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Tenshi hat sich über den Willen seines Bruders hinweggesetzt und sich auf die Suche nach seinem Freund begeben. Doch diese entpuppt sich als schwieriger, als er gedacht hat, denn Kuroi hat alle Brücken hinter sich abgebrochen und scheint wie vom Erdboden verschwunden. Und Kuroi versucht wirklich alles, um Tenshi zu vergessen. Das klappt auch fast, bis er in seinem Unterschlupf unerwarteten Besuch bekommt. Als Tenshis Suche ihn endlich zu Kuroi führt, hat sein Freund eine verhängnisvolle Entscheidung getroffen, die ihr Leben erneut durcheinanderwirbelt und beide immer wieder vor schwere Entscheidungen stellt. Band 2 - Kibo
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Seitenzahl: 998
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~ Gefallener Engel ~
Ein Roman von K.R.
© dead soft verlag, Mettingen 2018
http://www.deadsoft.de
© the author
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com
Bildrechte:
© alexkich – fotolia.com
© TRONIN ANDREI – shutterstock.com
1. Auflage (überarbeitete Neuauflage)
ISBN 978-3-96089-211-3
ISBN 978-3-96089-212-0 (epub)
Tenshi hat sich über den Willen seines Bruders hinweggesetzt und sich auf die Suche nach seinem Freund begeben. Doch diese entpuppt sich als schwieriger, als er gedacht hat, denn Kuroi hat alle Brücken hinter sich abgebrochen und scheint wie vom Erdboden verschwunden.
Und Kuroi versucht wirklich alles, um Tenshi zu vergessen. Das klappt auch fast, bis er in seinem Unterschlupf unerwarteten Besuch bekommt.
Auch für dieses Buch gilt: Ich habe hier ein fiktives Tokyo geschaffen. Das betrifft sowohl die Optik meiner Charaktere als auch die Schauplätze, an denen meine Story spielt und die nicht alle wirklich in Tokyo oder Japan zu finden sind!
Im Gegensatz zu Ochita Tenshi I habe ich in Band II den übersinnlichen Teil ausgebaut. Die jeweiligen Sequenzen sind kursiv geschrieben, um sie von dem Teil des Buches, der in der Realität spielt, abzusetzen.
Zum Schluss gibt es wieder ein paar kleine Übersetzungen und ein Nachwort.
Und nun viel Spaß beim Lesen.
Yokohama 10.06.2005
Kia Itô
Kawasaki-Street. 17
3. Stock – Yokohama
Da stand er nun, gekleidet in zerrissene Jeans, ein T-Shirt samt Jacke, die, wie er selbst, dringend eine Wäsche nötig hatten, und mit einem Rucksack mit seinen Habseligkeiten, und sammelte all seinen Mut, um an der Tür zu klingeln. Noch einmal überprüfte er den Namen und die Nummer, nur um völlig sicherzugehen. Sie stimmten. Seufzend ließ Tenshi den Zettel sinken. Seit vier Wochen war er nun schon auf der Suche nach seinem Geliebten, auf der Suche nach Kuroi. Ohne Erfolg. Keine Spur von dem ehemaligen Wolf. Bis Tenshi, kurz bevor er drauf und dran war, seine Suche abzubrechen, auf Kurois Schwester gestoßen war – Kaori Roshi. Nur lebte sie nicht mehr unter diesem Namen, was ihn Etliches an Zeit und Nerven gekostet hatte, bevor er endlich ihre derzeitige Adresse auf einem Zettel in seinen Händen gehalten hatte. Die Chance, dass Kuroi hier war, war winzig, das wusste er, aber … es war sein letzter Strohhalm.
Er klingelte.
Nichts.
Er klingelte erneut.
Wieder nichts.
Tenshi wusste nicht warum, aber insgeheim war er auch ein wenig froh darüber, Kuroi gerade hier nicht anzutreffen. Die Gegend war alles andere als vertrauenswürdig. Und das Haus, in dem Kaori – oder eher Kia, wie sie sich jetzt nannte – lebte, hatte seine besten Tage längst hinter sich.
Gegenüber öffnete sich die Tür und ein Junge von kaum neun Jahren trat heraus. Er trug nichts weiter als ein fleckiges Unterhemd und eine ebenso dreckige Unterhose am dürren Leib. Dreist musterte er Tenshi aus dunkelbraunen Augen.
„Die is’ unterwegs. Kommt sicher erst heut’ Abend wieder.“
Tenshi sah auf seine Uhr. Kurz vor zwei. Er sah wieder zu dem Jungen.
„Weißt du, ob jemand bei ihr wohnt? Ein junger Mann, um die zwanzig?“, fragte er zögerlich, woraufhin der Junge anzüglich grinste.
„Hier renn’n ‘ne Menge Kerle rum …“
„Er ist ihr Bruder!“, unterbrach Tenshi ihn rasch und irritiert. Von was ging dieser Junge denn aus?
Neugierig musterte der Junge ihn jetzt, zuckte dann aber die schmalen Schultern. „Keine Ahnung, aber …“
„Schon gut, ich warte.“
Der Junge schnaubte beleidigt angesichts der Tatsache, dass er mit seinem Wissen nicht weiter prahlen durfte, und schloss missmutig die Tür.
Und einmal mehr befielen Tenshi Zweifel. War es richtig, hierherzukommen? Mit einem tiefen Atemzug ließ er sich auf der morschen Treppe nieder, die daraufhin leise protestierend knarrte.
„Kuroi …“ Wehmütig zog er eine Kette aus seinem Hemd, an der zwei Ringe hingen. Sacht ließ Tenshi sie hin und her schwingen. Er hatte Angst – Angst, dass er Kuroi nicht finden würde. Und wenn, dass Kuroi ihn nicht sehen wollte. Er würde es verstehen. Er wusste, wie sehr er seinen Freund mit seiner Ignoranz verletzt hatte, als Kuroi ihn wohl am dringendsten gebraucht hätte. Wie er ihn. Dennoch klammerte sich Tenshi an einen Hoffnungsschimmer. Den Schimmer, der von Kurois Ring ausging. Viel mehr war ihm von dem charismatischen Mann nicht geblieben, dem er vor gut einem Jahr in Tokyo an einer Shrine-Anlage begegnet war. Doch noch war Tenshi nicht bereit, sich geschlagen zu geben. Nicht bereit, Kuroi aufzugeben.
Die Zeit verging nur schleppend. Einige Male streckte der Junge von gegenüber seinen Kopf heraus, doch sobald Tenshi aufsah, schlug er ohne ein Wort zu verlieren die Tür rasch wieder zu. Eine alte Frau kam gegen halb fünf die Treppe hochgeschlurft. Mürrisch starrte sie Tenshi an, brummte etwas kaum Verständliches vor sich hin und schlurfte dann mit einem verächtlichen Zischen weiter. Tenshi warf einen weiteren Blick auf die Uhr. Kurz vor sieben öffnete sich abermals unten die Haustür.
Eine schlanke, ausgemergelte Frau kam herauf. Als sie vor der Tür links von ihm stehen blieb, erhob sich Tenshi zögerlich. Sollte das Kaori sein? Kurois Schwester? Die Frau warf ihm einen kurzen Blick zu und suchte stumm ihren Schlüssel aus der kleinen pastellfarbenen Handtasche, die sie über der rechten Schulter trug. Schweigend beobachtete Tenshi sie. Sie zögerte, als sie die Tür geöffnet hatte. Ohne sich zu ihm umzuwenden, gab sie ihm ein Zeichen, ihr zu folgen.
Mit Unbehagen betrat Tenshi die Wohnung. Sie wirkte kalt und unnahbar, wie die Frau vor ihm. Mit abgehackten Bewegungen streifte sie sich die Schuhe ab, ließ sie einfach liegen und ging in den nächsten Raum. Tenshi folgte ihr wortlos. Auch hier herrschte eine bedrückende Stimmung, was zum größten Teil daran liegen mochte, dass es kaum Möbel gab und allem der Hauch des Verfalls anhaftete.
Schweigend sah sich Tenshi um. Es gab nirgends Anzeichen, dass sich Kuroi hier aufhielt, oder es vor kurzem getan hatte. Diese Tatsache zu erkennen, lähmte seine Gedanken für einige Sekunden. Was sollte er tun, wenn er hier wirklich keine Spur von Kuroi fand? Was noch, das er nicht schon versucht hatte? Er lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Frau vor ihm. Sie beobachtete ihn und irritiert bemerkte Tenshi den lasziven Schimmer in ihre Augen. Als ob … Eine Gänsehaut kroch ihm den Nacken hinauf, eine Ahnung. Er wollte sich kein Urteil über Kurois Schwester erlauben, aber er konnte nichts dagegen tun, dass er sie schnell für eine drogensüchtige … Rasch verbot sich Tenshi weitere Gedanken in diese Richtung, verbannte die Bilder dieser Gegend und der Leute, denen er unten auf der Straße begegnet war, und versuchte sich daran zu erinnern, wen er vor sich hatte.
Doch die Frau grinste ihn plötzlich anzüglich an.
„Ohne Extras 16000 Yen. Alles andere je 8000 Yen zusätzlich.“
Also doch. Nun wusste Tenshi, worauf der Junge gegenüber angespielt hatte. Ein wehmütiges Gefühl beschlich ihn und allmählich verstand er, warum Kuroi nie über seine Schwester hatte sprechen wollen, die nach seinen Worten seine letzte lebende Verwandte war.
„Bist du Kaori?“
Das dreiste Grinsen auf den roten Lippen erstarrte. Ernst musterten ihn die hellen Augen erneut, während ihre Besitzerin sich bedächtig eine Zigarette anzündete.
„Ist schon eine ganze Weile her, dass man mich so genannt hat. Wie hast du mich gefunden?“
„Es hat seine Zeit gebraucht“, wich Tenshi aus. Er wollte sich nicht unbedingt an die zurückliegenden Wochen erinnern. Kuroi hatte mit seiner Vermutung schlussendlich doch Recht behalten, das Leben auf den Straßen war nichts für ihn, auch wenn er bisher überlebt hatte.
„Und was willst du von mir?“ Kaoris kalte Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück. Sie war ans Fenster getreten, schob sacht die Gardine beiseite. Unten stand ein älterer Mann, der ihr auffordernd zugrinste. Mit einer lässigen Geste grüßte sie zurück. Einer ihrer Kunden für diesen Abend, und sicher nicht der letzte. Sie wandte sich ihrem Besuch wieder zu, wartete ungeduldig auf dessen Erklärung. Seit über sieben Jahren hatte sie keiner mehr bei ihrem Geburtsnamen genannt. Nachdem ihre Eltern tödlich verunglückt waren und das Jugendamt im Krankenhaus aufgetaucht war, war sie abgehauen. Wohin, das war ihr damals reichlich egal gewesen. Nur weg. Während sie nun an diese Zeit zurückdachte und ihr Leben jetzt betrachtete, beschlich sie ein Hauch von Wehmut, und doch würde sie sich jedes Mal wieder so entscheiden. Sie hatte genug, um über die Runden zu kommen. Freunde an jeder Ecke, und oft genug war sie so high, dass ihr die Realität vollkommen scheißegal war.
„Ich … ich …“
„Junge, ich will Geld verdienen! Also mach jetz’, oder verschwinde!“
„Ich suche Kuroi“, entgegnete Tenshi kühl. Er mochte Kaori definitiv nicht!
Kälte spiegelte sich jetzt auch in Kaoris Augen wider.
„Was willst du von ihm?“
„Ich … suche ihn.“
Kaori zog an ihrer Zigarette, dann fixierte sie ihn. „Bist du etwa dieser Tenshi?“, fragte sie höhnisch.
Es war wie ein purer Adrenalinstoß – Kuroi war also wirklich hier gewesen, hatte sogar von ihm gesprochen. Dennoch zögerte Tenshi einen Moment. Kaoris Tonfall warnte ihn, etwas Falsches zu sagen. Wobei, was war hier das Falsche? Ohne eine Auskunft über Kuroi kam er keinen Schritt weiter!
„Warum?“
„Wenn, würde ich dich auf der Stelle rausschmeißen“, knurrte Kaori und drückte den Zigarettenstummel auf dem Fensterbrett hinter sich aus.
Tenshi wich ihrem forschenden Blick nicht aus, auch wenn er sein Unbehagen verstärkte. Dieser Ablehnung war er in den letzten Wochen auf unterschiedlicher Weise häufiger begegnet.
Kaori nickte kurz und zündete sich eine neue Zigarette an. „Ja, er war hier. Jammerte rum wegen eines Kerls. Gott, wie pervers.“
Nur mühsam verkniff sich Tenshi eine bissige Antwort. Schwule waren doch nicht krank!
„Und wo ist er jetzt?“, fragte er stattdessen beherrscht.
„Hab ihn vor die Tür gesetzt. Mit ‘nem Homo als Bruder leb’ ich nicht zusammen.“
Als ob ihre Moralvorstellung heilig ist, dachte Tenshi wütend. Diese gleiche engstirnige Ansicht kannte er nur zu gut von seinem eigenen Bruder, Akuma.
„Aber er ist dein Bruder!“
„Nich’ mehr seit sieben Jahren“, entgegnete Kaori gleichgültig. Den Gedanken daran, dass sie irgendwo noch einen Bruder hatte, hatte sie seit damals schnell und erfolgreich verdrängt – bis Kuroi plötzlich vor ihr gestanden hatte. Mitten auf der Straße. Für beide Seiten war dieses erste Treffen nach ewiger Zeit geradezu ein Schock gewesen. Und vielleicht hatte es auch eher daran gelegen als an Kurois labilem Gemütszustand, dass sie sich so gegen seine Anwesenheit gesträubt hatte. Und ihr kleiner Bruder hatte sich nicht gewehrt, als sie ihn gnadenlos vor die Tür gesetzt hatte.
„Wie lange ist das her?“
Kaori seufzte, sichtlich genervt. „Zwei, drei Wochen, keine Ahnung.“
„Aber …“
Mürrisch unterbrach Kaori ihren Gast: „He Mann, willst du nun oder was?! Ansonsten verschwinde! Ich hab’ keine Zeit, mich um …“
„Weißt du wenigstens, wohin er gegangen sein könnte?“, fiel Tenshi ihr ins Wort, ohne sich um das offensichtliche Angebot zu kümmern.
„Nee. Was willste eigentlich von ihm?“, fragte Kaori missmutig, während sie sich aus ihren Sachen schälte. Der Körper, der darunter zum Vorschein kam, war von Drogen und Schlafmangel gezeichnet. Obwohl ihr Haar die gleiche Farbe wie das von Kuroi hatte, wirkte es doch ganz anders. Leblos, wie die ganze Frau.
„Ich suche ihn“, wiederholte Tenshi endlich, als sich Kaori nach ihm umdrehte.
„Was starrste denn so? Noch nie ‘ne Frau nackt gesehen, oder was?“
Tenshi blickte sie nur weiterhin in einer Mischung aus Mitleid und Unverständnis an. Wie konnte man sich selbst nur dermaßen aufgeben?
Gereizt schnaubte Kaori auf. „Wie gesagt, hier is’ er nich’. Und falls er wiederkommt, fliegt er eh wieder raus“, bemerkte sie schnippisch und stolzierte nur in BH, Slip und schwarzen Seidenstrümpfen bekleidet zum Fenster. Der Mann stand noch immer unten. Kaori gab ihm zu verstehen, dass es noch einen Moment dauerte. Ihr Freier war davon nicht sehr begeistert, daher starrte sie ihren Gast auch wie ein lästiges Insekt an, als sie sich ihm wieder zuwandte. Sie konnte es sich nicht leisten auf das Geld zu verzichten!
„Wenn du keine weitere Frage hast oder doch noch ran willst, dann verschwinde endlich! Ich will arbeiten.“
Ohne ein weiteres Wort wandte sich Tenshi ab und ging zur Tür. Kuroi war seiner Schwester augenscheinlich egal. Es hatte keinen Zweck, sich weiter mit ihr zu unterhalten. Diese Einsicht schnürte ihm für Sekunden die Kehle zu.
*
Nachdenklich sah Kaori ihm nach.
„Hey – wie is’ eigentlich dein Name? Nur für den Fall, dass er doch noch mal hier auftaucht.“ Nicht, dass sie wirklich damit rechnete. Immerhin war Kurois Besuch schon eine ganze Weile her. Wer wusste schon, wohin es ihn inzwischen in dieser Stadt verschlagen hatte.
Unbewusst griff Tenshi nach den zwei Ringen, die sich wieder unter seinem Shirt verbargen, und begegnete Kaoris Blick stur, als er antwortete: „Tenshi.“
Kaori lächelte leicht.
Verwirrt schloss Tenshi die Tür hinter sich und stand kurz darauf unentschlossen wieder auf der Straße. Ohne Kuroi oder einer Spur von ihm. Verdrossen zerriss Tenshi den Zettel mit Kaoris Adresse und ließ die Schnipsel einfach vom Wind davontragen. Diese Aktion hatte ihn auch keinen Schritt weitergebracht. Mutlos sah er die Straße hinab. Allein in einer völlig fremden Stadt. Niemand, den er kannte und um Hilfe bitten konnte. Wie sollte er in so einer großen Stadt wie Yokohama eine einzige Person finden? Vorausgesetzt, Kuroi hielt sich hier überhaupt noch auf. Was, wenn er die Stadt schon längst wieder verlassen hatte? Kaori hatte gesagt, sein Besuch läge über zwei Wochen zurück. Wer konnte schon wissen, wohin es Kuroi inzwischen verschlagen hatte? Zittrig atmete Tenshi tief durch. Er durfte jetzt nicht den Mut verlieren!
*
„Tenshi?“ Kaori stand plötzlich neben ihm und hielt ihm eine Visitenkarte entgegen. Ein roter Seidenmantel umhüllte ihren Körper, ließ mit seiner Pracht kaum erahnen, was sich darunter verbarg.
„Was ist das?“
„’ne Adresse von ‘nem Bekannten. Er kennt sich in der Szene aus. Vielleicht kann er dir ja helfen … Frag nach Echse und sag ihm, dass Kia dich schickt.“ Sie betrachtete ihn einen Moment nachdenklich. „Es wäre besser, du erwähnst meinen Namen nich’, kapiert?“
Tenshi nickte rasch, obwohl er nicht ganz verstand, was genau Kaori meinte. Doch wenn es eine neue Chance war, Kuroi zu finden, dann wollte er sie ergreifen. Eine Frage brannte ihm nun jedoch auf der Zunge: „Warum hilfst du mir?“ Kaori hatte vorhin ihre Meinung über Schwule immerhin deutlich zum Ausdruck gebracht.
Anzüglich betrachtete Kaori ihn, und ehe Tenshi reagieren konnte, streichelte sie ihm kurz über die Wange. „Ich mag dich. Du bist süß. Bist du dir sicher, dass du schwul bist? Vielleicht könnte ich …“
Tenshi wich zurück, worauf Kaori schmunzelte. Dann jedoch hielt sie inne.
„Er ist mir nicht so egal, wie ich es mir wünschen würde“, wisperte sie plötzlich. „Aber … das hier ist jetzt mein Leben. Und das ist nichts für ihn. Er war der Liebling unsrer Eltern, ein kleiner Sonnenschein. Und so etwas hat hier nichts verloren.“
Ihre Worte überraschten Tenshi und lösten ein nervöses Flattern in seinem Bauch aus. Kurois Kindheit war ebenso wenig ein Thema zwischen ihnen beiden gewesen wie seine Eltern oder Kaori. Und immer schmerzlicher wurde Tenshi sich bewusst, wie wenig er im Grunde von seinem Freund wusste, obwohl sie über ein halbes Jahr zusammen gewesen waren.
„Aber sag ihm das nicht, falls du ihn findest. Macht mein Image als böse Schwester kaputt“, setzte Kaori zwinkernd nach.
Zögerlich nickte Tenshi. Er wurde aus dieser Frau nicht schlau. Zumindest hatte sie das mit Kuroi gemeinsam.
„Danke.“
Kaori zuckte nur mit den Schultern und winkte den älteren Mann zu sich, der im Verlauf ihres Gespräches immer näher zu ihnen aufgerückt war.
*
Wehmütig sah Tenshi zu Kaoris Wohnung hinauf, als sie samt ihrem Freier hinter der Haustür verschwand. Sie war Kurois Blut, und doch so vollkommen anders.
Hinter ihm mauzte es plötzlich.
„Ach du Schreck …“
Hastig nahm Tenshi seinen Rucksack ab und öffnete ihn. Murrend streckten zwei Katzen ihre Köpfe heraus. Sein Abschiedsgeschenk von Mikiko.
„Euch hatte ich total vergessen“, murmelte Tenshi schuldbewusst und zog ein Päckchen mit Wurst aus dem vorderen Teil der Tasche, sobald er die beiden rausgelassen hatte. Sechs Scheiben waren noch darin und erinnerten ihn schonungslos daran, dass langsam, aber sicher sein Geldvorrat zur Neige ging. Nachdenklich besah sich Tenshi die Visitenkarte, die Kaori ihm gegeben hatte. Sie war schon leicht abgegriffen. In mattglänzend türkisfarbenen Buchstaben stand der Name eines Clubs und dessen Adresse auf schwarzem Untergrund darauf. Daneben war in schimmernden Grün die Silhouette eines Warans als Clublogo abgebildet.
„Komodo“, las Tenshi leise vor und drehte die Karte um. Auf der Rückseite standen einige Informationen. Am Rand war der Name, nach dem er sich im Club erkundigen sollte, mit Kuli notiert. Daneben fiel Tenshi ein weiteres Wort ins Auge, das ihn nervös schlucken ließ – Gayclub. Er atmete tief durch und verstaute die Karte sicher in seiner Jackentasche. Jetzt hieß es erst einmal: Raubtierfütterung.
„Na, Hunger?“ Er hielt eine Scheibe in die Luft. Sogleich stürzten sich seine beiden kleinen Straßentiger darauf. Fauchend stritten sie sich um das erste Stückchen.
„Na, na, legt gefälligst etwas Benehmen an den Tag!“, ermahnte Tenshi sie und stupste den braunen der beiden Tiger auf das Köpfchen. Wie auf Kommando ließen die Katzen voneinander ab.
„Verblüffend!“
„Hm?“ Überrascht sah Tenshi den Mann neben sich an. Er hatte ihn nicht bemerkt. Unter braunen Haarsträhnen sahen ihn honigbraune Augen freundlich an und unbewusst erwiderte Tenshi zaghaft das Lächeln darin.
„Den Trick musst du mir erklären.“
„Da ist kein Trick dabei.“ Liebevoll kraulte Tenshi eines der Kätzchen.
„Schade.“ Der Fremde beugte sich vor und näherte sich vorsichtig den Kätzchen. „Du bist aber niedlich, genauso wie dein Herrchen.“
Spielerisch versuchte er das blaugraue Kätzchen zu streicheln. Doch der kleine Kater wich knurrend zurück und suchte hinter Tenshi Schutz.
Bedauernd zog der Mann seine Hand zurück. „Na, dann eben nicht.“ Er lächelte Tenshi an und erhob sich wieder. „Man sieht sich.“
Tenshi nickte verdutzt und sah ihm nach. Als der Fremde schließlich weg war, kraulte er den kleinen Kater am Hals. Er schnurrte nicht, tat er nie, doch ganz leicht schmiegte er sich an Tenshis Hand. Kommentarlos schüttelte Tenshi den Kopf. Er aß selbst eine der Wurstscheiben, verstaute den Rest wieder sicher im Rucksack und erhob sich. Die beiden konnten sich ruhig noch etwas ihre Pfoten vertreten.
„Los, suchen wir uns etwas zum Schlafen“, murmelte er mit einem wehmütigen Blick auf den abendlichen Himmel. Wieder neigte sich ein Tag dem Ende zu, ohne dass er etwas erreicht hatte. Seine letzte Spur hatte sich vor wenigen Minuten im Sand verlaufen. Und nun blieben ihm nichts weiter als eine Adresse und ein Name auf einer Visitenkarte, bei denen er nicht einmal wusste, was sie ihm bringen oder wohin sie ihn führen würden.
*
Tenshi ahnte nicht, wie nahe er seinem Freund gewesen war. Der Mann, dem er begegnet war, hieß Caine Shiwo. Caine war amüsiert über sein Treffen mit dem Fremden. Doch jetzt wandte er seine ganze Aufmerksamkeit jemand völlig anderem zu. Leise betrat er ein Lagerhaus, ganz in der Nähe. Es stand schon längere Zeit leer und wurde von Zeit zu Zeit immer wieder als Zufluchtsort von Straßenstreunern gewählt. Der derzeitige hieß: Kuroi.
„Kuroi?“ Es war dunkel, doch Caine wusste, dass Kuroi da war. Deutlich konnte er den kalten Zigarettenqualm noch riechen.
„Ich habe etwas zu essen besorgt.“
Kuroi reagierte noch immer nicht. Dafür hörte Caine leises Getrappel auf dem Steinboden und kurz darauf stupste ihn eine warme Hundeschnauze am Bein an.
„Hallo, Miki.“ Liebevoll kraulte er die schwarze Colliehündin hinter den wuscheligen Ohren, die Kuroi vor kurzer Zeit zugelaufen war und anscheinend beschlossen hatte, etwas auf den unglücklichen jungen Mann aufzupassen. Denn seitdem wich sie ihm kaum von der Seite.
„Warte, du bekommst gleich etwas.“ Caine ging hinüber zu dem ehemaligen Büroraum, den Kuroi inzwischen als Schlafunterkunft nutzte, und füllte den Futter- und Wassernapf nach.
Caine sah sich um und schüttelte den Kopf. Kuroi hatte sich im Laufe der Zeit einige Kissen und Decken zusammengesammelt und sich im hinteren Teil des Raumes eine Art Nest gebaut, sicher vor Wind und neugierigen Blicken. Dabei hatte Caine ihn mehr als einmal zu sich eingeladen, doch Kuroi weigerte sich strikt diesen Platz zu verlassen.
Hungrig machte sich Miki über das Futter her, während Caine zurück in die Halle ging und weitersprach. Selbst wenn Kuroi nicht reagierte, so wusste er doch, dass dieser ihm zuhörte.
„Ich habe gerade eine interessante Bekanntschaft gemacht.“
Endlich tauchte Kuroi im Dämmerlicht der Halle auf.
„Ach … Und?“ Er lehnte sich gegen einen der näherstehenden Trägerpfosten, die in der ganzen Lagerhalle verteilt waren, und erwiderte Caines Blick emotionslos.
Caine musterte ihn kritisch von oben bis unten. Er war drei Tage nicht hier gewesen. Doch anscheinend hatte sich ohnehin nicht viel geändert. Genau genommen gar nichts. Und das seit dem Tag, an dem Kuroi ihm vor knapp zwei Monaten sozusagen vor die Füße gefallen war. Auf den ersten Blick mochte Kuroi distanziert und kühl wirken, doch inzwischen wusste Caine, dass dieser Eindruck täuschte, nur ein Schutz war. Er konnte nicht genau sagen, was es gewesen war, das ihn für Kuroi eingenommen hatte, doch seit Kuroi in sein Leben geplatzt war, kümmerte er sich um diesen. Auch wenn Kuroi sich hin und wieder recht störrisch und abweisend gab, Caine wusste, dass er dankbar für seine Hilfe war.
Dennoch hatte er bis jetzt noch immer nicht wirklich erfahren, was in Kurois Leben vorgefallen war, dass dieser sich so aufgegeben hatte. Immerhin schien ihm Mikis Gegenwart gutzutun. Denn seit die Hündin hier war, bemerkte Caine oft wieder einen Schimmer Freude in den sonst leblosen Augen mit dieser ungewöhnlichen Farbe.
„Der Junge war niedlich. Aber am interessantesten war, wie er mit seinen Katzen umgegangen ist. So etwas habe ich noch nie gesehen. Die haben wirklich aufs Wort gehört“, fuhr Caine fort und ging zurück in das ehemalige Büro. Kuroi folgte ihm und hörte ihm schweigend zu, während Caine einen Teil der mitgebrachten Sachen in einem kleinen Schrank verstaute. Hundefutter, etwas Kuchen, Obst, einige Scheiben Wurst und Käse. Fisch, ein Brot. Kuroi hatte hier keine Möglichkeit, sich etwas zu kochen, daher waren solche Speisen am einfachsten.
„Mich haben die kleinen Tiger bald gefressen – aber ihn …“
„Zigaretten?“, unterbrach Kuroi ihn endlich.
Wortlos hielt Caine ihm eine Schachtel hin und abwesend zündete sich Kuroi eine Zigarette daraus an. Sein Vorrat war letzte Nacht zur Neige gegangen.
„Hast du mir überhaupt zugehört?“, fragte Caine rhetorisch, den Kopf leicht seitlich gelegt. Er war Kurois geistige Abwesenheit gewohnt. Doch jetzt sah ihn dieser an.
„Ja“, entgegnete Kuroi, wandte sich dabei aber schon wieder ab. „Und was willst du mir damit sagen?“ Seine Stimme klang angespannt und abwehrend. Für Caine eines der vielen Zeichen, dass Kuroi nicht vorhatte, sich mit der Außenwelt zu beschäftigen.
„Sag mal, wie lange willst du hier eigentlich noch hausen?“ Er folgte Kuroi und deutete um sich, konnte dabei nicht verhindern, dass seine Stimme einen vorwurfsvollen Klang annahm.
Das Lagerhaus bestand aus zwei Etagen. Wobei man die zweite nicht mehr erreichen konnte, da die Zugangsleitern durchgerostet waren. Früher wurden hier Tonnen von Papier hergestellt, doch schon seit etlichen Jahrzehnten kümmerte sich niemand mehr um das Gebäude. Stress mit anderen Streunern hatte Kuroi nicht mehr, seit Miki die Halle effizient bewachte. In allen Ecken lag Müll herum. Einige der Fenster waren längst zerbrochen. Und wenn Miki nicht gerade Jagd auf sie machte, leistete so manche Taube den beiden Gesellschaft.
Kuroi reagierte nicht auf seine Frage, wie gewöhnlich. Caine trat hinter ihn und begann sanft seine Schläfen zu massieren. Er spürte, wie sich Kuroi langsam wieder entspannte.
„Ist er es wieder?“ Caines Stimme war leise, beruhigend. Es war das Einzige, was er über Kuroi wusste. Dass dessen Schmerz mit einem gebrochenen Herzen zu tun hatte. Mehr aber auch nicht.
Kuroi vermied es, über sich zu sprechen, wo es nur ging. Die Zeit konnte nicht alle Wunden heilen. Und er konnte Tenshi einfach nicht vergessen.
Kuroi schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken, versuchte die Bilder wieder tief in sich zu verschließen, die allein Tenshis Name in ihm heraufbeschwor.
*
Nachdem er aus Tokyo geflohen war, hatte er einige Zeit auf der Straße gelebt – und irgendwie überlebt. Im Nachhinein hatte er nichts von dem verlernt, was er an Lebenserfahrung von den Wölfen mitgenommen hatte. Irgendwann hatte es ihn nach Yokohama verschlagen. Und nachdem er einige Tage durch die fremde Stadt gestreift war, war er unerwartet über seine Schwester gestolpert. Bitter überrascht, was aus dem einst hübschen Mädchen geworden war. Aber Kaori hatte ihn unversehens wieder vor die Tür gesetzt und sich angewidert mit den Worten von ihm abgewandt, er sollte sich nie wieder bei ihr blicken lassen. Danach hatte Kuroi blind irgendeine Bar angesteuert und war am nächsten Morgen neben Caine aufgewacht. Er hatte nie mit Caine über diese Nacht gesprochen. Aber es war die einzige gewesen, in der er Tenshi betrogen hatte.
Nicht dass Caine schlecht aussah, mit seinen 24 Jahren war er ein sehr attraktiver Mann. Die braunen, von unterschiedlicher Farbintensität durchzogenen Haarsträhnen harmonierten perfekt mit den ausdrucksstarken honigbraunen Augen des Älteren. Zurzeit studierte Caine noch, wollte später Anwalt werden. Und Kuroi war sich sicher, dass er das auch ohne Probleme auf die Reihe bekam. Aber darum ging es nicht. Ein Zittern lief durch Kurois Körper. Er konnte sich nicht vorstellen, je wieder einen Mann so sehr zu lieben wie Tenshi. Was zwischen Caine und ihm passiert war, hatte nichts mit Gefühlen zu tun gehabt. Er war betrunken gewesen.
*
„Ganz ruhig“, murmelte Caine neben ihm, holte ihn damit aus seinen dunklen Gedanken. „Er bedeutet dir noch immer so viel … Ich verstehe einfach nicht, warum du nicht zu ihm gehst.“
Ruckartig öffnete Kuroi die Augen. Natürlich nicht. Wie sollte Caine auch wissen, was ihn davon abhielt, sich Tenshi auch nur ansatzweise zu nähern?
„Es geht einfach nicht!“, zischte er kalt, befreite sich aus Caines Griff und begann eine unruhige Wanderung durch die Halle, wobei seine Hündin ihn aufmerksam beobachtete.
Caine schüttelte den Kopf. Er hätte es besser wissen sollen. Noch reichte eine unbedachte Bemerkung, um Kuroi aufzubringen. Noch war der Schmerz, den er empfand, zu groß.
„Schon gut, beruhige dich.“
Doch Kuroi tigerte noch eine ganze Weile weiter herum, ehe er sich wieder beruhigte. In der ganzen Zeit, die er nun hier war, versuchte er sich zumindest nach außen hin völlig unbeteiligt zu geben. Nichts von dem, was in ihm wütete, nach außen dringen zu lassen. Aber manchmal war der Schmerz einfach zu stark und brach trotz allem durch. Mit zitternden Fingern zündete er sich eine neue Zigarette an und ließ sich unter einem der riesigen Fenster nieder. Eine Zeit lang hing er seinen düsteren Gedanken nach.
Und Caine wartete geduldig, brachte derweil etwas Ordnung in Kurois Quartier.
Kuroi ließ ihn gewähren, beobachtete ihn nachdenklich dabei, während er Miki den Kopf kraulte, kaum dass die Hündin sich wieder an seine Seite begeben hatte. Ihre Anwesenheit beruhigte ihn zusätzlich.
„Warum tust du das?“, fragte Kuroi nach einer Weile. Ihm behagte die angespannte Stimmung nicht. Caine ertrug seine Stimmungen mit einer Geduld, die ihm immer wieder Schuldgefühle machte.
Dennoch lächelte Caine, als er sich zu ihm umwandte. Er war nie böse und nur selten verstimmt über Kurois Verhalten. Denn es waren diese kleinen Gesten, wenn Kuroi sich so unbeholfen zu entschuldigen versuchte, nicht mit Worten, eher in seinen Gesten, die ihn darin überzeugten, dass bei seinem Findelkater in puncto Lebenswillen noch längst nicht das letzte Wort gesprochen war.
„Weil du es sowieso nicht tust.“
„Aber warum kümmerst du dich überhaupt um mich?“
Caine seufzte. Schooon wieder …
„Kuroi, das habe ich dir erst letzte Woche erklärt.“
Vage grinste Kuroi vor sich hin, nahm einen weiteren Zug seiner Zigarette. Er mochte diese Gespräche, mochte es, sich mit Caine zu unterhalten, selbst wenn diesen zumindest das Thema allmählich nervte.
„Stimmt … Na gut, ich frage nicht wieder.“
„Ich mag dich eben.“
Herausfordernd hob Kuroi die Augenbrauen. Doch Caine ging nicht darauf ein, sondern neigte nur den Kopf, eine sehr typische Geste für ihn. Mit dem Blick, der Kuroi mittlerweile deutlich sagte, dass er genau wusste, wie Caine es gemeint hatte. Und das tat er wirklich.
Denn Caine hatte bereits einen Schwarm. So viel hatte Kuroi schon mitbekommen. Und auch, dass genau dieser Caine nicht sonderlich guttat. Es kam nicht oft vor, doch es gab Tage, da war er verstört, dann wieder innerlich sehr aufgebracht und zu selten wirkte er auch einmal glücklich. Zwar versuchte sich Caine davon nie etwas anmerken zu lassen, doch wenn man ihn gut genug kannte, war das meist vergeblich. In den ausdrucksstarken Augen konnte man schnell sehen, ob es Caine gut ging oder nicht. Dennoch beteuerte Caine immer wieder, selbst damit fertigzuwerden, so wie es Kuroi mit seinen Erinnerungen an Tenshi tat.
Stumm sah Kuroi aus dem Fenster. Er würde es allein schaffen. Musste es allein schaffen. Er brauchte nur mehr Zeit.
Gedankenversunken tastete er nach der Kette um seinen Hals und betrachtete nachdenklich den kleinen schwarzen Wolf daran. Er war ein sehr merkwürdiges Geschenk von Takeda und seinem Bruder gewesen, den Zwillingen im Rudel um Akuma, Anführer der Wölfe in Tokyos Straßenwelt – zu denen auch er einmal gehört hatte. „Trag ihn, du wirst ihn brauchen.“ Das waren Takedas letzte Worte an ihn gewesen und aus irgendeinem Grund hatte Kuroi es nie gewagt, die Kette abzulegen. Takedas Augen hatten damals etwas Eindringliches gehabt, in jener Nacht …
„Ich werde mich dann wieder losmachen, ich habe morgen wichtige Vorlesungen“, sagte Caine, trat zu ihm und streichelte ihm leicht durchs Haar, brachte Kuroi so in die Gegenwart zurück.
Sorgsam steckte Kuroi den Anhänger wieder unter sein Hemd und schmiegte sich an Caine, genoss für einige Momente den Trost seiner Umarmung.
„Brauchst du sonst noch etwas für die nächsten Tage?“
Kuroi schüttelte den Kopf und zog sich zurück.
„Okay, pass auf dich auf.“
„Immer.“ Matt lächelte Kuroi. Den Satz brachte Caine jedes Mal. Und mittlerweile antwortete er auch immer gleich darauf zurück.
„Du aber auch.“
Caine nickte und verschwand. Abwesend fuhr Kuroi Miki durch das lange weiche Fell. Was Tenshi wohl gerade machte? Ob er überhaupt mal an ihn dachte?
*
Tags darauf besuchte Tenshi den Club, dessen Adresse er von Kaori bekommen hatte. Geraume Zeit stand er auf der anderen Straßenseite und beobachtete nervös einige Gäste, die den Club verließen oder betraten. Über der breiten Tür blinkte ein Neonschild. Der exotische Schriftzug Komodo, samt einem grünen Waran, lockte jene, die wussten, was sie hinter dieser Tür fanden. Tenshi atmete tief durch. Es war nicht das erste Mal, dass er auf seiner Suche einen Gayclub betreten würde, doch in keinem hatte er sich bisher wirklich wohl gefühlt. Die Blicke der Männer, das Abschätzen untereinander und die offenen Angebote bereiteten ihm reines Unbehagen. So etwas hatte er vor seiner Suche nicht gekannt. Zudem war es Kuroi selbst gewesen, der ihm bewusst gemacht hatte, was er bis zu dessen Auftauchen in seinem Leben vermisst hatte. Wie es um seine Gefühlswelt und Sexualität stand. Kuroi hatte ihn auf eine zärtlich stürmische Art in seine Welt geführt und ihm die Liebe gezeigt, bis …
Niemand beachtete Tenshi sonderlich, während er noch immer zögerte. Bei seinem Outfit wohl nicht weiter verwunderlich. Hoffentlich ließ ihn der Türsteher überhaupt rein.
In seinem Rucksack mauzte es leise.
„Seid still, sonst schmeißen die uns gleich wieder raus“, murmelte Tenshi besorgt.
Kurz ruckelte es auf seinem Rücken, dann waren die beiden Kätzchen ganz still. Inzwischen kannten sie das Spiel. Tenshis Blick wanderte erneut auf die andere Straßenseite und endlich rang er sich durch.
Der Türsteher musterte ihn einen Moment, schnaubte dann jedoch und ließ ihn passieren. Unwillen kroch plötzlich seinen Nacken hinauf, dennoch trat Tenshi ein. Jetzt am frühen Abend – der Club hatte erst seit 17 Uhr geöffnet und nun war es kurz nach 19 Uhr – waren lediglich einige wenige Gäste anwesend, und nur träge brachte man dem Neuankömmling Interesse entgegen, bevor sich die Blicke wieder auf den Tänzer auf der Bühne richteten. Ein Aufsteller im Eingangsbereich wies mit verschnörkelter Schrift und einem knapp bekleideten Tänzer darauf hin, dass heute Exotic-Abend im Komodo war.
Mit angehaltenem Atem sah sich Tenshi um. Also das hier unterschied sich dann doch schon um einiges von den Clubs, in denen er bisher nach Informationen gesucht hatte. Rechts von ihm standen einige runde Tische mit hohen Barhockern davor. Links von ihm lockte ein dunkler Tresen, ebenfalls mit Barhockern davor, zu einem Drink. Dem Tresen gegenüber führte eine Treppe wenige Stufen hinab. Weitere Tische waren dort aufgestellt. Doch mit Ledersesseln luden sie weit mehr zum Verweilen ein als die Barhocker hier oben. Tenshis Augen wanderten weiter zu der kleinen Bühne, die sich weiter hinten befand und auf der sich gerade zu instrumentaler rhythmischer Musik ein Mann aufreizend bewegte.
Das Wenige an Kleidung, das er trug, zeigte mehr, als dass es überhaupt etwas verbarg. Ihm sah man an, dass er sich hier wohlfühlte. Dass ihm das Tanzen Spaß machte und ihm die lasziven Blicke auf seinem Körper gefielen. Die Musik veränderte sich, wurde ruhiger, sinnlicher. Tenshi beobachtete ihn einen Moment gebannt, seine geschmeidigen Bewegungen, seinen nun mehr verführerischen Tanz und bemerkte irritiert einen Goldschimmer um den Tänzer. War das Einbildung? Tenshi wandte sich ab und sah sich weiter um.
*
Aufmerksam beobachtete Rick hinter dem Tresen das Verhalten des neuen Gastes. Seit wann ließ Ikeda denn so junges Gemüse rein? Der Kleine war unter Garantie noch keine 21!
Tenshi bemerkte seinen abschätzenden Blick, zögerte, dann trat er näher an den Tresen heran.
„Na, Süßer, hast du dich verlaufen? Das hier ist ein Nachtclub, kein Platz für kleine Jungs.“
„Ich bin kein Kind mehr!“, gab Tenshi unwirsch zurück.
Einen Moment lang musterte ihn der Barkeeper durchdringend, dann lächelte er. „Na, wenn du dir da so sicher bist. Was darf ich dann für dich tun? Siehst aus, als könntest du zumindest einen Drink wirklich gebrauchen. Mein Name ist Rick und ich mixe dir die besten Cocktails der Stadt.“
Tenshi atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Obwohl ihn seine Umgebung nervös machte, fühlte er sich hier nicht ganz so fehl am Platz wie in den anderen Clubs. „Nein danke. Ich suche jemanden“, antwortete er schließlich.
Dunkle Augen betrachteten ihn wissend, als hörte Rick diese Worte öfters. „Tun wir doch alle …“ Rick brach ab, als sein Gast nicht auf seinen Scherz reagierte. „Na, nun schau mal nicht so, hier wird dich keiner beißen. Jemand Bestimmtes?“
Tenshi holte die Visitenkarte hervor und versuchte den ungewöhnlichen Namen auf der Rückseite zu entziffern. „Echse“, las er vor, wobei er sich nicht sicher war, ob er den Namen richtig aussprach. Plötzlich hatte er das Gefühl, vor einer Mauer zu stehen.
„Ich kenne keinen Echse“, entgegnete Rick kühl.
„Aber er soll sich hier aufhalten!“, warf Tenshi heftig ein und legte die Karte bestimmt vor sich auf die Theke, während die Verzweiflung in ihm mit aller Macht zuschnappte. Das war seine letzte greifbare Chance, Kuroi zu finden, wenn ihm hier keiner helfen konnte, wusste er nicht mehr weiter!
Einen Moment sah Rick ihn still an, dann nahm er die Visitenkarte an sich. Es war eine der älteren und schon ziemlich abgegriffen. Abermals musterte er seinen Gast, den er definitiv noch nie gesehen hatte. Also wie kam der Kleine an die Karte heran? Auf der Rückseite war der Name Echse mit Kuli notiert. Wenn der Kleine eine neue Eroberung seines Bosses war, dann hätte Tokagé ihm definitiv nicht diesen Namen gegeben. Doch nach Drogen sah die halbe Portion vor ihm auch nicht aus. Rick runzelte die Stirn. Die Sache gefiel ihm nicht.
„Und was willst du von diesem Echse?“
„Ich suche einen … Freund.“
Natürlich hörte Rick die Unsicherheit aus seiner Stimme heraus, eine seiner Fähigkeiten als Barkeeper, und hob fragend die Augenbrauen.
Tenshi zögerte. „Sein Name ist Kuroi Roshi.“
Aufmerksam sah Rick ihn an, und für den Augenblick hatte Tenshi das Gefühl, bei ihm auf Verständnis zu stoßen. „Kuroi …“ Nachdenklich tippte sich Rick an die Nase. Im Großen und Ganzen konnte er von sich locker behaupten, nie einen Namen oder ein Gesicht zu vergessen. Doch … „Nein, tut mir leid, aber der Name sagt mir rein gar nichts.“
Enttäuscht ließ Tenshi die Schultern sinken. Jetzt war es aus … Seine letzte Spur hatte sich gerade endgültig im Sand verlaufen. War es jetzt soweit? Musste er seine Suche nach Kuroi nun doch aufgeben?
Rick beobachtete seine Reaktion genau und reichte ihm schließlich wortlos ein Taschentuch, als Tenshi den Kampf gegen seine Tränen verlor. Schien, als wäre der Kleine wirklich nur wegen seinem Freund hier. Doch da konnte er ihm leider nicht weiterhelfen.
Daher ließ Rick ihn für einige Minuten in Ruhe, während er sich zu seinen Kollegen gesellte. Das Leben im Komodo würde erst kurz vor Mitternacht richtig beginnen. Die Tanzeinlage gerade war aus einer Langeweile von Kioto heraus gewesen. Pech für den Teil seine Bewunderer, der erst später hier auftauchen würde. Der Tänzer bewies mal wieder auf heiße Weise, was er drauf hatte und wer der Star auf der Bühne hier im Club war.
*
Verloren blieb Tenshi, wo er war. Was nun? Was sollte er denn jetzt nur machen?
„Hier, trink erst mal.“ Rick stellte einen Fruchtsaft vor ihm ab. Unüblich an seiner Theke, doch Alkohol schien ihm fehl am Platz.
Dankbar sah Tenshi zu ihm auf, wischte sich hastig die letzten Tränen vom Gesicht und nahm auf einem der hohen Barhocker Platz. Gedankenversunken nippte er an seinem Saft, als sich einer der anderen Gäste an seine Seite gesellte und ihn anzüglich musterte.
Doch ehe ihm der Mann zu aufdringlich werden konnte, schritt Rick ein. „Zieh ab, Toshi, oder du kannst gleich die Tür von draußen betrachten! Der Kleine ist tabu für euch!“, knurrte er den älteren Mann harsch an. Wusste der Teufel, warum Ikeda den schon wieder reingelassen hatte. Wurde anscheinend Zeit, dass er mal wieder ein Hausverbot aussprach.
Benommen sah ihn der Angesprochene an und genervt rief Rick nach Ikeda, worauf dieser den aufdringlichen Gast, für seine Verhältnisse noch recht höflich, vor die Tür setzte. „Und dieses Mal achte darauf, dass er auch draußen bleibt!“, brummte Rick, woraufhin der bullige Türsteher mürrisch vor sich hin knurrte.
Verblüfft bemerkte Tenshi, dass die restlichen Gäste dem Vorfall kaum Beachtung schenkten.
„He, Kleiner.“
Fragend wandte sich Tenshi wieder zur Theke um.
„Wie kommst du eigentlich darauf, dass Echse hier ist?“
„Heißt das, du kennst ihn doch?“
Rick schnaubte leise. So schnell schien der Kleine nun doch nicht aufgeben zu wollen.
„Hab ich das gesagt?“
Tenshi zögerte abermals, wusste die Reaktion seines Gegenübers nicht einzuschätzen.
„Ich habe die Information von einer – Bekannten“, wich Tenshi aus, da ihm Kaoris Worte einfielen, über ihren Namen besser zu schweigen.
„Name? … Junge, wie soll dir da denn jemand helfen?“ Ricks Stimme war jetzt eindeutig spöttisch.
Verunsichert schwieg Tenshi, worauf sich Rick vorerst wieder um seine eigentliche Arbeit kümmerte, die Annahme von Bestellungen und Zubereitung von Drinks und Cocktails.
Planlos beobachtete Tenshi ihn eine Weile, bemerkte auch bei Rick, dass es ihm Spaß machte, hier zu arbeiten und ab und zu mit den Gästen zu flirten. Tenshis Blick folgte gerade einem neuen Gast an einen der Tische im unteren Bereich, als er sich plötzlich an etwas erinnerte. Was hatte Kaori gesagt? Welchen Namen sollte er angeben? Er sah zu Rick, der sich gerade mit einem der Gäste unterhielt.
*
Rick bemerkte seinen intensiven, wenn auch unsicheren Blick, entschuldigte sich bei seinem Gesprächspartner und kehrte zu seinem jungen Gast zurück. „Na, ist dir doch noch was eingefallen?“
„Ihr Name …“
„Ja?“
„Ihr Name ist Kia.“
Überrascht hob Rick die Augenbrauen und musterte ihn für einige Sekunden stirnrunzelnd, schüttelte dann aber kurz den Kopf. Schien, als hätte der Kleine gewonnen.
„Du sagst, Kia hat dich hierhergeschickt?“
Tenshi nickte vorsichtig, verwirrt über den plötzlichen Stimmungswechsel des anderen. Immerhin schien er Kaori, oder eher Kia, zu kennen.
„Hättest du ruhig gleich sagen können. Dann hätten wir uns das hier gespart. Warte einen Augenblick. Hey, Maus!“
Ein junger Kellner kam rasch an die Theke. Elegant in einen dunklen Anzug gekleidet, der gut zur hellen Wuschelfrisur passte. Überrascht schätzte Tenshi ihn auf höchstens 18 Jahre und damit kaum älter als er selbst, und somit eigentlich nicht befugt, hier zu arbeiten, wie es offensichtlich Tatsache war. So wenig, wie du hierhergehörst, erinnerte ihn eine innere Stimme besserwisserisch. Das Komodo war ein Adult-Club und er keine 21. Aber wie hatte Kuroi einmal gesagt: „Der Zweck heiligt die Mittel.“ Und noch hatte Rick ihn nicht vor die Tür gesetzt.
Große braune Augen musterten Tenshi schnell, bevor sich der junge Mann an Rick wandte.
„Halt mal ‘nen Moment die Stellung. Und lass keinen an ihn heran!“
„Oki.“ Der junge Mann namens Maus grinste ihm nach, als Rick im hinteren Teil des Clubs verschwand, während Tenshi verlegen in sein Glas starrte und abermals Vergleiche mit anderen Clubs zog. Die ganze Atmosphäre hier war vollkommen anders, viel aufgeschlossener, freundschaftlicher, ohne direkte aggressive sexuelle Anspannung.
Tenshi hob den Blick und beobachtete den jungen Kellner, wie dieser flink einige neue Bestellungen aufnahm und erledigte. Er schien sich hier zwischen all den älteren Männern ziemlich wohl zu fühlen, flirtete ebenso selbstverständlich mit ihnen, wie er gekonnt und auf spielerische Weise die bestellten Drinks oder Cocktails zusammenmixte, sehr zur Unterhaltung der Gäste.
Lächelnd nahm Maus diverse Komplimente entgegen, dann gesellte er sich wieder zu Ricks persönlichem Gast, neugierig, was dieser wohl von ihrem Boss wollte. „Möchtest du noch einen?“, fragte er und deutete auf das leere Glas vor Tenshi, doch dieser schüttelte den Kopf. Mit dem bisschen Geld, das ihm geblieben war, musste er noch eine Zeit lang auskommen.
Maus lächelte ihm freundlich zu und zögerlich erwiderte Tenshi die Geste. Für einen Moment beneidete er Maus für seine offensichtliche Erfahrung mit dem gleichen Geschlecht, für seine Souveränität, sich hier so locker und selbstverständlich zwischen den anderen Männern zu bewegen. Für ihn selbst war vieles, was er auf seiner Suche kennengelernt hatte, noch völliges Neuland.
Die Musik im Hintergrund verstummte und erneut verfolgte Tenshi gebannt, wie sich der Tänzer auf der Bühne für einen Moment lasziv auf dem Boden rekelte, sich dann erhob und mit ebenso laszivem Augenaufschlag hinter der Bühne verschwand. Seine nun weitaus zahlreicheren Zuschauer verlangten lautstark eine Zugabe, worauf Maus leise vor sich hin lachte.
„Kioto ist einer der Besten hier, aber jetzt werden sich diese Aasgeier gedulden müssen.“
Tenshi ließ seinen Blick über die Gäste schweifen, von denen noch immer einige mit anzüglichen Rufen versuchten, den Tänzer zur Fortführung seiner Darbietung zu bewegen, doch sie blieben unerhört. Zwei weitere Kellner bewegten sich derweil gewandt zwischen den Tischen umher, bewirteten die Gäste und nahmen neue Bestellungen auf. Beide waren jedoch älter als Maus. Und im Gegensatz zu dem jungen Mann hinter der Bar zeigte ihre Arbeitskleidung mehr, als sie verbarg. Auch hier war sich Tenshi sicher, an der exotischen Kleidung, passend zum Thema des Abends, einen Goldschimmer zu bemerken. Gerade servierte der Schwarzhaarige von den beiden einem kräftig gebauten Gast einen Drink, als dieser sich den schlanken Kellner schnappte, ihn zu sich auf seinen Schoß zog und ihm einen rauen Kuss aufzwang.
Verlegen wandte sich Tenshi ab und sah zu Maus, der das Geschehen mit gerunzelter Stirn beobachtete. Doch bevor sich die Situation zuspitzte, kam Rick in Begleitung eines langhaarigen, silberblonden Mannes wieder. Ruhig ließ jener den Blick durch den Raum schweifen.
„Rick, unser Gast mag die Gesellschaft nicht, und wie mir scheint, Zayo auch nicht.“ Bedeutend sah der Silberblonde zu dem bedrängten Kellner.
Sofort rief Rick abermals nach Ikeda, der den aufdringlichen Gast überraschend dezent zurechtwies. Dieser wollte sichtlich protestieren, verstummte jedoch augenblicklich, als er den silberblonden Mann am Tresen erblickte, und ließ den Kellner widerwillig los. Dieser starrte den Mann einige Sekunden giftig an, dann machte er professionell in seiner Kellnertätigkeit weiter.
Beklommen beobachtete Tenshi das Ganze. Dieser Gast wurde nicht des Clubs verwiesen, was daran liegen mochte, dass er ziemlich wichtig in seinem schwarzen Anzug wirkte, und wohl auch war.
„Hey!“
Unwillkürlich zuckte Tenshi zusammen, er war zu sehr mit dem Geschehen beschäftigt gewesen.
„Na, na, wer wird denn so schreckhaft sein? Ich bin Echse, aber nenn mich besser Tokagé.“ Der Mann streckte ihm die Hand entgegen, doch Tenshi nickte nur kurz und sah sich stattdessen nach Rick um. Dieser Mann war auf eine ihm eigene Weise einschüchternd.
Tokagé betrachtete ihren doch recht ungewöhnlichen Gast eingehend und akzeptierte vorerst dessen distanziertes Verhalten. Typisch Rick. Er hatte ein Faible für solche Kinder. Dahergelaufene Straßenstreuner, die an sich nichts in seinem Club zu suchen hatten, und nur Ricks Bemerkung mit Kia hielt ihn davon ab, seinem langjährigen Mitarbeiter und Freund die Leviten zu lesen.
„Rick sagte mir, dass Kia dich zu mir geschickt hat?“
Widerwillig richtete Tenshi seine Aufmerksamkeit auf sein Gegenüber. Rick unterhielt sich gerade mit dem bedrängten Kellner und auch Maus war verschwunden. Amethystfarbene Augen musterten Tenshi mit einer Intensität, die ihm unheimlich war. Auch diese ungewöhnliche silberschimmernde Haarfarbe war irritierend und beeindruckend zugleich. Und der Mann vor ihm war sich seiner Ausstrahlung nur allzu bewusst, spielte es gekonnt aus.
Tenshi bekam nur ein leises „Ja“ heraus.
Lässig lehnte sich Tokagé gegen die Theke, genoss für einige Sekunden die Unsicherheit und gleichzeitige Faszination in den jungen Augen. Dann jedoch konzentrierte er sich auf den geschäftlichen Teil. Kia hatte den Jungen sicher nicht ohne Grund hergeschickt.
„Und was kann ich für dich tun?“
Abermals zögerte Tenshi und seine Augen huschten erneut zu Rick, welcher sich jedoch noch immer mit seinen Kollegen unterhielt. Tenshi atmete tief durch und kratzte seine Selbstbeherrschung zusammen.
„Ich suche einen Freund“, sagte er dann entschlossen, erinnerte sich rigoros daran, warum er hier war.
In diesem Augenblick kam Rick zurück und mit einem Seitenblick zu seinem Boss meinte er beruhigend zu Tenshi: „Keine Angst, er beißt selten.“
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Tokagé zu ihm hinüber.
„Sein Name ist Kuroi Roshi“, fuhr Tenshi unbeirrt fort. Er hatte jetzt keine Laune für Spielchen.
Tokagé überlegte einen Moment. Die Courage des Kleinen gefiel ihm, jetzt wich er selbst seinem Blick nicht mehr aus. Doch sollte es wirklich nur darum gehen?
„Roshi? – Hm, nein, sagt mir ebenfalls rein gar nichts. Komisch, meistens kenn’ ich die Leute, mit denen Kia rumhängt.“ Abschätzend musterte Tokagé ihren Gast einen Moment lang. „Ist er dein Freund?“, fragte er dann aus einer Laune heraus.
Verzweiflung machte sich in Tenshi breit, während er den Blick senkte. Wenn dieser Mann Kaoris wirklichen Namen nicht kannte, brachte es auch nichts, Kuroi als ihren Bruder vorzustellen, zumal er ihr auch keine Schwierigkeiten machen wollte.
„Um das herauszufinden, suche ich ihn“, erklärte er leise.
„Verstehe. Tut mir wirklich leid, dass ich dir nicht weiterhelfen kann. Rick, mach mir etwas zu trinken.“
Unglücklich ließ sich Tenshi auf seinen Hocker zurücksinken, dabei fiel sein Blick auf das leere Glas. Abermals verneinte er Ricks Frage nach einem neuen Getränk und suchte stattdessen mit tränenverhangenen Augen nach Kleingeld. Doch Rick winkte seinen Versuch zu bezahlen ab.
„Lass gut sein.“
„Danke“, murmelte Tenshi und wischte sich verstohlen über die Augen. Tränen brachten ihn nicht weiter!
Die ganze Zeit beobachtete Tokagé ihn lauernd. Also mit Kia hatte der Kleine sicher nichts am Hut, vollkommen andere Liga. Vor allem sexuell, und nach Drogen sah das Häufchen Elend auch nicht aus. Also war es wohl wirklich die Suche nach seinem Freund, die ihn hierher verschlagen hatte. Kein Wunder, dass Kia ihn ins Komodo geschickt hatte. In ganz Yokohama war es eine der bekanntesten Adressen für das schwule Leben, vor allem das im Untergrund. Und nicht nur das … Wie die beiden zusammenpassten, war ihm dann zwar schleierhaft, aber reichlich egal. Ein kühles Lächeln huschte über Tokagés Lippen. Der Kleine konnte ein bisschen Ermutigung gebrauchen! Und er etwas Abwechslung! Und bevor Tenshi die Theke verlassen konnte, legte Tokagé ihm eine Hand auf die Schulter.
Erschrocken wich Tenshi hastig zurück. Noch immer kam er mit unerwarteten Berührungen nicht gut klar.
Aufmerksam musterte Tokagé ihn. Er kannte diese Panik, die sich in den dunkelblauen Augen widerspiegelte. Dann, ganz langsam, zog er seine Hand wieder zurück, drehte die Handfläche auch leicht nach oben.
Verwirrt registrierte es Tenshi, und obwohl er sich dessen nicht gänzlich bewusst war, so war es gerade diese Geste, die ihn wieder beruhigte. Dieser Mann wollte ihm nichts tun. Zumindest für diesen Moment nicht.
„Es tut mir leid“, murmelte Tenshi aufgewühlt und deutete eine leichte Verbeugung an.
Tokagé wandte sich halb ab. Der Plan für diesen Abend hatte sich in Sekundenschnelle erneut geändert.
„Komm, bevor du jetzt planlos wieder abhaust, setz dich zu mir und erzähl mir ein bisschen von dir. Vielleicht fällt mir ja doch noch etwas ein, womit ich dir helfen kann.“
Dennoch zögerte Tenshi.
Auch Rick sah seinen Boss missmutig an. Die Szene eben war schon seltsam genug gewesen.
Doch Tokagé lächelte mit einem Mal galant.
Und endlich nickte Tenshi müde, auch wenn ein warnendes Misstrauen blieb. Doch es war ein neuer Strohhalm. Und was hatte er denn noch zu verlieren? Auf die Straße kam er schnell genug zurück. Vielleicht sollte er endlich nach Tokyo zurückkehren. Er vermisste seine Heimatstadt. Vermisste Miyasaki, Mikiko und ihre Schwester Naomi, sowie seine eigene Schwester Aiko … und sogar Akuma. Alle seine Spuren hatten sich immer wieder hartnäckig, wie Spiegelungen im Wind verflüchtigt.
„Rick, einen Magiri ohne und einen Black Sun mit.“
Tokagé führte seinen jungen Gast in eine abgeschirmte Ecke des Clubs und nahm ihm gegenüber Platz. Große Grünpflanzen boten hier ein gewisses Maß an Privatsphäre.
Beeindruckt sah sich Tenshi um. So etwas hatte er bis jetzt noch nie gesehen. Zu seiner Rechten war kunstvoll ein Steinbrunnen an der Wand entlang in den kleinen grünen Dschungel eingearbeitet. Hinter Tokagé gab eine riesige verspiegelte Glasscheibe eine harmonische Naturszene wieder, wie aus einem der alten japanischen Gedichte entsprungen. Die Sitzgarnitur bestand aus einem edlen schwarzen Marmortisch und dunkelblauen Sitzeinheiten. Weiches, nur für diese Ecke verwendetes Licht verlieh dem Ganzen etwas wild Romantisches, während das Geplätscher des Brunnens und leise, ebenfalls nur für diesen Tisch bestimmte Musik alles passend unterstrich. Und mittendrin dieser verwirrende Mann vor ihm, als würde er genau hierhergehören.
Tokagé konnte sich ein Lächeln nur schwerlich verkneifen. Wirklich noch ein Kind, der Kleine. Gott, wann hatte er das letzte Mal so herrlich erfrischende Unschuld gesehen? Er hatte seinem Gast bewusst gegenüber Platz genommen, einerseits wegen des Gemäldes hinter ihm – es faszinierte ihre Gäste immer wieder aufs Neue, vor allem, wenn es sein Geheimnis preisgab –, doch auch, um dem Jungen Zeit zu geben, sich zu sammeln. Noch immer wehte ein Hauch von Angst um ihn, während Tenshi vorsichtig seinen Rucksack abnahm und behutsam auf den Boden stellte. Seine Finger zitterten leicht. Daher ließ Tokagé ihm weiter Zeit, sich umzusehen.
„Was hat er vor?“, brummte Maus verstimmt. Die Tropenecke war in erster Linie den VIP-Gästen des Komodos vorbehalten. Außer ihr Boss war auf Beutefang.
„Keine Ahnung. Aber wenn er es versucht, kriegt er Ärger, das verspreche ich dir! Der Kleine hat genug Probleme.“ Mürrisch machte sich Rick an die Bestellung, dabei immer ein Auge auf Tokagé und seinen Gast.
„Wird Zeit, dass Caine mal wieder auftaucht.“
Rick antwortete nicht darauf, sondern servierte dem abgeschirmten Tisch die bestellten Drinks.
Sofort postierte Tenshi sein Glas direkt vor sich, schenkte dem bunten Getränk darin übermäßige Aufmerksamkeit. Noch bevor er reagieren konnte, hatte Tokagé seine rechte Hand eingefangen und zu sich gezogen, streichelte hauchzart über Tenshis Handrücken.
„Benimm dich“, zischte Rick gereizt und verschwand gezwungenermaßen, als Maus nach ihm rief.
Düster folgte ihm Tokagés Blick für einen Moment. „Du hast hübsche Hände“, wandte er sich aber rasch wieder mit einem Lächeln auf den Lippen zu seinem Gast um und blendete Ricks Kommentar sofort aus. Irritiert sah Tenshi den markanten Mann vor sich an, besann sich und zog ruckartig seine Hand zurück.
„Entschuldige, ich wollte nicht aufdringlich sein.“
Ironisch sah Tenshi sein Gegenüber an, welcher sich daraufhin lässig zurücklehnte. Lauernd betrachtete Tokagé den jungen Mann vor sich, ignorierte seinen dunklen Drink, während Tenshi unter seinem intensiven Blick wieder unruhig wurde.
Gewinnend lächelte Tokagé ihm zu. „Also, wie heißt du?“
*
Am gleichen Tag bekam Kuroi unerwartet hohen Besuch.
„Hier? Sieht ja schrecklich aus.“ Obwohl Mikiko sich nie als voreingenommen betrachtet hatte, ließ Kurois derzeitige Unterkunft in ihren Augen schon einiges zu wünschen übrig.
„Er hatte schon immer einen schlechten Geschmack“, knurrte Akuma neben ihr gereizt.
„Na, so schlecht nun auch wieder nicht. Immerhin hat er sich in Tenshi verliebt.“
Akuma warf ihr einen kalten Blick zu, den Mikiko jedoch schulterzuckend abtat. Sie waren jetzt etwas über einen Monat zusammen, und außer dem Thema Tenshi und Kuroi, oder Kuroi und Tenshi, verstanden sie sich aufs Beste. Deswegen gab sie jetzt auch nichts auf seine düstere Miene. Akuma war eine Welt für sich und sie war noch immer dabei, diese Welt kennenzulernen.
„Kommst du mit rein?“
„Vergiss es, oder du willst ihn gleich als Leiche haben?“
Mikiko schüttelte den Kopf und betrat das Lagerhaus. Es war günstig, einen gewissen Ruf zu haben. Und so hatten sich Akuma schnell einige Pforten in Yokohamas Straßenwelt geöffnet und ihnen alsbald Kurois Aufenthaltsort offenbart, nachdem Mikiko ihn erst einmal so weit gebracht hatte, ihr bei dieser Suche zu helfen. Was recht schwierig gewesen war, nachdem Akuma begriffen hatte, welche Rolle sie selbst in Tenshis Fluchtplan gespielt hatte. Doch mit etwas weiblichem Charme hatte sich der stolze Ganganführer allmählich gebeugt, denn Mikiko ließ keinen Zweifel daran, was sie in ihm sah. Aber es gab nach wie vor keine Spuren zu Tenshi, was auch ein Grund war, warum Akuma so mies auf ihre Freude zu sprechen war. Was fand sie nur an Kuroi?
„Kuroi?“ Vorsichtig verschaffte sich Mikiko Eintritt. Im Inneren der Halle sah es fast so trostlos und düster aus, wie es die Außenfassade erahnen ließ. „Kuroi? Bist du da?“
Hoffentlich war er wirklich hier. Neugierig streifte Mikiko immer weiter ins Lagerinnere. Allem Anschein nach war das hier früher eine der vielen Papierfabriken aus der Gegend gewesen. Von den großen Maschinen war jedoch nichts mehr übrig. Vereinzelt lagen vergilbte Kartons und Müll in der Gegend herum. Sie bemerkte die Hündin nicht, die sich leise an sie heranschlich.
„Kuroi? – Ich bin’s, Mikiko!“
„Platz!“ Langsam trat Kuroi aus dem Schatten einer Säule.
Verblüfft sah sich Mikiko um. Die Colliehündin hatte sich bis auf wenige Meter an sie herangeschlichen, wedelte aber jetzt verspielt mit dem buschigen Schwanz.
„Wie niedlich!“
„Hallo, Mik …“
Mikiko wandte sich der Stimme zu. „Hallo, Kuroi.“ Trotz aller Vorhaben traten Mikiko jetzt doch Tränen in die Augen, als sie den jüngeren Mann ansah. Mager war er geworden und seine leblosen Augen verunsicherten sie für einige Sekunden. Nichtsdestotrotz hatte Kuroi kaum etwas von seinem Charisma verloren.
„Bin ich froh, dass wir dich endlich gefunden haben.“ Stürmisch fiel sie ihm um den Hals.
Und Kuroi erwiderte ihre Umarmung ehrlich. Es war, als erblicke er am Horizont nach all der langen Zeit doch wieder etwas Licht. Er hatte Mikiko nach ihrem mehr widerwilligen Kennenlernen verblüffend schnell in sein Herz geschlossen. Als sie sich begegnet waren, hatte sie ihn, genau wie Caine, von der Straße runtergeholt. Hatte sich nicht durch sein Misstrauen ihr gegenüber, oder eher dem weiblichen Geschlecht, einschüchtern lassen, sich nicht abweisen lassen. Damals, als er Tenshi verlassen hatte, um seinem Freund Zeit zu geben zu entscheiden, was für ihn wichtig im Leben war. Und ob er um seiner selbst willen zu sich stehen konnte. In jenen Tagen hatte sich Tenshi für ihn entschieden. Doch diese lagen weit zurück. So weit …
„Ich bin froh dich zu sehen“, flüsterte Kuroi rau und drückte die junge Frau noch etwas fester an sich. Mikiko hatte noch immer die gleichen langen blonden Haare, die vor Leben sprühenden grünen Augen. Selbst ihr Duft erinnerte Kuroi an seine Heimatstadt und mischte der süßen Wiedersehensfreude einen bitteren Geschmack bei.
„Ich auch“, schniefte Mikiko, während sie versuchte ihre Tränen wieder in den Griff zu bekommen.
Kuroi entließ sie aus seiner Umarmung und lächelte leicht, während er sacht mit dem Daumen einige ihrer Tränen trocknete. „Aber was machst du hier? Eine wohlerzogene Dame sollte hier nicht allein herumspazieren.“
Allmählich fand Mikiko ihr Gleichgewicht wieder und erwiderte sein Grinsen mit kurz rausgestreckter Zunge. „Seit wann bin ich denn wohlerzogen?“
„Und außerdem begleite ich sie.“ Kalt hallte Akumas Stimme durch die Halle.
Kurois Blick schnellte rum. „Was machst du denn hier?!“, knurrte er, wich automatisch einige Schritte zurück. Miki neben ihm stellte aufmerksam die Ohren auf, witterte und ließ Akuma daraufhin keine Sekunde mehr aus den Augen.
„Kuroi, bitte … Ich wollte wissen, wie es dir geht.“ Mikiko berührte ihn am Arm, lenkte Kurois Aufmerksamkeit so wieder auf sich. „Allein hätte ich das nicht geschafft. Und außerdem sind …“ Unsicher sah sie kurz zu Akuma. „… sind wir zusammen.“
Ungläubig sah Kuroi sie an. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“
„Wieso? Oder hast du vergessen, dass solche Beziehungen normal sind?“, zischte Akuma. Hass spiegelte sich in seiner Stimme und seinen Augen wider. Hass, der Kuroi nur allzu vertraut war.
„Akuma, hör auf!“, wies Mikiko ihn harsch zurecht, als sich Kuroi aus ihrem Griff befreite.
„Kuroi …“
Doch Kuroi starrte nur zu Akuma. Und reagierte anders, als dieser und Mikiko erwarteten. Denn mit einem Mal schimmerten seine Augen unendlich traurig. „Wenn du hier bist, um mich noch mehr fertigzumachen, kannst du gleich wieder abhauen“, brummte er und zog sich in den hinteren Teil der Halle zurück.
Er wollte nicht kämpfen, wollte sich nicht streiten. Er wollte verdammt noch mal vergessen! Leise winselnd blieb selbst seine Colliehündin zurück.
Aufmerksam beobachtete Akuma Kurois Verhalten und runzelte die Stirn.
„Kuroi, bitte, er hat’s nicht so gemeint!“, rief Mikiko ihm nach, bevor sie hilfesuchend zu ihrem Freund blickte.
Sie hatte sich bis jetzt keine wirklichen Gedanken darüber gemacht, wie Kuroi diese Tatsache aufnehmen würde. Denn es war, egal ob Akuma es hören wollte oder nicht, zu einem großen Teil auch seine Schuld, dass die Beziehung seines kleinen Bruders dermaßen tragisch zerbrochen war. Und nur widerwillig hatte Akuma ihr davon erzählt.
Nachdenklich stieß Akuma sich von der Säule ab, an der er bis jetzt gelehnt hatte. „Das ist nicht Kuroi.“
„Was?“
Akuma ging an Mikiko vorbei, die ihm verständnislos nachsah, und folgte Kuroi, seiner persönlichen Wurzel allen Übels.
Kuroi hatte sich in einem Fenster niedergelassen. Die Beine angezogen und die Arme darum geschlungen, sah er starr hinaus. Woher nahm er sich das Recht, Akuma anzugreifen? Ihn, der damals der Einzige gewesen war, der Tenshi hatte retten können? Und das obendrein als sein Bruder! Woher nahm er diese Arroganz?
„Kuroi?“
Einen Augenblick zögerte Kuroi, wandte sich dann jedoch weiter dem Fenster zu. Das Gefühl, sich verkriechen zu wollen, wurde immer stärker, umso mehr er sich bewusst wurde, dass Tenshis Anwesenheit mit Akuma nur einen Hauch entfernt sein mochte. Tenshi … Wie ging es ihm? Er wollte die Frage herausschreien – doch er konnte es nicht. Hatte nicht das Recht dazu.
„Los, verschwinde, Akuma! Du hast doch alles erreicht, was du wolltest.“
„Verdammt, sieh mich endlich an!“
Kuroi zuckte zusammen, folgte dem Befehl aber zwanghaft. Langsam begegnete er Akumas dunkelbraunen Augen.
„Verdammt, was ist mit dir los, das bist doch nicht du?!“
Die Worte überraschten Kuroi. Das hörte sich ja fast so an, als würde sich ausgerechnet Akuma Gedanken um ihn machen. Er wollte ja nicht gleich so weit gehen und von Sorgen sprechen.
Seufzend wandte er sich Akuma zu. „Und wer, wenn man fragen darf, soll ich dann sein?“
Akuma zögerte sichtlich. Er wusste nicht recht, mit was er gerechnet hatte, wenn sie Kuroi gefunden hatten, aber damit sicher nicht. Denn so, wie dieser aussah, würden sie Tenshi hier kaum finden.
„Was weiß ich denn … Du siehst erbärmlich aus.“
Verdutzt sah Kuroi an sich herunter. Gut, dass er abgenommen hatte, wusste er selbst. Auch ein Friseurtermin war wohl schon längst überfällig. Seine Haare reichten ihm mittlerweile weit über die Schulterblätter. Und seine Kleidung bestand aus mehr Flicken als zusammenhängendem Stoff. Aber ansonsten? Wie zum Teufel dachte Akuma, sah man denn aus, wenn der Mensch, den man mehr als sein eigenes Leben liebte, einen verlassen hatte? Blendend?
„Idiot“, knurrte Kuroi ihn an.
„Ihr streitet ja schon wieder.“ Bedrückt trat Mikiko hinzu, nachdem sie die Szene abseits beobachtet hatte.
„Wir streiten doch nicht“, brummte Akuma bissig unter Kurois missmutigen Blick. Noch nicht.
Miki trabte an dem Pärchen vorbei, wobei sie einen demonstrativen Bogen um Akuma machte, und setzte sich schwanzwedelnd vor ihr Herrchen.
„Biest.“
„Quatsch, sie spürt nur, wer’s gut mit ihr meint“, grinste Mikiko. Dass ihr Freund nicht gerade ein glückliches Händchen für Tiere hatte, hatte sie ziemlich schnell bemerkt. Die kleine Katze, die Akuma vor einiger Zeit von ihr bekommen hatte, war recht schnell wieder bei ihr und Naomi gelandet.
„Das Vieh kennt mich doch gar nicht!“