Nur Mut! - Chrissi Schranz - E-Book

Nur Mut! E-Book

Chrissi Schranz

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Beschreibung

Nicht alle Welpen sind von Natur aus neugierig, frech und verspielt: Manche sind unsicher und so ängstlich, dass sie zu "Problemhunden" zu werden drohen. Nach einem Ausflug in die Entwicklungsphasen des Welpen, die Gesetze des Lernens und das Erkennen der Körpersprache folgt ein durchdachtes Frühförderungsprogramm, mit dem Stressresistenz und Selbstvertrauen gestärkt werden, ohne den Welpen zu überfordern. Aus vielen Bausteinen positiver Erfahrungen in unterschiedlichsten Situationen und einem Gerüst aus strukturiertem Alltag entsteht schließlich ein stabiles Fundament für ein künftiges angstfreies Hundeleben. Mit Extrakapiteln zu Ernährung, rezeptfreien Hilfsmitteln, psychopharmakologischer Unterstützung und geeigneten Hundesportarten für Angsthasen.

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Chrissi Schranz

Nur Mut!

Startilfe für ängstliche Welpen

© 2017 KYNOS VERLAG Dr. Dieter Fleig GmbH

Konrad-Zuse-Straße 3, D-54552 Nerdlen / Daun

Telefon: 06592 957389-0

Telefax: 06592 957389-20

www.kynos-verlag.de

Grafik & Layout: Kynos Verlag

eBook (epub) Ausgabe der Printversion 2017

eBook-ISBN (epub): 978-3-95464-145-1

ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-95464-130-7

Bildnachweis: Alle Bilder Olga Maderych (Gadabout Photography) außer Bilder mit Kurzhaarcollie-Welpen von Cordula Weiss.

Mit dem Kauf dieses Buches unterstützen Sie die Kynos Stiftung Hunde helfen Menschen

www.kynos-stiftung.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Haftungsausschluss: Die Benutzung dieses Buches und die Umsetzung der darin enthaltenen Informationen erfolgt ausdrücklich auf eigenes Risiko. Der Verlag und auch der Autor können für etwaige Unfälle und Schäden jeder Art, die sich bei der Umsetzung von im Buch beschriebenen Vorgehensweisen ergeben, aus keinem Rechtsgrund eine Haftung übernehmen. Rechts- und Schadenersatzansprüche sind ausgeschlossen. Das Werk inklusive aller Inhalte wurde unter größter Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können Druckfehler und Falschinformationen nicht vollständig ausgeschlossen werden. Der Verlag und auch der Autor übernehmen keine Haftung für die Aktualität, Richtigkeit und Vollständigkeit der Inhalte des Buches, ebenso nicht für Druckfehler. Es kann keine juristische Verantwortung sowie Haftung in irgendeiner Form für fehlerhafte Angaben und daraus entstandene Folgen vom Verlag bzw. Autor übernommen werden. Für die Inhalte von den in diesem Buch abgedruckten Internetseiten sind ausschließlich die Betreiber der jeweiligen Internetseiten verantwortlich.

Inhaltsverzeichnis

Über die Autorin

Danksagung

Einleitung

Den ängstlichen Welpen erkennen

Wie Sie von diesem Buch profitieren

Wer ist am Verhalten meines Welpen schuld?

Rassetypische Unterschiede

Die Entwicklungsphasen des Welpen und die Rolle des Züchters

Die Übergangsphase: 14–21 Tage

Die kritische Sozialisierungsphase: 3–12 Wochen

Drei Wochen

Vier Wochen

Fünf Wochen

Sechs bis acht Wochen

Acht bis zehn Wochen

Zehn bis zwölf Wochen

Die Körpersprache des ängstlichen Welpen deuten

Die Gesetze des Lernens

Klassisches Lernen

Operantes Lernen

Positive Verstärkung

Positive Strafe

Negative Strafe

Negative Verstärkung

Sozialisierung

Was alle Welpen lernen sollten

Empfehlungen für unkomplizierte Welpen

Behutsam, systematisch, kleinschrittig: Ist das wirklich nötig?

Bevor Sie mit der Sozialisierungsarbeit beginnen …

Futterbelohnungen in der Sozialisierungsarbeit?

Berührungen

Positive Erfahrungen mit neuen Hunden

Alltagsgeräusche

Kinder

Ungewohnte Outfits und Bewegungsmuster

Neue Orte

Unheimliche Dinge im Freien

Fortbewegungsmittel

Welpentraining: Selbstbewusst und sicher durch den Alltag

Shaping: Tricks, Tricks, Tricks!

Signale einführen

Das Handtarget

Selbstvertrauen formen

Die Leckerlisuche

Die Spielzeugsuche

Welpenparcours

Intelligenzspielzeug

Struktur und Vorhersehbarkeit

Ablauf und Aufbau des Spiels

Passanten und deren Hunde stoppen

Ausweichmanöver fürs echte Leben

Handtouch und Keks auf der Nase: fokussiertes Ausweichen

Die Kehrtwende: fröhliche Flucht nach hinten!

Ressourcen verteidigen: das Tausch-Prinzip

Das Tausch-Prinzip generalisieren

Trennungsangst

Trennungsangst verhindern

Trennungsangst kurieren

Kompetente Trainer mit Verhaltensschwerpunkt finden

Rezeptfreie Hilfsmittel und Psychopharmaka

Rezeptfreie Hilfsmittel

Ernährungstipps

Nahrungsergänzungsmittel

Homöopathische Mittel

Pheromone

Thundershirt

Psychopharmakologische Unterstützung

Ein Blick nach vorne

Alternativen zum Gruppenkurs

Hundesport für größere Selbstsicherheit

Dummytraining, Nasenarbeit, Sportfährte und Mantrailing

Tricktraining, Begleithundesport und Obedience

Ausdauer- und Zughundesport

Agility

Nachwort: Eine neue Herausforderung auf vier Beinen

Literaturempfehlungen und nützliche Ressourcen

Über die Autorin

Chrissi Schranz lebt und arbeitet als Hundetrainerin, Übersetzerin und Lektorin in Wien und Niederösterreich. Ihre größte Leidenschaft gilt dem Lösen von Verhaltensproblemen und dem Aufs-Leben-Vorbereiten von Welpen. Nach ihrem Literatur- und Linguistikstudium an der Universität Wien und dem Wellesley College (Massachusetts), einer Hundetrainerausbildung über Anne Lill Kvam und zahlreichen Fortbildungen im In- und Ausland gründete Chrissi die Hundeschule Click for Joy!, deren Schwerpunkt auf wissenschaftlich fundierten Trainingsansätzen, Fairness im Umgang mit dem Vierbeiner und dem Aufbau einer vertrauensvollen Mensch-Hund-Beziehung liegt.

Wenn sie nicht gerade am Computer sitzt und an einer Übersetzung zu Trainings- oder Clicker-Themen tüftelt, für das Your Dog Magazin schreibt oder mit vierbeinigen Klienten arbeitet, wandert sie mit ihren Hunden durch die Lobau, schreibt ein Buch oder bringt ihrem Pudel bei, Bierdosen zu apportieren, auf den Hinterbeinen zu gehen oder ihre Autoschlüssel zu finden. Und wenn neben all dem noch ein bisschen Zeit bleibt, reist sie gern oder diskutiert mit lieben Kollegen stundenlang über Trainingsthemen, während sie heißen Tee aus riesigen Tassen schlürft und es draußen Herbst wird.

Für meine Oma, die immer für mich da war und mir mit Snoopy einen Traum erfüllt hat.

Danksagung

Ich danke allen Zwei- und Vierbeinern, die an der Entstehung dieses Buches beteiligt waren – ganz besonders meiner Fotografin Olga Maderych, dem Kynos-Verlag und meiner Lektorin Gisela Rau sowie meiner vierbeinigen Assistentin Phoebe. Ein besonderes Dankeschön gilt auch Cordula Weiß und ihren „Kalalassie‘s“ für die Möglichkeit, meine Leser über ihre Fotos einen Blick in eine vorbildliche Welpenstube voller Ausflüge, Besucher und Abenteuer erhaschen zu lassen! Das größte Dankeschön gilt meinen Klientinnen und Klienten mit ängstlichen Welpen, die einen riesigen Beitrag zur Entwicklung und Verfeinerung meiner Trainingsphilosophie geleistet haben. Danke – ohne euch wäre dieses Buch nicht entstanden!

„All dogs are different, but some dogs are more different than others.“

(frei nach George Orwell)

Einleitung

Dieses Buch ist all jenen Welpen gewidmet, die „more different“ sind – jenen Welpen, die ganz einfach nicht so funktionieren wie erwartet. Wenn ich von einem ängstlichen Welpen spreche, meine ich einen, der schon im zarten Alter von acht Wochen, gerade erst im neuen Zuhause angekommen, Angst vor allem und jedem zeigt: Er wagt sich nicht unter der Couch hervor, wenn Sie ihn rufen, er zusammenzuckt, wenn Sie den Mixer anstellen oder klebt Ihnen am Bein wie der eigene Schatten. Wenn Sie, wie von guten Hundetrainern empfohlen, Ihren Liebling sozialisieren möchten und ihn befreundeten Zwei- und Vierbeinern vorstellen, versucht er, sich zu verstecken, drängt sich zitternd an Sie oder bellt, was das Zeug hält, und in der Welpenschule will er einfach nur zum Tor hinaus, während die anderen Hundekinder fröhlich miteinander spielen. Was ist hier falsch gelaufen, und wie können Sie Ihrem neuen Familienmitglied helfen?

In den folgenden Kapiteln beschäftigen wir uns damit, warum Ihr Hund anders ist als andere und sehen uns die Entwicklung eines typischen Hundekindes an. Auf das theoretische Grundlagenwissen folgt ein umfangreicher Praxisteil, der mit Übungsprotokollen, Tipps und Erfolgsrezepten dabei hilft, Ihrem Problemkind einen guten Start ins Leben zu ermöglichen.

Als ich Cashew kennen lernte, war er erst seit wenigen Tagen in seinem neuen Zuhause im geschäftigen siebten Wiener Gemeindebezirk. Er war dermaßen klein und hatte sich so gut versteckt, dass ich Tinas Hilfe brauchte, um den Chihuahua-Französische-Bulldogge-Mix im dunkelsten Winkel unter der Couch überhaupt ausmachen zu können, wo er bewegungslos kauerte.

Tina hatte über ein paar Ecken erfahren, dass eine „Züchterin“ Mischlinge abzugeben hatte, und sich einen geholt. Das Rudel der „Züchterin“ lebte ausschließlich in der kleinen Wohnung, wo in Katzenklos und auf Zeitungspapier gepinkelt wurde. Cashew war bis zum Alter von 11 Wochen in seiner Kinderstube geblieben. Nicht nur, dass er noch nie im Freien gewesen war; er hatte auch keinerlei Besuch bekommen und kannte niemanden außer der Frau selbst und ihrer Tochter. Tina jagte ihm Angst ein, und ich noch mehr. Um den winzigen Hund mit den riesigen Ohren breitete sich eine rasch größer werdende Lache Urin aus, als Tina die Hand unter die Couch streckte, um ihn hervorzuholen.

„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“

(Leo Tolstoi – Anna Karenina)

Den ängstlichen Welpen erkennen

Was unterscheidet den übermäßig ängstlichen vom gesunden Welpen? Welpen machen verschiedene Entwicklungsphasen durch (siehe Die Entwicklungsphasen des Welpen). Vor dem Alter von ca. zwei Wochen zeigen Welpen keinerlei Angst – bis dahin funktionieren nur drei ihrer fünf Sinne, nämlich Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn, und selbst diese sind noch nicht vollständig entwickelt. Wenn sich zwischen zwei und dreieinhalb Wochen Ohren und Augen öffnen, hat die Welt bereits ein größeres Potenzial, einschüchternd zu wirken – allerdings ist auch die Neugierde umso größer! Welpen zögern vielleicht kurz, wenn ein neuer Gegenstand in ihrem Auslauf auftaucht, sollten die Dinge in ihrer Umgebung aber schon nach kurzer Zeit neugierig untersuchen wollen. Das können Sie testen, indem Sie Welpen in diesem Alter ein neues Spielzeug, eine Taschentuchpackung, eine Plastikflasche, Getränkedose oder ein anderes unbekanntes Objekt anbieten und ihre Reaktion beobachten.

In den ersten Lebenswochen sind Caniden nicht sonderlich mobil. Würden sie fern vom Menschen aufwachsen, würden sie in diesem Alter die Eltern, möglicherweise andere Mitglieder der Gruppe und die nächste Umgebung ihrer Geburtsstätte kennen lernen: den Boden, die Bäume, Gräser oder Objekte rund um die Höhle oder den Schlupfwinkel, in dem die Mutter geworfen hat, die Gerüche und visuellen Eindrücke der direkten Umgebung. Da es sich um einen sicheren Ort handelt, kann sich der Welpe hier in Ruhe und ohne Angst mit den wesentlichen Dingen, die den Alltag erwachsener Caniden ausmachen, arrangieren: ein von den erwachsenen Gruppenmitgliedern gerissenes Beutetier oder eine auf der Straße gefundene Fast-Food-Tüte beschnuppern und damit spielen, am Boden liegende Äste herumtragen, über den federnden Waldboden und durchs hohe Gras stolpern, Moos, Steine und Erdboden riechen, Vogelgesang und den plätschernden Bach ringsum hören, durch eine Pfütze tapsen etc. Die Dinge, die junge Caniden während der kritischen Sozialisierungsphase – eine Zeit, die im Alter von zwölf Wochen endet! – kennen lernen, sind ungefährlich, sofern die Mutter einen geeigneten Wurfort gewählt hat. Starke Neigung zu Angst und Nervosität ist noch nicht notwendig und würde das Kennenlernen der Eindrücke, die den Vierbeiner ein Leben lang begleiten werden, nur unnötig verzögern. Stattdessen ist die Neugier eine große Antriebskraft, die die Welpen dazu ermutigt, ihre Umgebung zu erkunden.

Welpen sind natürlich auch schon in diesem Alter zur Schreckreaktion fähig, allerdings sollten sie sich davon innerhalb kürzester Zeit erholen: Spannen Sie plötzlich einen Regenschirm vor einem vierwöchigen Welpen auf, darf dieser ruhig erschrecken, sollte dann aber sogleich darauf zulaufen, um den neuen Gegenstand zu untersuchen. Auch wenn Sie ein lautes Geräusch erzeugen, indem Sie etwa in die Hände klatschen oder eine Türe zufallen lassen, dürfen Welpen, die dies zum ersten Mal hören, selbstverständlich zusammenzucken, sollten dann aber gleich wieder auf den Beinen sein und sich im Erforschen der Umgebung nicht aufhalten lassen.

Wenn ein Welpe bereits im Alter von weniger als zwölf Wochen anhaltende Furcht zeigt, ist das ein Alarmzeichen: Aus irgendeinem Grund ist seine Angstreaktion stärker ausgeprägt, als sie bei gesunden Welpen seines Alters sein sollte. Das kann an genetischen Anlagen oder auch daran liegen, dass er nicht ausreichend sozialisiert wurde, ist aber nicht notwendigerweise ein Grund zur Panik – kompetente Züchter erkennen das und fördern diesen Welpen besonders, um ihn zu seinen Geschwistern aufholen zu lassen. Wird dem Welpen andererseits keine spezielle Förderung zuteil, ist es gut möglich, dass er immer noch ein ängstlicher Welpe ist, wenn er einige Wochen später bei Ihnen einzieht.

Haben Sie also die Möglichkeit, einen Wurf mehrmals zu besuchen, bietet es sich an, neue Gegenstände mitzubringen und in den Welpenauslauf zu legen: Laufen die Welpen sofort oder nach kurzem Zögern neugierig darauf zu? Gut! So soll es sein! Meiden sie den Gegenstand oder behält die Furcht vor Neuem die Überhand? Das ist ein Grund zur Vorsicht! Beobachten Sie auch, was passiert, wenn Sie laut in die Hände klatschen: Keine Reaktion oder ein kurzes Zusammenzucken und Umschauen, das dann gleich wieder vergessen ist, sind ein gutes Zeichen. Verstecken sich die Welpen und scheinen von dem lauten Geräusch dauerhaft aus dem Konzept gebracht, ist das ein Grund zur Sorge.

Soll der Welpe ein Zweithund werden, können Sie den Züchter Ihres Vertrauens auch bitten, Ihrem Hund den Welpen vorstellen zu dürfen. Bis zum Alter von zwölf Wochen sollten gut sozialisierte Welpen sowohl zu unbekannten Hunden wie unbekannten Menschen, ganz gleich ob Kinder oder Erwachsene, Kontakt aufnehmen wollen. Ein anfängliches Zögern ist kein Grund zur Sorge. Zeigt ein Hund bereits in diesem Alter anhaltende Angst (bellen, weglaufen, erstarren) vor fremden Artgenossen oder Menschen, ist das ein Alarmzeichen.

Schwieriger wird es, wenn Sie nicht die Möglichkeit haben, das Temperament Ihres Welpen auszutesten. Vielleicht ist nichts über seine Aufzuchtbedingungen bekannt, vielleicht lernen Sie ihn erst an dem Tag kennen, an dem Sie ihn abholen, oder vielleicht vermuten oder wissen Sie sogar, dass er aus schwierigen Verhältnissen kommt, haben sich aber trotzdem oder gerade deswegen für ihn entschieden. Zeigt sich ein mehr als drei Monate alter Welpe ängstlich, haben Sie eine schwierige Aufgabe vor sich: Die kritische Sozialisierungsphase ist bereits abgeschlossen. Auch in diesem Alter kann Ihr Welpe noch Vertrauen in die Welt fassen, doch dauert es länger und ist ein schwierigerer Prozess als bei einem jüngeren Tier.

Haben Sie Ihren Welpen im Alter von acht bis zwölf Wochen nach Hause geholt, gönnen Sie ihm den ersten Tag eine Ruhepause, um sich von der Anreise und der großen Menge an neuen Eindrücken zu erholen. Bereits am zweiten Tag im neuen Zuhause können Sie auch bei einem achtbis zwölfwöchigen Hundekind, das Sie erst am Vortag kennen gelernt haben, ein paar Tests durchführen. Ein gesunder und gut sozialisierter Welpe ist in diesem Alter im Idealfall bereit, die Welt zu erobern – auch in seinem neuen Zuhause: Neue Menschen oder Ihre übrigen Hunde werden neugierig begrüßt. Katzen und Kleintiere, die bei Ihnen im Haushalt leben, werden je nach Rasse und Temperament vielleicht mal kurz angebellt, aber die Neugier sollte dann doch immer wieder siegen und der Welpe versuchen, sich etwas näher an seine tierischen Mitbewohner heranzupirschen. Kurze unbekannte, laute Geräusche (Türenknallen, Pendeluhr schlägt, Wecker rasselt, Zug, Donner und Ähnliches) dürfen den Welpen kurz zusammenzucken lassen, dann sollte er sich allerdings sogleich umsehen, um das Geräusch zu orten, und schließlich ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden wieder damit weitermachen, womit er sich zuvor beschäftigt hat. Auch wenn Sie aus dem Zimmer gehen, das er mittlerweile kennt, die Tür hinter sich schließen und dann sofort wieder öffnen, um zurück ins Zimmer zu kommen, sollte ein gesunder und gut aufs Leben vorbereiteter Welpe das ohne Drama verkraften – er sollte in dieser maximal einige Sekunden kurzen Zeitspanne nicht bereits an der Tür kratzen oder Ihnen nachwinseln. Die Geräusche von Haushaltsgeräten (Staubsauger, Mixer) hat ein gut sozialisierter Welpe ebenfalls bereits beim Züchter kennengelernt. Er darf sich also gern kurz verdutzt umsehen, um den Ursprung des Lärms zu finden, sollte aber weder weglaufen, sich verstecken wollen noch lauthals erregt bellen. Neugierige Welpen versuchen vielleicht, mit dem Staubsauger zu spielen oder ihn zu fangen. Führen Sie Ihren Welpen nach draußen, sollte er ohne zu zögern Oberflächen wie Gras, Asphalt, Beton, Laminatboden und so weiter betreten, als hätte er dies schon häufig gemacht. Ein Welpe, der sich nicht traut, auf diese Oberflächen zu steigen, ist durchaus ein Grund zur Sorge und ein Hinweis darauf, dass er entweder bei seinem Züchter nicht genug kennengelernt hat oder trotz bester Kinderstube zu einem überdurchschnittlichen Maß an Furcht neigt: Gut sozialisierte, gesunde Welpen sind mit den unterschiedlichsten Oberflächen vertraut und können auch schon über Glasplatten oder Gitterrost gehen. Auch die Geräusche eines gelegentlich vorbeifahrenden Autos sollten ihn interessieren, aber nicht irritieren oder verängstigen. Eine ruhige Straße, auf der hin und wieder Autos, Radfahrer oder Mopeds vorbeifahren, sollte kein Problem für den jungen Hund darstellen, und auch Spaziergänger mit Hunden oder Kinderwagen sollten sein Interesse wecken, nicht aber seine Sorgen.

Beschreibt das Ihren Hund? Neugierig, aufgeweckt und bereit für jedes Abenteuer? Wunderbar! Das Verhalten Ihres Welpen wirkt gesund und munter! Sind andererseits Ihre Sorgen mit jedem Satz, den Sie gelesen haben, gewachsen, halten Sie genau das richtige Buch in Händen: Ich schreibe es für alle Menschen, die ihr Zuhause mit einem Welpen teilen, auf den die obige Beschreibung der Idealsituation ganz und gar nicht zutrifft. Sie haben einen Welpen, der neue Menschen oder Hunde entweder lauthals verbellt (Kampfreaktion), wegläuft und sich versteckt (Fluchtreaktion) oder stocksteif stehen bleibt beziehungsweise sich nur noch im Zeitlupentempo zu bewegen wagt (Erstarren). Ebenso fällt die Reaktion auf im selben Haus lebende Katzen und Kleintiere aus, und statt im Laufe der Tage besser zu werden, eskaliert sie immer weiter. Laute Geräusche wie Händeklatschen, Türenknallen oder Hupen bringen Ihren neuen Mitbewohner völlig aus dem Konzept und führen dazu, dass er minutenlang nicht mehr ansprechbar ist. Noch schlimmer bei anhaltenden monotonen Geräuschen: Stellen Sie Staubsauger oder Mixer an, verkriecht sich Ihr Hund im hintersten Winkel, schlägt Alarm oder wird zu einem zitternden Häufchen Elend. Wenn Sie auch nur Anstalten machen, den Raum zu verlassen, kommt Panik in Ihrem Sorgenkind auf. Nehmen Sie es mit nach draußen, wächst die Anspannung und Nervosität: Ihr Welpe weigert sich, bestimmte Oberflächen wie Gras oder Asphalt zu betreten, und weder Locken noch gutes Zureden schaffen Abhilfe. Setzen Sie ihn auf die neue Oberfläche, bleibt er bewegungslos auf einem Fleck sitzen, bringt sich möglichst schnell wieder in Sicherheit oder versucht, sich an Ihrem Körper festzuklammern, um nur ja nicht abgesetzt zu werden. Auch die Geräusche vorbeifahrender Autos bringen Ihren Welpen aus dem Konzept: Er zuckt zusammen, versteckt sich hinter Ihnen, versucht, in Panik wegzulaufen, oder springt Alarm schlagend auf das Auto zu. Auf Passanten wie Radfahrer, Kinderwagen und Spaziergänger mit anderen Hunden reagiert er ebenfalls mit Kampf, Erstarren oder Flucht.

Beschreibt der letzte Absatz ganz oder teilweise Ihr neues Familienmitglied? Das ist okay. Ihre nächsten Wochen und Monate werden vielleicht schwieriger werden, als Sie erwartet haben, aber Sie sind bereits auf dem richtigen Weg: Lesen Sie einfach weiter. In den nächsten Kapiteln werde ich Ihnen helfen, Ihrem ängstlichen Welpen zu einem guten Start ins Leben zu verhelfen und trotz aller Schwierigkeiten nicht die Freude aus den Augen zu verlieren, die es bedeutet, sein Leben mit einem Hundekind zu teilen. Je früher Sie beginnen, die Selbstsicherheit Ihres Welpen aufzubauen, umso besser.

Wie Sie von diesem Buch profitieren

Dieses Buch hat mehrere Ziele: Einerseits möchte ich Ihnen Hintergrundwissen über die Entwicklungsphasen eines Welpen, die Faktoren, die Persönlichkeit und Temperament beeinflussen, rassetypische Unterschiede und die Gesetze des Lernens vermitteln. Mit diesem Wissen ausgestattet gelingt es Ihnen, einen Schritt zurückzutreten und Ihren Welpen objektiv einzuschätzen. Wenn wir Verhalten und Assoziationen ändern wollen, die ein Tier zu bestimmten Umweltreizen zeigt, müssen wir erst verstehen, welche Faktoren überhaupt beeinflussen, wie sich unser Hund seiner Umwelt gegenüber fühlt und verhält. Fundiertes Hintergrundwissen zu diesem Thema bewahrt uns davor, unseren Welpen mit Labels wie „stur“, „aggressiv“ oder „charakterschwach“ abzustempeln. Stattdessen lernen wir, Verständnis zu zeigen, uns einzufühlen und zu verstehen, dass es alles andere als selbstverständlich ist, sich als Hund in einer menschengemachten Welt zurechtzufinden.

Der zweite große Teil führt in die Praxis. Ich greife konkrete Probleme auf, die sich bei ängstlichen Welpen immer wieder finden, und helfe Ihnen beim kleinschrittigen Aufbau von Alternativverhalten beziehungsweise beim Ändern der negativen Assoziationen, die Ihr Hund gegenüber seiner Umwelt zeigt.

Die Kombination von Theorie und Praxis sowie zahlreiche Denkanstöße dazu, wie sich die vorgestellten Sozialisierungsprotokolle für weitere Problemsituationen adaptieren lassen, helfen Ihnen, zu verstehen, was einen erfolgreichen Trainings- oder Gegenkonditionierungsplan ausmacht. Das unterstützt Sie dabei, auch Probleme zu lösen, die in diesem Buch nicht abgedeckt werden, und Trainingspläne zu entwerfen, die Ihren Hund zum Erfolg führen, ganz gleich, womit er Schwierigkeiten hat. Sie lernen, selbstständig Situationen einzuschätzen und Schwierigkeiten zu lösen.

Im dritten großen Teil geht es darum, wie Sie Ihren ängstlichen Welpen mit Selbstvertrauen fördernden Spielen zusätzlich unterstützen können. Auch stelle ich Managementideen vor, mit denen Sie sich selbst dann zu helfen wissen, wenn Sie außerhalb des Trainings, also quasi im echten Leben, Stressoren begegnen, für die Ihr Welpe noch nicht bereit ist.

Nach einem kurzen Ausflug in die Welt der Nahrungsergänzungsmittel, Medikamente und sonstiger Produkte, die unsichere Welpen unterstützen können, beschäftigen wir uns im vierten Teil schließlich mit der Zukunft Ihres Schützlings: Nur, weil er einen suboptimalen Start im Leben hatte, heißt das nicht, dass Sie keinen Spaß miteinander haben können! Es gibt mittlerweile einige Hundesportarten, die dem Aufbau von Selbstvertrauen zuträglich sind. Mit diesen wollen wir uns beschäftigen und Ihnen helfen, selbst dann Trainingsmöglichkeiten zu finden, wenn Ihr Hund noch nicht zur Arbeit in der Gruppe bereit ist.

Der Theorie und Praxis des ängstlichen Welpen stelle ich ein Kapitel voran, das mehr mit dem Menschen am anderen Ende der Leine als mit seinem Hund zu tun hat. Bei der Arbeit mit Klienten, die ihr Leben mit schwierigen Welpen teilen, begegnet mir immer wieder eine Konstante, die dem erfolgreichen Umlernen im Weg steht: die Schuldfrage. Viele Welpenhalter sind davon überzeugt, bereits in den ersten gemeinsamen Tagen nicht wiedergutzumachende Fehler begangen zu haben und die alleinige Schuld an der Angst ihres Welpen zu tragen. Das führt zu großen Selbstvorwürfen und kann es erschweren, einem Trainingsplan zu folgen. Andere Welpenhalter wiederum bringen große Wut auf Züchter oder Vorgeschichte des Welpen mit. Auch dieser immer wieder aufflammende Ärger, die ausgesprochenen oder gedachten Vorwürfe stehen einem lösungsorientierten Umgang mit Welpenproblemen eher im Weg, als ihnen zuträglich zu sein. Das Kapitel Wer ist am Verhalten meines Welpen schuld? hilft Ihnen, mit Ihren Emotionen umzugehen und Frieden mit dem Status quo zu schließen, bevor wir uns an die Arbeit machen.

Durch dieses Buch führen Sie einerseits Bilder von Trainingssessions und Welpenbesuchen, auf die mich meine Fotografin und Freundin Olga Maderych begleitet hat. Andererseits dürfen Sie im Laufe dieses Buches immer wieder einen Blick in die Welpenstube einer vorbildlichen Züchterin werfen: Cordula Weiß hat mir Fotos aus den ersten Lebenswochen der Welpen ihrer „Kalalassie‘s“-Zucht zur Verfügung gestellt. Wann immer ein Kurzhaarcollie-Welpe in die Kamera lacht, befinden wir uns also im Raum Stuttgart, wo Cordulas kleine Lausbuben und -mädchen mit zahlreichen Welpenabenteuern und Ausflügen bestens auf die Zukunft vorbereitet werden. Viel Spaß beim Schmökern und beim Verlieben in die vierbeinigen Fotomodels!

Sie können dieses Buch sowohl von vorne nach hinten lesen als auch in jenem Kapitel beginnen, das Sie besonders interessiert. Hören Sie immer wieder Vorwürfe, dass Sie den falschen Züchter gewählt haben, oder machen sich selbst Vorwürfe, weil Ihr Welpe nicht so ist, wie Sie ihn sich gewünscht hatten? Dann empfehle ich, direkt im nächsten Kapitel weiterzulesen. Hatten Sie sich einen Hundesportpartner gewünscht und fürchten nun, dass aufgrund der Ängste Ihres Welpen Turniererfolge in unerreichbare Ferne gerückt sind? Fangen Sie ganz hinten beim Kapitel Hundesport zu lesen an – Sie werden sich danach besser fühlen. Stellen Sie sich ständig die Frage „Wieso gerade mein Welpe?“ empfehle ich, als Erstes zu den Entwicklungsphasen zu blättern und über den wissenschaftlichen Hintergrund zu lesen, um die eine oder andere Antwort zu finden. Hat Ihnen Ihr Tierarzt nahegelegt, die Ernährung Ihres Hundes zu überdenken, beginnen Sie bei den rezeptfreien Hilfsmitteln. Haben Sie jede Menge konkreter Probleme und wissen weder ein noch aus, schlagen Sie die Kapitel Sozialisierung und Welpentraining auf. Sollten Sie sich nicht zutrauen, selbst mit Ihrem Welpen fertigzuwerden, lege ich Ihnen den Abschnitt zum Finden kompetenter Trainer ans Herz.

Wichtig ist in jedem Fall, dass Sie, bevor Sie mit dem Training beginnen, erst Frieden mit den Problemen Ihres Welpen schließen und lösungsorientiert und zuversichtlich an die Sache herangehen. Wut, Enttäuschung oder Selbstvorwürfe stehen Ihnen im Training Ihres Welpen nur im Weg. Beschäftigen Sie sich mit den Theoriekapiteln, um negative Emotionen hinter sich zu lassen, Ihren Welpen rational einzuschätzen und sein Verhalten aus wissenschaftlicher Perspektive zu betrachten. Ja, ängstliche Welpen sind eine große Herausforderung – aber Herausforderungen können etwas sehr Schönes sein. Wenn Ihr Welpe schwieriger ist als erwartet, werden Sie dank ihm viel mehr über Hunde lernen, als Sie das mit einem einfachen Welpen würden. Sie werden persönlich wachsen, viel lesen, Gleichgesinnte kennen lernen und, wenn Sie geduldig und kleinschrittig sozialisieren und trainieren, gemeinsam mit Ihrem Hund jede Menge Erfolge feiern. Geben Sie sich und Ihrem Vierbeiner die Chance, das beste Team zu werden, das Sie beide sein können!

„Chrissi!“, rief die Dame auf der Parkbank und winkte mich heran. Als ich näher kam, wurde ich von einem fröhlichen blonden Hund begrüßt – Billy! Corina strahlte übers ganze Gesicht, während ihr vierbeiniger Begleiter sein unbeschwertes Spiel mit einem dreifarbigen Aussie-Welpen wieder aufnahm.

Als ich Billy vor über einem halben Jahr kennen gelernt hatte, war der Spitz-Retriever-Mischling gerade frisch von einer strohbedeckten Pferdebox am Bauernhof, seiner Hoppala-Geburtsstätte, nach Wien Meidling gezogen. Er war erst neun Wochen alt, doch konnte er weniger hundeaffinen Menschen durchaus schon Respekt einjagen, wenn er, sobald jemand in der Eingangstür auftauchte, zum wütend bellenden Monster mutierte. Gleich ob Hund oder Mensch – alle, denen er begegnete, versetzten ihn in höchste Alarmbereitschaft, und sein neues Zuhause war leider alles andere als ein ruhiger Bezirk – genauso wenig wie die Wohnung selbst, in der er meinte, sich vor Corinas dreijährigem Sohn schnappend und bellend verteidigen zu müssen.

Wer ist am Verhalten meines Welpen schuld?

Als Phoebe etwa ein halbes Jahr alt war, erzählte ich einer Gassi-Bekannten, dass ich mir vorgenommen hätte, in der nächsten Woche am Entspannen-Können in der Nähe von Kindern zu arbeiten. Ich erinnere mich noch gut an ihre Antwort: „Kein Wunder, dass sie immer so nervös ist. Das hättest du ihr viel früher beibringen müssen!“

Wenn Sie Kontakte zu anderen Hundehaltern pflegen, finden Sie sich als Besitzer eines sensiblen Welpen gelegentlich in ähnlichen Situationen. Besonders unter Hundesportlern und engagierten Hundehaltern ist es üblich, nicht mit der eigenen Meinung hinterm Berg zu halten, selbst wenn sie das Gegenüber verletzen könnte. Die aktuelle Hundesportkultur in Österreich, Deutschland und der Schweiz legt mehr Wert auf Redefreiheit als auf Respekt und Einfühlungsvermögen. Während es durchaus Situationen gibt, in denen es hilfreich ist, die eigene Meinung klar zu vertreten, verletzt diese Praxis im Umgang mit den Haltern schwieriger Welpen eher, als dass sie hilft. Wer einen ängstlichen Welpen durchs Leben führt, vergleicht sich sowieso häufig mit den fröhlich-selbstsicheren Welpen rund um ihn: mit den anderen tollpatschigen Vierbeinern in der Welpenspielgruppe, die miteinander balgen, während der eigene Hund zwischen den Beinen Zuflucht sucht. Mit den Wurfgeschwistern, deren Besitzer auf Facebook Bilder ihrer mutigen Vierbeinern im Spiel mit Papiertüten zeigen, die den eigenen Hund in Panik ausbrechen ließen. Mit der Literatur, die Welpen bis zu einem gewissen Alter als völlig furchtlos darstellt, und mit Videos und DVDs, in denen entspannte Welpenausflüge in der lauten Großstadt zelebriert werden. Die Frage „Warum ist mein Welpe anders?“ ist allgegenwärtig.

„Entgegen der weit verbreiteten Meinung verlassen wir uns [im Hundetraining] nicht zu selten auf unseren gesunden Menschenverstand, sondern zu oft.“

(frei nach Aubrey C. Daniels)

Wenn dann auch noch Bekannte oder, was noch mehr schmerzt, Freunde oder der Trainer des Vertrauens die Stirn runzeln, fragen Sie sich, ob es tatsächlich Ihre Schuld ist, dass Ihr Welpe so ist, wie er ist. Haben Sie ihn am ersten Tag im neuen Zuhause mit zu vielen Eindrücken überfordert? Haben Sie ihn in der ersten Woche zu sehr in Watte gepackt und ein wichtiges Sozialisierungs-Zeitfenster verpasst? Hat ihn der Zusammenstoß mit dem Nachbarshund für immer traumatisiert? Sind Sie zu streng? Zu sanft? Haben Sie keine „Bindung“ zu Ihrem Hund? Haben Sie sich für die falsche Rasse entschieden oder die eigene Welpen-Expertise überschätzt?

Fakt ist: Diese Fragen und Selbstvorwürfe helfen Ihnen nicht weiter, sondern stehen einer lösungsorientierten Herangehensweise an die Schwierigkeiten Ihres Hundekindes höchstens im Weg. Mein erster Rat lautet daher, Ihre Freizeit mit solchen Hundebekanntschaften zu verbringen, die sich gemeinsam mit Ihnen an Ihrem Welpen freuen, Ihre gemeinsamen Erfolge feiern und Ihnen Verständnis entgegenbringen, wenn Sie berichten, dass mancherlei Dinge schwerer sind als erwartet. Gegenüber Menschen, die dazu neigen, Sie zu verurteilen, weil Ihr Hund nicht „perfekt“ ist, ist es ratsam, gar nicht näher auf die Angstthematik einzugehen und stattdessen über neutrale Themen zu reden oder den Kontakt überhaupt zu meiden, bis Ihr Welpe seine Ängstlichkeit abgelegt hat – und das wird er. Versprochen. Brauchen Sie bis dahin hin und wieder ein paar aufmunternde Worte und wünschen sich Austausch mit Gleichgesinnten, lade ich Sie herzlich ein, der Facebook-Gruppe „Nur Mut! Community für Menschen mit schwierigen Welpen.“ beizutreten

Ähnlich unangenehm sind Gespräche mit Menschen, die die Schuld nicht Ihnen, sondern Ihrem Züchter in die Schuhe schieben: „Hast Du den Zwinger überhaupt gut recherchiert?“ „Ich hätte dort ja keinen Hund gekauft …“ Auch in dem Fall schwingt ein Urteil mit, ein Besserwissen, das Ihnen in der aktuellen Situation nicht weiterhilft. Egal, wie viel oder wenig Sie recherchiert haben, und ganz gleich, ob die Aufzuchtbedingungen ideal oder suboptimal waren – all das liegt in der Vergangenheit und lässt sich nicht ändern. Bei der Entscheidung für Züchter oder Tierschutzverein Ihrer Wahl haben Sie nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt und die bestmögliche Entscheidung getroffen, die Sie zum damaligen Zeitpunkt haben treffen können. Vielleicht würden Sie heute anders entscheiden, vielleicht noch mal genauso – aber darauf kommt es nicht an. Das Einzige, was heute wichtig ist, ist, wie Sie Ihren Welpen bestmöglich auf die Zukunft vorbereiten können. Blicken Sie nach vorne, statt Energie in ein Gespräch über die Vergangenheit zu investieren und Ihre damalige Entscheidung zu rechtfertigen. Sie brauchen Ihre Energie, um Ihren Hund im Alltag zu unterstützen. Überlegen Sie sich eine Antwort für die Gewissensfrage nach dem Herkunftsort Ihres Welpen, die die Fragenden zufriedenstellt und das Thema beendet. Mögliche Antworten:

•„Ja, meine Züchterin macht das wirklich gut. Manche Welpen sind einfach ängstlicher als andere, genau wie manche Kinder schüchterner sind als ihre Geschwister. Apropos … Hast du eine Idee, was ich meiner Schwester zum Geburtstag schenken könnte?“

•„Rückwirkend betrachtet sind die Aufzuchtbedingungen dort nicht ideal. Aber das ist okay – so bin ich zu meinem Welpen gekommen, und ich würde ihn für nichts auf der Welt eintauschen. Oh, mir fällt gerade wieder ein, was ich dir erzählen wollte! Hast du schon gehört, dass die Leopoldstadt eine neue Hundeboutique bekommt?“

•„Ich habe mich bewusst für einen Welpen aus dem Tierschutz entschieden. Das ist natürlich ein Überraschungspaket; da weiß man nicht genau, wen man bekommt. Jeden Tag lerne ich etwas Neues von meinem Hund! Oh, es ist schon fünf! Ich muss mich leider verabschieden; ich habe noch einen Termin.“

Viele Menschen hatten einfach noch nie einen nervösen oder besonders ängstlichen Welpen – sie hatten mit ihren bisherigen Hunden vom ersten Tag an selbstsichere, unkomplizierte Begleiter und gehen davon aus, dass Sie etwas falsch gemacht haben müssen, wenn Ihr Hund sich mit der Umwelt weniger leichttut als der ihrige. Entweder haben Sie ihn über- oder unterfordert, oder Sie haben den falschen Welpen vom falschen Züchter oder falschen Verein gewählt. Das ist schnell mal gedankenlos ausgesprochen und bald darauf wieder vergessen. Für Halter, die zum ersten Mal ihr Leben mit einem hochsensiblen Vierbeiner teilen, klingt der gefühlte Vorwurf hingegen noch lange nach: Sie haben sich bemüht, alles richtig zu machen, schon vor dem Einzug des Welpen alles gelesen, was Sie zum Thema Sozialisierung finden konnten; Sie haben sich die ersten beiden Wochen Urlaub genommen, um Ihrem Neuzugang die Umstellung zu erleichtern, sich für die Welpengruppe angemeldet … Und doch scheint alles schiefzulaufen. Ihr Hundekind ist einfach nicht so, wie die Literatur es beschreibt: frech und selbstsicher, neugierig und verspielt. Haben Ihre Bekannten etwa Recht, wenn sie Sie mit verständnislosen Blicken ansehen, die zu sagen scheinen, dass Sie irgendetwas ganz gewaltig falsch gemacht haben? Haben Sie sich eine Herausforderung ins Haus geholt, der Sie nicht gewachsen sind? Hätten Sie eine andere Rasse wählen sollen, einen anderen Züchter, doch keinen Tierschutzverein? Ginge es Ihrem Hund anderswo besser? Hätte der Züchter seine Sache besser machen sollen? Sind Sie etwa über den Tisch gezogen worden? Sollten Sie sich ärgern, beschweren, rechtliche Schritte einleiten?

Die Antwort auf all diese Fragen ist einfach: Nein. Nein, Sie haben nichts falsch gemacht. Auch hier gilt: Sie haben nach bestem Wissen und Gewissen entschieden und die bestmögliche Entscheidung getroffen, die Sie zum damaligen Zeitpunkt treffen konnten. Sie sind zu jedem Zeitpunkt der bestmögliche Partner, der Sie für Ihren Hund sein können – und nur darauf kommt es an. Die Tatsache, dass Sie gerade dieses Buch lesen, zeigt, dass Sie mehr als einen Hund wollen, der im Garten sich selbst überlassen bleibt – Sie wünschen sich einen vierbeinigen Freund, der sich physisch und psychisch wohlfühlt. Sie haben, als Ihnen bewusst wurde, dass Ihr Welpe weniger unkompliziert ist als erwartet, zu diesem Buch gegriffen, um zu lernen, wie Sie ihm den Start ins Leben erleichtern können. Das zeugt von Ihrer Flexibilität und Ihrem Willen, das Beste aus der Situation zu machen. Nur ein kleiner Prozentsatz aller Hundehalter liest Literatur zum Thema Hund, hat vor, mit dem Hund Kurse zu besuchen und möchte ihn zu einem Freund in allen Lebenslagen erziehen. Weit größer ist die Anzahl von Hunden, die ihr Leben lang nicht aus dem eigenen Garten kommen und denen außer zur Fütterung kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird. Viele dieser Hunde tun sich mit der großen weiten Welt ebenso schwer wie Ihrer, nur bemerkt es niemand; viele dieser Hunde sind reaktiv und fristen daher ein Leben im Zwinger. Sie sind anders – Sie möchten Ihrem Hund zu einem richtig guten Leben verhelfen. Und das werden Sie auch. Bevor Sie damit beginnen, sollten Sie aber mit den nagenden Zweifeln, mit den Selbstvorwürfen oder der Wut auf Züchter oder Tierschutzverein Ihren Frieden schließen. Wenn wir entspannt und mit uns selbst im Reinen ans Hundetraining herangehen, schaffen wir eine angenehme Lernatmosphäre für unseren Hund und haben beide mehr Spaß an der Sache.

Ja, sagen Sie jetzt vielleicht, schon möglich, dass es leichter fällt, mit einem ängstlichen Hund zu arbeiten, wenn wir Groll und Selbstzweifel abwerfen. Aber brauchen Sie dazu nicht erst eine Antwort? Wer ist denn nun wirklich schuld am Verhalten Ihres Welpen?

Sie haben Recht; manchmal machen Antworten es leichter, nach vorne zu blicken. In diesem Fall muss ich Sie aber enttäuschen: Wir können immer nur Vermutungen anstellen, die Frage aber nicht mit Sicherheit beantworten. Die Faktoren, die für die Entwicklung des Hundes wichtig sind, sind zahlreich und komplex. Das, was uns als Welpenkäufer bekannt ist, ist meist nur ein Bruchteil all dessen, was die Entwicklung eines Hundekindes beeinflusst. Selbst die besten Züchter – und die besten Züchter wissen mehr über ideale Hunde(auf)zucht als die meisten Eltern über bestmögliche Kindererziehung! – können nur einige Elemente beeinflussen.

Zum derzeitigen Forschungsstand wird die Entwicklung eines Säugetieres von folgenden Elementen beeinflusst:

•Rassetypische Besonderheiten

•Temperament und Persönlichkeit der Elterntiere (Genetik)

•Stresslevel der Mutterhündin vor der Geburt

•gewisse Erlebnisse in den ersten Lebensstunden und -tagen

•Erfahrungen, die der Welpe in den ersten 16 Lebenswochen (nicht) sammelt

Und dennoch: Selbst wenn all diese Faktoren optimiert sind, gibt es immer wieder Fälle, in denen ein Welpe anders ist als seine Wurfgeschwister; schüchterner, vorsichtiger, ängstlicher. Wer jemals einen Wurf Welpen hat aufwachsen sehen, weiß auch, wie unterschiedlich die Charaktere innerhalb ein und desselben Wurfes ausfallen können: Meist lassen sich schon im Alter von etwa vier Wochen ein besonders frecher oder besonders vorsichtiger Welpe ausmachen; manchmal ändert sich dies allerdings in den nächsten Wochen erneut. Wer noch nie einen Wurf hat aufwachsen sehen, denke an seine eigenen Geschwister oder Kinder: Oft haben Kinder dieselben Eltern und wachsen ganz ähnlich auf, und doch entwickeln sie ganz unterschiedliche Interessen, Temperamente und Persönlichkeiten. Klar, sie haben immer auch einiges gemeinsam – schließlich sind sie Geschwister, und gewisse Charakterzüge und Ähnlichkeiten lassen sich feststellen. Mindestens ebenso groß sind aber häufig die Unterschiede – und das sogar bei Zwillingen. Und manchmal haben sogar die besten Eltern, die alles richtig gemacht haben, ein schwieriges Kind.

Mir gefallen die drei möglichen Erklärungen von Verhaltensproblemen, die die renommierte Trainerin, Züchterin und Puppy-Culture-Autorin Jane Killion vorschlägt. Angelehnt an ihre Theorie können wir sagen, dass bei einem „Problemhund“ mit großer Wahrscheinlichkeit eines der folgenden Elemente oder eine Kombination davon zutrifft:

•Der Hund hat einen Knall – er ist ganz einfach „nicht normal“. Das ist zwar selten der Fall, aber durchaus möglich.

•Das, was wir als Problemverhalten sehen, ist nichts weiter als der Ausdruck einer Eigenschaft, für die wir seit Hunderten oder gar Tausenden von Jahren in der Zucht selektieren. Nachdem wir den Hund nicht zu seiner ursprünglichen Verwendung (zum Beispiel Jagen, Hüten, Bewachen, Schlitten ziehen und so weiter) einsetzen, sondern erwarten, dass er ein unkompliziertes Haustier in einer Stadtwohnung ist, kommt so manche Veranlagung ungelegen. Ein Beispiel sind bellfreudige Hunderassen, deren ursprüngliche Aufgabe es war, bei unheimlichen Geräuschen Alarm zu schlagen, oder jagdfreudige Familienhunde.

•Der Hund hat in der kritischen Sozialisierungsphase einen oder mehrere wesentliche Lern- und Konditionierungserfahrungen verpasst. Was Sie als Verhaltensproblem sehen, ist der wahre Ausdruck seiner genetischen Veranlagung in Reinkultur: Der Hund springt an allem und jedem hoch, verteidigt seine Ressourcen, setzt im Spiel die Zähne ein … Um einen Welpen zu erhalten, mit dem die meisten Hundebesitzer glücklich werden, ist zwischen der dritten und zwölften Lebenswoche jede Menge Arbeit notwendig! Leider ist das sowohl Züchtern als auch Haltern oft nicht bewusst, was dazu führt, dass die meisten der „Problemwelpen“, mit denen ich im Einzeltraining arbeite, in diese dritte Kategorie fallen.

Pace war ein Border Collie aus den besten Linien. Ihre Züchter hatten die Elterntiere sorgfältig ausgewählt – beide waren freundlich und aufgeschlossen, konnten im Haus abschalten, waren aber auch arbeitsfreudig und brachten gute Hüteeigenschaften mit. Die Welpen wuchsen auf einer Schaffarm auf und lernten bis zum Alter von neun Wochen mehrere erwachsene Border Collies, Pyrenäenberghunde und Shelties kennen, die ebenfalls zur Familie gehörten. Sie sahen und rochen Schafe, Hühner, Pferde und Katzen aus sicherem Abstand und lernten in den ersten Lebenswochen circa 50 unterschiedliche Menschen – Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene – kennen. Sie durften auf der Wiese tollen und die Scheune erforschen, hörten Alltagsgeräusche in Haus und Küche, kannten Fliesenboden, Teppich, Holzböden, Beton und Gras. Sie hatten Spielzeug zur Verfügung, wurden gesund ernährt und auf zwei kurze Autofahrten mitgenommen, bevor sie im Alter von neun Wochen in ihre neuen Familien ziehen durften.

Vier der jungen Border Collies entwickelten sich prächtig. Sie waren selbstsicher, frech und fröhlich, ganz gleich, was ihnen begegnete. Pace war anders. Immer schon war sie die Ruhigste und Zurückhaltendste des Wurfes gewesen. Gerade aufgrund ihres scheinbar besonders unkomplizierten Wesens empfahl die Züchterin Pace der jungen Studentin, die später meine Klientin werden sollte: Pace war ihr Ersthund, und sie freute sich bereits darauf, gemeinsam mit der Kleinen Agility zu erlernen.

Bis dahin sollte es allerdings noch ein langer Weg sein: Schnell stellte sich heraus, dass Pace vor vielem Neuen Angst hatte: Beim Anblick fremder Hunde erstarrte sie oder versteckte sich. Beim Anblick laufender Kinder und bei näherkommenden Motorengeräuschen nahm sie in Panik Reißaus. Wurde sie im Freien auf den Boden gesetzt, blieb sie einfach sitzen, statt sich zu bewegen und die Umgebung zu erforschen. Baustellenlärm in der Ferne versetze sie in höchste Alarmbereitschaft, und Gartenzwerge, Plastiktüten und ähnliche Dinge waren ein Grund, lauthals zu bellen und sich nicht vorbeizutrauen oder sogar in Panik zu urinieren. Pace war ein ängstlicher Welpe. Die frischgebackene Hundemama lernte bald, dass ihr neuer Schützling in den ersten gemeinsamen Wochen und Monaten mehr Unterstützung brauchen würde als erwartet.

Bevor wir uns mit den Problemkindern unter den Welpen auseinandersetzen, wollen wir uns allerdings ansehen, wie ideale Aufzuchtbedingungen aussehen. Die Zeilen, die Sie gerade über Border-Collie-Hündin Pace gelesen haben, entsprechen dem, was sich die meisten Menschen unter guten Aufzuchtbedingungen vorstellen. Für einen Welpen mit großartigen Anlagen mögen sie auch durchaus ausreichen – nicht aber für Welpen wie Pace. Um die kritische Sozialisierungsphase optimal zu nutzen, ist wesentlich mehr notwendig, als der sogenannte gesunde Hausverstand empfiehlt – und selbst das ist kein Garant für den perfekten Vierbeiner. Dennoch maximiert es die Chance, einen selbstbewussten, ausgeglichenen Gefährten heranzuziehen, der selbst mit Paces Grundveranlagung bereits mit neun Wochen wesentlich selbstsicherer ist. Lesen Sie dieses Buch, um beim nächsten Welpen eine informierte Entscheidung zu treffen, oder als Trainer, der zukünftige Welpenbesitzer bei der Kaufentscheidung beraten möchte, so finden Sie im nächsten Kapitel zahlreiche Anregungen, worauf es sich bei der Auswahl eines Züchters oder Welpen zu achten lohnt. Teilen Sie Ihr Leben bereits mit einem Welpen wie Pace, lernen Sie, besser zu verstehen, was in ihm vorgeht.

Rassetypische Unterschiede

Die Ursprünge des heutigen domestizierten Hundes liegen im Dunkeln. Allerdings finden sich genetische Hinweise darauf, dass der Hund sich bereits vor etwa dreißig- bis vierzigtausend Jahren vom Wolf abgespalten hat – zu einer Zeit, in der der Mensch noch Jäger und Sammler war. Die gezielte Zucht unterschiedlicher Hunderassen ist wahrscheinlich erst später anzusetzen, doch auch deren Ursprünge liegen bei den meisten Rassen Hunderte von Jahren zurück. So kommt es, dass die Variation in Verhalten und Aussehen beim heutigen Hund größer als bei jedem anderen Landsäugetier ist.

Gerade im Umgang mit unerwünschten Verhaltensweisen ist es unumgänglich, sich in erster Linie mit dem Individuum Hund auseinanderzusetzen, nicht mit der Rasse oder gar Spezies. Dennoch gibt es rassespezifische Verhaltenstendenzen, die uns helfen können, zu verstehen, warum ein ängstlicher Welpe mit ähnlichen Vorerfahrungen mehr Nachholbedarf hat als der nächste. Dazu wollen wir uns kurz mit der ursprünglichen Verwendung der einzelnen Rassen auseinandersetzen.

Zu den unkompliziertesten Begleitern zählen häufig Hunde jener Rassen, deren Hauptaufgabe seit langer Zeit ist, dem Menschen Gesellschaft zu leisten: Malteser, Havaneser und Cavalier King Charles Spaniel sind drei beliebte Rassen, die in diese Kategorie fallen. Sind die wichtigsten Sozialisierungs-Voraussetzungen erfüllt, gehen sie meist freundlich auf neue Menschen zu und verstehen sich problemlos mit Mensch und Hund. Ebenfalls tendenziell unkompliziert und freundlich zu Mensch und Hund sind jene Jagdhunderassen, die häufig in großen Gruppen von oftmals unbekannten Menschen und Hunden miteinander arbeiten mussten oder in der Meute zur Jagd eingesetzt wurden: Labrador und Golden Retriever und auch viele Windhundrassen fallen daher ebenfalls in die grundsätzlich aufgeschlossene und neuen Menschen und Hunden gegenüber freundliche Kategorie.

Bei jenen Rassen, die auf eine lange Geschichte als Wachhund zurückblicken, sieht es hingegen anders aus. Diese Tiere können dazu neigen, Neuem, Unbekanntem sowie fremden Menschen und Hunden erst einmal skeptisch gegenüberzustehen und dieser Skepsis durch Zurückhaltung oder Gebell Ausdruck zu verleihen. Deutsche Schäferhunde, Dobermänner und Schweizer Sennenhunde sind beliebte Hunde aus dieser Kategorie, aber auch so manche kleine Rasse wie etwa der Chihuahuas oder der Pinscher gehören zu den wachsamen Rassen. Hier ist eine wohl durchdachte Sozialisation gegenüber allem Neuen und vor allem überraschenden Geräuschen ganz besonders wichtig.

Weiters gibt es Rassen, die in der Vergangenheit in Hundekämpfen eingesetzt wurden: Pitbull und American Staffordshire Terrier etwa wurden über lange Zeit hinweg darauf selektiert, eine niedrige Reizschwelle gegenüber Artgenossen, aber eine ausgesprochen hohe Reizschwelle gegenüber Menschen zu haben. Das heißt, dass für diese Rassen eine frühzeitige Sozialisation mit anderen Hunden besonders wichtig ist. Menschen gegenüber zeigen sie sich hingegen meistens ausgesprochen freundlich – schließlich musste es möglich sein, die erregten Hunde in der Hitze des Gefechts aus dem Kampfring zu holen, ohne dass sie nach dem Arm des Hundeführers schnappten.

Einige Rassen haben sich in den letzten Jahrzehnten in eine Arbeits- und eine Showlinie gespalten, was ebenfalls zu unterschiedlichen Wesenszügen führt. So sind bei Rassen wie dem Border Collie, dem Kelpie, dem Deutschen Schäferhund, dem Labrador und dem Golden Retriever oftmals große Unterschiede im Temperament der Arbeits- und Showlinien festzustellen. Bei den Arbeitslinien erfolgt die Selektion primär nach Leistung, Arbeitseifer und körperlicher Fitness, bei Showlinien stehen hingegen Aussehen und Familientauglichkeit im Vordergrund. Laut einer Studie aus dem Jahr 2015 ist etwa die Impulsivität von Arbeitslinien bei Labrador Retrievern und Border Collies wesentlich größer als bei den Showlinien dieser Rassen. Und nicht nur das: Arbeitende Border Collies und Labrador Retriever einerseits und Show-Border-Collies und Show-Labrador-Retriever andererseits können mehr miteinander gemeinsam haben als zwei Vertreter derselben Rasse, von denen einer aus der Show- und der andere aus der Arbeitslinie stammt. Die Spaltung in Show- und Arbeitslinie und die Veränderungen, die damit einhergehen, sind noch nicht ausreichend erforscht, um definitive Aussagen zu machen. Es zeichnet sich aber bereits etwas ab, was auch Trainer häufig beobachten: Es kommt vor, dass Hunde aus einer Leistungszucht mit Hunden derselben Rasse aus einer Showzucht kaum etwas gemeinsam haben. Daher ist nicht nur die Rasse interessant, sondern auch die sogenannte Linie und in weiterer Folge besonders die direkten Vorfahren des eigenen Hundes: Worauf legt Ihr Züchter Wert?

Border Collie Elsa ist eine regelmäßige Teilnehmerin in meinen Trick- und Schnüffelworkshops. Sie ist eine freundliche und ausgesprochen verschmuste Hündin und die Ruhe in Person. In den Pausen der Workshops schläft sie zu Erichs Füßen oder geht von einem Teilnehmer zum anderen, um sich Streicheleinheiten zu holen. Elsa ist eine von mehreren Hündinnen aus Erichs eigener Zucht, die in der tiergestützten Therapie eingesetzt werden, wo sie mit körperlich behinderten Kindern arbeiten und eine riesige Portion Ruhe und Geduld beweisen. Sie sind Hunde der Showlinie, die wichtige Arbeit leisten – eine Arbeit, die sich mit der Aufgabe eines hütenden Border Collies natürlich nicht vergleichen lässt. An Hunde der Arbeits- und Showlinie werden heute ganz andere Ansprüche gestellt!

Diese Border-Collie-Hündin hilft ihren Menschen bei der täglichen Arbeit auf der Farm. Auch ihre Welpen werden ausschließlich an Landwirte und Hütesportler vergeben, die ihnen ein arbeitsreiches Zuhause bieten können.

Die Spaltung einzelner Rassen in zwei Linien weist uns auf einen weiteren Faktor hin, der nicht unerwähnt bleiben soll und meiner persönlichen Erfahrung nach besonders hilfreich beim Einschätzen des Temperaments sein kann: Wesenszüge existieren nicht im Vakuum, und Verhaltenstendenzen treten in bestimmten Clustern auf. So neigen Hunde mit sehr viel Arbeitsleidenschaft („Trieb“) häufig zu Nervosität, drehen schnell hoch, regen sich leicht auf und können sich so sehr in die Arbeit hineinsteigern, dass sie alles rund um sich – und dazu gehört auch der Mensch am anderen Ende der Leine – vergessen. Das führt dazu, dass viele der Hunde, die Höchstleistungen im Hundesport bringen, nicht besonders familien- und alltagstauglich sind, da sie mit einem turbulenten Haushalt und einem Mangel an Struktur und Vorhersehbarkeit überfordert sein können. Andere Hunde wiederum, die immer und überall entspannen können, erst denken und dann handeln und sich durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen lassen, sind meist ausgezeichnete Familienhunde, die überall hin mitgenommen werden können, neigen aber dazu, Agility-Parcours und Ähnliches weniger schnell zu laufen und beim Fuß-Gehen während der Prüfung eher ein wenig hinter dem Hundeführer zu gehen, statt voller Begeisterung die Vorderbeine hochzuwerfen wie ein Dressurpferd im Spanischen Schritt.

Wichtig ist, dass ich hier nicht von Intelligenz spreche, sondern von einem Grundtemperament, wie es auch unter Menschen vorkommt: Es gibt einerseits ruhige Zeitgenossen, andererseits solche, die ständig in Bewegung sind. Beide können ausgesprochen erfolgreich sein, aber ihre jeweiligen Stärken und Schwierigkeiten liegen auf unterschiedlichen Gebieten.

Rasse- und linienspezifische Tendenzen sowie das grundlegende Energielevel eines Hundes bestimmen, wie wichtig eine optimale Sozialisation in der kritischen Phase zwischen drei und zwölf Wochen ist. Eine optimale Sozialisierung ist natürlich immer erstrebenswert, und nur sie ermöglicht es dem Hund, sein volles Potenzial auszuschöpfen. Allerdings ist es bei manchen Rassen, Linien und Temperamentstypen noch wesentlich wichtiger als bei anderen, möglichst früh ein gutes Fundament zu legen, da ihre spätere Rehabilitation tendenziell schwieriger ist und mehr Zeit und Geduld fordert. Ein spannendes Beispiel hierfür stellen die Galgos und Greyhounds dar, die häufig in ihren ersten Lebensjahren nichts als ihre Box, den Einsatz auf der Jagd beziehungsweise der Rennbahn und andere Hunde derselben Rasse kennen lernen. Dennoch werden zahlreiche dieser Hunde später als Haustiere und Familienhunde vermittelt und lernen innerhalb kürzester Zeit, Menschen zu vertrauen und mit anderen Haustieren auszukommen. Trotz mangelnder Sozialisation sind Windhunde meist ausgesprochen anpassungsfähig. Bei den Langsitzern im Tierheim handelt es sich andererseits oft um Rassen wie Terrier, Schäferhunde, Dobermänner und Rottweiler. Hier gestaltet sich das Aufholen versäumter Welpen-Erfahrungen zumeist schwieriger und viele dieser Hunde, die rassebedingt zur Skepsis neigen, kommen später nicht mit Artgenossen zurecht oder neigen zu angstbedingter Aggression oder Scheu gegenüber Fremden – sie können nur an erfahrene Halter vermittelt werden, was ihre Chancen, ein geeignetes Zuhause zu finden, reduziert.

Flash, der Malinois einer Freundin und Kollegin, wird im Sporthüten ausgebildet. Sein Trieb ist allerdings so stark, dass Angela die ersten Lebensjahre kaum am Schaf arbeiten konnte und stattdessen viele Stunden geduldig übte, an der lockeren Leine auf die Tiere zuzugehen, sich zu entspannen und wieder wegzugehen. Flashs Leidenschaft für die Hütearbeit war so groß, dass er nicht in der Lage war, Angela überhaupt noch wahrzunehmen, wenn sich Schafe in der Nähe befanden. Erst nach etwa drei Jahren geduldigen Impulskontroll-Trainings konnte er tatsächlich am Schaf eingesetzt werden – und machte sich dann auch hervorragend!

Bevor wir dieses Kapitel abschließen und uns mit den Entwicklungsphasen beschäftigen, die alle Welpen – ganz gleich welcher Rasse oder Konstitution – durchmachen, ein Wort zur Warnung: Sich mit den unterschiedlichen Rassen zu beschäftigen ist vor allem vor dem Kauf eines Hundes eine gute Idee. Haben Sie sich erst für eine Rasse entschieden, sollte nicht der erstbeste Züchter gewählt werden, sondern es empfiehlt sich, die unterschiedlichen Linien innerhalb der Rasse näher kennen zu lernen. Ideal ist es, wenn Sie die Elterntiere oder frühere Welpen aus derselben Verpaarung treffen können, nachdem Sie einen potenziell interessanten Wurf gefunden haben. Nach der Geburt treten Rasse- und Linieneigenschaften in den Hintergrund: Jeder Hund ist ein Individuum, und selbst wenn wir uns manchmal gern den Traumhund aus einem Versandkatalog aussuchen würden, lebt niemand mit einem durchschnittlichen Vertreter seiner Rasse. Wir alle haben Hunde, die dem Durchschnitt, dem Prototyp ihrer Rasse, zu einem gewissen Grad ähneln – manche mehr, manche weniger. Der Hund, mit dem wir zusammenleben, ist in erster Linie das Individuum Lassie, nicht die Rasse Collie, oder das Individuum Marley, nicht die Rasse Labrador. Gerade, wenn Verhaltensprobleme auftreten oder unser Welpe nicht dem Wunschbild entspricht, ist es wichtig, Vorurteile beiseitezuschieben und uns mit dem Hund zu beschäftigen, der heute, hier und jetzt vor uns sitzt und den Briefträger verbellt – nicht mit dem Hund, der er laut Rassebeschreibung sein sollte, und nicht mit dem erwachsenen Hund, von dem wir uns wünschen, ihn eines Tages zu haben.

Die Entwicklungsphasen des Welpen und die Rolle des Züchters

Die Neugeborenenphase: 0–14 Tage

Im Gegensatz zu frisch geschlüpften Hühner- und Entenküken oder jungen Huftieren wie Rehkitzen, Fohlen oder Kälbern, die sofort nach der Geburt mobil sind, zählen unsere Hunde – so wie auch der Mensch – zu den Nesthockern: Sie sind in den ersten Tagen (im Falle des Menschen sogar Wochen und Monate) nach der Geburt hilflos, können weder flüchten noch kämpfen und sind ganz und gar auf Schutz und Pflege der Elterntiere angewiesen.

Nestflüchter werden geboren und finden sich im nächsten Moment schon mitten im Leben wieder – sie müssen einerseits in der Lage sein, ihre Mutter zu erkennen und ihr zu folgen, andererseits auch, Feinde zu erspähen, um rechtzeitig flüchten zu können. Bei Nestflüchtern ist aus diesem Grund die Prägephase – jenes Zeitfenster vor Einsetzen der Angstreaktion, innerhalb dessen sie Artgenossen bzw. andere Tiere als ungefährlich abspeichern – ausgesprochen kurz. So werden, wie Konrad Lorenz erkannte, Gänseküken etwa auf das geprägt, was sie nach dem Schlüpfen als Erstes sehen – ganz gleich, ob das die Mutter, ein Mensch oder ein Fußball ist –, und laufen dem entsprechenden Lebewesen oder Gegenstand von da an nach. Auch andere Gänse oder Menschen – je nachdem, wem die Küken zuerst begegnet sind – werden aufgrund des vertrauten Umrisses als ungefährlich eingestuft. Dingen und Lebewesen, die sie erst Tage später zum ersten Mal sehen, bringen sie hingegen eine gehörige Portion Skepsis entgegen: Es könnte ja ein Fressfeind sein! Wer sich also eine Gans als Haustier halten möchte, hat nur wenig Zeit, um sie auf sich zu prägen – Konrad Lorenz kann zahlreiche Geschichten davon erzählen. Bei Nesthockern wie unseren Hunden oder auch Katzen sieht die Sache praktischerweise etwas anders aus: Nachdem ein neugeborener Welpe nicht weglaufen kann, würde es überlebenstechnisch keinen Sinn machen, wenn er bereits Angst empfinden könnte. Die Natur konnte den Caniden daher eine längere und wesentlich flexiblere Phase mitgeben, innerhalb derer sie furchtlos neue soziale Bindungen eingehen und Dinge, Lebewesen und Umweltreize als ungefährlich abspeichern können. Im Gegensatz zu der sehr kurzen Prägungsphase bei Nestflüchtern sprechen wir bei Nesthockern von einer längeren Sozialisierungsphase. Anders als ihre wild lebenden Verwandten bewahren domestizierte Tiere wie der Hund eine gewisse Flexibilität sogar ihr ganzes Leben lang.

Trotzdem darf nicht übersehen werden, dass auch Nesthocker eine kritische Sozialisierungsphase durchlaufen, die endet, sobald ihre Fähigkeit, zu flüchten bzw. sich gegen Gefahren zu verteidigen, vollständig entwickelt ist – die Dinge, die der Welpe in diesem kritischen Zeitfenster verpasst, kann er später nie mehr in diesem Grade nachholen.

Wie sieht so ein neugeborener Welpe also aus, und wie können wir ihn bestmöglich aufs Leben vorbereiten? Welpen kommen taub und blind zur Welt. Sie sind noch nicht in der Lage, ihre Körpertemperatur zu regulieren, und zeigen ausschließlich et-epimeletisches Verhalten, das heißt Pflegeverlangen, indem sie um Futter betteln oder die Mutter durch leises Wimmern zu sich rufen.