Nur Helden werden uns nicht retten - Patricia McAllister-Käfer - E-Book

Nur Helden werden uns nicht retten E-Book

Patricia McAllister-Käfer

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Beschreibung

Warum schreiben journalistische Erzähler*innen dauernd Heldengeschichten? Bringen uns traditionelle Erzählmuster weiter, die Einzelfiguren als »Erlöser« darstellen? Dieses Buch liefert Inspiration für ein zukunftsgewandteres Storytelling in der Klimakrise.

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Patricia McAllister‐Käfer

Nur Helden werden uns nicht retten

Über journalistisches Schreiben in ungewissen Zeiten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2024 oekom verlag, München oekom – Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH, Goethestraße 28, 80336 München +49 89 544184 – 200

www.oekom.de

Layout und Satz: le tex, xerif

Lektorat und Korrektur: Christoph Schachenhofer

Umschlaggestaltung: Laura Denke, oekom verlag

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 9783987263699

DOI: https://doi.org/10.14512/9783987262784

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Cover

fulltitle

Inhaltsverzeichnis

Hauptteil

Inhaltsverzeichnis

Teil 1:

Zwischen Apokalypse und »Alles wird gut«

Kapitel 1:

»Keep your eyes on the horizon«

Kapitel 2:

Wir sind narrativnaiv

Kapitel 3:

Unruhig bleiben und

futures‐literate

werden

Teil 2:

Denkbilder für ein ökologisches Erzählen

Welchen Auftrag haben Held:innen, wenn Probleme unlösbar sind?

Kapitel 4:

Wo bleibt das Happy End?

Kapitel 5:

Geschichten und Begriffe im Fluss

Kapitel 6:

Der Bottom‐up‐Zugang

Kapitel 7:

Lieber Faulenzer:in als Held:in?

Kapitel 8:

Sich mit anderem verwandt machen

Kapitel 9:

Beziehungsarbeit statt Lösungsversessenheit

Kapitel 10:

Ausgesetzt und ungewiss

Kapitel 11:

Alles schön ordentlich und sauber?

Epilog

Hinweis

Danke

Literatur

Abbildungen

Über die Autorin

Anmerkungen

Für meinen Großvater Emmerich Loibl, der, selbst Maschinenschlosser, mir die Liebe zum Schreiben, zum Geschriebenen wie die Liebe zu allem Lebendigen vermittelte.

Und für all jene, die sich davon auch inspiriert fühlen.

Teil 1Zwischen Apokalypse und »Alles wird gut«

Kapitel 1»Keep your eyes on the horizon«

Einleitung und Zugang

»All that you touchyou change.All that you changechanges you.«

Octavia Estelle Butler, Parable of the Sower

Es ist ein frischer, windiger Spätsommermorgen an der irischen Nordküste. Keiran, der Betreiber des Bed & Breakfast, in dem wir auf unserer Reise übernachtet haben, fragt mich, was wir Urlauber heute vorhätten, als ich zum Frühstück komme. Der rauchige Geruch vom Kaminfeuer des Vorabends hängt noch im Raum. Wir wollen nach Tory Island, einer kleinen vorgelagerten Insel. »Gute Idee, heute sollte die Fähre wieder unterwegs sein«, sagt Keiran. Sie könne schon »rough« sein, die eine Stunde Fahrt auf den Atlantik hinaus. Tags zuvor war der Wind zu stark dafür gewesen. »Im Winter fliegen sie die Leute per Hubschrauber raus, weil die Fährfahrt nicht möglich ist«, erzählt er, »für 25 Euro« – der billigste Hubschrauberflug, den eine:r kriegen kann, lacht Keiran. »Anyway«, das Wichtigste bei starkem Seegang sei: »Keep your eyes on the horizon.«

Zwei Stunden später denke ich intensiv an Keirans Worte, meine Hände gegen die Reling gestemmt, als unser kleines Fährschiff über meterhohe Wellen schaukelt und so stark schwankt, dass es mir den Magen aushebt, Wasser über Deck läuft und der Neigungsgrad des Schiffes für eine unerfahrene Seefahrerin wie mich zu verheißen scheint, dass wir mit der nächsten Woge kentern werden. Ich klammere mich an Keirans Rat und starre auf den Horizont, während der Herr neben mir sich übergibt.

Erzählungen – egal ob die in Büchern, Filmen oder journalistischen Reportagen – starten gerne auf diese Weise: mit einem »szenischen Einstieg«. So ein Einstieg bringt Sie und mich als Erzählerin gemeinsam zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort, an dem etwas passiert, etwas, das eine:n berührt, schockiert, überrascht. Im Idealfall verweist die Anekdote außerdem als Pars pro Toto schon auf das größere Thema des folgenden Textes oder Films – und beides will uns am Ende vielleicht dazu verholfen haben, unsere Welt, unser Leben ein bisschen besser zu verstehen.

So ein Einstieg führt deshalb recht häufig eine Protagonisten‐Figur ein, mit der sich eine:r identifizieren kann und die sich im weiteren Verlauf – auch des dokumentarischen, nicht nur des fiktiven Erzählens – nicht selten als Held:in entpuppt. Begegnen wir solchen Held:innen in den unterschiedlichen Arten von Erzählungen, so folgen sie häufig einem konkreten, vorgezeichneten Kurs. Zuerst ziehen sie aus, weil eine Herausforderung sie reizt. Früher oder später sehen sie sich mit einem Konflikt oder drohenden Unheil konfrontiert, was sie aber trotz Widrigkeiten abwenden oder in einer Konfrontation ausschalten können, bevor sie am Ende – siegreich und geläutert – heimkehren.1 Die emotional berührende Reise dieser Protagonist:innen will Leser:innen bei der Stange halten und zum Weiterlesen anregen.

Ich werde in der nun folgenden Erzählung dennoch nicht Ihre Heldin sein. Warum? Genau davon wird dieses Buch handeln. In seinem Verlauf werden wir gemeinsam überlegen, ob Held:innen nicht vielfach medial konstruiert sind, ob es sie überhaupt braucht und welche Alternativen es zu ihnen geben mag. Eine Reise wird es trotzdem werden, eine, die vielleicht auch berührend, hoffentlich erhellend, dabei aber nicht immer nur gemütlich sein wird.

Unser Leitstern auf dieser Reise ist dabei nicht eine Figur, sondern eine Frage: Wie können wir, die wir beruflich ständig Narrative schaffen – als Journalist:innen und Lehrer:innen, als Wissenschaftler:innen und Kurator:innen, als Politiker:innen oder andere Kommunikator:innen – zukunfts(zu)gewandter, wahrhaftiger, ich möchte sagen: ökologischer erzählen? Tun wir das nicht schon jetzt, mit all unseren Geschichten über Nachhaltigkeit und mithilfe des konstruktiven Journalismus? Und warum sollen gerade Held:innen dabei hinderlich sein?

Ich habe seit dieser Fährfahrt oft darüber nachgedacht, wofür der »Horizont« in unangenehmen oder gefährlich wirkenden Situationen stehen könnte – für die Hoffnung? Für Stabilität? Für das Unerwartete, das dort auftauchen mag? Oder ist der Horizont einfach ein Bezugspunkt? Lassen Sie uns das gemeinsam erkunden. Schreiben wie Lesen führen eine:n manchmal zu überraschenden Erkenntnissen.

Kapitel 2Wir sind narrativnaiv

Warum Heldenerzählungen ausgedient haben

»There is a crack in everything,that’s how the light gets in.«

Leonhard Cohen, Anthem

Narrative haben enorme Wirkmacht. Erzählungen sind immer auch Ordnungssysteme, sie prägen unsere Vorstellungskraft. Bei Narrativen handelt es sich um Erzählmuster, die Handlungen von Personen (Protagonist:innen oder den Erzähler:innen selbst) nachvollziehbar machen, in Zusammenhänge einbetten, unsere Wahrnehmung der Welt beeinflussen, Sinn stiften. Wie eine:r sich das vorstellen kann? Denken Sie zum Beispiel an Erdöl.

Erdöl ist glänzend und träge. Dieser dicke, schwarze Saft ist der wichtigste Rohstoff unseres Zeitalters, des fossilen Zeitalters. Erdöl ist überall. Es speist unseren westlichen Wohlstand. Es füllt unsere Auto‐ und Heiztanks, jede Plastikpuppe, die allermeisten Zahnbürsten sind aus ihm gemacht, genauso wie das flüssige Gas im Feuerzeug, Kleidung, Verpackungen, Klebstoffe. Um dieses Erdöl wurden und werden seit Jahrzehnten Kriege geführt, sein Marktpreis beeinflusst die Weltwirtschaft. Und angesichts der dringlicher werdenden Klimakrise müssen wir nun eben »umrüsten«, von fossilen Brennstoffen wie dem Erdöl hin zu erneuerbarer Energieerzeugung. Dieses Narrativ lautet: Erdöl ist der Treibstoff unseres Fortschritts, ohne es ist ein Leben in Wohlstand kaum vorstellbar.

Doch was ist dieses Erdöl eigentlich?

Dazu springen wir weit zurück: Das Leben auf unserem Planeten begann vor dreieinhalb Milliarden Jahren, seitdem leben kleinste Organismen, Plankton und Algen, im Schlamm und Wasser der Meere. Sie leben und sterben, sinken zu Boden und lagern sich dort ab. Diese »Biomasse« verdichtet sich am Meeresgrund unter hohem Druck zu einer Materie mit extremem Energiewert, es entsteht Erdöl. Damit ist Erdöl ein über Jahrmillionen eingespeichertes und komprimiertes Energiereservoir unseres Planeten. Wir verheizen im Zeitalter der fossilen Brennstoffe also tatsächlich unsere erdgeschichtliche Vergangenheit. Und unsere Zukunft gleich dazu.

Als ich vor vier, fünf Jahren zum ersten Mal auf diese zweite Erzählung2 stieß, ließ sie mich monatelang nicht los. Ich fragte mich, warum mir dieses alternative Erdöl‐Narrativ noch nie untergekommen war, warum Umwelt‐ oder Klimaschutzorganisationen es nicht aufgegriffen haben – gerade als um 2020 klar wurde, dass »Big Oil«‐Konzerne den menschengemachten Klimawandel und ihren eigenen Einfluss darauf seit Jahrzehnten vertuschen.3 Nicht, dass das erste Narrativ nicht auch korrekt wäre – ich fragte mich nur, warum es so unhinterfragt und exklusiv Bestand hatte.

In der Berichterstattung rund um Klimawandel und Erderhitzung begegnen uns heute recht häufig Geschichten, die einem der beiden folgenden großen Narrativ‐Blöcke angehören: Entweder erzählen sie von der Apokalypse, die Leser:innen oft mit dem Eindruck zurücklassen, es sei für Gegenmaßnahmen ohnehin zu spät. Oder aber sie erzählen von Einzelbeispielen, die uns das Gefühl geben mögen, alles sei nicht so schlimm, »alles wird gut«, im Branchenjargon auch »konstruktiver« oder »lösungsorientierter« Journalismus genannt. Dass diese beiden entgegengesetzten Erzählmuster so häufig auftreten, liegt daran, dass sie sich gut verkaufen.

Das Storytelling in den Nachrichtenmedien hat sich in den vergangenen Jahren in eine Richtung entwickelt, die der Philosoph und Autor Byung‐Chul Han als »Storyselling«4 bezeichnet. Narrative werden »produziert und konsumiert wie Waren«.5 Und so müssen sie aufgrund gesteigerter Konkurrenz auf den vielen verschiedenen Kanälen entsprechend der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie mitspielen und sich eben auch verkaufen (lassen), etwa indem sie Prinzipien entsprechen, die sich etabliert haben, von denen wir denken, dass sie innerhalb dieser Logik funktionieren.6 Gewissermaßen werden klassische Nachrichtenfaktoren (etwa: Neuigkeit, Nähe, Relevanz) mit erzählerischen Kniffen aus Hollywood verquickt, um mehr Spannung zu erzeugen.

Dazu zählen Geschichten, zu deren Themen das Publikum eine emotionale Nähe hat, Konflikt‐ oder Erfolgsgeschichten (Best‐Practice‐Beispiele) mit klaren Grenzen zwischen »den Guten« und »den Bösen«, das Personalisieren von Problemstellungen, indem ein:e Protagonist:in als Held:in durch die Geschichte reist und einen Konflikt nach Möglichkeit im Happy End auflöst, oder auch Figuren, die etwas gegen alle Widerstände zum Besseren wenden, Davids, die Goliaths besiegen – schließlich wollen auch Medien ihre Kund:innen mit einem guten Gefühl zurücklassen. Und es gilt ja auch als didaktisch sinnvoll, von Positivbeispielen im »Kampf gegen den Klimawandel« zu berichten.

Doch dieses Narrativ ist naiv.

Ich unterstelle damit (übrigens immer wieder auch mir selbst), dass viele, die beruflich schreiben oder Geschichten erzählen – Journalist:innen und Lehrer:innen, Schreibende in Wissenschaft und Werbung, Politik und NGOs –, in ihrem täglichen Tun narrativnaiv vorgehen. Das heißt, wir machen uns häufig keine großen Gedanken darüber, wie wir eine Geschichte dokumentarisch erzählen, wir greifen als Zugeständnis an Auftraggeber:in, Publikum und Zeitdruck auf etablierte Erzählmuster zurück – oder bedienen uns absichtlich des gefälligen »Alles wird gut«‐Musters, um die Story besser verkaufen zu können. Es ist ein genauso mögliches Narrativ wie das Heraufbeschwören der Apokalypse7. Aber eigentlich führen beide in eine Apathie und lassen uns entweder mit der Angst vor dem Weltuntergang zurück oder mit der vermeintlichen Gewissheit, dass schon noch ein:e Held:in kommen wird, um uns zu retten. Wir tun so, als wäre die Welt und unsere Zukunft auf ihr schon auserzählt.

Die Idee meines Buches ist nicht, diese Narrative etablierter Erzählkulturen zu stürzen, sie zu Fall zu bringen, sondern vielmehr zu ihrer Reflexion, zum Hinterfragen einzelner ihrer Aspekte und so zu einer Transformation anzuregen. Das Buch will jene in ihrem kritischen Bewusstsein unterstützen, die an der existierenden Erzähltradition zweifeln. Bringt uns dieses Narrativ, das sich häufig um eine:n Einzelkämpfer:in dreht, in dem »Gut« und »Böse« klar definiert sind und in dem sich klar konturierte Probleme vermeintlich final auflösen, in dieser Hinsicht weiter?

Ich habe deshalb im vorliegenden Buch unterschiedliche Ansätze von Autor:innen, Künstler:innen und aus der eigenen Praxis zusammengetragen, die Möglichkeiten aufzeigen, wie sich die sich ständig wandelnde Gegenwart angemessener erzählen ließe. Welche anderen Narrative – die sich zwischen Apokalypse und »Alles wird gut« drängen oder vielleicht überhaupt durch die Hintertür kommen – sind denkbar? Welche Geschichten entgehen uns womöglich derzeit, weil sie sich nicht in die etablierten Erzählkonzepte packen lassen? Und: Wie kommen wir (auch aus Rezipient:innensicht) damit zurecht, dass uns Held:innen nicht mehr retten können?

Willkommen im Anthropozän: Den Wandel der Gegenwart begreifen und erzählen

Wann haben Sie Ihre letzte Tierdoku gesehen, vielleicht über Orang‐Utans auf Borneo, über südamerikanische Ameisenbären oder die Große Hufeisennase, eine europäische Fledermausart? Unser blauer Planet wird von einer praktisch unüberschaubaren Vielzahl faszinierender, wilder Lebewesen bewohnt, viele von ihnen sind Säugetiere. Wobei, hoppla, so viele sind es im Vergleich gar nicht mehr: Im Februar 2023 veröffentlichten Forscher:innen eine Studie8, in der sie die globale Biomasse aller Säugetiere auf der Erde neu berechneten, so als hätten sie alle derzeit auf dem Planeten lebenden Individuen, die zu den Säugetieren zählen, auf eine riesige Waage gestellt.

Das Ergebnis wird in der Studie in Form eines Quadrats anschaulich gemacht: Etwas weniger als die Hälfte dieses Quadrats machen Menschen aus (390 Megatonnen). Etwas mehr als die Hälfte machen unsere Nutz‐ und Heimtiere aus (630 Megatonnen). Nur zwei kleine Bruchteile des Quadrats stellen den Anteil wilder Säugetiere im Wasser (40 Megatonnen) und an Land (20 Megatonnen) dar. Allein alle domestizierten Schweine bringen gemeinsam rund 40 Megatonnen auf die Waage und haben damit etwa doppelt so viel Gewicht wie die Landsäugetiere aller Arten zusammen, vom Orang‐Utan über den Ameisenbären bis zur Fledermaus.9 Lassen Sie diese Relationen einmal auf sich wirken.

Es lässt sich nicht bestreiten: Wir Menschen haben das angerichtet. Willkommen im Anthropozän.

Hier sind wir am nächsten wichtigen Punkt in meiner Argumentation angelangt. Es ist ähnlich wie bei der Geschichte mit dem Erdöl, Erzählungen wie die von den Säugetieren sprechen uns neben der faktischen auch auf einer ethischen Ebene an: Wir, der globale Norden oder die wohlhabenden Länder auf diesem Planeten, gestalten diesen seit geraumer Zeit gravierend zu unseren Gunsten um. Angesichts dessen, dass wir bereits sechs von insgesamt neun planetaren Grenzen10 überschritten haben11, könnte eine:r auch sagen: Wir ruinieren ihn. Und wir tun das seit dem Zweiten Weltkrieg mit einer immer rasanter werdenden Geschwindigkeit, einer »Beschleunigung von Konsum‐ und Umweltschädigungsraten«12, die Forscher:innen die Great Acceleration nennen. Der schnelle Wohlstand, der beim Ruinieren gerade noch entsteht, kommt in erster Linie wiederum uns Menschen des globalen Nordens zugute.

Das Anthropozän, dass wir Menschen also zu einem bestimmenden Einflussfaktor für unseren Planeten geworden sind, ist ein belegtes Faktum. Wir »wissen« davon. Aber dieses Wissen zu begreifen ist noch einmal schwieriger: weil es dazu die Einsicht braucht, dass wir selbst – unsere Generationen unseres Wohlstandes – es sind, die zu einem bestimmenden Einflussfaktor für unseren Planeten geworden sind. Dass wir für die Veränderungen, für das Ruinieren verantwortlich sind. Das tatsächlich Schwierige und Unangenehme daran, den Klimawandel zu begreifen, ist also, dass er uns zur Reflexion und zum Bewusstseinswandel zwingt. Er zwingt uns in die Verantwortung. Unter dieser Verantwortung, die uns auch als Geschichtenerzähler:innen ständig begleitet, verstehe ich die selbstempfundene Pflicht, einem imaginierten oder realen Gegenüber auf dessen Fragen, Zweifel oder Protest Antworten schuldig zu sein und diese (bzw. den Versuch einer Antwort) für den Fall des Falles auch tatsächlich parat zu haben.

Ich denke, es wäre eine entscheidende Aufgabe für Journalist:innen, nicht nur das Wissen ums Anthropozän zu vermitteln, sondern auch die daraus resultierende Einsicht mitsamt der Verantwortung, die uns angesichts des Anthropozäns im globalen Norden zukommt – und darüber hinaus, was die demokratische Kernfunktion des Journalismus ist, die Entscheidungsträger:innen unserer Breiten regelmäßig daran zu erinnern. Doch in kaum einem Medium passiert das. Warum nicht?

Die Kritik an Nachhaltigkeitsnarrativ, konstruktivem Journalismus und Heldenmythos in den Publikumsmedien

Der Philosoph und Autor Bernd Scherer stellt in seinem Buch Der Angriff der Zeichen einen bestechenden Befund:

»Die anthropozäne Welt ist mit der Herausforderung konfrontiert, dass die Begriffssysteme, die sich in den wissenschaftlichen Disziplinen der letzten zweihundert Jahre herausgebildet haben, den dynamisierten Welten des Anthropozäns nicht mehr gerecht werden.«13

Diese Begriffssysteme sind nicht nur nicht mehr angemessen, sie wirken mitunter wie »Parodien [...] gegenüber der Realität, mit der wir konfrontiert sind«14. Aus meiner Sicht trifft das auf drei der derzeit populären Erzählformen zu: auf den bereits skizzierten Held:innenmythos, auf den konstruktiven Journalismus, der positive Einzelbeispiele herausgreift und gern die Selbstwirksamkeit der Leser:innen beschwört, sowie auf das Nachhaltigkeitsnarrativ.

Im deutschsprachigen Raum scheint es häufig, als würden sich Medien – sonst im Sinne des Branchen‐Spruchs »Only bad news are good news« für ihre Negativität und Sensationslust kritisiert – gerade in der Kommunikation der Klimakatastrophe weitgehend auf Lösungsansätze konzentrieren, als hätten sie ihre Rolle im Beschwichtigen und in einer Lösungszentriertheit im Sinne des Nachhaltigkeitsnarrativs gefunden. Dieses Narrativ der Nachhaltigkeit15 präsentiert sich als das Prinzip einer maßvollen, vordergründig gemeinwohlorientierten Kreislaufwirtschaft (obwohl selbstverständlich auch »ökologisch« oder »fair« produzierende Unternehmen marktwirtschaftlichen Erfolgs‐ und Wachstumslogiken zu entsprechen haben) und suggeriert uns beschwichtigend: Die Negativspirale kommt wieder aus dem Schlingern, wenn wir im globalen Norden nur damit aufhören, über unseren Verhältnissen zu leben. Flaschenpfand her, SUVs weg – und alles wird gut.

Doch diese Annahme übersieht (oder ignoriert?) relevante Phänomene: Einige der von uns in den vergangenen Jahrzehnten losgetretenen Prozesse, siehe die Great Acceleration oder die Überschreitung der planetaren Belastungsgrenzen, haben sich derart beschleunigt, dass sie uns entgleiten.16 Angesichts des Zeithorizonts, den wir Menschen haben, ist sogar zu sagen: Diese Entwicklungen sind irreversibel, sie lassen sich also nicht (bzw. nur mehr in erdgeschichtlichen Skalen) rückgängig machen, etwa das Aussterben von Tier‐ und Pflanzenarten17 oder andere »Ewigkeitsaufgaben« wie die Sicherung und Lagerung von Altlasten wie Atommüll. Sie sind Stöcke in den Speichen des Nachhaltigkeitsnarrativs. Vieles, was sich im Anthropozän menschenbedingt verändert hat, ist gar nicht oder wäre nur innerhalb unfassbar langer Zeiträume wiedergutzumachen, nicht aber in der menschlichen Zeitskala. In mancherlei Hinsicht sägen wir also gar nicht mehr an dem Ast, auf dem wir sitzen. Der Ast ist bereits ab.

Das ist mein erster Einwand gegenüber dem Narrativ der »Nachhaltigkeit«: Als Erzählmuster wird sie damit unglaubwürdig und ist für eine ernstgemeinte Auseinandersetzung mit unserer Gegenwart und Zukunft nur bedingt brauchbar.

Vier zeitgenössische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftstheoretikerinnen waren für mich übrigens ausschlaggebend, meine Kritik in dieser Form ausdrücken zu können: Donna Haraway, Lynn Margulis, Isabelle Stengers und Verena Winiwarter. Alle drei kritisieren den erzählerischen Zugang über und/oder den Begriff der Nachhaltigkeit an sich. Sie sprechen von den »Monstrositäten« der Altlasten aus Industrie und militärischer Aktivität, mit denen wir umgehen müssen, von der Nachhaltigkeit als einer Form der Verdrängung18 und sehen uns potenziell einem »coming barbarism«, einer kommenden Barbarei entgegenblicken.19 Ihre Überlegungen haben die Kraft, eine:n aus der Bahn zu werfen, sind irritierend, unangenehm – und obwohl ich schon ein bisschen vertraut mit ihnen bin, sind sie das immer wieder auch für mich.

Haraway20 schreibt, es sei auch beim Geschichtenerzählen »für viele verlockend, der Unruhe zu begegnen, indem sie eine imaginierte Zukunft in Sicherheit bringen«. Dabei bräuchten wir andere, angemessene Erzählungen, gerade in diesen Zeiten:

»Diese Zeiten, Anthropozän genannt, sind die Zeiten einer artenübergreifenden Dringlichkeit, die auch die Menschen umfasst. Es sind Zeiten von Massensterben und Ausrottung; von hereinbrechenden Katastrophen, deren unvorhersehbare Besonderheiten törichterweise für das schlechthin Nichtwissbare gehalten werden; einer Verweigerung von Wissen und der Kultivierung von Responsabilität; einer Weigerung, sich die kommende Katastrophe rechtzeitig präsent zu machen; Zeiten eines nie da gewesenen Wegschauens. […] Die Zeiten der Dringlichkeiten brauchen Erzählungen.«21

Ich sehe, zum Beispiel in den erwähnten Erzählungen zum Erdöl und den Nutztieren, einen Mangel an solchen Erzählungen in Zeiten der Dringlichkeiten in Medien22 und pädagogischen Einrichtungen, in Politik und Literatur, die gegenwärtige und zukünftige Realität behandeln. Entsprechend widme ich mich in diesem Buch – im Unterschied etwa zum Genre der (eben: fiktiven) climate fiction – dem dokumentarischen Schreiben oder Erzählen, wie es in Journalismus, aber auch in anderen dokumentarischen Schreibformaten passiert.

Auf ihrer Suche nach Formen, die dem Katastrophalen und der Monstrosität Ausdruck verleihen, »sie gerade nicht normalisieren, sondern ihre Unbeherrschbarkeit deutlich machen«23, wird Winiwarter im Nachhaltigkeitsdiskurs nicht fündig. Sie identifiziert einen » imaginativ‐reformorientierte[n] Diskurs«, der »unter dem begrifflichen Schirm ›Nachhaltigkeit‹ die Möglichkeit eines guten Ausgangs eines inkrementellen Transformationsprozesses betont«. Altlasten als ein »Typus von Problemkonstellationen, der diese Art des ›guten Ausgangs‹ nicht erkennen lässt«, werden deshalb in diesem Diskurs verdrängt, sie passen einfach nicht hinein, weil dieser Typus eben kein Happy End versprechen kann.24 Beinahe wortgleich schreibt die Wissenschaftsphilosophin Isabelle Stengers von einer »intrusion of Gaia25«, also von einem Eingriff in das lebendige System Erde, den wir zwar verübt haben, aber nicht mehr ungeschehen machen können:

»Es ist keine Zukunft absehbar, in der sie [Gaia] uns die Freiheit zurückgeben wird, sie zu ignorieren. Es geht nicht um einen ›schlechten Moment, der vorübergehen wird‹, gefolgt von irgendeinem Happy End – im schäbigen Sinne eines ›gelösten Problems‹. [...] Wir werden uns weiterhin für das, was wir unternehmen, vor einem unerbittlichen Wesen verantworten müssen, das für unsere Rechtfertigungen taub ist.«26

Zahlreiche andere Wissenschaftler:innen schließen sich mit ähnlichen Zitaten an, etwa Reinhard Steurer, der zu Klimapolitik forscht:

»Diese Angst vor einer Klimakatastrophe ist zu 100 Prozent auf wissenschaftlichen Fakten beruhend, also geradezu eine rational[e] Reaktion. Wir sind nach wie vor mit Vollgas dorthin unterwegs, wo es eben katastrophal wird: in eine deutlich über 2 Grad heißere Welt.«27

Ein konstruktiver schreiberischer Zugang zu dieser Entwicklung, eben zum Beispiel in Form des konstruktiven Journalismus, wirkt auf den ersten Blick verlockend tröstlich. Auf den zweiten aber: naiv. Als Metapher für unsere Leben und für alles Leben auf dem Planeten – und damit bin ich bei meinem zweiten Einwand gegen den Modus aktueller Berichterstattung über die Klimakrise und den Zustand unseres Planeten – wird dieser Zugang untauglich.

Und da ist noch ein dritter Einwand: Medien erzählen gerne von Einzelkämpfer:innen, Held:innen sind die Darlings öffentlichkeitswirksamer Storys. Sie »personalisieren« Geschichten. Das heißt: Dokumentarische Medienformate wie Reportagen oder TV‑Dokus greifen erzählbare Einzelbeispiele – Personen, Organisationen, Projekte – aus dem Leben heraus, fiktionale Medien (etwa Spielfilme, Romane) erfinden sie. Dem Publikum erscheinen diese Einzelbeispiele nach dem Erzählmodell »Eine:r gegen alle« als repräsentativ, obwohl sie das selbstverständlich nicht sind, was grundsätzlich ja auch keine:r behauptet. Aber allein dadurch, dass ihre von Medienschaffenden vorausgewählten (Lebens‑)Geschichten einer bestimmten Dramaturgie folgen, und es ist in diesen Erzählungen eben häufig die Dramaturgie des Held:innenmythos, werden ihre »held:innenhaften« Existenzen für Rezipient:innen zu plausiblen Denkmöglichkeiten. Die Geschichten anderer haben Macht: die Macht, uns zu inspirieren oder zu irritieren, aufzuregen oder zu beruhigen.28 Sie können uns Mut machen. Oder tieftraurig.

Ob wir es wahrhaben möchten oder nicht: Wir sind absehbar mit Problemen konfrontiert, die nicht mehr von Einzelnen nach vorgegebenen Schablonen wie dem Held:innennarrativ »lösbar« sind. Wir werden über uns hinauswachsen müssen, wollen wir der Zukunft gewachsen sein. Imaginieren wir Gegenwarten und Zukünfte, in die wir uns partizipativ oder kollaborativ, prozessorientiert und wechselwirkend, mit einem biozentrischen Blick auf die Welt hineinbewegen möchten, frage ich mich: Ist die Held:innenreise dafür (noch) eine geeignete Erzählform? Welchen Auftrag haben Held:innen, wenn die Probleme (für Einzelne) unlösbar geworden sind? Sind sie als Figuren noch glaubwürdig? Wir leben in einer jetzt schon und künftig immer mehr von uns beschädigten Welt – ist ein solches Leben für einen Helden oder eine Heldin überhaupt vorstellbar?

Typisch journalistische Geschichten, in deren Lauf Protagonist:innen sich »wandeln«, verheißen, dass wir gestärkt aus Konflikten hervorgehen, sie verheißen Katharsis, Läuterung, Resilienz. Viel wahrscheinlicher ist indes, dass wir in Zukunft bedrängter als jetzt in Ambivalenz, im Unreinen werden leben müssen. Wir werden das Beste aus unseren Leben und dem Sterben auf einem beschädigten Planeten und Frieden mit Dingen machen müssen, die sich nicht mehr heilen lassen, uns anfreunden müssen mit dem Imperfekten – und nicht daran verzweifeln, wenn es kein Happy End gibt. Tröstliche, konsolidierende Erzählungen, die ausloten, wie sich solche nicht‐held:innenhafte Leben dennoch leben lassen, finden sich in den Nachhaltigkeitsressorts derzeit kaum. Solche Ansätze verlieren möglicherweise auch ihre Botschaft, pressen wir sie in die tradierten Erzählkonzepte – oder sie passen überhaupt nicht in diese Schablonen hinein.

Wie kommen wir also in ein exploratives Erzählen, ein Erzählen, das uns aus der Gegenwart heraus in unsere Zukunft hineinwachsen lässt?

Über diese Frage – »Wie erzähle ich meine dokumentarische Geschichte?« – können oder wollen sich viele, die professionell (und häufig unter Zeitdruck) Geschichten erzählen, derzeit gar keine Gedanken machen, wenngleich sie womöglich Unbehagen innerhalb des narrativnaiven Zugangs verspüren, im Rahmen dessen sie ihre Arbeit erledigen.29 Das vorliegende Buch will ihnen keine Tipps geben, wie sie »besser« oder »sinnvoller« erzählen könnten, die sich wie Kochrezepte umsetzen lassen. Noch mehr Schablonen braucht es nämlich nicht. Stattdessen will dieses Buch Denkanstöße liefern, die uns zu neuen Erzählstrukturen inspirieren, mithilfe derer wir uns unsere Zukunft erschreiben. Denkanstöße, unser Erzählen zu transformieren. Das ist auch als Hinweis zu verstehen, dass es nicht nur darauf ankommt, was für Geschichten wir erzählen, sondern dass es auch von Gewicht ist, wie wir sie erzählen.30 Und welche Stoffe durch neue Perspektiven erzählbar gemacht würden.

Deshalb möchte ich in diesem Buch einen Zugang zum journalistischen und dokumentarischen Schreiben anregen, den ich als ein »ökologisches Erzählen« bezeichnen werde – im Sinne der Ökologie als Lehre von den Beziehungen zwischen den Lebewesen untereinander und jenen zu ihrer unbelebten Umwelt. Als Geschichtenerzähler:innen bewegen wir uns immer innerhalb eines Ökosystems, das wir als teilnehmende Beobachter:innen wahrnehmen und schließlich beschreiben.

Ein solches ökologisches Erzählen ist zutiefst gegenwärtig, aber mit Bewusstsein auch für Vergangenheit und Zukunft, es speist seine Geschichten aus Beobachtung und Gespräch, aus Verantwortung und Rücksicht. So könnten wir in unseren Erzählmustern z. B. weniger »Erfolgs-« oder »Fortschrittsgeschichten« abbilden und beim Schreiben eher an Gefäße, leer oder voll, denken, oder an einen Unterschlupf, der ohne zu fragen aufnimmt, was Obdach sucht – jedenfalls uns unserer Narrative bewusst werden. Wir könnten daran denken, dass es zu unseren (zukünftigen) Leben dazugehört, ihnen ausgesetzt zu sein. Aus Held:innen könnten Trickster:innen, Sammler:innen oder Aasfresser werden, vermeintlich abgeschlossene Geschichten könnten fluide und offen bleiben. Erzähler:innenstimmen müssen nicht laut, provokant oder von sich selbst überzeugt sein, nein, sie dürfen auch zaghaft oder kauzig, besonnen oder schräg sein. Es geht dabei nicht um einen harten Bruch mit alten Mustern oder um das Herbeierzählen von Apokalypse oder Untergang, sondern vor allem darum, Platz zu machen für all die anderen Stimmen, und die erst zu erfindenden Möglichkeiten zu erzählen.

Wir werden eine solche Vielfalt der Erzählstimmen und der Narrative benötigen, eine, die Transformation und Kollaboration lebt und atmet, wollen wir unserer Zukunft gewachsen sein. Die Vielfalt ist imstande uns dazu anzuregen, unsere Offenheit anderen gegenüber zu entdecken, ihnen aufmerksam zu begegnen, uns für sie zu interessieren – uns nicht nur an ihnen, ihren Erfolgen oder Misserfolgen zu messen. Sie ist imstande uns zu ermächtigen, immer noch lebenswerte, lebensfrohe Welten der Gegenwart und Zukunft zu ersinnen, zu erschreiben, zu gestalten.

Kapitel 3Unruhig bleiben und futures‐literate werden

Es braucht mehr Spekulation und Solidarität

In meiner Arbeit als freie Journalistin bin ich regelmäßig konfrontiert mit der Aufgabe, ermutigende (Zukunfts‑)Geschichten zu erzählen – und dabei fragte ich mich irgendwann: Laufen wir – angesichts übermenschlicher, gemeinschaftlicher Anstrengungen, die nötig wären, aber aktuell nicht passieren – im Nachhaltigkeitsdiskurs Gefahr, uns selbst zu betrügen, in ein »Wir tun eh, was wir können« zu flüchten, uns in falscher Sicherheit zu wiegen? Sind einzelne, nachhaltige Erfolgsgeschichten geeignet, uns die Kompetenz zu vermitteln, der Zukunft gewachsen zu sein, ein möglichst gutes Leben (und Sterben) für uns alle zuzulassen? Folgen etablierte Held:innen‐Narrative nicht vielmehr genau jener Wachstums‐ und Erfolgslogik, die dieses schreckliche Schlamassel überhaupt erst angerichtet hat?

Dank einer Anregung31