Odenwaldjagd - H. K. Anger - E-Book

Odenwaldjagd E-Book

H. K. Anger

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Beschreibung

Die Hobby-Ermittlerin Charlie Knapp und ihre Freundin Tina stolpern bei einer Wanderung zur sagenumwobenen Kapellenruine St. Maria in Lichtenklingen über die blumengeschmückte Leiche einer Odenwälder Forstbeamtin. Auf der Pirsch nach dem Mörder bekommt es Charlie mit einem Wilderer und wahrhaftigen Hexen zu tun. Doch damit nicht genug, ein Stalker versetzt auch noch Charlies Freundin Tina in Angst und Schrecken. Bei einem Kloster-Retreat versuchen die beiden Frauen zur Ruhe zu kommen. Doch der Mörder wartet schon auf sie!

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H. K. Anger

Odenwaldjagd

Kriminalroman

Zum Buch

Mord im Forst Frühling im Odenwald! Hobby-Ermittlerin Charlie Knapp und ihre Freundin Tina wollen mit einer Wanderung zur Kapellenruine St. Maria in Lichtenklingen etwas für Figur und Fitness tun. Im Altarraum stolpern sie über die blumengeschmückte Leiche einer Forstbeamtin, die bei ihren Kollegen, Jägern und Jagdpächtern wenig beliebt war. Obwohl Hauptkommissar Gunter Haase vom Ermittlungsteam des K 11 in Heppenheim sie ausdrücklich warnt, kann Charlie es nicht lassen, ihre vorwitzige Stupsnase in die Ermittlungsarbeiten zu stecken. Auf der munteren Pirsch nach dem Mörder begegnen ihr an sagenumwobenen Orten des Odenwaldes ein Wilderer und zwei wahrhaftige Hexen. Wurde die Forstbeamtin etwa Opfer eines heidnischen Rituals? Charlie sorgt sich zudem um ihre Freundin Tina, die von einem perfiden Stalker drangsaliert wird. Bei einer Auszeit in einem buddhistischen Kloster versuchen die beiden Frauen zur Ruhe zu kommen. Doch die Idylle auf Odenwälder Höhen trügt. Der Mörder ist ihnen bereits auf der Spur …

H. K. Anger wurde im Ruhrgebiet geboren und ist nach Lebensstationen in Bielefeld, Freiburg und Leipzig in einem Odenwälder Dorf heimisch geworden. Die studierte Pädagogin hat in der Erwachsenenbildung gearbeitet, bevor sie 2006 aus Liebe zum Kochen mit dem Kochbuchschreiben begann. In ihrer Freizeit erkundet H. K. Anger in Begleitung ihres Mannes und ihrer Hunde mit dem Wohnmobil Ziele in nah und fern. Ihre Liebe zum Odenwald bringt H. K. Anger in ihren Odenwaldkrimis zum Ausdruck, in denen sie die idyllische Mittelgebirgslandschaft und die Menschen mit dem Herz auf dem rechten Fleck spannend in Szene setzt.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Braun

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Simone / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6774-5

Recklinghäuser Zeitung, 6. April 1974

Tragischer Unfall in einem Mehrfamilienhaus in der Dattelner Straße. Eine alleinerziehende Mutter stürzte beim Frühjahrsputz von der Haushaltsleiter und wurde lebensgefährlich verletzt. Ihr aus der Schule heimkehrender Sohn fand sie leblos in der Küche. Der herbeigerufene Notarzt konnte nur noch den Tod der Frau feststellen. Der 13-jährige Teenager, der keine weiteren Verwandten hat, wurde in einer Pflegefamilie untergebracht.

1. Kapitel

Sie waren im Dunkeln aufgebrochen. An Bäumen und Sträuchern glitzerte Raureif. In den Kurven nahm Nadja Künzel den Fuß vom Gas, damit der grün lackierte VW Amarok nicht ins Rutschen kam. Ihr Beifahrer hatte die Sitzheizung auf die höchste Stufe gestellt und hielt die Augen geschlossen. Er schlief nicht, sondern nutzte die Fahrt vom Treffpunkt ins Revier, um sich zu sammeln. Sich mental auf das, was heute kommen sollte, einzustellen. Der heutige Tag sollte »sein« Tag, das Highlight seines 63-jährigen Lebens, werden. Dafür musste er geistig und körperlich fit sein. Einen scharfen Blick und eine ruhige Hand beweisen. Er drückte den Rücken gegen die Sitzlehne und atmete tief ein. Und aus. Ein, aus, ein, aus. Der Hauch eines Lächelns lag auf seinen Lippen.

Nadja Künzel setzte den Blinker und bog von der geteerten Straße in einen Waldweg ab. Über den Spitzen der hoch aufragenden Kiefern verblassten die Sterne, um der Morgendämmerung zu weichen. Nebelschwaden lagen als fahle Decke über dem Eiterbachtal. Nadja Künzel manövrierte den Pick-up durch eine enge steile Kurve und fuhr Richtung Westen. Im Rückspiegel tauchte für einen Moment eine pinkfarbene, wie Zuckerwatte geformte Wolke auf. Der Tag versprach sonnig, aber kalt zu werden. Beste Bedingungen für ihr Vorhaben, dachte Nadja Künzel zufrieden. Heute Abend wäre sie, sofern ihre Fähigkeiten als Jagdleiterin und das Jagdglück sie nicht im Stich ließen, ihrem Ziel ein Stück näher.

»Wir sind gleich da«, verkündete sie.

Ihr Beifahrer öffnete die Augen und schaute zum Fenster hinaus. »Haben Sie ihn in den letzten Tagen gesichtet?«, wollte er wissen.

Nadja Künzel nickte. »Er kommt morgens immer auf die Lichtung, um zu äsen. Manchmal mit einem Rudel Kahlwild. Aber meistens allein.«

Doktor Meyerhoff, Vorsitzender des Ausschusses für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz in Wiesbaden sowie passionierter Hobbyjäger, rieb die Handflächen aneinander, verschränkte die Finger und ließ die Gelenke knacken. Nadja Künzel zuckte zusammen, verkniff sich jedoch einen Kommentar. Sie wollte ihren Jagdgast, den sie als stellvertretende Leiterin des Forstamtes Odenbrunn auf der heutigen Einzeljagd führen durfte, nicht verärgern. Doktor Meyerhoff könnte sich für ihre Karriere als enorm wichtig erweisen. Denn Nadja Künzel hatte Pläne. Zukunftspläne, in denen der Odenwald nur eine Zwischenetappe darstellte. Sie hatte noch so viel vor. Nicht nur, was die Jagd betraf.

Nadja Künzel parkte den Amarok hinter einem Stapel geschlagener Fichten, die auf den Abtransport warteten. Die letzten Dürresommer hatten im Odenwald zu einer explosionsartigen Ausbreitung des Borkenkäfers geführt. Sowohl die Privatwaldbesitzer als auch OdenwaldForst kamen mit dem Schlagen der befallenen Bäume nicht mehr nach. Die Holzpreise waren dementsprechend in den Keller gerutscht. Wer derzeit in Wald investierte, konnte sich auf eine kapitale Fehlinvestition einstellen. Aber das sollte bald nicht mehr Nadja Künzels Sorge sein.

»Möchten Sie einen Kaffee, bevor wir aufbrechen?«, fragte sie ihren Jagdgast.

Doktor Meyerhoff schüttelte den Kopf. Jetzt, wo die Erfüllung seines Traumes zum Greifen nah war, peitschte das Adrenalin durch seinen Körper. Da benötigte er kein Koffein, um zu der frühen Stunde einen klaren Kopf zu bekommen. »Gehen wir!«, erwiderte er knapp.

Sie schulterten Rucksäcke und Jagdbüchsen und setzten sich in Bewegung. Das gefrorene Blattwerk brach unter ihren Sohlen. Ihr Atem stieg in weißen Wolken auf. Vorsichtig bahnten sie sich einen Weg durch ein Buschwerk von jungen Fichten und Kiefern. Den Blick hielten sie nach unten gerichtet, um sich auf der Pirsch nicht durch das Knacken eines brechenden Astes zu verraten. Obwohl der Hang stetig anstieg, hatte der Vorsitzende des Ausschusses für Umwelt keine Probleme, Nadja Künzel zu folgen. Respekt, dachte die Forstbeamtin und nahm sich vor, ihren Jagdgast später für seine Kondition zu loben. Im Moment war Schweigen angesagt.

Der aus Holz gezimmerte Hochsitz stand an der Nordseite der etwa Fußballfeld-großen Lichtung. Stumm erklommen sie die Stufen der Leiter und nahmen auf der rauen Holzbank Platz. Inzwischen war es hell geworden, sodass sie an diesem klaren Januarmorgen fast jeden Grashalm auf der Waldwiese ausmachen konnten. Ideale Bedingungen. Nadja Künzel lächelte. Doktor Meyerhoff hob den rechten Daumen in die Höhe.

Da vernahmen sie ein leises Rascheln. Eine Gruppe Hirschkühe betrat die Lichtung. Zuerst waren sie misstrauisch, sicherten mit aufgerichtetem Hals und steil gespitzten Ohren die Umgebung. Doch der Wind stand günstig. Das Kahlwild witterte die Menschen nicht. Ein Alttier senkte den Kopf und begann zu äsen. Die anderen Hirschkühe taten es ihm gleich.

Ein idyllischer Anblick, der Doktor Meyerhoff allerdings wenig freudig stimmte. Wo verdammt noch mal blieb »sein« Hirsch? Er musste sich zusammenreißen, um nicht ungeduldig auf der Bank hin und her zu rutschen. Nadja Künzel versuchte, ihn mit einem Lächeln zu beruhigen. Doch sie war ebenso angespannt wir ihr Sitznachbar. Was, wenn der Zwölfender an diesem Morgen nicht auftauchte? Wenn sich all ihre Vorbereitungen und Pläne als null und nichtig erwiesen? Die Forstbeamtin begann, ihre Unterlippe mit den Zähnen zu malträtieren. Der Ruf eines Eichelhähers ließ sie zusammenzucken. Das Rudel Kahlwild richtete die Hälse auf. Nadja Künzel hielt den Atem an.

Der alte Rothirsch mit der mächtigen Krone verließ die Deckung der Fichtenschonung und betrat die Lichtung. Die beiden Geweihstangen mit jeweils sechs Endungen schienen das Morgenlicht auf sich zu bündeln. Das stolze Haupt überragte die Köpfe der Hirschkühe um mehrere Handbreit. Die dunklen Augen waren klar und wachsam. Und doch entging ihnen das, was in Kürze das Schicksal des Rothirsches besiegeln sollte. Ohne Furcht oder Vorahnung schritt er in die Mitte der Lichtung, während die Hirschkühe sich am Rand aufhielten. Nichtsahnend gab er seine Flanke preis.

Doktor Meyerhoff legte die Jagdbüchse an und nahm das Ziel ins Visier. Atmete tief ein. Ein Schuss peitschte über die Waldwiese. Der Rothirsch sprang kurz in die Höhe und floh mit gesenktem Haupt. Vor der ersten Fichtenreihe brach er zusammen und rührte sich nicht mehr. Die Hirschkühe stoben in Panik auseinander.

»Gratulation!«, sagte Nadja Künzel, als sie den erlegten Hirsch erreichten. »Ein Blattschuss wie aus dem Bilderbuch. Mitten ins Herz.«

»Danke.« In Doktor Meyerhoffs Augen standen Tränen. Nicht, weil er den Tod des stattlichen Tieres bedauerte. Nein, solche Gefühle lagen ihm fern. Es waren Tränen der Freude, des Stolzes und letztendlich der Genugtuung. Bei der Jagdprüfung vor zehn Jahren hatte man ihn beinahe durchfallen lassen, ihm Schneid, Talent und Zielsicherheit abgesprochen. Aber Doktor Meyerhoff hatte sich durchgeboxt. Er war in Ungarn, Polen und in Südafrika auf Jagdreisen gegangen und hatte ständig dazugelernt. Zum Glück mangelte es ihm nicht am nötigen Kleingeld, um das kostspielige Hobby zu finanzieren. Da fielen die paar Tausend Euro für den Zwölfender, die er nun hinblättern durfte, nicht ins Gewicht. Die Gewissheit, »seinen Lebenshirsch« mit einem perfekten Schuss niedergestreckt zu haben, war ihm jeden Cent wert.

Mit vor Stolz geschwollener Brust sah er zu, wie Nadja Künzel ein paar Fichtenzweige abbrach und einen davon mit der gebrochenen Spitze zum Haupt des Hirsches ausgerichtet auf dem Einschussloch deponierte. Einen zweiten Fichtenzweig legte sie dem Hirsch quer in den Mund, um ihm mit diesem »letzten Bissen« ihre Achtung zu zollen. Schließlich zog sie ihr Jagdmesser aus der Scheide und überreichte dem erfolgreichen Schützen auf der blanken Klinge einen weiteren kleinen Fichtenast.

»Waidmannsheil!« Die Forstbeamtin beendete das Jagdritual mit einem kräftigen Händedruck.

»Waidmannsdank«, erwiderte Doktor Meyerhoff und steckte den Fichtenzweig an der rechten Seite seines Hutes fest.

»Da werden Sie bald eine schöne Trophäe zu Hause haben«, sagte Nadja Künzel.

»Das Geweih bekommt bei mir im Arbeitszimmer einen Ehrenplatz.«

»So tüchtige Schützen wie Sie können wir bei der nächsten Drückjagd gut gebrauchen«, säuselte Nadja Künzel.

»Ach, wissen Sie …« Doktor Meyerhoff blickte der stellvertretenden Forstamtsleiterin direkt in die Augen. »Mir geht es bei der Jagd nicht um das Gemeinschaftserlebnis. Ich bin lieber allein auf der Pirsch. Mein Ding wäre es eher, eine Eigenjagd in einem gut bestückten Revier zu pachten.«

Nadja Künzel hielt seinem Blick stand. »Ich werde mal schauen, was sich da machen lässt.«

Doktor Meyerhoff räusperte sich. »Bei Vertragsunterschrift würde ich mich natürlich erkenntlich zeigen.«

Nadja Künzel nickte. »Natürlich.«

Doktor Meyerhoff rieb sich zufrieden die Hände. Um diesen lang gehegten Wunsch in die Wirklichkeit umzusetzen, würde er viel geben. Vielleicht sogar alles. Er war schließlich nicht mehr der Jüngste. Wer weiß, wie lange er die Jagdbüchse noch führen konnte.

Nadja Künzel griff nach ihrem Handy. »Ich informiere die Kollegen, damit einer von ihnen vorbeikommt und den Hirsch möglichst schnell aufbricht. Ich nehme an, dass Sie auch am Wildbret interessiert sind?«

Doktor Meyerhoff winkte ab. »Mir geht es um das Geweih. Machen Sie mit dem Fleisch, was Sie wollen.«

Nach dem Telefonat ließen sie den Hirsch am Waldrand liegen und stiefelten zurück zum Pick-up. Nadja Künzel zog eine Kühltasche von der Rückbank hervor.

»Ich habe ein kleines Picknick vorbereiten lassen. Damit wir Ihren Erfolg gebührend feiern können.«

»Wie aufmerksam von Ihnen.« Doktor Meyerhoff fühlte sich sichtlich gebauchpinselt.

Nadja Künzel breitete eine grüne Tischdecke auf dem hinteren Teil der Ladefläche aus und richtete die mitgebrachten Köstlichkeiten darauf an. »Alles feinste Häppchen von heimischem Wild. Dazu nach alter Odenwälder Tradition gebackenes Sauerteigbrot. Der Bratkartoffelsalat ist übrigens ein Gedicht!«

Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Sie hatte gestern reichlich Kostproben genießen dürfen. Der Aushilfskoch des Cateringunternehmens, welches das Forstamt Odenbrunn bei solchen Anlässen bemühte, hatte sich als wahrer Künstler am Herd erwiesen. Außerdem war er äußerst charmant und zuvorkommend. Und hatte es geschafft, dass Nadja mehr von sich preisgegeben hatte als beabsichtigt. Vielleicht, dachte sie, während sie dicke Scheiben vom Brot abschnitt, sollte sie den Flirt von gestern in Kürze fortsetzen. Eigentlich stand sie nicht auf Männer, die ein paar Kilos zu viel mit sich herumschleppten. Aber der Aushilfskoch hatte ein bisschen was von Balu, dem Bären aus dem Dschungelbuch. Ein Typ zum Knuddeln.

Nadja Künzel gab einen Schuss vom im Eichenfass gereiften Apfel-Obstbrand in zwei Schnapsbecher aus Edelstahl und prostete ihrem Jagdgast zu. »Möge das Jagdglück Ihnen hold bleiben!«

Doktor Meyerhoff kippte den Schnaps in einem Zug hinunter. »In diesem Sinn bis demnächst?«

Nadja Künzel lächelte. »Bis demnächst!«

2. Kapitel

Ein paar Wochen später …

Charlie Knapp hielt die Luft an und zog und zog, bis ihre Wangen rot glühten und sie wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappte.

»Verflixt noch mal!«

Der Reißverschluss ihrer Lieblingsjeans klaffte unterhalb des Hosenbundes mehr als einen Zentimeter auseinander. Um den Knopf am Bund zu schließen, müsste sie sich Gewalt antun. Charlie schälte sich aus dem prall sitzenden Kleidungsstück und pfefferte die Hose auf das ungemachte Bett. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Jeans anzuziehen, die sie vor Kurzem, auf dem Rückweg von einem Mandanten, im Rhein-Neckar-Zentrum in Viernheim gekauft hatte. Da hatte sie sich zwar über die Größennummer gewundert, die auf dem Etikett aufgedruckt stand, sich jedoch mit dem Gedanken getröstet, dass Konfektionsgrößen auch nicht mehr das waren, was sie von früher kannte. Wichtig war allein die Passform. Und ob sich die Jeans bequem anfühlte. Die Hose, die zusammengeknüllt auf ihrem Bett lag, war das reinste Folterinstrument. Charlie schlüpfte in die neu gekaufte Jeans, schloss den Reißverschluss und stellte sich vor den Spiegel. Drehte sich zur Seite, um sich im Profil zu betrachten. Instinktiv zog sie den Bauch ein.

»Das gibt es doch nicht!«, presste sie zwischen den Lippen hervor. Unter dem Pulli zeichnete sich ein nicht zu übersehendes Bäuchlein ab. Das auf dem besten Weg war, sich zu einem ausgewachsenen Bauch zu mausern. Wie konnte das geschehen, fragte sich Charlie und kehrte dem Spiegel den Rücken zu. Dank der Familiengene mütterlicherseits hatte sie es nie geschafft, superschlank zu sein. Sie war eher kompakt, aber von sportlicher Statur. In Hamburg, wo sie die letzten zehn Jahre verbracht hatte, war sie bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Ihren treuen Drahtesel hatte sie vor ihrer Rückkehr in den Odenwald ihrer Freundin Frieda Olsen vermacht. Charlie nutzte für die meisten Wege inzwischen den alten Subaru, der auf dem Atzeldoalhof all denen als Fortbewegungsmittel diente, die einen Führerschein besaßen. Zu Fuß lief Charlie nur, wenn sie morgens und abends die Hühner versorgte und die Pachtpferde auf die Koppel brachte.

»Ich bin faul geworden!«, musste sich Charlie eingestehen. Und fett, flüsterte eine kleine fiese Stimme in ihrem Inneren. Woran nicht nur der Mangel an körperlicher Betätigung, sondern vor allem Gertie Haases kalorienträchtige Landhausküche schuld war. Gerties Kartoffelsupp mit einem ordentlichen Schuss Sahne, ihr Apfelkuchen und Riwwelkuche mit viel »guter« Butter, ihr Schmorbraten zum Wochenende und der Kochkäse auf selbst gebackenem Sauerteigbrot samt Feierabendbier zum Abendessen hatten ihre Spuren hinterlassen.

»Das muss sich, das wird sich ändern!«, verkündete Charlie in Richtung des Spiegels. Gestern war Frühlingsanfang, bis zum Sommer blieb also nicht mehr viel Zeit.

In dem Moment hallte ein Ruf die Treppe zum Obergeschoss hinauf. »Frieschdick iss ferddisch!«

Aus der gemütlichen Wohnküche mit den hellen Kiefernmöbeln und dem großen runden Esstisch schlug Charlie der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee entgegen.

»Moije, Bobbelsche!«

Der freudige Morgengruß ließ Charlie zusammenzucken. »Wie oft hab ich dir schon gesagt: Nenn mich nicht Bobbelsche!«

Gunter Haase, Gerties ältester Sohn sowie seines Zeichens Kriminalhauptkommissar bei der Regionalen Kriminalinspektion K 11 in Heppenheim, köpfte, von Charlies Ausbruch unbeeindruckt, sein Frühstücksei.

Reiner Haase, Gunters jüngerer Bruder, zog die hellbraunen Augenbrauen in die Höhe. »Schlecht geschlafen?«

»Hör mer uff! Dudd dem oarme Mädschen doch de Meglischkeid gäwwe, sisch in aller Ruh hinzuhocke. Sie hodd geschdern werre bis schbäd owends im Biero gschaffd.« Gertie Haase schaute ihre beiden Söhne streng an.

Theo Sauer, Gunters ehemaliger Fast-Schwiegervater und Dauergast auf dem Atzeldoalhof, klopfte auf den Stuhl an seiner rechten Seite. »Komm zu mir! Hier hast du deine Ruhe!«

Unter Theos Stuhl lag Willy, der Rauhaardackel, den Charlie im vergangenen Jahr bei dem Mordopfer aus dem Lärmfeuer entdeckt und anschließend adoptiert hatte. Oder war es umgekehrt gewesen?

Charlie nahm Platz und ließ sich von Gertie dankbar eine Tasse Kaffee einschenken. Der Dackel stupste sie zur Begrüßung mit der feuchten Nase in die Wade.

»Hast du nichts zu tun?«, fragte Charlie Gunter Haase über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg. »Kein Mörder unterwegs, den du dingfest machen musst?«

Gunter Haase ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Heute ist Samstag, Bobbelsche. Und was meine Mörder betrifft, die gehen dich, mit Verlaub gesagt, nichts an. Ich bin die Polizei, du nicht.«

Emelie, Reiner Haases knapp 17-jährige Tochter, prustete los, wodurch ein paar Mohnsamen über den Tisch stoben. »Du bist doch nur sauer, weil Charlie diesen Brandstifter und Mörder aus Zotzenbach eher auf dem Schirm hatte als du. Ohne Charlie hättest du den Typen nie dingfest gemacht!«

Theo Sauer nickte. »Wo das Mädel recht hat, hat sie recht.«

Gunter Haase warf seiner Nichte einen strengen Blick zu. »Schon vergessen, dass du bei der ganzen Angelegenheit mit einem Bein im Knast standest?«

Emelie senkte die haselnussbraunen Augen und schob ein paar Brötchenkrümel auf ihrem Teller herum. »Nein, aber ich bezahl auch dafür!«, murmelte sie. Seit dem Winteranfang half sie jeden Donnerstagnachmittag bei der »Tafel« Bensheim aus.

»Nun hört doch auf zu streiten!«, bat Reiner Haase. Er war vom morgendlichen Melken erschöpft und hatte sich auf ein ausgiebiges Frühstück im Kreis der Familie gefreut.

Gertie schob den Weidenkorb mit den frischen Brötchen, Laugenbrezeln und Croissants zu Charlie hinüber. »Die Weck hodd de Gunna kaafd.«

Charlie schüttelte den Kopf und erhob sich vom Stuhl. Sie eilte zur Küchenspüle und begann, den Hängeschrank darüber zu durchwühlen. »Haben wir irgendwo Knäckebrot?«

»Gnäggebroud?« Gertie schaute Charlie entsetzt an. »Sou en Gelumps häwwemer heer nedd.«

»Was spricht gegen ein frisches, ehrlich gebackenes Brötchen?«, wollte Reiner Haase wissen und bestrich eine Brötchenhälfte üppig mit Leberwurst.

Emelie warf Charlie einen verschmitzten Blick zu. »Biste etwa auf Diät?«

Charlie spürte, wie ihr eine verräterische Röte in die Wangen stieg. »Natürlich nicht! Ich will nur mal ein bisschen Abwechslung.«

»Klar doch!« Emelie war anzusehen, dass sie Charlie kein Wort glaubte.

»Kinner!« Gertie schaute missbilligend in die Frühstücksrunde.

Charlie kehrte zum Frühstückstisch zurück, griff nach einer Laugenbrezel und biss hinein, ohne sie vorher mit Butter zu bestreichen.

»Und?« Reiner musterte seine Familie. »Wer hilft mir gleich, die Zäune zu reparieren? Ein Teil der Holzstiggel ist inzwischen so marode, dass der leiseste Windhauch genügt, sie umzukippen. Die müssen wir, bevor ich die Trockensteher auf die Weide an der Straße bringe, unbedingt durch neue ersetzen.«

Theo rührte konzentriert in seinem Kaffee, den er seit Jahren nur schwarz trank. »Kann sein, dass der Karl-Heinz aus Weinheim nachher bei mir vorbeischaut«, murmelte er.

Emelie stöhnte theatralisch auf. »Ich muss an meinem Vortrag für Sozialkunde arbeiten. ›Toleranz und soziale Integration als Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben‹. Sehr komplexes Thema.«

»Hört, hört!« Reiner Haase warf seiner Tochter einen bedeutungsvollen Blick zu. »Dann kannst du als Fallstudie ja gleich hier zu Hause anfangen. Was ›friedliches Zusammenleben‹ betrifft, sehe ich bei dir ein gewisses Maß an Nachholbedarf. Oder warum hast du dich gestern mit der Oma gestritten? Weil sie wollte, dass du endlich den Saustall in deinem Zimmer ausmistest?«

Nun waren es Emelies Wangen, die sich mit feiner Röte überzogen. »Ich habe halt im Moment nicht viel Zeit für so was.«

»Dann kümmere dich ein bisschen weniger um deine Tierschutzprojekte und dein Fridays-for-Future-Gedöns, und schon klappt das mit dem Aufräumen!« Reiner war unerbittlich.

»Ich find es gut, dass sich die junge Generation zu Wort meldet. Einer muss es ja tun. Bevor unsere schöne Welt vor die Hunde geht«, kam Theo Emelie zu Hilfe.

»Ich finde es nicht gut«, konterte Reiner, »dass meine Tochter dafür die Schule schwänzt.«

Gunter Haase legte sein Messer auf dem Teller ab. »Ich helfe dir gleich mit den Stiggel. Ein bisschen frische Odenwälder Landluft wird mir guttun. Bist du auch dabei, Bobbelsche?« Er wandte sich an Charlie.

»Also ich …« Charlie kam prompt ins Stocken. »Ich habe mir gedacht, dass ich bei dem schönen Wetter wandern gehe.«

»Du willst was?« Reiner stand die Verblüffung ins Gesicht geschrieben. In dem Jahr, in dem Charlie jetzt auf dem Atzeldoalhof lebte, hatte sie nicht einmal das Bedürfnis nach körperlicher Ertüchtigung gezeigt. Obwohl der Wanderweg zur Trommer Höhe direkt am Hof vorbeiführte.

»Ich werde meinen Rucksack schultern und ein paar Kilometer laufen«, verkündete Charlie großspurig. Dabei fragte sie sich im Stillen, ob ihre alten Wanderschuhe nicht vor ihrem Umzug im Müll gelandet waren.

»Das Wandern ist des Müllers Lust …«, trällerte Theo.

Gertie sammelte das Geschirr ein, um es in die Spülmaschine zu stellen. »Soll isch der en Broud med Kochkaas orre Worschd zureschd mache? Fer de Wäg doisch de Woald?«

Charlie verneinte durch Kopfschütteln. »Das ist lieb von dir«, erwiderte sie. »Aber ich habe ja gerade gefrühstückt.« Die nur halb aufgegessene Laugenbrezel hatte sie in der rechten Gesäßtasche ihrer Jeans verschwinden lassen.

»Gehst du allein?«, wollte Reiner wissen.

»Pass auf, dass du nicht dem bösen, bösen Wolf mitten im tiefen Tann begegnest!«, witzelte Gunter.

»Keine Sorge. Ich bin verabredet«, schwindelte Charlie. »Mit Tina. Wir wollen zusammen die Frühlingsluft genießen.«

Reiner kam auf die Beine und reckte sich. »Dann mal los!«, sagte er in Richtung seines Bruders.

Charlie stellte ihre Kaffeetasse in die Spülmaschine und polterte die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Als die Tür ins Schloss gefallen war, wählte sie die Nummer ihrer Freundin.

»Du musst mir unbedingt aus der Patsche helfen!«

3. Kapitel

Peter Steinmann schloss den Räucherofen, den er mit feinem Räuchermehl und frisch geschlachteten Regenbogenforellen bestückt hatte. Am Abend würde er den Räucherfisch mit einer Auswahl an Salaten zu einer Familienfeier nach Michelstadt bringen. Die Salate standen schon fertig im Kühlschrank, sie mussten vor der Auslieferung nur noch mit frischen Kräutern dekoriert werden. Als er sich die Hände im Außenwaschbecken wusch, trat seine Frau Tina an seine Seite. Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe.

»Ist was?«, wandte sich Peter Steinmann ihr zu.

»Spricht was dagegen, wenn ich bis drei, vier Uhr heute Nachmittag nicht hier bin?«

Peter trocknete sich die Hände an einem karierten Handtuch ab, das an einem Metallhaken neben dem Waschbecken hing. Er ließ seinen Blick über die Fischteiche schweifen, deren Oberflächen in der Frühlingssonne silbern glänzten. In den vom munter plätschernden Finkenbach gespeisten Wasserbecken tummelten sich Forellen, Saiblinge und Karpfen. Ein paar Teichhühner, die in den hinteren, für die Angelgäste nicht zugänglichen Uferbereichen ihre Nester angelegt hatten, zogen ihre Runden auf dem Wasser. In ein paar Wochen würden die ersten Küken schlüpfen. Eine Amsel machte mit dem typischen Reviergesang auf sich aufmerksam. Ansonsten war alles ruhig.

Peter Steinmann musterte seine Frau. Sie sah in den letzten Wochen blass und abgekämpft aus. Ihre braunen Mandelaugen, in die er sich als Erstes verliebt hatte, hatten ihren Glanz und ihren Optimismus verloren. Oft wirkte sie fahrig, war nicht wie früher hundertprozentig bei der Sache. Dabei ging die Saison für ihr Bistro und den erst im vergangenen Jahr eröffneten Wohnmobilstellplatzerst zu Ostern richtig los.

»Nein, kein Problem, wenn du dir ein paar Stunden freinimmst«, sagte er mit einem ermunternden Lächeln. »Ich komme schon allein klar.«

»Gut.« Tina Steinmann fischte ein Gummiband aus der Hosentasche hervor und fasste ihr schulterlanges dunkelblondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. »Ich bin mit Charlie verabredet.«

»Geht ihr shoppen?«

»Nein, wandern.«

Peter Steinmann stutzte. »Ihr beide?«

»Charlie hat mich gerade angerufen. Sie will unbedingt was für ihre Fitness tun. Und mir …«, Tina blickte auf ihre stämmigen Beine, »tut ein bisschen Bewegung auch gut.«

Peter schloss seine Frau in die Arme und gab ihr einen langen Kuss. »Zieh du mit Charlie los, und ich kümmere mich um die Fische. Und nach der Auslieferung des Fischbuffets machen wir uns einen gemütlichen Abend. Ich stell schon mal eine Flasche Sekt in den Kühlschrank.«

Tina verzog den Mund zu einem Lächeln, doch ihre Augen blieben ernst. »Ich freu mich darauf!«, behauptete sie. Sie schnappte sich ihre Jacke und ließ den Motor des Geländewagens an.

Von der 30-minütigen Fahrt über die Raubacher Höhe hinunter bis nach Wald-Michelbach und vom Kreisverkehr auf der Kreidacher Höhe bis nach Siedelsbrunn bekam Tina Steinmann kaum etwas mit. Sie war tief in Gedanken versunken. Das anonyme Schreiben, das vor drei Wochen im Bistro gelandet war, hatte sie völlig aus der Bahn geworfen. Sie hatte gehofft, dass sie mit ihrem fünfjährigen Aufenthalt in Australien, wo sie auf verschiedenen Ranches als Köchin gearbeitet hatte, alles hinter sich gelassen hätte. Mit der Vergangenheit abgeschlossen hätte. Der Brief bewies, dass dies nicht so war.

Tina, die wieder auf ihrer Unterlippe kaute, schmeckte Blut. Diejenigen, die sie damals mit dem Stoff versorgt hatten, hatten nichts vergessen. Oder vergeben. Sie würde für das, was sie getan hatte, bezahlen müssen. Tinas größte Sorge war, dass Peter davon erfahren würde. Er wusste nichts von diesem Lebensabschnitt, der so anders verlaufen war, als Tina es sich nach dem Abitur vorgestellt hatte.

Die kaufmännische Ausbildung, die sie auf Drängen ihrer Eltern absolviert hatte, war für sie ein Desaster gewesen. Tina war kein Zahlenmensch, hatte sich durch Mathe und Physik in der Schule stets durchgemogelt. In der Ausbildung war ihre Dyskalkulie mit aller Macht zutage gekommen. Ständig hatten ihre Vorgesetzten auf ihr herumgehackt, während sich ihre Kollegen über sie lustig machten. Um dem Druck standzuhalten, hatte Tina eine dumme wie gefährliche Entscheidung getroffen. Die letztendlich dazu geführt hatte, dass sie quasi über Nacht ihre Zelte im Odenwald abbrechen musste und auf den Kontinent geflüchtet war, der ihr damals am weitesten von ihrer Heimat entfernt vorkam. Bei ihrer Rückkehr hatte Tina nicht im Traum daran gedacht, dass die alten Geschichten bis in die Gegenwart überdauern würden. Der Brief hatte sie eines Besseren belehrt. Tina hatte nicht die geringste Ahnung, wie es weitergehen sollte. Doch nach außen musste sie, wenigstens fürs Erste, den Schein wahren. So tun, als ob alles bestens wäre.

Als Tina den alten Subaru vom Atzeldoalhof auf dem Wanderparkplatz unterhalb des buddhistischen Klosters »Buddhas Weg« erblickte, ließ sie von der malträtierten Unterlippe ab und setzte ein Lächeln auf. Vielleicht würde es Charlie schaffen, sie für ein paar Stunden auf andere Gedanken zu bringen. Tina brachte ihren Geländewagen neben dem Subaru zum Stehen.

Charlie umarmte die Freundin aus Schultagen stürmisch. Sie hatte sie nach ihrer Rückkehr in den Odenwald vor einem Jahr wiedergetroffen und wäre beinahe in die Wohnung der Patentante von Tinas Mann Peter eingezogen. Doch dann hatte Charlie sich entschieden, auf dem Atzeldoalhof zu bleiben. Mit Tina traf sie sich seither regelmäßig. »Danke, dass du gekommen bist! Ohne dich würde ich bestimmt wieder kneifen.«

Tina warf einen Blick auf Charlies blauen Rucksack, an dem außen eine Wasserflasche befestigt war. »Du meinst das wirklich ernst?«

Charlie steckte sich eine Strähne ihres rotblonden Haars hinter das rechte Ohr. »Nach der Passform meiner Klamotten zu urteilen, habe ich nur die Wahl: entweder ab sofort Nulldiät oder mehr Bewegung, um die Kalorien abzuarbeiten.«

Tina musterte Charlies adrett in der Jeans sitzenden Po und verglich ihn insgeheim mit ihrer Hinterpartie. »Na, deine Probleme möcht ich haben!«

Charlie seufzte. »Ich kann Gertie doch nicht dauernd brüskieren! Die ist vorhin schon aus allen Wolken gefallen, als ich nach Knäckebrot gefragt habe. Aber wenn sie mich weiter so mästet, muss ich mir demnächst eine komplett neue Garderobe zulegen. Dazu habe ich weder das Geld noch die Zeit. Und außerdem hasse ich es, halb nackt in diesen engen Umkleidekabinen zu stehen, wo dauernd eine übereifrige Verkäuferin den Vorhang aufreißt.«

Tina grinste. »Versuch’s doch mal mit Zalando!«

Charlie schnaubte. »Um das Gelieferte vor der versammelten Herrenriege des Atzeldoalhofes zur Schau zu stellen? Never ever!«

»Tja«, Tina zuckte mit den Schultern. »Dann müssen wir uns wohl auf die Socken machen. Ich hatte insgeheim gehofft, dass ich dich dazu überreden könnte, es uns im Teehaus bei leckerem Cappuccino und Kuchen gutgehen zu lassen.«

Charlie blickte hinauf zum Gebäudekomplex der vormaligen Fachklinik am Hardberg, die Anfang 2010 von einer buddhistischen Klostergemeinschaft übernommen worden war. Die ehemaligen Klinikzimmer beherbergten seitdem nicht nur die Klostergemeinschaft aus Mönchen und Nonnen, sondern auch Gäste, die die im Seminarhaus angebotenen Workshops und Kurse besuchten. Das frühere Schwimmbad war zum Teehaus umgebaut worden. Charlie kam sichtlich ins Schwanken. »Ich war noch nie dort.«

»Der selbst gebackene Kuchen ist eine Wucht«, erwiderte Tina. Dann runzelte sie die Stirn. »Ich glaub aber, dass sie erst nachmittags aufmachen. Für die Teestube sind wir zu früh dran.«

»Schade.« Charlie schulterte ihren Rucksack.

»Ja.« Tina schaute sehnsüchtig zum Kloster hinauf. »Ein bisschen was im Magen würde mir guttun. Ich bin heute gar nicht dazu gekommen, etwas zu frühstücken. Erst habe ich Peter beim Schlachten geholfen und dann kam dein Anruf.«

»Oh Mann, das tut mir leid.« Charlie war aufrichtig zerknirscht. »Außer dem Wasser und einer Packung Kaugummi habe ich nichts eingepackt.« Plötzlich hellte sich ihr Gesichtsausdruck auf. »Hey, der Kiosk am Sportplatz hat bestimmt geöffnet! Von hier aus sind es nur ein paar Schritte.«

»Ja, aber dort hat es vor ein paar Wochen gebrannt. Stand in der Zeitung. Ein defektes Kabel hat hohen Sachschaden verursacht.«

»Das ist jetzt echt blöd.« Charlie zog einen Flunsch. »Ich möchte nicht schuld sein, dass du mir am Berg wegen Unterzuckerung aus den Latschen kippst.«

»Ach was, ich komme schon klar. Ist Intervallfasten nicht eh total angesagt?«

»Wie du meinst.« Charlie setzte sich in Bewegung.

Tina hastete hinter der Freundin her. Dann stoppte sie abrupt. »Warte mal! Mir ist gerade eingefallen, dass für die Zeit der Renovierungsarbeiten am Kiosk ein Imbisswagen aufgestellt wurde. Lass uns schauen, ob wir dort wenigstens ein paar Müsliriegel bekommen!«

»Was darf es denn sein, meine Damen?« Der Mann hinter der Verkaufstheke des Imbisswagens schenkte den beiden Freundinnen ein strahlendes Lächeln.

»Haben Sie Müsliriegel?« Charlie musterte die herzhaft-deftigen Auslagen der Kühltheke und die Bierschankanlage.

Das Lächeln des Mannes wurde noch eine Spur breiter, wodurch sich an den Mundwinkeln Grübchen bildeten. »Stehen Sie mehr auf gesundes Körnerfutter oder darf es was Leckeres sein? Ich habe Riegel mit Kokosflocken, Schoko-Trüffelkern und weißen Schokotropfen. Die schmelzen Ihnen auf der Zunge. Ein Gedicht!«

»Vier Stück davon«, sagte Tina wie aus der Pistole geschossen.

Charlie seufzte innerlich, blieb aber standhaft. »Ich hätte gern eine Packung Studentenfutter.«

Der Mann, dem Charlies Rucksack nicht entgangen war, nickte. »Eine gute Wahl für unterwegs. Die Trockenfrüchte und Nüsse verschaffen Ihnen den notwendigen Energieschub, ohne zu belasten.«

Charlie nahm die Packung entgegen und verstaute sie im Rucksack.

»Darf ich Ihnen sonst noch zu Diensten sein?«, fragte der Betreiber des Imbisswagens. Mit der Hand strich er sich den dunkelbraunen Pony zurück, der ihm immer wieder in die Augen fiel. Für einen Mann seines Alters hatte er erstaunlich volles Haar, dachte Charlie.

»Ich weiß nicht …« Tina kämpfte gegen ihren inneren Schweinehund.

Was dem Mann hinter der Verkaufstheke nicht entging. »Warum setzen Sie sich nicht an einen der Tische? Die Sonne scheint heute so herrlich! Ich bringe ihnen in Nullkommanichts eine Tasse Kaffee und eine meiner Spezialitäten: mit knusprigem Frühstücksspeck umhülltes Rührei. Die Eier dafür kommen von den glücklichen Hühnern meiner Nachbarin. Fleisch kaufe ich nur in Bioqualität. Und die Wildkräuter zum Würzen habe ich heute früh auf dem Weg hierher frisch gepflückt.«

Auf Tinas Gesicht machte sich ein verträumtes Lächeln breit.

Auch Charlie fand, dass die blau lackierten Bistrotische und -stühle sehr einladend aussahen. Die Keramiktöpfchen mit Lavendelpflanzen und die kleinen Windlichter versprühten französischen Charme. »Okay, dann zweimal glückliches Rührei vom Hardberg«, willigte Charlie ein.

»Kommt sofort!«, versicherte ihnen der Mann mit der großen, ein wenig altmodisch anmutenden Brille.

»Sie haben außer Butter noch frische Sahne an die Eier getan, nicht wahr?«, fragte Tina, als der Mann ihre blitzblank leer geputzten Teller abräumte.

»Ertappt!« Der Imbissbetreiber versuchte, eine schuldbewusste Miene aufzusetzen. Was ihm kläglich misslang.

»Nein, verstehen Sie mich bitte nicht falsch!«, rief Tina aus. »Ich wollte damit sagen, dass ich ein so perfektes Rührei lange nicht mehr gegessen habe. Die meisten rühren H-Milch oder, noch schlimmer, Kondensmilch unter die Eier.«

Der Mann legte seine rechte Hand auf die Brust. »So ein Gemansche gibt es bei mir nicht. Ich koche ehrlich. Mit frischen und natürlichen Zutaten.«

Charlies Gesichtsausdruck spiegelte Verwunderung wider. »Ich hätte nicht damit gerechnet, dass es in einem provisorischen Imbisswagen so etwas Gutes zu essen gibt.«

»Mit dem Rührei können Sie sich für einen Stern im Guide Michelin bewerben«, stimmte Tina ihr zu.

»Ach nein.« Der Mann wirkte verlegen.

»Also wenn ich Testesser für einen Gourmetführer wäre – meine Empfehlung hätten Sie.« Tina strahlte den Imbissbetreiber an.

»Das ist nett.«

»Nein, ehrlich«, widersprach ihm Tina. »Sie sollten Ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen.«

»Darf ich?« Der Mann zog mit der linken Hand einen weiteren Stuhl an den Tisch.

Charlie fiel auf, dass das oberste Glied seines Zeigefingers fehlte. »Ein Unfall?«, fragte sie mitfühlend.

»Berufsunfall«, erwiderte der Mann mit einem schiefen Grinsen. »Nach einer langen Nacht mit den Kumpels sollte man nicht mit einem rattenscharfen Santokumesser hantieren. Auch nicht als Koch.«

»Tut mir leid«, sagte Charlie.

»Ach was, ich komm gut ohne das fehlende Stück Finger klar«, sagte der Mann. »Aber ich passe jetzt besser auf.«

»Das ist gut.« Tina nickte. »Es wäre jammerschade, wenn Sie nicht mehr kochen könnten. Wie lange werden Sie mit Ihrem Imbisswagen noch hier sein?«

»Der Kiosk soll zum Beginn der Sommerferien wieder in Betrieb gehen. Vielleicht finde ich ja in der Nähe ein schönes Plätzchen, wo ich meine mobile Küche aufstellen und Sie kulinarisch verwöhnen darf.« Der Mann zwinkerte Tina zu.

»Ich hätte nichts dagegen.«

»Bevor mein Vertrag ausläuft, sollten Sie noch mal kommen und meine Wildschweinterrine kosten.«

»Das werde ich«, versprach Tina.

»Wie wäre es nächste Woche? Mögen Sie Trüffel?«

»Hm, ich liebe Trüffel.« Tina fuhr sich mit der Zungenspitze über die Oberlippe.

Der Imbissbetreiber beugte sich zu Tina hinüber. »Für Sie rühre ich extra viel Trüffel unter.«

»So ein verlockendes Angebot kann ich kaum ausschlagen.«

»Das sollten Sie auch nicht.«

»Mal sehen, was sich machen lässt.« Tina klimperte mit den Wimpern.

Charlie griff demonstrativ nach ihrem Rucksack. Sie hatte genug von dem Spektakel, das Tina und der Imbissbetreiber gerade abzogen. Die beiden flirteten hemmungslos miteinander. So kannte Charlie ihre Freundin gar nicht! Vielleicht lag es an dem Kellerbier, das sich Tina anstelle des Kaffees zum Rührei bestellt hatte. Der Alkohol war ihr zur frühen Stunde in den Kopf gestiegen.

»Ich hätte gern noch einen Kaffee«, sagte Charlie mit Nachdruck.

»Natürlich, natürlich.« Der Mann stand widerwillig auf und ging mit den Tellern in Richtung des Imbisswagens.

»Alles in Ordnung?«, fragte Charlie ihre Freundin.

»Ja, mir geht es bestens!« Tina unterdrückte ein Rülpsen.

Als der Imbissbetreiber mit dem Kaffee zurück an den Tisch kam, gab Charlie die Tasse an ihre Freundin weiter. »Ich glaube, den kannst du jetzt gebrauchen. Ich bezahle.«

4. Kapitel

Zehn Minuten später stapften die beiden Frauen an der Minigolfanlage und an der Grillhütte vorbei den Abhang hoch. Oberhalb des Spielplatzes kamen sie schnaufend zum Stehen.

»Himmel!« Tina beugte sich vornüber, weil Seitenstechen sie zwickte. »Seit wann sind die Berge im Odenwald so hoch?«

»Wir sind noch nicht oben«, sagte Charlie schnaufend und warf einen Blick auf den rot-weiß lackierten Turm des Senders, der sich auf dem Bergrücken des knapp 600 Meter hohen Hardbergs gegen den blauen Frühlingshimmel abzeichnete.

»Wo ist eigentlich der Hund?«, wunderte sich Tina. Normalerweise war Rauhaardackel Willy bei Ausflügen stets an Charlies Seite.

»Der liegt wahrscheinlich auf Emelies Bett und schläft den Schlaf der Gerechten«, erwiderte Charlie.

»Würde mir auch gefallen«, brummte Tina.

Charlie beäugte die Weggabelung, die vor ihnen lag, und runzelte die Stirn. »Um nach Lichtenklingen zu kommen, können wir, wie geplant, den Wallfahrtsweg entlanglaufen. Der führt uns über die Stiefelhöhe als Rundwanderweg nach etwa zwölf Kilometern wieder zum Parkplatz zurück.«

»Zwölf Kilometer?« Tina verdrehte die Augen.

»Oder wir nehmen die Abkürzung, die oberhalb von Siedelsbrunn, an der ehemaligen Skipiste vorbei, parallel zum Eiterbachtal hinunterführt. Dann sind wir in einer guten halben Stunde an der Kapellenruine.«

»Hört sich viel besser an!« Tina nickte zustimmend. »Aber sag mal! Warum willst du unbedingt nach Lichten­klingen? Warum drehen wir nicht einfach eine Runde um das Kloster und sehen uns den Skulpturengarten an?«

»Ich habe Gertie versprochen, etwas von dem Lichten­klinger Brunnenwasser mitzubringen«, gestand Charlie. »Sie hat noch immer Schmerzen im Arm. Den hat sie sich doch im Herbst beim Apfelpflücken gebrochen. Der Legende nach soll das Wasser heilende Wirkung haben.«

»Also gut, packen wir’s!« Tina atmete tief durch. »Wo geht’s lang?«

Charlie schaute auf ihr Handy, wo sie Google Maps aktiviert hatte. »Hier über die Kuppe und dann schräg nach unten.«

Da der Weg stetig bergab führte, kamen sie zügig voran. Bis auf einen grün lackierten Renault Kangoo mit der weißen Aufschrift OdenwaldForst, der ihnen vom Tal aus entgegenkam, waren sie allein im Wald. Doch sie hatten keine Angst. Die Vögel zwitscherten und die Sonne wärmte ihnen den Rücken. Ein verblasstes Holzschild an einer Buche und ein grünes Infoschild an der letzten Abzweigung wiesen ihnen den Weg.

»Ich glaub, ich war seit unserem Schulausflug in der Grundschule nicht mehr hier«, meinte Tina, als die Mauerreste der einstigen Kapelle Lichtenklingen vor ihnen auftauchten.

»Ich kann mich nur daran erinnern, dass wir unten auf der Wiese am Parkplatz Bockwürstchen am Stock gegrillt haben«, musste Charlie eingestehen. »Und dass Benjamin mit der dicken Hornbrille hinterher in den Bach gekotzt hat, weil er zu viele Würstchen verdrückt hatte. Seitdem ist mir der Eiterbach noch weniger sympathisch.«

Tina schritt die flachen Stufen hinab, die zu der in Sandstein gefassten, mit einem Lauftrog versehenen Quelle führten. »Wenn ich mich recht entsinne, hat der Name des Baches nichts mit Eiter im eigentlichen Sinn zu tun. Geht er nicht auf keltische Wurzeln zurück?«

»Keine Ahnung.« Charlie ließ den Rucksack von den Schultern gleiten. Sie beugte sich hinunter zum Wasserstrahl, der aus einem in einer Sandsteinsäule verankerten Hahn in den Trog plätscherte. Die von Moos und Flechten besetzte Säule zierte oben ein Pinienzapfen, unterhalb waren Blütenblätter und Rosetten in den Stein gemeißelt. Das Wasser schmeckte kalt und klar.

Tina ließ ihren Blick über das sanft abfallende Tal gleiten, das im ersten Frühlingsgrün erstrahlte. Ein Bussard zog am wolkenlosen Himmel seine Runden. »Alles wirkt so friedlich hier.«

»Na, ich weiß nicht.« Charlie holte die mitgebrachten leeren Plastikflaschen aus dem Rucksack hervor und füllte sie mit Quellwasser. »Die leer stehende Försterei und die Kapellenruine haben schon eine eigene Stimmung.«

»Hast du etwa Angst vor der geheimnisvollen weißen Frau, die hier nachts spuken soll?«, neckte Tina sie.

Charlie machte einen Satz zur Seite, weil eine Waldameise ihr über den Handrücken krabbelte. Die Wasserflasche, die sie in der Hand hielt, schwappte über und ein Teil des Wassers ergoss sich auf Charlies Hose. »Mist!«, fluchte sie und starrte auf ihr feuchtes Hosenbein. »Die Frau in Weiß lässt mich kalt, aber diese Viecher hier im Wald nicht. Die können ganz gemein stechen!«

»Beißen«, korrigierte Tina. »Waldameisen beißen.«

»Klugscheißerin!«, brummte Charlie und verstaute die Wasserflaschen im Rucksack.

»Wollen wir uns die Ruine anschauen?«, schlug Tina vor.

»Wenn wir eh schon hier sind«, erwiderte Charlie mit wenig Begeisterung in der Stimme.

Sie folgte der Freundin, die hinter dem alten Forsthaus an der grau verputzten Hauswand in Richtung der Kapelle lief. Die Mauerreste des vermutlich im 11. Jahrhundert erbauten und nach der Reformation dem Verfall preisgegebenen Marienheiligtums waren dank der Renovierungsarbeiten im frühen 20. Jahrhundert gut erhalten. Der einschiffige rechteckige Sakralbau, der quadratische Chor und die Sakristei ließen erahnen, wie sich die Kapelle vor vielen, vielen Jahren den Gläubigen präsentiert hatte. Von einem mit einem Holzrahmen eingefassten, im Laufe der Jahre verblassten Farbdruck lächelte das Antlitz der Muttergottes auf die beiden Frauen hinunter. An der hoch aufragenden Außenwand des Altarraums hing eine schmale hölzerne Marienfigur. Besucher hatten Kerzen, Windlichter, Engelsfiguren, hübsch geformte Steine und andere Devotionalien in der Fensternische des Altarraums hinterlassen. Der rechteckige Altarstein war mit frischem Birken- und Haselgrün sowie Fichtenzapfen geschmückt. In einem großen Weckglas, das als Vase diente, befand sich ein Blumenarrangement aus weißen Tulpen, Ranunkeln und Schleierkraut. Eine große weiße Blockkerze thronte daneben, war aber in der milden Frühlingsbrise erloschen. Der Fuß des Altarsteins war in weißem Baumwollmusselin eingeschlagen, die Stoffenden waren zu einer Schleife geformt. Weiße Rosenblüten lagen wie große Schneeflocken um den Altarstein verstreut.

Erst jetzt bemerkte Charlie die weißen Fähnchen, die von den herunterhängenden Ästen der an die Kapellenruine angrenzenden Kiefern und Buchen flatterten. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft.

»Riechst du das auch?«, wollte Charlie von ihrer Freundin wissen und hielt die Stupsnase in die Höhe.

Tina schnupperte. »Riecht für mich nach Weihrauch. Und vielleicht nach Myrrhe und Sandelholz. So ein archaischer Geruch.«

»Werden hier noch Gottesdienste abgehalten?«, wunderte sich Charlie.

»Offiziell nicht«, erwiderte Tina. »Es gibt nur die Muttergottes-Wallfahrt im August, zu der Gläubige von Siedelsbrunn aus hierherpilgern.«

»Bisschen früh dafür«, meinte Charlie.

Tina zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich nutzen viele die Kapelle, um ein kurzes Gebet zu sprechen oder um Maria um einen Gefallen zu bitten.«

»Bitte, bitte auf der Stelle zehn Kilo weniger auf der Waage!« Das konnte sich Charlie nicht verkneifen.

»Um solche profanen Wünsche kümmert sich Maria nicht«, behauptete Tina.

Charlie ließ nochmals den Blick über den Altarraum schweifen. Obwohl die Blumen, das viele Schnittgrün, die Kerze und die Fähnchen eine friedliche Stimmung hätten erzeugen sollen, war ihr doch unwohl. Im Wald krächzte ein Kolkrabe. Charlie zuckte zusammen. Kündigte der Vogel weitere Besucher oder Wanderer an? Oder war es eine Warnung? Charlie rückte den mit den schweren Flaschen gefüllten Rucksack in eine bequemere Position und rieb sich die Unterarme, die mit Gänsehaut überzogen waren. »Komm, lass uns gehen!«, bat sie.

Die beiden Freundinnen schritten am Altarstein vorbei und traten durch die Maueröffnung. Zuerst erblickten sie nur ein Paar nackte Füße mit blutrot lackierten Zehennägeln, die hinter dem Mauerrest hervorlugten. Dann sahen sie die ganze Frau, die lang ausgestreckt in der ehemaligen Sakristei lag.

»Hallo!«, sagte Charlie leise und kam sich sofort ziemlich dämlich vor.