Schwarz-Rot-Mord: Die Unterwanderung der Gewaltenteilung Während sich ein vermeintlich geistesgestörter Mann nach dem Mord an seiner Ehefrau in lebenslanger Sicherungsverwahrung befindet, kämpft dessen Tochter auffallend eifrig um ihr Erbe. Dabei spielt ihr Geliebter und Förderer, ein bekannter Politiker, eine überaus zwielichtige Rolle. Als eine junge Referendarin im Zuge ihrer Ausbildung mit diesem Fall konfrontiert wird, bemerkt sie offene Widersprüche und juristische Mängel in der Beweisführung. Wird sich ihr Verdacht, dass die Akten manipuliert wurden, bestätigen? Inwieweit ist die Politik involviert? Trotz wiederholter Warnungen ihres Mentors setzt sie ihre Ermittlungen eigenmächtig fort – und bringt sich damit in Lebensgefahr. Ein Kriminalroman über rechtliche Unzulänglichkeiten und politische Manipulationen in einem korrupten System. Cozy Crime © 2020 Anja Gust Die Autorin wurde 1968 in Schleswig-Holstein geboren. Sie widmet sich, neben ihrer hauptberuflichen Arbeit, seit vielen Jahren dem Schreiben. Und wenn sie nicht schreibt, liest sie. Und wenn sie nicht liest, kocht sie. Und wenn sie nicht kocht, schreibt sie … Anja Gust ist Mitglied der "Mörderischen Schwestern e.V." (Vereinigung deutschsprachiger Krimiautorinnen e.V.)
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Seitenzahl: 610
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Anja Gust
So oder so ist es Mord
Ein Schleswig-Holstein Krimi
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Eine freundliche Bitte
So oder so ist es Mord
Buch
Impressum
Widmung
Zitat
Personenregister
Kurze Inhaltsangabe
Prolog
Ein ungleiches Paar
Im Sicherheitstrakt
Der Auftakt
Die Karten liegen offen
Der Visionär
Ganz schön nassforsch
Das ist nicht nett, Bertold
Heiß, heißer, Hauptstadt
Blut ist dicker als Wasser
Das Säckel
Tiefe Wasser
Die Offenbarung
Verirrung der Herzen
Ein Spinner … und 1000 neue Wolken
Der Test
Zeit für Klartext
Erste Zweifel
Die Ernüchterung
Wir können nichts dafür – Heute regiert Uwe Lindholm
Der Rüffel
Blitz und Donner
Die Bereinigung
Das Miststück
Das Angebot
Der Angriff
Wollen Sie es wirklich wissen?
Die Erlösung
Die Ermittler
Danksagung
Über die Autorin
Nachwort
Impressum neobooks
Eine freundliche Bitte
Von mir an meine Leser
Zunächst einmal eine Bitte. Wenn Sie den Kriminalroman „So oder so ist es Mord“ gelesen haben (oder zu lesen beabsichtigen), hinterlassen Sie bitte eine Rezension bei dem Händler, bei welchem Sie das E-Book gekauft haben. Nichts verkauft Bücher mehr als gute Mund-zu-Mund-Propaganda, und ich wäre Ihnen sehr, sehr dankbar für jedes Wort, das Sie vielleicht bereit sind zu hinterlassen.
UND NUN WEITER IM TEXT
Anja Gust
Kriminalroman
Während sich ein vermeintlich geistesgestörter Mann nach dem Mord an seiner Ehefrau in lebenslanger Sicherungsverwahrung befindet, kämpft dessen Tochter auffallend eifrig um ihr Erbe. Dabei spielt ihr Geliebter und Förderer, ein bekannter Politiker, eine überaus zwielichtige Rolle. Als eine Rechtsreferendarin im Zuge ihrer Ausbildung mit diesem Fall konfrontiert wird, bemerkt sie offene Widersprüche und juristische Mängel in der Beweisführung. Wird sich ihr Verdacht, dass die Akten manipuliert wurden, bestätigen? Inwieweit ist die Politik involviert? Trotz wiederholter Warnungen ihres Mentors setzt sie ihre Ermittlungen eigenmächtig fort – und bringt sich damit in Lebensgefahr.
Ein Roman über rechtliche Unzulänglichkeiten und politische Manipulationen in einem korrupten System.
Autorin
Anja Gust wurde 1968 in Schleswig-Holstein geboren. Sie widmet sich, neben ihrer hauptberuflichen Arbeit, seit vielen Jahren dem Schreiben. Und wenn sie nicht schreibt, liest sie. Und wenn sie nicht liest, kocht sie. Und wenn sie nichtkocht, schreibt sie…
Die Autorin ist Mitglied der "Mörderischen Schwestern e.V." und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Hamburg.
Titel: So oder so ist es Mord
Deutsche Erstausgabe: Mai 2020
Idee und Umsetzung: © Anja Gust, [email protected]
Umschlaggestaltung / Idee und Umsetzung: by K. Winter (unter Verwendung des Motives: Shutterstock, Inc. / NY 10118 USA – Illustrationsnummer: 328720772 Paradise Studio)
Lektorat: Laura-Jane Hoffmeister
Korrektorat: Lisa Zacher
Satz & Layout: A. Gust – unter Zuhilfenahme:
c/o Autorenservice Patchwork
Schlossweg 6
A-9020 Klagenfurt
Alle Rechte vorbehalten
Dieser Krimi wurde unter Berücksichtigung der neuen deutschen Rechtschreibung verfasst, lektoriert und korrigiert. Es handelt sich um eine fiktive Geschichte. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen und Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne die Zustimmung der Autorin unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Für den besten Freund meines Lebens. Was für ein Glück, dass wir uns haben.
Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode.1
William Shakespeare
Die Ermittler
Name: Alexander Knoblich, kurz Alex
Dienstgrad: Hauptkommissar und
1. Sachbearbeiter im K 21 S-H (Sitz:Kiel)
Alter: 49
Sternzeichen: Skorpion
Nationalität: Deutsch
Qualifikation: Diplomverwaltungswirt
Aktuelle Dienststelle: LKA 21 Kiel, AG Leben und Gesundheit
Handicap: Bluthochdruck
Dienstwaffe: Sig Sauer 2
Aufklärungsrate: 82 %
Methoden: alter Hase, mit allen Wassern gewaschen
Besondere Merkmale: Tätowierung am linken Oberarm aus seiner Sturm- und Drangzeit
Ziel: Planstelle nach A 12
Er brennt für: Ein Haus am See, Ruhe und jeden Sonntag ein Frühstücksei
Er verachtet: politische Machtspielchen, bei denen Menschen nur Schachfiguren sind
Konnte ihn noch etwas schockieren? Kaum
Name: Katharina von Hardenberg, kurz Kathi
Rechtliche Stellung: Rechtsreferendarin, absolviert
Jura-Praktikum
Alter: 28
Sternzeichen: Löwe
Frisur: rotbraune lange Haare
Aussehen: trägt eine Brille, blasser Teint, Sommersprossen
Größe: 1,67 Meter
Geschwister: zwei Brüder; Stammhalter Claus-Alfred
und Roman, der Jüngste im Bunde
Haustier: einen Kaktus
Ambitionen, Ziele: werden nicht aus den Augen
gelassen, engagiert und ehrgeizig
Arbeitsweise: gradlinig
Hobbys: die Psyche des Menschen und seine Schwächen
Familienstand: auf der Suche
Berufliches Ziel: Anwältin
Deutsches Sportabzeichen in Gold
Rettungsschwimmerin der DLRG
Führerschein Klasse A und B
Besondere Eigenschaften: erkennt binnen Zehntelsekunden die Stellung der Menschen zueinander
Vorbilder: ihre Oma mütterlicherseits
Wer entführt sie in eine andere Welt? Puppentheater
Wofür lebt sie? Für das Finden der wahren Liebe
Weitere Mitwirkende
Bertold Wittenburg (Professor für Soziologie) verstorbene Frau Luise
Solveig Wittenburg, seine Tochter, angehende Journalistin
Dr. Rutenstuss, Solveigs Therapeut und Psychiater
Aki und Kutte, Solveigs Leibwächter
Oberrat Dr. Joachim Stedekinn, Referatsleiter K 2 beim LKA, Knoblichs Chef
Marie Fröhlich, Stedekinns Vorzimmerdame
Direktor Herbert Wendland, Stedekinns Chef
Björn Altnickel, Alex` Arbeitskollege im Nachbarkommissariat (KHK)
Uwe Lindholm, Parteivorsitzender der DVA
Nationale KVPD – Konkurrenzpartei unter Führung von Wilbur Brusig
Ludmilla Lindholm, geb. Wegener (Tochter des Bundesrichters Dr. Paul Wegener)
Hubertus Sieger, Künstler
Karl-Heinz Vortanz (Schmierölkalle), Informant aus der Szene und Mann fürs Grobe
Lisa Schneider, Lindholms Sekretärin
Dr. Spitzer, Wittenburgs Psychologe
Alwin Stelzer, Wittenburgs Anwalt
René Schulze- Bierbach, Journalist
Dr. Stirner, Gerichtsmediziner
Anton Bohnsack, Mitarbeiter des städtischen Notariats
Theo Thuthammer, Schriftführer vom linken Flügel der DVA
Dirk Rebhuhn, IT Fachmann und Erfinder
Susanne, Susi, seine schwangere Frau
Uschi, Bardame im Freispruch
Gnubbel, aliasLutz Portokat, Uschis Kumpel und Bekannter aus der Kneipe
Frau Assel, Wirtin
Dr. Meyer-Bücher, Kathis Dekan
Claus-Alfred, Freiherr von Hardenberg, Kathis älterer Bruder
Roman, Kathis jüngerer Bruder
Leberecht von Kulmbach, neuer Mann von Kathis Mutter
Jonathan, Kathis Onkel (mütterlicherseits)
Indiko, seine Freundin
Luise Wittenburg, Frau eines verschrobenen Professors, wird am Fensterkreuz ihrer Wohnung stranguliert aufgefunden. Im Zuge der Untersuchungen ergeben sich bald Zweifel an einem Suizid und erhärten den Verdacht gegen den Ehemann. Dieser räumt die Tat schließlich ein, auch wenn die genauen Tatumstände aufgrund seiner zeitweiligen geistigen Umnachtung unklar bleiben. Es folgt eine Verurteilung mit dauerhafter Einweisung in eine geschlossene Psychiatrie. Nachdem eine junge Referendarin im Zuge ihres Praktikums mit diesem Fall konfrontiert wird, bemerkt sie offene Widersprüche und juristische Mängel in der Beweisführung. Ihr Verdacht einer Manipulation wird durch die offenkundige Zaghaftigkeit und Ambivalenz ihres Partners und Mentors verstärkt – ein selbstgefälliger und karriereorientierter Beamter. Trotz wiederholter Warnungen lässt sich die junge Frau nicht beirren und setzt ihren zunehmend steiniger werdenden Weg fort. Als ihr bald einflussreiche Gegner erwachsen und sie in Lebensgefahr gerät, muss ihr Partner sich entscheiden, auf welcher Seite er steht. Ein Roman über rechtliche Unzulänglichkeiten und politische Manipulationen kontra menschliche Größe und Standhaftigkeit in Extremsituationen.
Nachdem Professor Wittenburg geschniegelt und gebügelt fünf Minuten zu früh mit seinem für 08:00 Uhr terminierten Wagen bei der Werkstatt eingetroffen war, wartete er gewohnheitsgemäß die letzten Minuten in unmittelbarer Nähe.
Punkt 07:59 Uhr befuhr er das Gelände des Autohauses. Dreißig Sekunden folgten bis zum Erreichen der Abstellfläche, zehn Sekunden zum Motorabschalten und zur Herstellung des ordnungsgemäßen Verschlusszustandes und weitere zehn Sekunden für den Weg zur Fahrzeugannahme. Das letzte Zehntel diente möglichen Eventualitäten wie Haltungsverbesserung und Kleidungskorrektur. Erst dann drückte er die Klinke zum Büro.
Als er den Wagen tags darauf wieder in Empfang nahm, entfiel zwar dies Prozedere. Dennoch verzögerte sich die Übergabe um satte einunddreißig Minuten und zweiundfünfzig Sekunden. Warum, blieb unklar.
Damit nicht genug. Die Tropfen am Öleinfüllstutzen vermochte er noch zu tolerieren, nicht aber die eigenmächtige Uhrzeitkorrektur des Autopiloten.
Schon seit Längerem hatte sich die Differenz zwischen angezeigtem Wert und Realzeit kontinuierlich vergrößert und war mittlerweile zu stolzen sieben Minuten zur Normalzeit bzw. minus dreiundfünfzig Minuten zur Sommerzeit angewachsen.
Kurioserweise vermochte der Professor dieses Manko durch gedankliches Einfügen eines Integrals zu überbrücken. Diese Berechnung war ihm bald wichtiger als die Uhrzeit selbst geworden, sodass er ohne sie nicht mehr auskam.
Nun aber geriet das alles wieder durcheinander. Sein verzweifelter Versuch einer Rekalibrierung misslang aufgrund seines technischen Ungeschicks. Da der Mechaniker ihn zudem mit seinem verständnislosen Blick vergraulte, blieb ihm nichts, als konsterniert vom Hof zu fahren.
Eigentlich wollte er auf dem kürzesten Wege zur Uni. Da ihn aber ein Unfall zu einer Umleitung zwang, kam er noch einmal an seinem Wohnhaus vorbei. Dort irritierten ihn die geschlossenen Fenster, die gewöhnlich um diese Uhrzeit zum Lüften offenstanden. Außerdem rotierte der Rasensprenger nicht mehr, obwohl seine Frau Luise anwesend war.
Darüber beunruhigt, wendete er an der nächsten Kreuzung und fuhr zurück. Einer spontanen Eingebung folgend, stellte er das Fahrzeug in einer Nebenstraße ab und absolvierte den Rest zu Fuß.
Warum er dabei immer schneller wurde, konnte er ebenso wenig sagen wie, warum er sich plötzlich um Lautlosigkeit bemühte. Das geschah rein intuitiv. Sein Puls war hingegen nicht im Mindesten erhöht, selbst als er die Tür aufschloss.
Dann aber verdutzte ihn ein unbekanntes Deodorant, dazu gedämpftes Licht und geschlossene Vorhänge. Das war um diese Zeit unüblich. Schon lag ihm ein zögerliches ‚Schatzimaus, lass diese Albernheiten‘ auf den Lippen, unterdrückte es aber.
Stattdessen tippelte er auf Zehenspitzen zum Schlafzimmer, woher er unklare Geräusche zu vernehmen meinte. Genaueres konnte er jedoch nicht erfassen, wie ihn überhaupt mit einem Mal die ganze Situation überforderte.
Was danach im Einzelnen geschah, blieb weiterhin rätselhaft. Unbestritten blieb, dass Luise auf der falschen Betthälfte lag, denn die andere war noch warm. Ein unbedachter Situationsfehler, den er sofort registrierte.
Als er dann den fremden Slip unter ihrem Kopfkissen entdeckte, musste er zunächst lachen, verstummte jedoch schnell, als ihm die Unmöglichkeit der Situation aufstieß. Erstaunlicherweise blieb er noch gefasst, obgleich er bereits von allerlei nicht dazu gehörenden Dingen sprach, übrigens nicht mal ungeschickt. Doch bereits konfus.
Seine Frau erwiderte auch etwas und das durchaus ernsthaft, das hieß, ernsthaft eigentlich nicht, aber sie glaubte offenbar daran, es zu tun. Dabei entwarf sie einige völlig absurde Szenarien, deren Fadenscheinigkeit zum Himmel stank. Damit konnte sie freilich nicht im Mindesten das weit geöffnete Fenster erklären, das vorhin noch geschlossen war.
Noch hatte er sich in der Gewalt, weil sie ihre Darlegung mit solcher Harmlosigkeit betrieb, als glaubte sie selber daran. Dann aber platzte ihm der Kragen. Sich der Ungeheuerlichkeit zunehmend bewusst werdend, fegte er die halb volle Flasche Dujardin vom Tisch, gefolgt von den beiden Gläsern.
Warum ihm danach allerdings ein Stück fehlte, wusste er nicht, ebenso wenig wusste er, wie viel Zeit in der Folge vergangen war. Erst als ihr Körper leblos vor ihm lag, bleich, kalt und mit starrem Blick, kam er wieder zu sich.
Erste zaghafte Berührungen blieben ergebnislos. Später erinnerte er sich, dass er aufgesprungen und losgerannt war, irgendwohin. Wie weit und warum, konnte er nicht sagen, ebenso wenig, weshalb er wieder umgekehrt war. Irgendwann danach legte man ihm die Handfessel an und belehrte ihn über seine Rechte.
Schleswig-Holstein, im Frühjahr 2020
Nasser Beton und endlose Schallschutzwände machten die A 7 in Richtung Neumünster quälend. Doch ungeachtet der Tempobeschränkungen und nervenden Fahrbahnverengungen raste an diesem kühlen Aprilmorgen ein grauer Van des hiesigen Landeskriminalamtes diese Strecke entlang.
Hinter dem Lenkrad saß der langjährige Hauptkommissar Alexander Knoblich, kurz Alex genannt, ein stattlicher Endvierziger, von mittlerem Wuchs, lockigem dunklem Haar, in das sich erste graue Strähnen mischten, untersetzter Gestalt und spöttisch verzogenen Lippen.
Um den Hals hatte er ein knallgelbes Seidentuch mit grünen Punkten geschlungen und im linken Ohrläppchen blinkte ein goldener Sticker. Dabei wirkte er mit seinem karierten Tweed-Sakko und der braunen Cordhose ohnehin schon skurril genug. Doch was kümmerte es ihn?
Vielmehr amüsierte ihn die Schreckhaftigkeit seiner gut zwanzig Jahre jüngeren Begleiterin, einer gewissen Katharina von Hardenberg. Diese litt sichtlich angesäuert unter seiner ruppigen Fahrweise und hatte Mühe, sich zusammenzunehmen.
Sie trug einen hellen Trenchcoat und eine auffallend große Brille. Dahinter verbargen sich zwei unruhige Augen, die mit der kalten Bläue der Wolken wetteiferten. Ihr rotbraunes Haar war im Nacken zu einem festen Zopf gebunden, wie es die Dienstvorschrift für Einsätze vorsah. Das verlieh ihr etwas Strenges und Unnahbares, tat jedoch ihrem Liebreiz keinen Abbruch.
Auch wenn sie für Knoblichs Geschmack etwas zu schüchtern wirkte, sah das der alte Schwerenöter nicht so eng. Er wusste schon, wie man so etwas machte: straff rannehmen und mit trefflichen Aktionen beeindrucken. Der Rest wäre ein Kinderspiel.
Knoblich hatte keine gute Sicht. Dennoch beschleunigte er und führte manch riskante Manöver durch. Dabei konnte die junge Frau nur mit Mühe ihr Unwohlsein verbergen. Ab und an umklammerte sie zaghaft den Gurt, verkniff sich aber jede Bemerkung. Erst in der Kurve der Abfahrt Neumünster-Einfeld bremste er ab.
Sie atmete hörbar auf und fixierte, Gott weiß warum, die vorbeifliegenden schwarz verschlammten Hartriegel am Seitenstreifen, welche, allen Widrigkeiten zum Trotz, dort prächtig gediehen.
„Ach, kommen Sie! Das war doch noch gar nix!“, spöttelte der Möchtegern-Schumi vergnügt. „Ich habe schon andere Jagden hingelegt und mich noch nie um einen Baum gewickelt. So was muss man in unserem Job abkönnen. Anderenfalls kippt man ja beim erstbesten Gegenwind um.“
„Keine Bange. Das habe ich auch nicht vor“, erwiderte sie erleichtert.
„Nehmen Sie den Mund nicht zu voll! Sie wissen doch noch gar nicht, was Sie erwartet!“, orakelte der Hauptkommissar mit sichtlichem Genuss. Es amüsierte ihn zusehends, die junge Referendarin zu verunsichern.
„Was Sie nicht sagen“, erwiderte diese schnippisch. Aber irgendwie hatte sie sich ihr Praktikum anders vorgestellt, nicht so anstrengend und vor allem weniger chaotisch.
Irritiert warf er ihr einen Seitenblick zu. „Wie meinen Sie das?“
„Nichts weiter. Hab’ nur laut gedacht.“ Sie sah, wie es in ihm arbeitete und fürchtete, er würde sie bei der nächsten Bemerkung an der kommenden Kreuzung raussetzen. Hatte sie doch bereits im Vorfeld einige Dinge geäußert, die ihm nicht passten. Dass er aber gleich so empfindlich reagierte, überraschte sie nun doch. Dabei hatte er noch vollmundig mit seinem dicken Fell und der offenen Atmosphäre geprahlt. Von wegen.
„Was ist das dort drüben?“, lenkte sie rasch auf einige, sich linksseitig abzeichnende Gebäude ab, welche sich an einen Knick drückten, der ein Stück Brachland umfriedete.
„Das ist der Verwaltungstrakt. Die Anstalt selbst folgt weiter hinten“, erwiderte Alex und setzte den Blinker.
„Sieht irgendwie beklemmend aus, so dunkel“, sie machte eine Pause und schauderte, „und monströs. Ich meine, die hohen Mauern und die verschlossenen Tore – fast wie ein Gefängnis.“
„Ist es auch“, erklärte er selbstgefällig und riss dabei das Lenkrad nach links, um den Wagen möglichst eng um die Kurve zu ziehen. „Keine Bange“, beschwichtigte er sofort und brachte das Fahrzeug mit quietschenden Reifen wieder in die Spur. „Hier sollte man zügig fahren, wegen der Bodenwellen, verstehen Sie? Wenn man nur darüber holpert wie ein Opa mit Hut, verlängert sich die Rüttelplatte und das ist nicht gut für die Bandscheiben.“
Zugegeben fiel ihm in diesem Moment nichts Besseres ein. Dabei gehörte Originalität normalerweise zu seinen Stärken, vor allem beim ‚Eintakten‘ junger Assistentinnen, die im Rahmen ihres Referendariats ihr Praktikum im Landeskriminalamt versahen.
Diese erwiesen sich meist als extravagant, unbeholfen und hypersensibel. Kurzum, eine abstruse Mischung aus neunmalklug und hilflos. Daher mussten die Mädels erst aufgebaut werden, um praxistauglich zu sein. Das wiederum oblag einem alten Hasen wie ihm, der ihnen mit Fingerspitzengefühl einige ungeschriebene Regeln zu verklickern hatte.
Doch bei aller Zuversicht, die er zu Beginn noch empfand, musste er bereits einige Dämpfer einstecken. Die ‚Neue‘ erwies sich sperriger als gedacht. Auch wenn sie nicht unbedingt zu jener Sorte gehörte, die sich ständig im Spiegel betrachtend die Lippen tupfte oder mit oberschlauen Bemerkungen nervte, war sie auf andere Weise anstrengend.
Ob es an ihrer Zurückhaltung, den komischen Fragen oder ihrer Emotionslosigkeit lag, blieb unklar. Irgendwie wurde er mit ihr nicht warm. Ihm blieb nichts anderes übrig, als es mit der Brechstange zu versuchen und ihr anhand einiger Präzedenzfälle beizubringen, wo der Hammer hing.
Dabei sparte er nicht mit diversen Superlativen wie ‚größte, schlimmste‘ und ‚brutalste‘, welche er mit großartigen Gesten bedeutungsschwer untermauerte. Doch die Wirkung blieb bescheiden. Erst bei seinem Lieblingsfall von Matze Frentzen mit dem abgebissenen Ohr (einem erst kürzlich pensionierten Profiler) horchte sie auf.
„Abgebissenes Ohr?“
„Aber sicher doch.“ Mit gewichtiger Miene legte er sogleich nach: „Dabei hatte Matze noch Glück. Hätte es ihn am Hals erwischt, wäre ratzfatz die Kehle durch gewesen. Sie glauben ja nicht, wie gefährlich ein Menschenbiss sein kann. Ich sage Ihnen, bei Verrückten weiß man nie, woran man ist. Sie lächeln dich an und im selben Moment springen sie dir an die Gurgel. Schon deshalb muss eine solche Anstalt bewacht werden, strenger als ein Gefängnis.“
„Ist es wirklich so schlimm?“, fragte sie mit dem erwarteten Entsetzen.
„Noch viel schlimmer!“, fuhr er fort. „Ich könnte Ihnen von Dingen berichten“, er machte eine bedeutungsschwere Pause, „doch lassen wir das – sonst bekommen Sie noch Albträume. Und das wollen wir doch nicht, oder?“ Er lachte hämisch. „Das Problem ist nur“, bemerkte er und räusperte sich, „dass die Patienten nicht verantwortlich sind. Wenn also etwas passiert, ist es immer unsere Schuld. Bleiben Sie daher unbedingt an meiner Seite. Dann kann Ihnen nichts passieren.“
Ihre plötzliche Betroffenheit versöhnte ihn. Allerdings vermisste er ihre ängstlichen Rückfragen, um sie dann mit salopper Verharmlosung in noch größere Unruhe zu versetzen. Das war sozusagen seine Spezialität.
Stattdessen Schweigen. Das war ärgerlich. Schließlich war er kein Anfänger, sondern als Hauptkommissar und erster SB2 im Kommissariat 21 ein Routinier seines Fachs.
Erst neulich hatte ihm der Referatsleiter, Oberrat Dr. Stedekinn, der ihm zutiefst zuwider war, anlässlich seines 25-jährigen Dienstjubiläums in aller Form gratuliert. Dabei lief ihm bei der Erinnerung an den laschen Händedruck noch immer ein Schauer über den Rücken. Dieser Kerl konnte einem aber auch nicht gerade in die Augen sehen. War es vielleicht Rache, als dieser maßgeschneiderte Olympiakörper sich erdreistete, ihn vor versammelter Mannschaft einen alten Haudegen zu nennen?
Seitdem hieß Alex überall nur noch ‚Haui‘, obwohl er bestimmt alles andere als eine Rampensau war. Sein Enddienstgrad war so gut wie erreicht, sein Dienstlächeln eingebrannt, und bis jetzt hatte er noch jede Hürde mit links genommen.
Was sollte also diese dumme Bemerkung? Womöglich hatte dieses Mäuschen von Referendarin davon erfahren und gab sich deshalb so zugeknöpft. So etwas ging in dieser Behörde schnell.
Freilich hätte er das erfragen können. Aber das war ihm doch zu plump. Wenn sie nicht reden wollte – bitteschön. Sie wusste ja nicht, was sie verpasste. Er konnte nämlich durchaus originell sein und verstand sich auf manch kurzweilige Unterhaltung. Ebenso hatte er in puncto Action und Husarenstücke einiges zu bieten.
Aber warum regte er sich auf? Sie war es doch gar nicht wert. Was erlaubte sie sich eigentlich mit ihrer Wortkargheit? Ein bisschen Small-Talk war doch nicht zu viel verlangt.
Bis jetzt hatte sein neuer Schützling nicht mal Referenzen und die Zwischenbeurteilung fiel auch nicht besonders gut aus. Adjektive wie ‚introvertiert‘ und ‚sensibel‘ deuteten schon jetzt auf ein baldiges Scheitern hin. Und ob das allein mit weiblichen Attributen zu kompensieren war, blieb fraglich.
Das sah Björn Altnickel, sein Erzrivale aus dem Nachbarkommissariat, freilich ganz anders. Als die ‚Neue‘ nämlich kurz vor der Abfahrt ganz ungeniert mit kapriziös übereinandergeschlagenen Beinen die Akte studierte, bekam dieser Trottel wahre Stielaugen. Natürlich begriff er nicht, dass dies nur eine Masche war.
Doch Alex dachte nicht daran, ihn zu warnen. Warum auch? Dieser Kerl war ein Schmierfink. Zwar brüstete er sich gegenüber Anfängern gern mit seinem Halbwissen, zog aber in entscheidenden Momenten sofort den Schwanz ein. Dann kannte er seinen Platz und empfahl sich als aufrechter Getreuer. Das kam bei Stedekinn gut an.
Als Alex ihm das mal vorwarf, sprang der Oberrat seinem Günstling prompt bei. Die Folge war, dass dieses ‚Nickelchen‘ seither vor Kraft kaum laufen konnte.
Im Fall der neuen Referendarin hätte er am liebsten selbst die Patenschaft übernommen. Aber Alex kam ihm zuvor. Allerdings nicht wegen ihrer schlanken Beine, wie ihm dieser Miesepeter sofort unterstellte. Vielmehr sah er es als fachliche Herausforderung an. Alles andere wäre lächerlich.
„Ich will ja nicht indiskret sein, aber habe ich richtig gehört? Freifrau von …?“, fragte er jetzt mit schiefem Lächeln, ohne den Blick von der Fahrbahn zu nehmen.
„Ganz recht“, entgegnete sie und rückte ihre Brille zurecht. „Charlotte, Clementine und so weiter Freiin von Hardenberg. Meine Familie stammt aus dem Rheinland und hat einen langen Stammbaum. Mein Rufname Katharina kommt übrigens erst an sechster Stelle.“
„Wieso das?“
„Weiß nicht. Ist nun mal so. Sie können aber gerne Kathi zu mir sagen. Auf die anderen Dinge lege ich keinen Wert.“
„Aber warum so bescheiden? Als Aristokratin sind Sie doch, ich meine, bist du doch etwas Besonderes. So etwas hatten wir hier noch nie. Sind die Toilettenschüsseln zuhause tatsächlich vergoldet und die Klosettbürsten aus Straußenfedern, wie man hört?“
‚Blödian‘, dachte sie, ohne darauf etwas zu erwidern.
„Wie dem auch sei.“ Alex lachte gequält. „Da kann ich mit einem Schuster als Vater und einer Hausfrau als Mutter nicht mithalten.“
„Umso besser. Sonst kämen wir vor lauter Referenzen zu nichts anderem mehr.“
„Wie du das sagst. Klingt irgendwie ulkig. Im Kommissariat gibt es keine Referenzen. Hier gibt es nur Ansagen, wenn du verstehst.“
„Natürlich verstehe ich das. Warum fragen Sie mich eigentlich ständig, ob ich etwas verstehe?“
„Tue ich das?“
„Allerdings. Offenbar merken Sie das gar nicht.“
„Ach, nun sei doch nicht gleich eingeschnappt. Das war nur ein Scherz. In diesem Geschäft braucht man ein dickes Fell. Das wirst du in den kommenden Wochen noch bekommen, verlass dich drauf. Gute Freunde nennen mich übrigens Alex. Klingt zwar nicht gerade aristokratisch, aber dafür ehrlich.“ Kumpelhaft streckte er ihr die Hand entgegen. Was blieb ihr, als sie zu ergreifen, obgleich sie Körperkontakte für gewöhnlich mied. „Okay Alex. Also wenn es erlaubt ist?“, sagte sie, zog die Hand aber gleich wieder zurück.
‚Kann ja heiter werden‘, fiel ihm spontan dazu ein, überspielte es aber mit einem bitteren Lächeln. „Tu’ mir bitte einen Gefallen, Kathi – frag‘ nie wieder, ob etwas erlaubt ist, sonst bekomme ich Komplexe … Mein Nachname lautet übrigens Knoblich und nicht Knoblauch. Ich sage das nur, weil das manche gern verwechseln.“
„Kann ich mir denken.“
„Nichts kannst du dir denken!“, fuhr er sie plötzlich ungewöhnlich scharf an. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es ist, wegen seines Namens gefoppt zu werden. Als ob ich etwas dafür kann! Dabei waren die Knoblichs stets aufrechte Menschen. Zwar keine Adligen, dafür aber rechtschaffen und bestimmt keine Katzbuckel! Im Übrigen wird es in der Anstalt von Aristokraten nur so wimmeln. Da gibt es Fürsten und Könige. Mit ein bisschen Glück treffen wir sogar den Kaiser von China. Ist es dein erstes Praktikum im Bereich Gewaltdelikte?“
„Ja.“
„Dann sind deine Erwartungen sicher hoch“, bemerkte er mit hochgezogener Braue.
„Ja.“
„Dann wird es schwierig für mich.“ Alex schaltete runter und stoppte an einer roten Ampel.
Seine Begleiterin rätselte, da er einerseits mit seiner Erfahrung protzte, andererseits grundlegende Dinge übersah. Von Resozialisierung schien er jedenfalls nicht viel zu halten und seinem Benehmen mangelte es an Takt. Offenbar erschöpfte sich sein Repertoire allein im ‚Sprücheklopfen‘ und zweifelhaftem Witzereißen.
„Weiß nicht“, antwortete sie.
„Herrgott, bist du immer so kurz angebunden?“
„Nein … Ich meine, das kommt immer ganz auf die Sache an“, korrigierte sie sich schnell, um ihn nicht noch weiter zu verärgern. „Der Coach sollte im Fall einer Ausbildung einfach wie immer handeln. Der Praktikant wird dann schon das Beste für sich daraus extrahieren.“
„Extra… was?“ Alex verschluckte sich und verpasste fast die Grünphase. Rasch drückte er aufs Gaspedal.
„Ich meine … Ach, schon gut.“ Auch wenn es an seiner fachlichen Erfahrung nichts zu deuteln gab, fehlte zu einer wirklichen fruchtbaren Kommunikation oder gar Kameradschaft noch ein ganzes Stück.
So blieb ihr nur zu hoffen, dass die nächsten Wochen möglichst schnell vergingen, ehe sie noch ernst zu nehmende Magenschmerzen bekam. „Wie oft warst du eigentlich schon bei diesem … Klienten?“, fragte sie plötzlich aus ihren Gedanken erwachend.
„Patienten. Sag’ Patienten, das klingt besser“, korrigierte er sie sofort. „Ich bin sein Dauergast. Ehrlich gesagt, habe ich meine Besuche bei ihm nicht gezählt. Aber er hält uns mit seinen widersprüchlichen Aussagen ganz schön auf Trab.“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Nun, er weiß genau, wie weit wir gehen dürfen. Manchmal macht er sich einen Spaß daraus, uns daran zu erinnern. Und wenn ihm etwas nicht passt, beschwert er sich sofort. Es ist also in jedem Fall Vorsicht geboten, besonders wenn er liebenswürdig wird.“
„Klingt interessant.“
„Aber auch gefährlich.“ Mahnend hob Alex den Finger. „Umgängliche Menschen sind mitunter die Listigsten. Sie bleiben unberechenbar. Hinzu kommt, dass sich unser Freund meist sehr höflich gibt und schwülstige Ausdrücke geradezu liebt. Manchmal sind diese so hochgestochen, dass man ihm kaum folgen kann. Aber ich glaube, dass er das auch gar nicht will. Wenn du mich fragst, genügt es ihm, wenn er Recht bekommt. Doch Obacht! Seine Stimmung kann schnell kippen. Dann fordert er meist eine übermäßige und völlig unangebrachte Ehrerbietung für seine Person und redet von oben herab. Spätestens dann sollte man das Gespräch beenden, nach der Devise: Du bist König, ich dein Knecht. Für den Fall eines echten Problems habe ich noch unseren kleinen Sensor in der Tasche, den ich im Bedarfsfall betätige. Dann kommen sofort die Betreuer und regeln die Sache nach ‚Hausmannsart‘.“
„Hausmannsart?“
„Nun, so nennt man das hier. Er wird dann ruhiggestellt.“
„Schön umschrieben. Er ist also aggressiv.“ In der Miene von Kathi zeigte sich zu Alex‘ Überraschung nicht die geringste Regung.
„Nur, wenn man ihn reizt. Aber das werden wir doch nicht, oder?“ Der Hauptkommissar strahlte jetzt eine große Ruhe aus, frei nach dem Motto: ‚Lass mal, ‚Babe‘, Papi wird’s schon machen‘.
„Wie der Aktenlage zu entnehmen ist“, erwiderte Kathi, „soll er seine Frau nach einem Streit ermordet haben. Man sprach von einer regelrechten Schlachtung.“
„Na ja, Schlachtung. Das ist eine Erfindung der Presse, um die Sache etwas anzudicken. So steigert man die Auflagenhöhe. In Wahrheit soll er sie erwürgt haben. Danach hängte er sie – wahrscheinlich aus Gründen der Verschleierung – mit einer Schlinge um den Hals ans Fensterkreuz. Allerdings gehen hier die Meinungen auseinander. Besonders sein Anwalt versuchte es mit der Suizidvariante. Es kam zu einem Indizienprozess, in dessen Folge er zu lebenslanger Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt wurde. Allerdings musste er nie in Haft, sondern kam gleich hierher, weil sein ‚Defekt‘“, Alex tippte sich an die Stirn, „wohl etwas größer als vermutet war.“
„Sind denn jetzt neue Details bekannt geworden, die seine damalige Aussage in Zweifel ziehen könnten?“
Der Hauptkommissar trommelte nervös mit den Fingern aufs Lenkrad und meinte beiläufig: „So in etwa könnte man das nennen.“
Kathi sah ihn durchdringend von der Seite an. „Wieso in etwa?“
Ihr unerwartet brüsker Ton ließ ihn stutzen. „Wie meinst du das?“
„Na, deine Antwort lässt doch auch eine andere Option offen“, folgerte sie verwundert.
Entnervt rollte Alex mit den Augen. „Nun leg doch nicht gleich jedes Wort auf die Goldwaage!“
„Entschuldigung. War nicht so gemeint“, gab die Referendarin nach, um ihn nicht erneut zu verärgern, mochte aber dennoch nicht lockerlassen. „Wieso hat er eigentlich seinen Widerruf revidiert? So was habe ich ja noch nie gehört.“
„Woher soll ich das wissen?“ Alex atmete schwer durch. „Aber ist doch auch egal, oder? Er ist meschugge. Wen interessiert da schon ein Widerruf? Deshalb machen wir auch keine Vernehmung, sondern nur eine Befragung. Die hat weiter keinerlei Stellenwert … Was ist? Warum guckst du so?“
„Weiß nicht.“
„Was weißt du nicht?“, fragte er und verzog das Gesicht.
„Was passiert, wenn er uns jetzt etwas anderes erzählt?“, bohrte Kathi weiter. „Ich meine, wenn er das Bedürfnis hat, mit der Wahrheit herauszukommen? Ich habe seine Akte gelesen und fürchte, dass er …“
„Wahrheit? Was ist für den schon die Wahrheit? Er erzählt heute so und morgen so“, witzelte der Hauptkommissar. „Ihm zu glauben oder nicht, ist nicht wichtig. Er erzählt nur, um etwas zu erzählen, weil er sonst nichts anderes zu tun hat. Schon deshalb ist seine Aussage nichts wert, denn er ist verrückt. Nicht zurechnungsfähig, verstehst du? Das haben wir amtlich. Es kommt allein auf den Hintergrund an, auf mögliche Veränderungen in seinem Wesen, die im Zusammenhang mit unseren Ermittlungen ein neues Bild ergeben könnten. Was ich aber, ehrlich gesagt, kaum erwarte. Dafür kenne ich ihn zu gut. Wir können es also locker angehen. Die Öffentlichkeit ist beruhigt und die Justiz tut, wozu sie verpflichtet ist. Aber mal unter uns: Glaubst du wirklich, irgendjemand hat noch ein Interesse daran, diesen Schlamm wieder aufzuwühlen? Das alles ist nur eine Art Schattenboxen, mehr etwas für die Akte oder für Azubis wie dich.“ Er zwinkerte ihr schalkhaft zu.
„Für die Akte?“, wiederholte sie verwundert.
„Ja – und jetzt stell’ dich nicht so an!“ Seine Stimme nahm an Schärfe zu. „Wir machen des Öfteren etwas für die Akte. Meinst du, ich finde das immer gut? Aber soll ich dir was verraten? Das ist das Vernünftigste. Also werden wir auch hier mit angezogener Handbremse fahren. Denn wer nichts macht, kann nichts falsch machen, hehehe.“
Kathi glaubte, sich verhört zu haben. Also fragte sie nach einer Weile mit unterdrücktem Trotz, warum man dann überhaupt noch dorthin fahre, wenn es ohnehin belanglos sei.
„Wir sind hier doch nicht beim FBI“, ereiferte Alex sich erneut. „Es geht allein um die Verwaltung, damit alles seine Richtigkeit hat. Immerhin leben wir in einem Rechtsstaat und dort besitzt eine Eruierung vor Ort noch immer einen höheren Stellenwert als eine fernmündliche Aktennotiz. Also fahren wir hin und befragen, oder genauer, unterhalten uns mit ihm, auch wenn es nur wenig nützt. Aber wenn ich dir aufzähle, was ich schon an Nutzlosem getan habe, würdest du mich sicher für bescheuert halten. Doch so ist das nun mal. Wir werden nicht dafür bezahlt, den Wert einer Maßnahme zu beurteilen, sondern diese optimal durchzuführen.“
Kathi hatte Mühe, sich zu beherrschen. Dennoch konnte sie sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen, indem sie anmerkte, dass sie dann nichts weiter als Büttel seien.
„Was soll dieser Unsinn?“ Abermals echauffierte er sich. „Du wirst recht schnell begreifen, dass es nach jeder verflogenen Anfangseuphorie sehr bald nur noch um reinen Pragmatismus geht. Erst wenn alle romantischen Fragen geklärt sind, gelangen wir zum Kern … Versteh’ doch – für diesen Mann ist die Wahrheit bedeutungslos, weil er sich in seiner Welt eingerichtet hat und sich darin wohlfühlt. Wir wären schlecht beraten, daran etwas zu ändern. Solange darüber Zufriedenheit herrscht, ist doch alles gut … Sein Name ist übrigens Bertold Wittenburg, Professor Bertold Wittenburg. Auf diese Anrede legt er großen Wert. Ansonsten bitte auf kein Frage-Antwort-Spiel einlassen … Am besten, du hältst dich zurück und lässt mich machen.“
Kathi war entsetzt. Nicht genug, dass sie seine laxe Haltung schockierte. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Von wegen, ‚gewöhnliches Frage-Antwort-Spiel‘ und ‚lass mich mal machen‘. Seine Geringschätzung war unerträglich. Zudem störte sie seine bevormundende Art.
Auch wenn sie noch keine konkrete Vorstellung von ihrem Praktikum besaß, erwartete sie doch Unvoreingenommenheit und Fairness. Deshalb hatte sie sich ja auch für dieses Kommissariat entschieden.
Immerhin ging es hier um keine sogenannten ‚Pillepalle-Fälle‘, wie einen Ladendiebstahl in Höhe von zwanzig Euro. Mord und Totschlag waren ihr gerade recht und je verfahrener die Kiste, umso besser. Am liebsten wäre ihr ein aktueller Fall gewesen, an dem man sich die Zähne ausbeißen konnte, jedoch keiner, der bereits abgelegt war.
Nun aber eine solche Ernüchterung zu erleben, war frustrierend. Dazu noch dieser oberschlaue und zugleich demotivierte ‚Vortänzer‘.
Mochte er sich noch so sehr in enge Hemden zwängen oder mit eingezogenem Bauch vor ihr posieren. Das machte auf sie keinerlei Eindruck. Im Gegenteil. Es gab nichts Lächerlicheres als einen alternden Macho, der sich in seiner Wirkung überschätzte.
Zwar war er optisch nicht unbedingt abstoßend, aber auch nicht sonderlich anziehend. Er erschien ihr einen Hauch zu selbstverliebt. Zudem wirkte sein Lächeln zu aufgesetzt. Nein, er war nicht das, wofür er sich hielt, nicht mal im Ansatz. Dafür war er viel zu spießig und von sich eingenommen. Er lachte zu den eigenen Possen am lautesten und war offenbar auch schnell beleidigt.
Sie wunderte sich über ihre Gedanken. Für einen Moment erwog sie allen Ernstes, vom Referatsleiter eine neue Aufgabe zu erbitten. Doch das wäre unklug. Man könnte sie für nörglerisch halten und womöglich mit einer noch anspruchsloseren Aufgabe betrauen. Davon gab es hier reichlich. Außerdem war es unrealistisch, in ihrer Position Forderungen zu stellen.
Also beschloss sie zurückzustecken, wenn auch mit Bauchweh. Ihr Ziel war ein gutes Praktikum mit der Hoffnung auf möglichst viele Referenzen.
Ihr Vater hatte sie schon zu Lebzeiten von der Teilhabe des familiären Kelterbetriebes ausgeschlossen. Standesgemäß fiel das Erbe ihrem Bruder Claus-Alfred als Stammhalter zu. Danach folgte ihr neun Jahre jüngerer Bruder Roman, der heute sein Leben in einer Bank als Sachbearbeiter fristete.
Sie als Tochter bekam vom Vater hingegen einen Job als Erzieherin in einem Kindergarten vermittelt, was ihrem Wesen eher entspräche, wie er sarkastisch anmerkte. Das kam natürlich nicht infrage. Täglicher Lärm, ständiges Windelwechseln und Albereien auf den Knien. Was für ein Albtraum.
Seitdem Kathi vorzeitig auf ihr Erbe gepocht hatte, um als Franchise-Unternehmerin einen eigenen Fair-Trade Laden zu eröffnen, hatte sie sich mit ihrer Familie überworfen. Ihr alter Herr wollte ihr sogar den Adelstitel absprechen. Doch dazu war es wegen seines Todes dann nicht mehr gekommen.
Am Ende fand sie ein neues Ziel in einem Jurastudium in der Landeshauptstadt Kiel. Hier fühlte sie sich wohl. Und ihrem Steckenpferd – die menschliche Psyche – kam es auch entgegen.
****
Mittlerweile waren sie angekommen. Alex stellte das Auto umständlich und mit großem Trara auf dem Besucherparkplatz ab. Maßlos regte er sich über das Wachpersonal auf, weil man ihnen den Dienstparkplatz verweigerte.
Schließlich sei man nicht zum Spaß hier und verfüge über einen Dienstauftrag, blaffte er die Bediensteten an. Dabei wedelte er mit seiner Dienstmarke herum und kündigte ein Nachspiel an.
Es folgten noch einige Kraftausdrücke, bis er allmählich wieder runterkam. Nun drückte er Kathi den Laptop in die Hand, nahm aber selbst nur die leichtere Schreibmappe. Forsch schritt er voran, dabei auf Abstand bedacht.
Am Zugangstor gab ihr ‚Vortänzer‘, wie er sich ironisch nannte, den Code ein. Dabei postierte er sich aber so, dass seine Begleiterin nichts sehen konnte. Überhaupt gab er sich mit einem Mal sehr förmlich und all seine vormals vorgetragene Laxheit schien wie verflogen.
Mit einem Summen öffnete sich die Tür und gab den Weg zur Schleuse frei. Spätestens hier zeigte sich, dass das Gebäude mit modernster Sicherheitstechnik ausgestattet war.
Dabei handelte es sich um einen circa vier Meter langen Gang, an dem sich eine weitere Kontrollstelle anschloss. Nach kurzer Durchsicht der Auftragsbescheinigungen wurden ihnen die Besucherkarten ausgehändigt. Diese mussten gut sichtbar an der Kleidung befestigt werden.
„Damit man uns nicht verwechselt“, blödelte Alex grinsend und drückte ihr das Namensschild ans Revers.
Nach Abgabe von Handys, Dienstausweisen und Waffen begaben sie sich zu einer weiteren, gegenüber befindlichen Metalltür mit einer kleinen Klappe in Kopfhöhe. Als diese sich öffnete, wurden sie von zwei strengen Augen taxiert. Nach ein paar belanglosen Späßen ihres Vortänzers, um die Sache etwas aufzulockern, ließ man sie passieren.
Angesichts des sich anschließenden sterilen Vorraums empfand Kathi, trotz des geschäftigen Treibens um sie herum, eine gewisse Beklommenheit. Immer wieder schaute sie sich um. Gab es hier tatsächlich, den Gerüchten nach, biometrische Schleusen mit Venenscanner? Sie konnte sich das nicht vorstellen.
Darauf angesprochen, reagierte Alex nur mit einem lapidaren: „Quatsch“ und trat auf den Bediensteten zu, der diesen Korridor zu bewachen schien.
„He Du! Habt Ihr hier so was wie einen Kaffeeautomaten? Ach, da drüben. Danke!“ Wenig später kehrte er mit zwei Pappbechern zurück und reichte seiner Begleiterin einen – koffeinfrei. Verwundert sah sie ihn an.
„Was guckst du so? Ich muss auf meine Pumpe achten. Bin nicht mehr der Jüngste.“
Während sie zaghaft nippte, registrierte sie den Ansatz einer Tätowierung an seinem linken Unterarm. Passt. Irgendwie prollig und bauernschlau, dachte sie bei sich, kehrte aber sofort wieder zum Geschehen zurück. Neugierig musterte sie die vorbeieilenden Mitarbeiter. Alex hingegen lehnte lässig an der Wand und sah durch eines der vergitterten Fenster.
„Ich verstehe das nicht“, begann sie mit einem Mal. „Warum diese ganze Geheimniskrämerei?“
„Wieso? Was meinst du?“
„Ich habe den Eindruck, hier wird nicht mit offenen Karten gespielt. Was ist mit der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen, deren Nachvollziehbarkeit und leitungsmäßigen Kontrolle?“
Jetzt lachte er herzhaft. „Das hast du fein gesagt. Man sieht, du hast deine Hausaufgaben gemacht!“
Mit funkelnden Augen sah sie ihn an, ließ aber nicht locker. „Ist unsere Abteilung auch für die Auswertung der richterlich angeordneten Aufzeichnungen von Kommunikationsdaten zuständig?“
„Das wäre wünschenswert, ist aber strukturell nicht vorgesehen.“
„Also keinen Zugang zu weiteren relevanten Informationen?“, folgerte sie.
Er runzelte die Stirn. „Was sollen diese Fragen?“
„Ich verstehe. Ich darf nur wissen, was für meine Dienstverrichtung vonnöten ist“, erwiderte sie auffallend gereizt und kratzte sich am Arm.
„Das hat auch Vorteile“, witzelte Alex.
„Kann ich mir denken.“
„Nichts kannst du dir denken! So etwas überlass Anderen, die dafür bezahlt werden“, fuhr er sie an, sah genervt auf die Uhr und drängte zum Aufbruch. Im Gehen warf er seinen halb vollen Pappbecher neben den Papierkorb, war aber zu faul, ihn wieder aufzuheben, weshalb nun eine hässliche Kaffeelache zurückblieb. „Was ist?“, grunzte er, als er bemerkte, dass sie darüber das Gesicht verzog.
„Nichts. Schon gut.“
Wenig später erreichten sie einen langen Flur, in dem ihnen grelles Licht von dutzenden Neonleuchten entgegenschlug. Zwei kräftige Betreuer in schneeweißer Kleidung nahmen sie in Empfang. Wortlos durchschritten sie die Flure des Gebäudes. Ihre Schritte hallten auf dem Fliesenboden. Kurze Zeit später erreichten sie den Sicherheitstrakt – den sensiblen Bereich, wie Alex ihr bereits im Vorfeld erklärt hatte.
„Gleich wird es ernst“, alberte er herum und deutete einen leichten Schauer an, wie ein leichtfertiger Mensch gegenüber einem unbedarften Kind, um es zu erschrecken.
Kathi fiel auf, dass alle Milchglastüren mit massiven Kastenaufbauschlössern versehen waren, welche nach dem Öffnen gleich wieder zuschnappten. Keine dieser Pforten blieb länger als fünf Sekunden offen, zweifellos aus Sicherheitsgründen.
Ein ungutes Gefühl, irgendwo zwischen Neugier und Angst, beschlich sie, welches durch die seltsame Stille und Teilnahmslosigkeit der beiden Pfleger noch verstärkt wurde, da diese jeden Blickkontakt vermieden und recht abwesend wirkten. Dabei war es weniger die Schweigsamkeit, als deren sonderbare Entrücktheit.
Seltsamerweise war Alex jetzt auch ganz ruhig geworden, als wollte er die ohnehin schon erdrückende Spannung noch steigern. Dabei hatten sie den Patientenbereich noch gar nicht erreicht.
Wenig später wurden diverse Türen von einem der Betreuer unter dem Rasseln des mächtigen Schlüsselbundes geöffnet. Bemerkenswert war, dass kein Schlüssel zu einer zweiten Tür passte. Nur anhand ihrer farbigen Kennzeichnung waren sie für das Personal zu unterscheiden.
Für einen Moment ergriff Kathi eine absurde Panik. Sie dachte daran, dass sie ihre Besucherkarte verlieren könnte. Ganz ohne Legitimation würde es schwierig werden, ihre Identität und vor allem ihre Normalität zu beweisen. Man hörte wiederholt, dass es gerade in Nervenheilanstalten keinen relativeren Begriff als den der Normalität gäbe, denn im Grunde sei dieser durch nichts zu belegen, außer durch die eigene Behauptung.
Allerdings kam Kathi zu keinen weiteren Überlegungen, denn inzwischen hatten sie den Patientenbereich erreicht, wo sich ihnen sogleich ein seltsames Szenario bot. In einer hell erleuchteten Halle mit kahlen Wänden und großen vergitterten Fenstern herrschte viel Lärm, ähnlich wie in einer Bahnhofshalle.
Überall standen Leute herum und waren mit irgendwelchen sonderbaren Dingen beschäftigt. Während einige in tiefer Apathie eigenartige Körperübungen vollführten, waren andere in lautstarke Monologe vertieft und das so heftig, dass sie teilweise vor Eifer errötete Wangen hatten. Wieder andere sangen, schienen überaus konzentriert oder wirkten anderweitig sehr beschäftigt. Manche saßen da und wippten stoisch mit dem Oberkörper. Andere rauften sich die Haare und kreischten fortwährend.
Noch schlimmer aber war der penetrante Geruch von Medizin und abgestandener Luft. Der graue Boden und die gelben Wände waren fleckig. Nur mit Mühe konnte Kathi einen Würgereiz unterdrücken. Unwillkürlich wich sie ein Stück zurück.
Eine Frau mit kurzem, schneeweißem Haar saß auf einem roten Stuhl und keifte jeden an, der an ihr vorbeizog. Sekunden später bedeckte sie die Ohren und rief immer wieder nach ihrem Kind, indes eine andere darüber hysterisch lachte. Unverhofft trat ein kleiner kahlköpfiger Mann auf Kathi zu und nannte sie ‚seine Rose‘.
Jemand anderes fragte, was das Fräulein von Beruf wäre. Mit großen Augen schaute er sie an, klatschte in die Hände und küsste sich die Finger. Und das tat er genau in dem Moment, als Kathi zu ihm zurückblickte.
Wieder ein anderer – ein schmächtiges Kerlchen in Filzlatschen und mit einem viel zu großen Militärmantel bekleidet – salutierte vor ihr in strammer Haltung. „Genossin Major! Während meines Dienstes keine Vorkommnisse! Es meldet Stabsgefreiter Krömer!“
Daraufhin durchfuhr Kathi ein solcher Schreck, dass sie den Sensor betätigt hätte, wäre sie in dessen Besitz gewesen.
„Danke, rühren!“, sprang Alex ihr sogleich bei. Daraufhin machte der Mantelträger eine exakte Kehrtwendung und paradierte im Stechschritt davon.
Darüber amüsiert, erklärte der Hauptkommissar, dass es sich bei dieser Person um einen ehemaligen NVA-General handele, dem der militärische Drill zu Kopf gestiegen sei. Bei ihm gehe alles nach Dienstvorschrift. Diese habe er so verinnerlicht, dass sie per Knopfdruck abrufbar sei.
Kathi war völlig perplex. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, folgte die nächste seltsame Begegnung: Ihnen stand eine absonderliche Gestalt mit einem Metalleimer über dem Kopf gegenüber.
„Sie dürfen hier nicht passieren! Das ist mein Claim!“, hallte eine dumpfe Stimme unter dem Topf hervor.
„Da irrst du dich aber, mein Bester“, erwiderte Alex und klopfte gegen das Blech. „Die Schürfrechte gehören mir und das weißt du genau. Außerdem waren deine letzten Nuggets falsch.“
„Meine Nuggets waren echt!“, protestierte die Stimme, den Tränen nahe.
„Waren sie nicht!“, beharrte Alex, nun ganz in seinem Element. „Du schuldest mir seither fünf Dollar und glaube mal nicht, dass du sie mit dem nächsten Drink verrechnen kannst!“
Und während er weiterhin mit ihm debattierte und dabei allerlei haarsträubende Gründe für seinen Zweifel anführte, fasste plötzlich jemand nach Kathis Hand und zog sie etwas zur Seite.
„Ihr Kollege macht das ausgezeichnet. So sollte man vorgehen – den Dialog annehmen, ihn erweitern und ihn somit in Übereinstimmung mit dem Rezipienten bringen.“ Die Person, die das sagte oder besser analysierte, war ein sympathisch wirkender Mann in den mittleren Jahren mit dunklen, überaus lebendigen Augen, sanfter Stimme und einem angenehmen Gesichtsausdruck. Er trug einen weißen Kittel und ein Namensschild auf der Brust – zweifellos der Stationsarzt. Während des Sprechens schaute er sie jedoch nicht an, sondern verfolgte gebannt den Disput, als fürchtete er, etwas zu verpassen.
„Ein Zugang zum Patienten ist nur über ein Eintauchen in dessen Psyche möglich“, fuhr er erklärend fort und stand in dem Aufruhr so unverrückbar und gerade wie ein Leuchtturm in Nordseewellen. „Allein das Aufgreifen seiner Innenwelt durch eine glaubwürdige Reflexion erzeugt eine beiderseits tragfähige Kommunikationsbasis. So etwas nennt man in der Psychiatrie ‚Kommensurabilität‘. Ich habe diese Notwendigkeit Ihrem Kollegen bereits erläutert und er scheint es zu beherzigen, wie man sieht. Sie müssen wissen, dass hier jeder seinen Tick hat. Nur gehört es hier zur Normalität, verrückt zu sein, so paradox es auch klingen mag.“
Kathi war überrascht, aber auch erleichtert. Sogleich sondierte sie den Arzt etwas näher. Offenbar hatte Alex seinen Sensor betätigt, was das plötzliche Erscheinen des Weißkittels bewirkt hatte.
„Oh ja“, erwiderte sie spontan, obwohl sie keineswegs alles verstanden hatte. „Ich finde das sehr interessant. Und wenn ich ehrlich bin, hätte ich das von Alexander, ich meine von Herrn Hauptkommissar Knoblich, gar nicht erwartet.“
Ihr Gegenüber schien erst etwas darauf erwidern oder protestieren zu wollen, dann lächelte er vieldeutig.
„Zugegebenermaßen“, gestand sie schließlich, „wüsste ich nicht, wie ich mich in solchen Situationen verhalten sollte.“
„Ach, das ist gar nicht so schwer“, winkte der Mann mit einem sanften Lächeln ab. „Sie müssen nur die Abnormität als etwas Normales begreifen. Dann …“ Er hielt kurz inne, da plötzlich eine aufgebrachte Frau auf ihn zusteuerte.
„Sie Wicht! Was fällt Ihnen ein“, keifte diese augenblicklich los und plusterte sich drohend vor ihm auf. Unwillkürlich wich Kathi einen Schritt zurück.
„Was ist denn los, was ärgert Sie?“, fragte er mit einem unbeeindruckten freundlichen Lächeln.
„Die Äpfel“, stieß sie gehetzt aus. „Wo sind die Äpfel?“
„Welche Äpfel?“
„Die für den Kuchen!“, knurrte sie. „Jemand hat Geburtstag. Ich muss sofort einen Apfelkuchen backen. Aber die anderen glauben mir nicht.“
„Ich glaube Ihnen“, sagte er, lächelte und nickte. Dann tat er, als reiche er ihr einen Korb und meinte: „Hier sind sie!“
Augenblicklich strahlte sie über das ganze Gesicht und lachte aus vollem Hals. Es war, als hätte ein Frühlingswind die Gewitterwolken weggeblasen. Und obgleich es nichts als eine leere Geste war, tänzelte sie vergnügt davon, so tuend, als hielte sie tatsächlich einen Korb in der Hand. „Es gibt Kuchen. Jawohl, Kuchen!“, rief sie. „Heute feiern wir Geburtstag.“ Kathi sah der Frau sprachlos nach.
„Sehen Sie, welche Kraft die Einbildung besitzt?“, fuhr ihr Gegenüber jetzt seelenruhig fort. „Genau genommen ist das Leben ein Parforceritt. Irren wir nicht alle durch die Stadt wie Kassandra durch das belagerte Troja, und sind die Einzigen, die von einem nahenden Verhängnis wissen, aber niemand will uns zuhören? Letztlich sind wir doch alle verrückt – ein jeder auf seine Weise. Nur wo beginnt Normalität und wo endet sie? Die Grenzen hierfür sind mitunter fließend. Oder was meinen Sie dazu?“
Ratlos zuckte Kathi mit den Schultern.
„Sehen Sie dort drüben den kleinen Kahlkopf mit der grünen Jacke? Er ist ein Autist, der morgens, sobald der Wecker geklingelt hat, zur Dusche schlurft und sich Apfelshampoo ins Haar massiert. Apfelshampoo, unbedingt, ohne Kompromisse. Anschließend putzt er sich die Zähne – erst die linke obere Kauleiste, dann unten und wieder oben. Genauso verfährt er mit der rechten Seite. Immer in derselben Reihenfolge. Fertig. Niemals anders. Aber Hand aufs Herz“, er machte eine rhetorische Pause, „wer tauscht denn gern seine Gewohnheiten? Sie etwa?“ Im selben Atemzug fuhr er fort: „Ebenso darf bei diesem Burschen ein Bleistift nicht mit der Spitze nach unten in einem Behältnis stecken. Das macht ihn fuchsteufelswild. Am meisten aber hasst er es, wenn jemand am Esstisch die Kartoffeln mit der Soße vermanscht. Das muss man beachten, wenn man Zugang zu ihm sucht. Ansonsten ist er von anderen Menschen kaum zu unterscheiden.“
Unerwartet zupfte jemand an dem Ärmel von Kathi und sah sie wie ein bettelnder Hund an, mit der Frage, ob sie etwas zu essen hätte. Dabei rotierte dessen Hand auf seinem Bauch.
Erschrocken fuhr sie herum und schüttelte den Kopf. Als sie wieder allein waren, fuhr der Weißkittel seelenruhig fort: „Das Wichtigste ist, dass man den Leuten zuhört und das glaubhaft. Das ist wichtiger als alles andere. Wenn Sie wollen, stelle ich Ihnen einige Patienten vor!“
„Nein danke!“, wehrte Kathi entschieden ab. „Es ist für mich hier noch vieles zu fremd.“
„Kann ich verstehen“, pflichtete der Doktor ihr bei. „Und doch gibt es kaum eine bessere Möglichkeit zur freien Kommunikation als hier. Wie oft lassen wir uns in unseren Urteilen von althergebrachten Zwängen und Glaubenssätzen leiten. Wenn es uns aber gelingt, diese Muster zu überblenden und den reinen Fakt zu betrachten“, er räusperte sich, „kommen wir zu einem völlig wertfreien Denken, getreu dem Spruch ‚sapere aude‘3.“
Dabei strahlte er Kathi an, die von seiner Professionalität beeindruckt war. Sie versuchte zu nicken, war aber aus einem ihr unerklärlichen Grund blockiert. „Wie um Himmelswillen kommen Sie darauf?“
Unverhofft verlor er alle Hemmungen, neigte sich ihr zu und flüsterte in fast schon unangenehmer Vertrautheit: „An Kants Leitspruch kommt niemand vorbei, das wissen wir beide doch besser als jeder andere, nicht wahr?“
Entgeistert sah Kathi ihn an. Offenbar war er nicht normal. Aber wer war das hier schon. Folglich schwankte ihr Urteil zwischen einem guten Psychologen und einem durchtriebenen Scharlatan, der mit ihrer Unwissenheit spielte, um sie zu erforschen. Normalerweise hasste sie so etwas. Jetzt aber schmeichelte es ihr.
Erst jetzt stellte sie zu ihrer Verwunderung fest, dass er noch immer ihre Hand hielt, die er bei der Begrüßung wie selbstverständlich ergriffen hatte.
Plötzlich bemerkte sie ihren Partner, den sie in diesem Moment ganz vergessen hatte.
Als dieser sie Hand in Hand mit diesem Mann bemerkte, wurde er kreidebleich. Er sagte auch etwas und machte einige hektische Gesten. Aber aufgrund der Entfernung und des Lärms war nichts zu verstehen. Erst als er näher trat und den Doktor aufforderte, seine Begleiterin auf der Stelle loszulassen, kam sie wieder zu sich.
Schon wollte sie Alex beruhigen, denn schließlich wäre doch nichts passiert. Aber als er diesen Mann mit ‚Herr Wittenburg‘ ansprach, fiel sie aus allen Wolken. Augenblicklich zog sie ihre Hand zurück.
„Darf ich Ihnen unsere neue Referendarin vorstellen?“, setzte der Hauptkommissar mit bebender Stimme hinzu. „Katharina Freifrau von Hardenberg.“
„Sehr angenehm. Sind Sie jetzt enttäuscht?“, erkundigte sich der Beschuldigte sogleich mit einem eigenartigen Lächeln.
„Oh nein, durchaus nicht, nur etwas durcheinander!“ Kathi hatte alle Mühe, sich zu beherrschen.
„Professor Wittenburg erlaubt sich bisweilen solche Scherze“, fuhr Alex erklärend dazwischen. „Aber bei seinem Charme fällt ihm so etwas leicht.“
„Glauben Sie ihm kein Wort“, korrigierte der Professor ihn. „Er übertreibt wieder einmal. Es ist nur seine Art, mich bei Laune zu halten, denn er will etwas von mir.“
„Aber verehrter Herr Wittenburg. Sie sollten nicht immer so schlecht von mir denken. Sie wissen doch, ich bin Ihr Freund“, intervenierte Alex katzenfreundlich und deutete sogar eine leichte Verneigung an. „Und wenn ich etwas von Ihnen will, dann nur Ihr Bestes.“
„Ja, natürlich. Deshalb bewundere ich immer wieder Ihre Entschlossenheit! Immerhin sind Sie Ihrem Dienstherrn verpflichtet. Dazu gehört es nun mal, das Kind beim Namen zu nennen. Und dass ich offiziell verrückt bin, ist doch kein Geheimnis, oder?“ Der Professor wandte sich jetzt wieder der Referendarin zu. „Sind Sie schon mal einem Verrückten begegnet, der weiß, dass er verrückt ist?“
„Nein. Aber ich muss Ihnen ein Kompliment machen. Man spürt es wirklich nicht“, gestand sie errötend.
„Oho. Damit bringen Sie aber all diejenigen in Verlegenheit, die ständig das Gegenteil behaupten. Und diese Herrschaften sind bisweilen hoch dotiert.“
„Möglich. Aber ich sage Ihnen nur, was ich denke“, erwiderte sie zu seinem Erstaunen.
„Tun Sie das immer?“ Er musterte sie neugierig.
„Unbedingt“, insistierte Kathi.
„Dann sind Sie sehr mutig. Aber auch sehr dumm, wenn ich das einmal so sagen darf.“
„Wieso?“ Kurz haderte sie.
„Die Wahrheit ist nicht immer populär. Im Gegenteil, man schafft sich mit ihr oftmals Feinde.“ Plötzlich fuhr er zusammen und schaute sich ängstlich um.
„Was ist?“, wollte Kathi sofort wissen.
„Spüren Sie es nicht?“
„Nein, was meinen Sie?“
„Es ist dort oben. Es belauert uns.“
Kathi sah den Professor irritiert an. Dabei hatte sie gar nicht bemerkt, dass Alex ihr die ganze Zeit ein Zeichen gab, jetzt bloß den Mund zu halten.
„Jetzt ist es weg“, mischte ihr Kollege sich schlichtend ein.
„Wirklich?“ Wittenburg sah ihn unsicher an.
„Ganz sicher“, beteuerte der Hauptkommissar.
Die Situation hätte nicht skurriler sein können. Aber während Alex kurz vorm Platzen stand, begann ihr gemeinsamer Patient sie mit einem Mal zu loben. „Ich muss Ihnen gratulieren, mein lieber Knoblich, diese junge Dame wirkt wirklich sehr professionell, ganz anders, als die Letzte, mit der sie es versucht haben.“
„Aber was reden Sie da? Was soll ich versucht haben?“, empörte Alex sich sofort.
„Na, mir etwas zu entlocken, was ich gar nicht sagen wollte. Sie müssen wissen, Frau von Hardenberg, Ihr Mentor ist auf diesem Gebiet unübertroffen. Kaum hat man etwas geäußert, missversteht er es und sucht die Schuld beim Befragten, ohne auf die Idee zu kommen, es liege womöglich nur an seiner falschen Interpretation. Das ist eine geschickte Taktik. Nur hat sie einen Makel. Sie ist unlauter. Gewöhnen Sie sich so etwas niemals an. Es macht unglaubwürdig.“
„Unsinn“, wiegelte Alex lachend ab. „Das entspringt doch alles nur Ihrer Fantasie! Im Übrigen denke ich, sollten wir uns jetzt auf das Wesentliche konzentrieren. Wie fühlen Sie sich, Herr Professor? Noch immer diese Kopfschmerzen?“
„Mir geht es blendend. Sehen Sie das nicht?“ Erneut wandte er sich an Kathi und betrachtete sie aufmerksam. „Eine Freifrau also, interessant. Haben Sie auch blaues Blut?“
„Möglich“, entgegnete sie mit einem verlegenen Lächeln.
„Dann sind Sie ja etwas ganz Besonderes. Wer kann schon einen aristokratischen Stammbaum vorweisen.“
„Da haben Sie recht. Unser Geschlecht lässt sich bis zum Jahr 1436 zurückverfolgen, und man hat mir bereits als Kind die Reihenfolge unserer Ahnen eingebläut. Verlangen Sie aber jetzt bitte keine Aufzählung von mir, sonst sitzen wir heute Abend noch hier.“
„Wäre das so schlimm? Es ist nie verkehrt, seine Wurzeln zu kennen. Übrigens ist in meiner Ahnenreihe auch eine Baroness zu finden, Baroness Ottilie von Trotha-Saalbach. Leider nur mütterlicherseits. Durch ihre Heirat ging später der Titel verloren. Seitdem muss ich mich mit einem nichtigen „Wittenburg“ begnügen“, scherzte der Professor.
„Das hat auch Vorteile“, bemerkte Kathi nüchtern. „Sonst hätten Sie womöglich noch anderweitige Verpflichtungen und diese könnten Ihnen schnell zur Last fallen.“
„Was denn, zum Beispiel?“
„Gewisse Erwartungshaltungen, die nicht immer angenehm ausfallen“, erwiderte sie, wie aus der Pistole geschossen.
„Oh, Sie machen mich neugierig. Sie meinen doch nicht etwa den aristokratischen Dünkel oder die moralische Impertinenz? Das verbindet man doch damit, nicht wahr? Aber so hat wohl jeder sein Päckchen zu tragen … Gratuliere, mein lieber Knoblich. Mit Ihrer Referendarin haben Sie endlich mal eine gute Wahl getroffen! Warum haben Sie mir diese Überraschung nicht angekündigt? Ich hätte doch ein paar Blumen besorgt!“
„Ich bin untröstlich, aber Blumen sind im Dienst passé. Das wissen Sie doch“, stellte der Hauptkommissar unmissverständlich klar, dem die ganze Situation zu entgleiten drohte.
„Blumen sind niemals passé“, korrigierte der Professor ihn sogleich. „Diese kehren all das nach außen, was wir nicht zu sagen vermögen. Und was wäre der Mensch ohne diesen wortlosen Ausgleich?“
„Das haben Sie wieder einmal trefflich formuliert, hahaha, wirklich gut!“ Alex musste jetzt tatsächlich lachen. „Nun wissen Sie auch, warum ich so unausgeglichen bin – mir fehlen die Blumen!“ Sein Lachen artete jetzt zu einem wahren Brüllen aus.
Der Professor maß ihn rätselnd. „Sie sind ein seltsamer Kauz. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?“
„Nein.“ Knoblichs Lachen erstarb und er fragte ernst: „Wie meinen Sie das?“
„Sie lachen an den falschen Stellen.“
„Woher wollen Sie das wissen?“, fragte Alex scharf zurück, der sich vor seiner Partnerin herabgesetzt sah.
„Lachen ist immer Folge einer Inkongruenz zwischen einem realen Bild und der dazu gedachten Vorstellung“, wurde er daraufhin belehrt. „Nur dann animiert es zur Heiterkeit. Sie aber lachen grundlos. Das wirkt nicht nur lächerlich, sondern ist auch ein Zeichen geistiger Beschränktheit.“
Der Hauptkommissar zuckte zusammen. Wer weiß, was geschehen wäre, hätte ihm seine Begleiterin nicht mit einem lockeren: „Aber Humor ist bekanntlich, wenn man trotzdem lacht“, aus der Patsche geholfen.
„Sie meinen das Lachen aus Solidarität?“, folgerte der Professor verwundert.
„Nein, aus Mitgefühl. Bekanntlich ist Lachen ansteckend. Somit ist in diesem Fall diese Inkongruenz inkommensurabel“, blödelte Kathi.
„Inkommensu … was?“ Fragend sah der Hauptkommissar sie an.
„Damit haben Sie durchaus recht“, erwiderte der Professor, ohne Alex aufzuklären. „Denn das dem Lachen zugrunde liegende Motiv ist nichts anderes als eine verzerrte Abstraktion der Vernunft. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht?“
„Nein, und das werde ich auch nicht! Denn ehrlich gesagt, habe ich kein Wort verstanden“, gab Kathi freimütig zu.
„Nun, das konnten Sie auch nicht, denn das war nichts als purer Unsinn.“
„Warum erzählen Sie es mir dann?“
„Um Sie zum Lachen zu bringen, was Ihnen übrigens viel besser steht als Ihrem Kollegen. Darum sollte er auch zum Lachen besser in den Keller gehen.“
„Hören Sie, Professor.“ Empört stemmte der Hauptkommissar die Hände in die Seiten. „Lassen Sie diese Anspielungen! Ich bin keine Witzfigur!“
„Das sagt doch auch niemand. Im Gegenteil, ich meine das im Ernst. Und das ist schlimm genug.“
Über diese Zweideutigkeit verunsichert, flüchtete Alex sich rasch in übertriebene Sachlichkeit und verwies noch einmal darauf, nicht zum Spaß hier zu sein, sondern aus einem bestimmten Grund.
„Natürlich. Beamte brauchen für alles einen Grund, vor allem einen Dienstauftrag. Was sind Sie doch für ein gottverdammter Spießer, Knoblich“, warf ihm der Professor vor.
Alex schäumte. Man sah ihm sein Unbehagen an. Vor allem aber missfiel ihm Kathis Freimütigkeit, die sie seinen eigenen Späßen gegenüber bislang vermissen ließ.
„Herr Professor, Sie werden gestatten, aber ich habe Ihre Akte gelesen und bin auf ein paar Ungereimtheiten gestoßen“, fuhr die Referendarin jetzt zum Entsetzen des Hauptkommissars dazwischen.
„Ja natürlich“, erwiderte dieser. „Weshalb kommen Sie wohl sonst? Nur weiß ich nicht, was das bringen soll.“
„Aber, ich bitte Sie! Es geht um die Wahrheit. Das sollte Ihnen doch auch am Herzen liegen, zumal manches in der Akte unklar ist“, setzte Kathi nach.
„Ist es das?“
„Ich denke schon. Und genau deshalb benötigen wir Ihre Hilfe in Form einer nochmaligen Befragung, die wir protokollieren sollten.“
„Wie stellen Sie sich das vor?“, intervenierte Wittenburg und sah sie entgeistert an. „Ich bin juristisch unzurechnungsfähig. Folglich ist meine Aussage wertlos.“
„Ganz so ist es nicht“, korrigierte sie eilig. „Es gibt da einiges, das wir nur mit Ihrer Hilfe klären können, um die Wahrheit herauszufinden.“
„Die Wahrheit? Wen interessiert schon die Wahrheit, so lange sie nicht die allgemeine Bequemlichkeit stört“, seufzte der Professor und wurde erneut nachdenklich. „Wissen Sie eigentlich, was eine amtlich beglaubigte Entmündigung bedeutet? Sie bedeutet die Befreiung vom Diktat der Moral.“
„Sparen Sie sich Ihren Zynismus“, unterbrach Kathi ihn, wurde aber umgehend von ihrem Kollegen ausgebremst.
„Aber natürlich verstehen wir das, verehrter Professor“, korrigierte er seine Referendarin sofort. „Wir verstehen alles. Deshalb sind wir ja hier. Meine Kollegin hat das nicht so gemeint.“
„Ich meinte das absolut so!“, widersprach sie vehement. „Es könnte sein, dass Sie womöglich unschuldig einsitzen! Ihre Kooperation vorausgesetzt, hätten wir die Möglichkeit, das herauszufinden! Und was tun Sie? Ihnen fällt nichts Besseres ein, als über solchen Unsinn zu sinnieren! Wenn das Ihre ehrliche Meinung sein sollte, gehören Sie wirklich hierher!“
Alex verschlug es die Sprache. War diese Närrin von allen guten Geistern verlassen? Wie konnte sie sich so vergessen. Der Professor starrte sie derweil mit offenem Mund an, aber ihre deutlichen Worte überraschten ihn doch sehr.
Es folgte ein betretenes Schweigen, in welchem niemand als erster das Wort zu ergreifen wagte. Vor allem aber bekam Kathi plötzlich Angst. Fürchtete sie doch, überzogen zu haben.
Plötzlich legte Professor Wittenburg die Hand an die Stirn und sah sie an, als müsste er sie neu beurteilen. „So ist das also. Sie wollen mir wirklich helfen. Dann wären Sie die Erste. Fürchten Sie denn keine Konsequenzen?“
„Tut mir leid. Aber ich verstehe nicht.“
„Nun ja. Man könnte Sie bestrafen, tadeln oder einfach nur übers Knie legen, weil sie etwas Unerwünschtes tun.“ Während der Professor das sagte, verzog er nicht die geringste Miene, indes Kathi krebsrot wurde.
„Was erlauben Sie sich?“, protestierte sie mit vor Zorn gedämpfter Stimme und starrte den Patienten befremdet an.
„Ich erlaube mir, Ihnen zu sagen, dass Sie eine hoffnungslose Idealistin sind.“
„Das sollten Sie doch bitte mir überlassen!“, widersprach sie.
„Nichts lieber als das. Nur bin ich überzeugt, dass Ihr Kollege das ganz anders sieht. Nicht wahr, Knoblich? So wie ich Sie kenne, ist …“
„Aber sicher, Herr Professor!“, preschte dieser sogleich dazwischen, ergriff Kathis Arm und begann, sie langsam zur Tür zu ziehen.
„Was soll das, Herr Professor? Warum lassen Sie sich so gehen?“, intervenierte Kathi, sich Alex‘ Drängen widersetzend. „Sie wissen genau, was auf dem Spiel steht und sicher noch einiges mehr! Nur wagen Sie es nicht auszusprechen, weil Ihr Hochmut Sie daran hindert!“
Jetzt platzte dem Hauptkommissar vollends der Kragen. Mit einem heftigen Ruck riss er sie in Richtung Milchglastür, als wollte er sagen: ‚Halt endlich deine Klappe‘. Dabei rief er dem Professor noch zu: „Sie werden uns entschuldigen, aber wir haben noch einen anderen Termin!“
„Natürlich!“, murmelte der Patient vor sich hin und nickte wie zur Bestätigung. Inzwischen betätigte Alex den Signalknopf. Prompt sprang die Tür auf und er drückte Kathi aus dem Patientenbereich. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
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Kaum draußen, brüllte Alex sie an, ob sie noch alle Tassen im Schrank habe. Er nannte ihr Verhalten in höchstem Maße leichtfertig und dumm und kündigte Konsequenzen an. Dabei war er so erregt, dass er sich ein paar Mal verschluckte. Am Ende gab er ihr unmissverständlich zu verstehen, dass er von ihrem Spleen genug habe und so schnell wie möglich zurückwolle. Hoffentlich könnte man noch Schlimmeres verhindern. Was er damit meinte, ließ er allerdings offen.