Exekution.
„Ach, was reden Sie da“, winkte der Pate unwirsch ab und wies das Mädchen an, mit der Massage fortzufahren. „Ich sehe noch keine Veranlassung, den Code zu ändern und damit die ganze Software umschreiben zu lassen. Sie wissen wohl nicht, was das kostet, ganz zu schweigen von unserem Imageschaden! Sie entwickeln nur das Unwahrscheinlichste aller Szenarien. Ich für meine Person glaube jedenfalls nicht daran. Selbst wenn jemand diese Schlüssel durch Zufall fände, wüsste er damit kaum etwas anzufangen. Er würde sie also wegwerfen.“
„Da mögen Sie durchaus recht haben, Herr Baron“, wandte sein Gast in aller Bescheidenheit ein. „Und ganz bestimmt würde es auch so sein. Dennoch bleibt ein unverantwortliches Restrisiko, das wir unterbinden müssen. Daher schlage ich vor, dass wir in dieser Frage auf Nummer sicher gehen. Wir sollten unbedingt einen unserer Spezialisten darauf ansetzen.“
„Haben Sie denn einen?“
„Durchaus. Einen sehr geeigneten sogar.“
„Sie machen mich neugierig.“
„Wenn es nicht übertrieben klänge, würde ich jetzt sagen, ich habe ihn zu dem gemacht, was er jetzt ist!“
„Oho, das hört sich sehr vielversprechend an“, frohlockte von Billow und schlürfte genüsslich seinen Tee. „Und was wissen wir zum möglichen Versteck der Schlüssel?“
„Nach unbestätigten Angaben sollen sich diese in kleineren Fächern von Gartenzwergen befinden, die zur allgemeinen Gartendekoration dienen.“
„Gartenzwerge?“ Der Baron kicherte. Dann aber runzelte er nachdenklich die Stirn. „Das ist interessant.“ Sein Nicken und die anerkennende Handbewegung bekundeten darüber hinaus einen gewissen Respekt.
„Das kann man wohl sagen“, stimmte ihm Säuberling zu. „Wer kommt schon auf die Idee, ausgerechnet in solchen Figuren nach einem Schlüssel zu suchen.“
„Da haben Sie recht. Zweifellos niemand. Jedenfalls kein normaler Mensch“, setzte der Baron lachend hinzu und klapste dem Mädchen vergnügt auf den Hintern mit der Frage, wo sie den kleinen Zwerg wohl suchen würde. Natürlich verstand sie nicht oder wollte es nicht, sondern lächelte nur gleichmütig wie alle diese Mädchen, die ihre Reaktionen offenbar programmiert bekamen. Trotz allem entging dem Paten die Unsicherheit seines Gastes nicht und er begann zu ahnen, dass dies nur die halbe Wahrheit war. Er kannte diese Finessen und es ermüdete ihn, sie so schnell zu durchschauen, wie er überhaupt diesen ganzen Kerl längst durchschaut hatte.
Im Bestreben, darüber hinwegzutäuschen, kam Säuberling auch gleich wieder zur Sache. „Genau genommen benötigen wir nur einen einzigen Schlüssel. Dann kann der Code nicht geknackt werden“, erklärte er weiter. „Die sich dann ergebende Kombinationsvielfalt wäre so groß, dass kein Rechner der Welt sie mehr lösen könnte. Nach unseren Informationen sind die relevanten Figuren nach Polen gelangt. Dort soll ein größerer Posten von einem uns nur unter dem Vornamen ‚Volker‘ bekanntem Deutschen käuflich erworben und nach Schleswig-Holstein gebracht worden sein; genauer eingegrenzt wird der Raum Angeln bis ins Südholsteinische. Hier verliert sich die Spur.“
„Das ist doch schon mal was!“, bemerkte der Baron anerkennend und nahm einen weiteren Schluck von seinem Tee. „Jetzt haben Sie mich mit Ihrem Spezialisten neugierig gemacht. Sagen Sie, kenne ich ihn?“
„Nein. Er hatte noch nicht das Vergnügen, bei Ihnen vorstellig zu werden“, erklärte Säuberling daraufhin.
„Ist das jetzt ein Vorwurf?“ Der Baron zog verwundert die Brauen hoch.
„Mit Verlaub, keineswegs. Nur muss er sich erst noch ein paar Sporen verdienen. Ich bin zuversichtlich, dass er auf dem besten Wege dazu ist.“
„Mein lieber Freund! Wie Sie das sagen! Richtig herzlos, als hätten Sie gar kein Gefühl“, tadelte ihn der Hausherr mit fröhlichem Schmollen.
„Glauben Sie mir, Gefühle sind bei seiner Tätigkeit nur hinderlich. Wie Sie wissen, muss er Dinge tun, die ihm womöglich widerstreben. Ich kann Ihnen nur versichern, er wird alles veranlassen, was nötig ist.“
„Wie alt ist er?“
„Anfang dreißig.“
„Und wie viele hat er schon ‚geschafft‘?“
„Ein Dutzend, denke ich mal.“
„Sie nehmen die Angelegenheit persönlich, nicht wahr?“ Der Pate horchte auf.
„Ja, das tue ich.“
Den Baron verwunderte diese unerwartete Offenheit, welche ihn ahnen ließ, dass es damit noch mehr auf sich hatte. Er entließ das Mädchen mit einem Wink und zog sich wieder an. Sein Gast tat es ihm gleich. Danach stiegen sie die kunstvolle Wendeltreppe wieder hinauf und begaben sich in den Salon zurück, wo es wie im Café „Macarons“ in Paris nach Croissants und Jasmintee roch.
Der Hausherr hatte nebenbei ein Faible für frankophile Cuisine und war für seine lukullischen Genüsse bekannt. Als Künstler und Ästhet, wie er sich sah, vertrat er den Standpunkt, dass ein gepflegter Geist einer stilvollen Lebensart entsprang und umgekehrt. Er sah darin eine tiefe Dialektik, die am Ende zu einer inneren Vervollkommnung führte. Schon deshalb verabscheute er jede Form von Gewalt und empfand sogar eine tiefe Verachtung für all diejenigen, die derart emotionslos reagieren konnten.
Freilich äußerte er das nicht, wie er überhaupt vieles nicht sagte, worüber er insgeheim sinnierte, auch über seinen heutigen Gast. Aus seiner Sicht war dieser nichts weiter als ein Versager, der seinen Zenit überschritten hatte und schon längst hätte eliminiert werden sollen. Wenn es bisher noch nicht geschah, dann nicht aus Respekt oder gar Mitgefühl, sondern einzig aus Bequemlichkeit. Jetzt aber war die Entscheidung über dessen Schicksal gefallen.
Selbst wenn nach wie vor jener Zweckoptimismus galt, der einen guten Paten auszeichnete, hatte er ihn abgeschrieben. Schon deshalb lud er seinen Gast zu einem Cointreau in den Salon ein, in der Absicht, noch Weiteres über die anstehende Vorgehensweise zu erfahren. Da jener aber zögerte und der Hausherr längst fühlte, dass Diethard Säuberling etwas auf der Seele brannte, versuchte es der Baron mit Nonchalance und einigen Verweisen auf eigene Schwächen.
Ob es nun an der besinnlichen Atmosphäre bei Kerzenschein und Sandelholzduft oder seiner vertraulich lockeren Art lag, war schwer zu sagen. In jedem Fall begann ihm sein Gast daraufhin tatsächlich einige Dinge zu gestehen, die er so nicht erwartet hätte. Nicht dass er manches von dem, was er tat, bereute, räumte er dabei zögerlich ein. Vielmehr bedauerte er, in manchen Situationen nicht stark genug geblieben zu sein.
„Wie meinen Sie das?“, wollte der Baron sogleich wissen.
„Haben Sie schon mal jemanden sterben sehen, der nicht sterben will? Es ist weniger das Mitgefühl für den Sterbenden als die Gewissheit, damit etwas Vollendetes, Einmaliges und Unwiederbringliches für immer auszulöschen. Wenn man demjenigen in die Augen schaut und die Erwartung auf das Ende darin lesen kann, ist es, als würde man einen Teil von sich selber töten.“
Der Baron zeigte sich beeindruckt, wog den Kopf hin und her und schien ernsthaft zu überlegen. Dann sah er sein Gegenüber mit festem Blick an. „Das ist sehr bemerkenswert und beweist, dass Sie sich ihre Menschlichkeit bewahrt haben. Das findet man heutzutage selten“, lobte er. „Wissen Sie, Skrupel sind niemals ein Zeichen von Schwäche, sondern im Gegenteil von Stärke, wenn man bedenkt, dass man immer einen Grund für ein Befinden voraussetzt. Und dieser wiederum bedarf einer Motivierung, um sich seiner bewusst zu werden. Je stärker diese ist, je geringer die Gewöhnung an eine Ursacheninterpretation als Hemmnis ihrer Erforschung. Wahrlich ein Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen ist. Aber glauben Sie mir, niemand von uns tötet aus Vergnügen. Es ist immer eine dahinterstehende Notwendigkeit, und Sie können mir glauben, ich hasse nichts mehr als gerade diese. Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit.“
Daraufhin stießen die beiden Herren an und leerten ihre Gläser, obwohl Baron von Billow schon jetzt Diethards Verlust bedauerte. Fast hätte Säuberling seine Zuneigung gewonnen. Aber ein Koordinator, der auf solche Weise die eigenen Fehler korrigieren musste, war nicht länger tragbar.
Kein Wunder, dass der Baron unmittelbar nach diesem Treffen eine bestimmte Nummer wählte und die nötige Anweisung gab.
Danach betupfte er pedantisch die manikürten Finger mit einer vorgewärmten Zitronenserviette und las sorgsam ein kaltes Stück Wachtelfleisch vom Teller auf. Der Kaviar folgte. Seine brillantgeschmückte Rechte langte in die Traubenschale. „Nun gut“, räusperte er sich wenig später. „Vielleicht sollte ich noch etwas meditieren. Das beruhigt den Geist. Denn, wie sagte einst Chrysippos: ‚Man soll leben mit gehöriger Kenntnis des Herganges der Dinge in der Welt‘.“ Von Billow starrte aus dem Fenster in den großzügigen Garten des Anwesens und war, wie immer, mit sich sehr zufrieden.
Mit Blüten im Portemonnaie fuhr er los. Die Adresse war leicht zu merken. Etwas aufzuschreiben wäre unprofessionell. Dank GPS fand er die Straße punktgenau, wobei er den blauen Audi durch typische Wohnviertelgassen mit Häusern aus der Jahrhundertwende manövrierte. Diese wirkten nostalgisch, verschroben, nicht unbedingt anheimelnd und doch imposant.
Aus Sicherheitsgründen parkte er den Wagen ein paar Ecken weiter und bemühte sich um Unauffälligkeit. Unter der Kofferraumabdeckung wähnte er sein Bargeld sicher versteckt, hinzu kam eine Beretta und reichlich Falschgeld. Buchen säumten den Fahrbahnrand wie salutierende Posten.
Als er heute Morgen losfuhr, war der Mond noch zu sehen. Jetzt standen die Zeiger der Uhr bereits auf elf. Zielstrebig begab er sich zur besagten Hausnummer. Die Wohnung befand sich im vierten Stock, ohne Namensschild und lediglich mit einem silbernen Sternchen versehen. Ansonsten schien alles normal: Altbau, Kinderwagen im Flur und Bohnerwachsgeruch. Er klopfte wie vereinbart dreimal kurz und zweimal lang. Jemand entriegelte die Tür.
„Jacqueline?“, fragte er.
„Ja, komm herein“, erwiderte das Mädchen mit den hochgesteckten Haaren, das ihm öffnete. Sie lächelte freundlich, wobei ihre brombeerroten Lippen mit ihrer auffallenden Blässe kontrastierten und ihr eine puppenhafte Kälte gaben. Zügig verschloss sie die Tür. Dann führte sie ihn, vorbei an einer Kommode, auf der eine Visitenkarte lag, ins Gästezimmer – einen zweckmäßig eingerichteten Raum mit schweren braunen Samtstores und süßlichem Deodorantgeruch. Die Gardinen waren zugezogen und das rötlich gedimmte Licht erschien hier milchig dumpf, obwohl es draußen taghell war. Typisches Asthmawetter für einen nebeligen Tag Ende März in Kiel.
Das Zimmer war angenehm temperiert, seine Kehle hingegen trocken. Erst wollte er um ein Glas Wasser bitten, verkniff es sich aber. Mit einem sonderbaren Gefühl zwischen prickelnder Erwartung und Abscheu betrachtete er die tigerimitierte Tagesdecke des Bettes, den Spiegel an der Decke und die mit pinkfarbenem Plüsch gepolsterten Handschellen am Bettgiebel. Das ließ einiges erwarten. Es gab noch einen Durchgang mit Vorhang, zwei Sessel und einen Beistelltisch mit anderweitigen ihm nicht näher bekannten Accessoires.
Im mannshohen Wandspiegel gegenüber der Spielwiese erkannte er sich wieder, gleichwohl wanderte sein Blick zu ihr zurück. Sie war etwa Mitte zwanzig, schlank, blond, mit langen, wohlgeformten Beinen und einer hohen, jugendlichen Brust. Zudem hatte sie einen stolzen Gang, was auf ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verwies. Das war ihm sofort aufgefallen, als sie vor ihm hergelaufen war und aufgrund des beengten Flurs zur Vorsicht mahnte.
Der Blick ihrer großen, hellen Augen hingegen wirkte freundlich und sanft, aber auch irgendwie unbestimmt und harmonierte absolut nicht mit ihrem Lächeln. Wie alle Mädchen ihres Gewerbes trug sie einen dunklen, mit silbernen Noppen besetzten Lederbody, der ihre Figur aufreizend betonte, dazu erwartungsgemäß Strapse. Die schwarzen High Heels gefielen ihm. Garantiert sähe sie ohne diesen ganzen Fummel wie jede andere aus und stand irgendwo im Supermarkt in der Schlange oder wartete auf den Bus. Allein dieser Gedanke torpedierte sein eigentliches Verlangen. Doch zur Umkehr war es zu spät.
„Dreißig Minuten fünfzig Euro, das ist mit Kondom“, riss sie ihn aus seinen Gedanken. „Hundert ohne. Sonderwünsche kosten extra.“
Wortlos zog er das Portemonnaie heraus und legte großspurig einen gelben Schein auf den Beistelltisch. „Der Rest geht aufs Haus“, bemerkte er.
Über die unerwartete Großzügigkeit erstaunt, hellte sich ihr Gesicht auf. Sogleich bereitete sie alles für eine exklusive Bedienung vor. Ihr Anblick faszinierte ihn. Es erinnerte ihn an die Aphrodite von Milos, deren Statue er schon mal irgendwo gesehen hatte. Und wäre ihr Körper jetzt noch von bläulichem Nebel umwölkt und von diffusem Licht bestrahlt, man hätte sie in der Tat für eine Göttin halten können.
Doch das war nur Fassade. Keine Frau takelte sich derart grundlos auf. Alles war zweckbestimmt und diente einem einzigen Ziel. Wer weiß, wie sie morgens um fünf nach einer durchzechten Nacht wirkte. Er hatte mal irgendwo gehört, dass eine Frau nur dann wirklich schön ist, wenn sie auch innerlich zu glänzen versteht. Wie das hier funktionieren sollte, blieb ihm unklar.
„Mach dich schon mal fertig, ich bin gleich wieder da“, forderte sie ihn auf und wies kopfnickend zum Bett. Dann verschwand sie hinter dem Vorhang, der offenbar in ein Badezimmer führte.
Er zog Schuhe und Socken aus, welche er akkurat unter den Stuhl platzierte. Der Rest folgte auf der Stuhllehne drapiert. Dabei betrachtete er seine Hände mit den filigran gezeichneten Venen. Sie waren sehr schlank und weich und konnten sehr zärtlich sein, aber auch wie Schraubzwingen zupacken. Doch darüber mochte er jetzt nicht nachdenken.
Entkleidet legte er sich auf das Bett, zog ein weißes Baumwolllaken bis zum Bauch und verschränkte beide Arme hinter dem Kopf. An das trübe Licht hatte er sich rasch gewöhnt. Allerdings vermisste er ein Kissen. Seltsam angespannt betrachtete er den goldenen Deckenspiegel, in dem sich sein kantiges Gesicht zeigte, welches von dunkelbraunem Haar umrahmt wurde.
Man sagte, es wirkte maskulin-herb. Wie immer das auch gemeint war, hässlich fand er sich nicht. Dazu hatte er schon zu viele Angebote bekommen, sogar von durchaus attraktiven Damen, die von Hause aus wählerisch sein konnten. Manche fanden ihn interessant, andere etherisch, ohne das jedoch näher zu erklären. Dabei störte ihn schon immer die seiner Meinung nach zu längliche Nase, die in Verbindung mit den hohen Wangenknochen seinem Gesicht etwas Aristokratisches, beinahe Überhobenes verlieh. Auch so etwas hatte er schon wiederholt gehört. Selbst wenn er nichts weiter darauf gab, störte es ihn, denn er war irgendwo auch verdammt eitel.
Plötzlich sinnierte er über die Zukunft. So etwas passierte ihm öfter, meist in den unmöglichsten Situationen, so wie jetzt. Dann fragte er sich, was ihn wohl erwartete, wenn er weiter so sträflich leichtfertig blieb und mit seinem Schicksal spielte. Aber vielleicht wäre es besser, solche Gedanken schnell wieder zu vertreiben. Sie verwirrten ihn und zerstörten alles.
Für einen Augenblick schloss er die Augen und sog die Luft tief ein, um sie möglichst lange innezuhalten. Das tat er immer, wenn er eine starke innere Anspannung empfand. Meist wurde er danach ruhiger. Heute jedoch gelang es ihm nicht. Mit einem Mal hatte er das Gefühl zu schweben, um danach wieder herabzusinken. Selbst die Wände drohten einzustürzen mit der grässlichen Vision eines qualvollen Erstickens. Er war irritiert, empfand jedoch keine Angst. Eine seltsame Beklommenheit erfasste seine Seele mit dem Gefühl, etwas Verlorenes auf wundersame Weise zurückzubekommen und sei es nur für einen winzigen Moment. Es war die Sehnsucht nach Liebe und Zweisamkeit, Vollkommenheit und Harmonie – kurzum, all das, was er bisher entbehren musste und schon deshalb bei anderen nicht ertrug. Dieses Gefühl setzte sich in seinem Herzen fest wie eine eiserne Klammer und es gab kein Mittel, sich davon zu befreien. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren.
Das Mädchen kam zurück. Sie duftete nach Moschus und hatte den Lederbody gegen weinrote Spitzenunterwäsche getauscht, dessen Ränder Pailletten säumten. Sogleich begann sie, in ihren High Heels um ihn herumzutänzeln und dabei mit lasziv gesenkten Lidern langsam den linken, dann den rechten Träger des BHs abzustreifen. Wahrlich die perfekte Show. Alles saß, nichts war dem Zufall überlassen und folgte einer kalten Berechnung. Es war die Art, wie sie die Hüften wog, die Brust herausdrückte und sich zutiefst obszön verbog. Ihre bewusst zur Schau getragene Selbstverliebtheit, samt dem erstaunt berückten Ausdruck eines sich ihrer Fertilität bewussten Mädchens, verriet ihre Lust, sich in eigenartig wollüstiger Trance darzubieten. ‚Nun komm schon, spring an, ich will, dass es schnell geht‘, war darin zu lesen. Doch er dachte nicht daran.
Vielmehr starrte er sie mit jener Skepsis an, die er für jede käufliche Liebe empfand. Doch irgendetwas stimmte nicht. Es lag an ihren herzförmig türkisfarbenen Ohrsteckern, die irgendwie nicht zu ihr passten. Gleich einem Rudiment aus einer anderen Welt störte es die nahezu perfekte Show. Das befremdete ihn. Im Gegensatz zu vorhin schimmerte ihr Gesicht jetzt rosig. Es erinnerte ihn an ein frischgeborenes Ferkel, das er einst als Lausejunge zuhause aus dem Stall gehoben hatte. Der weiche Schweinebauch hatte nach Erde, Milch und Stroh gerochen, während er das Tier an sich gedrückt hatte. Verbunden mit ihren kindlichen Ohrsteckern, erweckte diese Erinnerung eine eigenartige Assoziation, die er hier nicht erwartet hätte und ihn zutiefst irritierte.
Mit knappem Blick deutete er aufs Bett, um dieses Spiel zu beenden. Inzwischen völlig entblößt, legte sie sich zu ihm und spulte routiniert ihr Repertoire ab, indem sie an seinem Ohrläppchen knabberte, Hals und Nacken liebkoste und schließlich seine Brust streichelte. Dabei hauchte sie ihm ihren heißen Atem ins Ohr und registrierte amüsiert jeden Schauer, der über sein bleiches Gesicht lief. Dann wieder glitten ihre geübten Finger an verbotene Stellen entlang, um sein Feuer dosiert zu entfachen. Hin und wieder verklärten sich seine blauen Augen.
Jetzt war es so weit. Sie schob ihren Schenkel seitlich über ihn und ließ ihn das leichte Stacheln ihrer Intimrasur fühlen. Jeder andere hätte die Beherrschung verloren. Ihn aber beschäftigte nur die Frage, wie oft sie es hier bereits getrieben hatte und was sie dabei empfand.
„Du bist schön“, schmeichelte sie und ließ ihre Finger liebkosend über seinen Bauch gleiten. Dennoch sah sie an ihm vorbei.
‚Heuchlerin‘, dachte er und fragte sich, warum die Menschen niemals ohne eigenes Interesse loben. Würde sie in einigen Jahren nach zahllosen verglühten Zigaretten, Schnaps und anderen Drogen, verkommen vom Alltag und erdrückt von der Last der zahlenden Freier, immer noch so anmutig aussehen? Doch er verdrängte die Gedanken und ließ sich auf das hier gebotene Schauspiel ein.
Spielerisch öffnete sie ihr wasserstoffblondes Haar, das lockig herabfiel und an manchen Stellen einen rötlichen Ansatz verriet. Ihre Haarpracht bedeckte weich ihre weiblich formschönen Attribute. Warm und sanft wie Wellen eines sonnenverwöhnten Meeres fühlte sie sich an. Ihre silberne Haarspange ließ sie auf den Boden gleiten, während er sich auf den Rücken zurücklegte und versuchte zu entspannen. Worte waren von nun an überflüssig.
Während sie ihn nun wie eine Katze bespielte, bemerkte er im Deckenspiegel ihren sich grazil windenden Rücken und den formschönen Steiß. Dabei fiel ihm die bunte Tätowierung in Form einer sich windenden Schlange auf, die sich von ihrem Hals bis zur Hüfte erstreckte. Nein, das passte nicht. Mit diesem Stigma degradierte sie ihre naturgegebene Schönheit zur Farce. Das half ihm jetzt bei der dringend nötigen Abkühlung. Schließlich musste es nach seinen Regeln ablaufen.
Fest zog er sie an sich heran. Das Mädchen lächelte ihn weiterhin an, dennoch machte sie sich im Rücken steif, wenn auch unmerklich. Ihre Blicke trafen sich. Eine eigenartige Härte in seinen Zügen ließ sie zögern. Irritiert sah sie zu Boden. Er registrierte ihre Unsicherheit. Diese Ergebenheit gefiel ihm, so dass er sich wieder aufsetzte.
Er hob ihr Kinn und betrachtete ihre graugesprenkelten Augen. Konnte er darin lesen? Unmöglich. Nichts außer Kälte und Leere, vor allem aber die erschreckende Abgestumpftheit meinte er darin zu erkennen.
„Küss mich!“, befahl er ihr.
Das Mädchen stutzte. „Wie jetzt? Auf den Mund?“
„Ja, natürlich! Wie denn sonst?“, erwiderte er entgeistert. „Oder meinst du, ich gebe mich mit Halbheiten zufrieden?“
„Wie kommst du denn auf die Idee?!“
„Ich möchte es einfach, weil ein Kuss etwas Sinnliches ist“, erklärte er ihr.
„Ist das jetzt ein Scherz?“ Sie starrte ihn ungläubig an.
„Keineswegs.“
„Das gehört nicht zu meinen Leistungen“, entgegnete sie kurz, wobei er sah, wie verlegen sie wurde.
„Dann frage ich mich, wofür ich dich bezahle!“
„Bestimmt nicht fürs Küssen!“, erwiderte sie leicht schnippisch.
„Deine Offenheit überrascht mich“, gab er zu.
„Manchmal ist es durchaus nötig.“
„Manchmal?“
„Ja, in solchen Situationen zum Beispiel, wenn ein Freier so etwas fragt.“
„Bekommst du oft solche Fragen gestellt?“
„Eher selten.“
„Hast du eigentlich keine Angst?“
„Ja schon, aber sie gehört zum Geschäft. Sag mal, was fragst du mich für komische Sachen? Willst du mich jetzt, oder nicht?“
„Erst wenn du mich küsst“, wiederholte er und erwartete ihre Reaktion.
„Willst du mich veräppeln?“, begann sie sich plötzlich zu echauffieren und wich erschrocken zurück. „Was soll das eigentlich werden?“
„Wieso zierst du dich? Kriegst auch einen Extrabonus. Was ist jetzt?“
Sie schien zu überlegen. Ihr Gesicht wirkte plötzlich sehr bedrückt, als müsste sie sich zu etwas überwinden.
„Nun gut. Kostet aber extra!“, gab sie schließlich nach, ohne einen Grund dafür zu benennen.
Nach einigem Zögern schlang sie den Arm um seinen Hals und sog an seinen Lippen. Ihr Pfefferminzgeschmack war unerträglich. Was sollte es überdecken? Und tatsächlich. Abrupt ließ er von ihr ab. Dafür sollte er sie ohrfeigen. Aber er hatte es ja so gewollt. Weshalb erregte er sich? Nein, dafür taugte sie nicht, wie sie überhaupt für die ‚wahre Liebe‘ nicht geschaffen war. Wie konnte er nur so töricht sein. In der Gosse gab es keine Liebe und dieser Ort war der letzte, wo er sie finden konnte. Das Einzige, was zählte und wofür hier bezahlt wurde, waren körperliche Reaktionen, frei von jeder Sinnlichkeit. Er hätte es wissen müssen.
Verstört packte er sie am Oberarm und fixierte ihre grauen Augen. Sie starrte ihn erschrocken an, meinte trotzdem zu ahnen, was jetzt zu tun war. Mit der Geschmeidigkeit einer Katze glitt sie an ihm herab, während er sich zurücklehnte und zu entspannen versuchte. Ihr Haar kitzelte. Dennoch hemmte ihn etwas. Echte Liebe war ein Geschenk, das hier nicht zu bekommen war. Da er sich trotz aller Mühe nicht in den dafür nötigen Zustand versetzen konnte, versuchte es das Mädchen manuell. Für einen Moment dachte er daran, sie für diesen Betrug an der Seele zu erwürgen. Demonstrativ umklammerte er ihren zarten Hals und ergötzte sich an ihrer Angst. Nur ein kleiner Druck und es wäre vorbei.
Dann aber ließ er von ihr ab. Nein, das war es nicht und würde es auch niemals sein. Nicht so. Dann besser gar nicht. Zu ihrer Verwunderung verzichtete er auf Weiteres. Ohne jede Erklärung zog er sich wieder an, steckte ihr noch einen Schein zu – schließlich hatte er davon genug – und begab sich zur Tür.
Verwirrt begleitete sie ihn. In einem Augenblick ihrer Unachtsamkeit nahm er die auf der Kommode liegende Visitenkarte an sich. Es handelte sich um eine Hinterlassenschaft eines seiner Vorgänger, die ihm eingangs schon aufgefallen war. Zögerlich öffnete sie die Haustür, sah hinaus und nickte ihm zu. Er sah sie noch einmal kurz an, zwickte ihr in die Wange und verschwand, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. Wieder auf der Straße bedauerte er nicht im Geringsten, ihr nur Blüten angedreht zu haben. Schließlich war es kein Betrug, eine Betrügerin zu betrügen, denn eine solche Show musste nicht noch honoriert werden.
Draußen zogen sich trübe Wolken zusammen und aus dem Autoradio dudelte Musik. Eine halbe Stunde später konnte er sich nicht einmal mehr an ihr Gesicht erinnern. Aber solche Frauen hatten auch keins und wenn, war es immer das gleiche.
Doch wen interessierte das angesichts der Tatsache, dass er etwas ganz anderes, viel Profaneres suchte, nämlich einen Schlüssel in einem Kobold, genauer in einem Gartenzwerg. So war es ihm jedenfalls aufgetragen worden. Kein Witz. Zugegeben hatte er gerade deshalb den Auftrag angenommen, um zu erfahren, was es damit auf sich hatte. Denn wenn er auserwählt wurde, musste es schon etwas Besonderes sein.
Nicht, dass er sich damit aufwerten wollte. Nur sagte ihm seine Erfahrung, dass mitunter die profansten Sachverhalte die kompliziertesten Hintergründe verbargen. Wie immer kannte er die genauen Beweggründe nicht und das war auch unnötig. Er tat, was ihm gesagt wurde und folgte dabei strengen Regeln. Das dafür gezahlte Honorar ermöglichte ihm ein Leben weit über dem Standard, so dass er sich solche Eskapaden wie eben jederzeit erlauben konnte.
Welche Rolle er dieses Mal für sich präferieren sollte, wusste er freilich noch nicht. Das blieb ihm überlassen. Über die nötigen Dokumente verfügte er. Etwas landestypisch Nordisches wäre in diesem Fall angebracht, so nach Art eines netten Jung von der Waterkant mit Namen Fiete Jensen oder Henning Harmsen. Aber da er weder so aussah noch so sprach, erschien ihm ein neutraler Tom Enders günstiger.
Als diplomierter Verwaltungswirt und verschlagener Geschäftsmann in der Investmentbranche der Sparda Bank würde er bestimmt nicht weniger beeindrucken. Selbst wenn er davon keine Ahnung hatte, blieb das ohne Belang. Es diente lediglich der Legitimation, wobei allein Begriffe wie Bonds, Derivate oder Impact Investments für die nötige Glaubwürdigkeit sorgen sollten.
Blieb nur zu hoffen, dass auch niemand etwas davon verstand. Sonst könnte es schon mal eng werden, wie vor einem Jahr, als er in der Rolle eines IT-Programmierers eine tiefergehende Frage nicht beantworten konnte und sich damit in eine dumme Situation brachte. Sei’s drum. Seine Aufträge versprachen hohe Gewinne. Allein das zählte.
In Achterwehr bog er von der Autobahn ab und steuerte Deutsch-Nienhof an. Er schaute in den Rückspiegel und setzte zum Überholen an. „Also gut, Tom Enders. Wo ist deine Designerbrille, die dich als Investmentbanker auszeichnet?“, murmelte er vor sich hin und kramte in der Konsole herum. Besorgt betrachtete er sein blasses Gesicht im Spiegel. Augenblicklich entblößte ein Lächeln seine perlengleich aufgereihten Zähne.
Nicht, dass er besonders eitel war. Aber um Sympathien zu verbreiten, musste er gefallen. Kurzum, dies alles verlangte einen wahren Sonnyboy, dem man blindlings die Brieftasche anvertraute. Das war sein Credo, zumal die Bekanntschaft sympathischer Frauen nicht auszuschließen war. Davon hing mitunter sehr viel ab. Ja mehr noch, seinen Erfahrungen nach war eine überzeugende Reflexion seiner Rolle nur durch weibliches Wohlwollen möglich. Schon deshalb sah er sich bisweilen zu gewissen Überschreitungen genötigt, dies notfalls zu erzwingen. Das mag jetzt skrupellos klingen, war aber zweckmäßig.
Sanft federte der Audi jedes Schlagloch ab. Mit einem Mal erinnerte er sich an die Visitenkarte in seiner Brusttasche. Er zog sie hervor und studierte den Namen: ‚Dr. Alexander von der Ruh‘. Klang so weit recht verlockend, genauso, wie er ihn sich vorstellte: Jung, smart, verheiratet, zwei Kinder, rundum wohlsituiert und skrupellos genug, seine Frau regelmäßig zu betrügen. Allerdings war es auch leichtsinnig, die Handynummer zu hinterlassen. Mit anderen Worten – ein Schwein vom Feinsten, dessen Ruin kein Verlust war.
Gedankenverloren pochte er mit der Karte auf das Autolenkrad. Innerhalb von Sekunden schaltete Tom das „Bluetooth“ vom Audi - MMI Control ein, entsperrte sein Smartphone per Fingerabdruck und diktierte: „OK Google.“ Er wartete ein, zwei Sekunden und sagte: „Dr. Alexander von der Ruh.“ Tom vernahm die Antwort der weiblichen Computerstimme ‚Siri‘ über den anwaltlichen Familienstand. Zufrieden steckte er die Karte zurück in seine Brusttasche und bemerkte: „Na, Herr Winkeladvokat! Volltreffer! Mal sehen, wie wir dich überraschen können. Ich denke, mir wird für ein kleines Ferkel wie dich etwas ganz Besonderes einfallen!“
Somit lief dieser Tag doch noch gut an, nachdem er so mies gestartet war. Die ersten kräftigen Sonnenstrahlen fielen in goldgelben Bündeln durch das Blätterdach einer Allee. Fasziniert beobachtete er ein Storchenpaar auf Beutezug in den nahegelegenen Feuchtwiesen. Das erinnerte ihn an seine Kindheit. Diese verbrachte er in Pontresina im Oberengadin. Das satte Grün der Almen, die Glocken der grasenden Kühe und das schneeweiße Diavolezza-Massiv mit seinen blau-weißen Gletscherzungen hatten sich dabei tief in sein Herz gegraben. Bisweilen vermisste er den Duft von frischgemähtem Heu sowie das Plätschern eisiger Gebirgsbäche. Es waren vor allem jene Momente, in denen er sich an den Berghängen dem Himmel so unglaublich nahe fühlte, dass es nur eines Fingerzeigs zur Berührung bedurfte. Dort oben gab es die Orte, die er hier vergebens suchte.
Ein dringendes Bedürfnis riss ihn aus seinen Gedanken und drängte ihn zur Eile. Mit überhöhter Geschwindigkeit raste er durch Klein-Nordsee. Während er in die Ortschaft Felde hineinschoss, nahm er nicht den Fuß vom Gas. Zur Rechten flog die ‚Apotheke am Westensee‘ vorbei. Wenig später setzte er an der nächsten Abzweigung den Blinker links Richtung Resenis.
Eine Polizeikontrolle in Höhe des EDEKA-Marktes winkte den Audi an den Straßenrand. Das fehlte ihm noch. Ausgerechnet jetzt, wo ihm schon fast die Blase platzte. Tom straffte seine Haltung und versuchte, notgedrungen zu lächeln. Er senkte das Seitenfenster herab und stellte den Motor aus. Seine Hand ruhte auf dem Schaltknüppel. „Womit kann ich dienen, Herr Wachtmeister“, erkundigte er sich bei dem Polizisten in dunkelblauer Uniform.
„Moin. Verkehrskontrolle. Ihren Ausweis bitte.“ Mit strenger Miene kontrollierte der Beamte die Dokumente und wechselte den Blick wiederholt zwischen ihm und dem Bild auf dem Ausweis. Dann guckte er prüfend in den Innenraum des Wagens. Dabei registrierte er eine schwarze Reisetasche sowie einen Mantel auf der Rückbank. „Was befindet sich dort drin?“, folgte seine logische Frage.
„Dieses und jenes, was man so braucht“, eierte Tom herum, der nicht einsah, darauf zu antworten, denn im Grunde ging ihn das einen feuchten Kehricht an. Dann aber fiel ihm ein, dass dort die Blüten drin lagen. Nicht auszudenken, wenn dieser Beamte jetzt auf eine dumme Idee käme. Also nahm er die Tasche hervor und zog den Reißverschluss auf, allerdings nur so weit, dass sein Ellbogen einen großen Teil des Inhaltes verdeckte. Gelassen wies er auf eine Zeitung hin. Ebenfalls lagen alte Socken gleich obenauf. Ihr unangenehmer Geruch verhinderte Schlimmeres. Natürlich hatte er die andere Hand längst an der Wade, wo seine Pistole steckte, nur für den Fall.
Doch dazu kam es zum Glück nicht. Offenbar von Toms demonstrativer Gleichgültigkeit eingelullt, verzichtete der Polizist auf Weiteres. „Schon gut“, winkte dieser ab, konnte sich aber die Frage nach einem möglichen Alkoholgenuss nicht verkneifen.
„Na hören Sie mal. Sehe ich so aus?“, empörte sich Tom mit einem milden Lächeln, nachdem er die Tasche wieder nach hinten gelegt hatte.
„Wo soll es hingehen?“, wollte der Beamte wissen.
„Nach Resenis“, legte sich Tom fest, obwohl das keineswegs klar war.
„Bitte öffnen Sie den Kofferraum.“
„Muss das sein?“
„Sonst würde ich nicht darum bitten!“, sagte sein Gegenüber mit Nachdruck.
Tom drückte den dazugehörigen Knopf im Wageninneren. Prompt hob sich die Kofferraumklappe. Dann schwenkte er umständlich die Fahrertür auf und stieg aus.
Der Polizist beugte sich über die Stoßstange und musterte den Verbandkasten. Gemächlich drehte er sich wieder um. „Sind Sie Literaturagent?“, mutmaßte er plötzlich.
„Wie kommen Sie darauf?“, wunderte sich Tom.
„Aufgrund Ihres auswärtigen Kennzeichens nehme ich an, Sie wollen zu unserem Poeten“, fuhr der Beamte fort. „Der feiert heute seinen runden Geburtstag und erwartet allerhand Gäste. Deshalb auch Ihre Tasche dort hinten. Sicherlich mit der Begutachtung seines neuesten Werkes, nicht wahr?“
„Nun ja, wenn Sie mich so fragen“, erwiderte Tom, was dem vermeintlichen Scharfsinn dieses Wachtmeisters schmeicheln musste.
„Habe ich mir doch gleich gedacht, denn Sie sehen so aus“, legte der Schutzmann noch einmal nach.
„Ach ja, wirklich?“
„Manchen Leuten sieht man einfach ihre Profession an, hahaha …“ An dieser Stelle lachte Tom sogar mit, denn das war einfach zu drollig.
„Bitte benutzen Sie nur die offiziellen Straßen. Wir hatten in den letzten Tagen einige Sturmschäden und diese sind noch nicht überall geräumt“, setzte die Streife, zur Sachlichkeit zurückkehrend, hinzu.
„Danke für den Hinweis. Ich werde mich bemühen.“
„Sie können weiterfahren.“
Tom stieg wieder ein, drehte das Radio an und ließ das Seitenfenster hochfahren. Scherzhaft salutierend fuhr er davon. Verkniffen schaute der Polizist ihm nach. Im Rückspiegel konnte Tom noch beobachten, wie sich dieser Kerl etwas notierte. Zweifellos würden jetzt neue Kennzeichen gebraucht. Er musste also umdisponieren.
Die Sache mit diesem Dr. von der Ruh musste warten. Sein Schweigegeld könnte er sich auch später noch abholen. Das bedauerte er zwar, denn dessen dummes Gesicht hätte ihn schon interessiert. Doch zuerst musste ihm der Pole Budniak behilflich sein und das möglichst schnell. Anderenfalls würde alles gefährdet. Bei der nächstbesten Gelegenheit würde er diesen Windhund kontaktieren.
An der nächsten Abzweigung bog Tom rechts vom sandigen Hauptweg ab und fuhr tief in den Wald von Resenis hinein. Hier erleichterte er sich endlich. Über die soeben erduldete nachlässige Kontrolle war er dankbar. Das hätte dumm ausgehen können. Was war er doch für ein Glückspilz.
Die Schwere der Nacht übermannte Sina Brodersen und bettete sie, wie so oft, in ihre qualvollen Träume.
Ich kann nicht, ich kann doch. Reichlich du, übermäßig ja, genug Begehren. Ich will schreien. Du verschließt meinen Mund. Warum quälst du mich? Du Dämon aus dem Dunkel, was habe ich dir getan? Du okkupierst meine Hand, meinen Körper, meine Seele und ergötzt dich an meinem Leid! Deine Hände sind so schrecklich groß! Du tust mir weh! Warum? Geh bitte fort und lass mir meinen Frieden! Ich bitte dich! Zwing mir nicht deinen Hass auf! Was uns trennt, ist größer, als was uns verbindet! Beschädige nicht deinen letzten Rest Anstand und Respekt. Bewahre dir deine Würde, damit du einst im Himmel deine seelische Ruhe finden kannst.
„Das Wetter zeigt sich heute am 5. April von seiner böigen Seite. Die Regenwahrscheinlichkeit beträgt 70 Prozent. Aus unterschiedlichen Richtungen strömt …“
Wie jeden Morgen weckte Sina der Sprecher von NDR 1. Murrend zog sie die Decke über den Kopf und verweigerte das Aufstehen. Aber der Tag startete wie immer erbarmungslos. Die Zeiger standen auf fünf Uhr morgens und forderten ihren Tribut, deren gnadenlose Härte Sina seit frühester Kindheit bekannt war. Müde schlug sie die Bettdecke zurück, schwang sich aus dem Bett und schlurfte ins Badezimmer. Ihr apricotfarbener Mops namens Boy schlief im Hundekorb auf der Diele. Als er ‚Frauchen‘ witterte, öffnete er seine braunen, treuen Hundeaugen, erhob sich und strich ihr begrüßend mit freudigem Hecheln um die Beine.
„Na, wer kommt denn da?“ Sina kraulte verspielt sein rechtes Ohr, so dass sein Körper vor Wonne bebte. Speichel floss ihm aus dem knautschigen Maul und seine Augen blitzten. Er umstreifte sie immer wieder, darüber froh, ihre Nähe zu verspüren. Augenblicklich knuddelte sie ihm kräftig über den Rücken und zwickte ihm neckend in die Flanke. Dann aber schob sie ihn bestimmend zur Seite. Sie unterbrach dieses Spiel nicht oft, da sie Boys Wohlgefallen genoss, doch wenn sie es tat, dann aus einem ganz bestimmten Grund.
In dieser Nacht war es wieder geschehen. Das seltsame Traumbild hatte sie genarrt und nicht mehr losgelassen. Es war der gleiche große Schatten, der sich ihr jedes Mal lautlos näherte und sie dann völlig bedeckte. Erbarmungslos drängte er sich auf und drohte ihr, gleich einem riesigen Kraken, den Atem zu nehmen. Manchmal war es so schlimm, dass sie schreien wollte, doch nicht konnte. Etwas verschnürte ihre Kehle. Völlig paralysiert schien sie wie gefesselt und war auch nur zur geringsten Gegenwehr unfähig. Es schien, als laste ein tonnenschwerer Fels auf ihrer Brust, der sie völlig niederdrückte.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als es zu ertragen und darauf zu hoffen, dass dieser Albtraum möglichst rasch von ihr wich. Aufgrund des fehlenden Zeitgefühls vermochte sie über die Dauer nichts zu sagen. In jedem Fall aber kam es ihr endlos vor. Spätestens wenn ihr Atem immer schwerer wurde und sie zu ersticken glaubte, erwachte sie und setzte sich schlagartig auf. Dann starrte sie schweißgebadet in die Dunkelheit und brauchte lange, wieder zur Ruhe zu kommen. Meist stand sie dann auf und nahm einen großen Schluck aus der Flasche des selbstangesetzten Schlehenlikörs.
Das war ein altes Hausmittel ihrer Großmutter. Diese hatte seinerzeit ein schweres Leben geführt, da sie ihren Mann durch die Kriegswirren verlor und die beiden Töchter Gisela und Sinas Mutter Lore allein großziehen musste. Vielleicht hatte Großmutter gerade deshalb ein so tiefes Herz und war Sina in guter Erinnerung geblieben, anders als ihre eigene Mutter.
Letztere hatte nur Geschäfte im Sinn und sich mit der Zeit zu einer Despotin entwickelt, die in ihrer Tochter nur ein lästiges Anhängsel sah. „Sina, wie oft soll ich dir noch sagen, dass der Hof kein Streichelzoo ist! Wenn du die Katze nicht wegjagst, ersäufe ich sie!“, hatte sie ihr angedroht, nachdem Sina ein vor Kälte und Hunger zitterndes Kätzchen auf dem Schulweg zugelaufen war. Selbst wenn der Mäusejäger für seine eigene Verpflegung sorgte und niemandem zur Last fiel, ging es ums Prinzip. Da ihre Tochter dieser Forderung nicht nachkam, hatte die Mutter kurz darauf das arme Tier in der Regentonne ertränkt. Nie vergessen würde Sina den Moment, als sie den kleinen leblosen Körper aus dem Wasser fischte. Doch da war es schon zu spät.
Selbst gegenüber ihrem Mann war Lore nicht gerade zimperlich. Als sie einmal unerwartet nach Hause kam und ihn im angeheiterten Zustand vorfand, versetzte sie ihm sofort zwei schallende Backpfeifen. Daraufhin schloss er sich aus Feigheit im Bad ein und jammerte vor sich hin. Er war ohnehin ein hasenfüßiger Taugenichts, der den ganzen Tag nichts mit sich anzufangen wusste. Einer geregelten Arbeit ging er niemals nach und erwies sich selbst auf dem Hof als untauglich. Seine einzige Stärke bestand in sinnlosem Palaver, womit er hin und wieder in Kneipen Leute um sich scharte, die ihn dann wie ein Reptil bewunderten. Lore nannte ihn mal ein ‚verkommenes Element‘ und wollte ihn wiederholt rausschmeißen. Sie hätte das sicher auch getan, wäre sie dabei nicht steuerlich ungünstiger gefahren. Wieso er dennoch Zugang zu ihrem Herzen fand und Sina als Frucht dieser mehr als sonderbaren Beziehung hervorging, war ihr bis heute rätselhaft geblieben.
Doch darüber mochte sie nicht weiter nachdenken. Sie tat das ohnehin viel zu oft und das jedes Mal mit dem gleichen Ergebnis – sie kam ins Heulen. Dann rannte sie in den Schuppen, versperrte die Tür und wollte für Momente ganz alleine sein, zumindest bis Boy wieder an der Tür kratzte. Der Mops war so drollig, dass sie schnell allen Kummer vergaß. Und als wüsste er um seine Wirkung, legte der Hund jetzt seinen Kopf schief und schaute sie treuherzig an. Dann tappte er in die Küche, blieb fordernd vor seinem Napf sitzen und erwartete sein verdientes Leckerli. Sina ließ sich aber nicht erweichen. In Gedanken war sie noch immer nicht ganz da.
Sie ging ins Badezimmer und verriegelte die Tür. Eigentlich war das überflüssig, denn sie lebte hier allein und Boy hätte ihr ohnehin nicht folgen können. Dennoch tat sie es infolge eines unerklärlichen Reflexes. Das war schon manisch. Ebenso ihr ständiger Kontrollzwang, der sie dazu nötigte, die abgeschlossene Haustür zweimal abzuklinken. Das Misstrauen gegenüber sich selbst war ihre größte Schwäche.
Auch wenn sie es als Unsinn abtat und sich damit verspottete, konnte sie es nicht verhindern. ‚Es ist nichts! Es ist nur ein Albtraum‘, tröstete sie sich, um ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben. Zur Ablenkung schaltete sie das Radio ein. Sofort plärrten die neuesten Hits, die in der nächsten halben Stunde auf diesem Sender zu hören waren.
Draußen brachen die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke und verjagten die Nacht. Das innenliegende Badezimmer erhellten mehrere Halogenlampen. „Warum lässt du mich nicht in Ruhe?“, flüsterte sie unter der Dusche, während das Wasser über ihr brünettes Haar lief. Eine unklare Erinnerung stieg in ihr auf und bewirkte ein schreckliches Gefühl. Nichts war stark genug, davon wegzukommen.
Für die Dauer von einigen Minuten stand ihr Körper unter höchster Anspannung. Ihr schien, als würde sie von einer unsichtbaren Hand berührt, vor allem an Stellen, an denen sie sehr empfindlich war. Ihr Herz begann zu rasen und vor ihren Augen tanzten bunte Ringe. Eine Art Übelkeit brachte sie fast zum Erbrechen. Mit beiden Händen gegen die Wand gestützt, neigte sie sich vornüber und schöpfte tiefen Atem. Dann endlich wurde es besser. Diesmal würde sie nicht minutenlang unter eiskaltem Wasser stehen wie beim letzten Mal.
Erleichtert drehte sie den Wasserhahn zu, stieg aus der Dusche und rubbelte mit einem Handtuch ihre kurzen Haare trocken. Ihr Körper war in einen frotteeweichen Bademantel eingehüllt. Danach musterte sie sich kritisch im Badezimmerspiegel.
‚Morgen werde ich euch blond färben, vielleicht mit ein paar grasgrünen Strähnen drin‘, verordnete sie sich, wie so manches, was ihr ebenso schnell einkam, wie es wieder verschwand. Obgleich sie figürlich gut geraten war und ihre braunen Augen durchaus warmherzig wirkten, ja in manchen Momenten sogar erstaunlich ausdrucksvoll werden konnten, fand sie sich nicht sonderlich attraktiv. Ihre Lippen erschienen ihr zu wulstig und ihre Augen zu eng stehend. Außerdem waren ihre Brüste zu klein und ihr Hintern zu flach – Attribute, mit denen man bei Männern kaum punkten konnte, es sei denn, man verstand sich anzubiedern. Doch gerade das konnte sie noch nie. So etwas ließ ihr Stolz nicht zu. Schon deshalb würde sie wohl das Gefühl der großen Liebe, die angeblich jeden im Leben einmal trifft, niemals kennenlernen. Aber wer weiß, ob es so etwas überhaupt gab und wenn, wäre sie dafür wohl kaum geschaffen. Doch sie war deswegen nicht verzagt. Boy und die Natur entschädigten dafür, auch wenn ihre Sehnsucht freilich blieb.
Sie ertappte sich dabei, wie sie sich einen Kussmund zuwarf und von einer Erwiderung träumte. Weiche Lippen müssten es sein, unbedingt. Dazu das Stacheln von Bartstoppeln und jener typisch maskulinen Kombination von Zartgefühl und Dominanz, was einen ‚echten‘ Mann ausmachte. Bei dieser Vorstellung wurde ihr ganz flau. Ob es ihn gab, wusste sie freilich nicht. Doch wenn, würde sie es erkennen.
Aber was geisterte schon wieder durch ihren Kopf? Rasch vertrieb sie diese Gedanken und beschloss, sich ihrem Outfit zu widmen, selbst wenn unklar blieb, für wen. Mit dem Zeigefinger klopfte sie ihr Make-up ein und trug Lipgloss auf. Sogleich schnitt sie allerlei Grimassen, um sich aufzumuntern. Dann betrachtete sie bedrückt ihren linken Schneidezahn und beide Eckzähne, die etwas verwinkelt hervorstanden. Die Mutter hatte damals versäumt, für eine Zahnspange zu sorgen, nicht aus Nachlässigkeit, sondern Müßiggang, wie immer, wenn sie mit anderen Dingen beschäftigt war. Unter den Folgen litt Sina noch heute. Kurze Zeit später knipste sie die Halogenlampen wieder aus und verließ das Bad.
Trotzdem fühlte Sina sich in Ahlefeldt geborgen. Der Hof ihrer alteingesessenen Familie lag am Dorfrand. Zur Straße hin schloss eine Eibenhecke das Grundstück ab. Die Nachbarn waren weit verstreut und die nähere Umgebung weitgehend menschenleer. Manchmal war es schon beängstigend, in Notfällen auf sich selbst angewiesen zu sein. Ebenso bedrückte sie die Einsamkeit an den Feiertagen. Und doch hatte sie sich nach dem Tod der Eltern für dieses Leben entschieden – eigentlich ein Unding und doch wurstelte sie sich irgendwie durch. Etliche Male hatte sie sich von den Aufgaben und Pflichten erschlagen gefühlt, die ein solcher Besitz mit sich brachte. Aber wenn man sie fragte, wie sie das alleine schaffte, hob sie nur die Achseln.
Einige der Hektar Land hatte Sina dem Nachbarn Volker Grimmel verpachtet – eine gelungene Investition, denn der Boden war fruchtbar und die Erträge reichlich. Somit musste sie nicht auf Stellung in einen fremden Haushalt gehen. Schließlich hatte sie mit der Zeit alles nach ihren Bedürfnissen zurechtgerückt. Und für noch Fehlendes entschädigte Boy.
Vom Bistensee her erhob sich ein morgendliches Wehen. Der Wind streifte die Schilfufer und lief gen Osten übers Land. Die Landschaft träumte in berückender Wildheit vor sich hin. Dort, wo mit zerzaustem Fell die ruhenden Galloway-Rinder in den Gräsern des Extensivgrünlandes lagen und wiederkäuten, wich die Beschaulichkeit der Nacht. Am ewig schmatzenden Ufersaum putzten sich die Stockenten. Verfilzte Wiesen sträubten ihr Grasgefieder. Brombeerhecken überwucherten Zäune. Trollblumen, Klee und Knöterich sumpfdotterten den ersten Sonnenstrahlen entgegen und am Himmel flogen Wildgänse wie in einem Perlenstrang aufgereiht.
Nach dem Frühstück ließ Sina Boy hinaus. Sie streifte sich die Daunenjacke über und begab sich zur Scheune mit dem efeuumrankten Schiebetor, um ihr handwerkliches Tagwerk zu beginnen. Nachdem sie das Vorhängeschloss entriegelt hatte, zog sie ruckartig das Tor zur Seite. Während der Hund sofort schnüffelnd jeden Winkel der Scheune erkundete, ging sie zum Böckmann-Anhänger hinüber, zog die Plane zurück und begutachtete Volkers gestrige Fuhre. Diese bildete wieder einmal allerlei Sammelsurien, darunter eine Unzahl putziger Keramikzwerge, von manchen als Schnickschnack abgetan, für andere wiederum heiß begehrte Ware.