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Ein (Mords-)Genuss für alle Campingfans. Auf einem Campingplatz mit Seeblick will Privatermittler Henrik Richtersen die Idylle genießen, doch die wird jäh zerstört, als er beim Angeln die abgetrennte Hand eines Event-Gastronomen an Land zieht. Kurz darauf wird ein Teilnehmer eines Camping-Dinners erstochen aufgefunden. Hat es hier jemand gezielt auf Feinschmecker abgesehen? Henrik begibt sich gemeinsam mit Freundin Kathrin Schäfer, die aus ihrem geliebten Oldtimer-Wohnmobil noch einmal alles herausholt, auf einen rasanten Roadtrip – denn es gilt, ein dreißig Jahre altes Geheimnis zu lüften.
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Heike Kügler-Anger (oder H. K. Anger) verbrachte sämtliche Familienurlaube im elterlichen Wohnwagen und konnte während des Lehramtsstudiums auch ihren heutigen Ehemann für Campingreisen begeistern. Die reisefreie Zeit verbringt sie in ihrer Wahlheimat, dem hessischen Odenwald, wo sie Kochbücher und Krimis schreibt.
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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2022 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung eines Motivs von istockphoto.com/invincible_bulldog
Lektorat: Dr. Marion Heister
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-906-8
Camping Krimi
Originalausgabe
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»So meine Herren, für euch ist hier Endstation.« Henrik Richtersen positionierte sich breitbeinig vor der Wohnwagentür und versperrte dem diebischen Trio den Weg. Einer der jungen Männer zuckte schuldbewusst zusammen. Der zweite legte die teure Systemkamera, die er gerade in einen Rucksack hatte stecken wollen, zurück auf den Tisch. Dort stand bereits ein luxuriöser Kaffeevollautomat, der ebenfalls hatte verhökert werden sollen. Der dritte Jüngling, dessen strähniges blondes Haar ihm bis über die Schultern fiel, schien unverfrorener als seine Kumpane, denn er ging, ohne zu zögern, auf Konfrontationskurs.
»Du hast uns überhaupt nichts zu sagen, Alter.«
»Das mag schon sein«, räumte Henrik ein. »Ihr werdet euch gleich mit der Polizei und danach mit euren Eltern auseinandersetzen müssen. Die werden euch dann sagen, wie es weitergeht. Ich bin lediglich von den Campingplatzbetreibern beauftragt worden, die Diebstähle zum Stoppen zu bringen. Und das habe ich, wie ich glaube, hiermit getan.«
»Was bist du für einer, dass du dich hier so aufspielst?« Der Langhaarige war weit davon entfernt, freiwillig aufzugeben.
Henrik schob den rechten Fuß ein wenig vor, beugte die Knie und machte sich für den Fall, dass der Jüngling den Versuch unternehmen sollte, auszubüxen, zum Sprung bereit. Sein Gesichtsausdruck blieb dabei freundlich und gelassen, er gab vor, die Ruhe selbst zu sein.
»Mein Name ist Henrik Richtersen, und ich bin Privatermittler. Eins meiner Spezialgebiete ist das Aufdecken von Eigentumsdelikten.«
»Scheiße«, murmelte der zweite Teenager.
»Ich hab doch schon letzte Woche gesagt, dass wir nicht mehr hierherkommen sollen. Dass wir uns besser ein anderes Zielgebiet suchen. Zu oft an einem Ort, das ist nicht gut, das fällt auf«, jammerte der Jüngste des Dreiergespanns.
»Mach dir nicht in die Hosen«, herrschte ihn der Langhaarige an. »Der Typ kann uns nichts, das ist kein Offizieller von der Polizei.«
»Nein, aber ich habe die Polizei informiert. Die Beamten werden in wenigen Minuten hier sein«, konterte Henrik.
»Mein Vater bringt mich um«, stöhnte der Jüngste, dem alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war.
»Pah, die können mir gar nichts nachweisen.« Der Langhaarige spielte noch immer den Toughen. »Die Wohnwagentür war offen, und ich bin nur rein, um mich ein bisschen umzuschauen. Ich habe den Kram«, er wies mit dem Kinn auf die Elektrogeräte, »nicht einmal angepackt. Die werden keine Fingerabdrücke von mir finden.«
»Hier vielleicht nicht, aber in den anderen Wohnwagen. Und in dem Wohnmobil, das direkt am See steht«, schoss der zweite Teenager zurück. »Du steckst genauso wie wir mit drin.«
Der Langhaarige hob abwehrend die Hände. »Was zu beweisen wäre. War ich etwa derjenige, der sich in die Software für das Schrankensystem eingehackt und den Code kopiert hat? Nee, das war der Andy.« Er schaute Henrik vielsagend an. »Den müssen Sie sich schnappen. Ich bin unschuldig. Ehrlich.«
»Das war doch alles deine Idee«, verteidigte sich der Jüngste. »Ich habe nur ein bisschen auf dem Computer rumgespielt und später geholfen, die Klamotten wegzutragen. Die der Lucas dann bei eBay vertickt hat. Ich lasse mir nichts anhängen, was ich nicht getan habe. So läuft das nicht bei mir.«
Henrik musste trotz seiner Erschöpfung grinsen. Mit der Solidarität schien es bei dem Trio inzwischen nicht mehr weit her zu sein. Seine Kollegen von der Polizei würden keine Mühe haben, die drei zu einem umfassenden Geständnis zu bewegen. Und der Jugendrichter würde sicherlich seine Freude daran haben, ihnen eine angemessene Strafe aufzubrummen. Henrik sah aus den Augenwinkeln, wie sich zwei Fahrzeuge mit Blaulicht näherten. Aus Rücksichtnahme auf die zum größten Teil noch schlafenden Campinggäste hatten sie die Sirenen nicht eingeschaltet und fuhren nur im Schritttempo.
»Wenn ich an eurer Stelle wäre«, sagte Henrik, »würde ich jetzt nichts Unüberlegtes tun. Sonst habt ihr zusätzlich noch ein Verfahren wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt an der Backe. Damit wandert ihr locker für mehrere Jahre in die Jugendstrafanstalt.«
Die drei Teenager ließen sich ohne Gegenwehr abführen. Dem Jüngsten kullerten Tränen die mit Aknepickelchen überzogenen Wangen hinunter. Henrik hoffte, dass er es schaffte, sich zu fangen, dass er nicht komplett auf die schiefe Bahn geriet. Doch das lag außerhalb seiner Verantwortlichkeit. Er musste nur noch den notwendigen Papierkram abarbeiten, dann hätte er seinen Auftrag erledigt und könnte sich ein paar Tage Freizeit gönnen. Bevor er nach Hamburg zurückkehren würde, um in seiner spartanisch eingerichteten Zwei-Zimmer-Wohnung ein bisschen klar Schiff zu machen und sich für neue Projekte zu rüsten. Außerdem hatte er seinem Freund Carsten Heinemann versprochen, dessen nagelneues Wohnmobil zu begutachten und ihm ein paar Insidertipps zu geben.
Carsten hatte sich mit dem Eintritt in die Rente einen Jugendtraum erfüllt, war aber, was Camping und Campingfahrzeuge betraf, blutiger Anfänger. Henrik war in der Hinsicht ein alter Hase. Er war schon seit zwei Jahrzehnten mit verschiedenen Kastenwagen, die er als rollendes Ermittlungsbüro nutzte, unterwegs, zog damit von Ort zu Ort und arbeitete nicht nur in Deutschland, sondern in fast ganz Europa. Inzwischen konnte er sich kein anderes Leben mehr vorstellen, er liebte die Abwechslung und die täglich neuen Herausforderungen, die sein Dauerroadtrip mit sich brachte.
Er schloss behutsam die Wohnwagentür, verließ die Parzelle und eilte hinunter zum Werratalsee. Die Sonne war vor wenigen Minuten aufgegangen. Über der Wasseroberfläche lag ein dünner Nebelschleier, der dem See etwas Mystisches verlieh. Das Wasser an dem mit feinem weißen Sand versehenen Badestrand war glasklar. Rechts und links davon erstreckte sich ein ausgedehnter Schilfgürtel. Ein Wasservogel gab einen kurzen krächzenden Warnschrei von sich.
Ein Geräusch, das sich anhörte, als ob etwas aus der Tiefe des Sees an die Oberfläche schnellte, ließ Henrik zusammenschrecken. Er glaubte fast, den langen gebogenen Hals und den schmalen Reptilienkopf von Nessie, dem Ungeheuer von Loch Ness, ausmachen zu können. Nessie auf Urlaub im Werratalsee? Henrik schüttelte den Kopf, um das Trugbild loszuwerden. Die zehn durchwachten Nächte hatten dazu geführt, dass er jetzt kurz davorstand, Gespenster zu sehen, zu halluzinieren. Statt Nessie war wahrscheinlich nur einer der großen Spiegelkarpfen, die im See heimisch waren, aufgetaucht.
So geht es nicht weiter, dachte Henrik. Er brauchte dringend eine Mütze Schlaf. Und danach eine heiße Dusche und ein ordentliches Frühstück. Aber eins nach dem anderen. Henrik wandte sich vom Wasser ab und wäre um ein Haar mit Kathrin Schäfer zusammengestoßen.
»Ich habe mir gedacht, dass ich dich hier finde«, sagte sie mit einem Lächeln.
»Warum bist du so früh auf?«, wunderte sich Henrik.
»Mir geht noch immer so viel durch den Kopf«, gestand Kathrin. »Da hapert es ab und an mit dem Schlaf. Und dann habe ich die Polizeiautos bemerkt.«
»Kein Grund zur Aufregung. Alles erledigt. Der Code für die Eingangsschranke ist abgeändert, das Computersystem wurde besser gegen Eindringlinge von außen geschützt und ein Wachdienst engagiert. Krieche du wieder in den Alkoven von Töfftöff und versuche, noch ein bisschen zur Ruhe zu kommen. Du hast es nötig.«
Henrik musterte Kathrin besorgt. Er war selbst Zeuge gewesen, wie sie im letzten Jahr durch die Hölle gegangen war. Auf der Suche nach ihrem verschollenen Mann Peter hatte sie sich auf einen Roadtrip eingelassen, der sie fast das Leben gekostet hätte. Außerdem hatte sie damit fertigwerden müssen, dass die Menschen, denen sie am meisten vertraut hatte, ihr gnadenlos in den Rücken gefallen waren. Als Folge dessen hatte sie ihren Alltag neu ordnen müssen, hatte sich von ihrem Haus getrennt und die quälerische Vergangenheit hinter sich gelassen.
Die einzige Konstante, die ihr geblieben war, war ihr heiß geliebtes Oldtimer-Wohnmobil Töfftöff. Das hatte sie trotz der schmerzhaften Erinnerungen nicht aufgeben können. Eine Entscheidung, die Henrik begrüßte, denn so trafen sie sich immer mal wieder auf einem Wohnmobilstellplatz oder einem Campingplatz oder einem schönen Fleckchen mitten in der Natur – obwohl ihre erste Begegnung in Rotenburg an der Fulda unter keinem guten Stern gestanden hatte und Henrik sogar zeitweise vermutet hatte, dass Kathrin nicht so unschuldig war, wie sie vorgab. Doch letztendlich hatte sich alles aufgeklärt, und sie hatten miteinander Frieden geschlossen, waren Freunde geworden.
»Husch, husch! Zurück ins Bett!«, drängte er.
Kathrin reckte sich. »Ach, ich weiß nicht. Der Morgen ist so herrlich. Schau mal, wie der Nebel sich lichtet. Wir bekommen heute bestimmt wieder Badewetter.«
»Es wird noch ein paar Stunden dauern, bis es richtig warm ist. Wir können gegen Mittag ja mit Finn schwimmen gehen. Ich nehme mal an, er schläft noch?« Henrik wusste, dass Kathrins Stiefsohn nicht der geborene Frühaufsteher war.
»Wie ein Murmeltier«, bestätigte Kathrin. »Aber ich glaube, er wäre sofort wach, wenn …« Sie warf ihm einen verschmitzten Blick zu.
Henrik schwante Böses. »Wenn?«
»Wenn du endlich dein Versprechen einlösen würdest.«
»Welches Versprechen?« Henrik sah sein eigenes Bett und das wohlverdiente Frühstück mit einem Mal in weite Ferne rücken.
»Du hast Finn dein Wort gegeben, dass du mit ihm auf dem See angeln gehst.«
»Aber doch nicht heute«, protestierte Henrik.
»Warum nicht? Heute ist ein schöner Tag, und für morgen haben sie Gewitter mit Starkregen und Sturm vorhergesagt. Da ist es auf dem Wasser zu gefährlich.«
Henrik wand sich innerlich wie ein Aal, der aus einer Reuse zu entfliehen versucht. »Zum Fischen ist es viel zu früh.«
»Morgens beißen die Fische am besten«, behauptete Kathrin.
»Das mag sein. Doch ich habe weder ein Boot noch eine Angelausrüstung.« Henrik ging davon aus, dass es ihm mit diesem Argument gelungen war, dem unliebsamen Angelspuk ein Ende zu bereiten.
»Bernd stellt dir sicherlich gern seine Ausrüstung zur Verfügung. Ihm ist Finn richtig ans Herz gewachsen.«
»Ich dachte, Bernd und Nicole wären mit ihrem Wohnwagen in Italien. Seit ich hier bin, habe ich sie kein einziges Mal gesehen.«
»Sie sind gestern am frühen Abend aus der Toskana zurückgekehrt. Du hast es nicht mitbekommen, weil du auf der anderen Seite des Platzes auf der Lauer lagst. Ich habe schon ein Gläschen Prosecco mit ihnen getrunken. Und ich weiß, dass Bernd morgens immer früh auf den Beinen ist. Vor allem im Sommer.«
»Der muss sich die Nächte auch nicht mit der Suche nach einer Diebesbande um die Ohren schlagen«, grummelte Henrik. Der Mann von Kathrins bester Freundin war als Freelancer in der Werbebranche tätig.
»Finn würde sich so freuen. Und ich fände es auch toll, heute Abend frischen Fisch zu essen«, bettelte Kathrin.
»Okay«, gab sich Henrik geschlagen. »Ich gehe nur eine kurze Gassirunde mit Leo und komme dann zu dir rüber.«
»Ich passe auf Leo auf, wenn ihr auf Angeltour seid«, bot Kathrin an. »Ich habe gestern einen ganzen Ring Fleischwurst gekauft. Leos Lieblingssorte. Bis gleich.«
Henrik blieb noch zwei, drei Minuten stehen und dachte wehmütig an sein kuscheliges Bett im Kastenwagen, in dem es sich in der vergangenen Nacht wieder einmal nur sein Beagle gemütlich gemacht hatte.
»So ein Schlamassel«, stöhnte er.
Er hoffte inständig, dass sich die Fische im Werratalsee unkooperativ verhalten würden und ihm die unschöne Angelegenheit, sie vom Angelhaken zu befreien, erspart bliebe.
»Zuerst müssen wir sie anfüttern«, sagte Bernd Kiefer und öffnete eine Dose Gemüsemais.
»Sind die Fische Vegetarier?« Finn beäugte die Körner kritisch.
»Nein, aber sie reagieren auf das Gelb«, antwortete Bernd. »Die richtigen Leckerli für sie sind hier drin.« Er zog einen mit winzigen Löchern durchsetzten Deckel von einem runden Kunststoffbehälter.
Henrik warf einen einzigen Blick auf den Inhalt und wandte sich angeekelt ab. Er war froh, außer Kaffee noch nichts im Magen zu haben.
»Ui, Mädels«, rief Finn begeistert.
»Schön wär’s«, brummte Henrik, während er demonstrativ auf die Wasseroberfläche starrte.
»Maden«, verbesserte Bernd den Jungen.
Finn hatte in dem Jahr, seit seinen kriminellen Eltern das Sorgerecht entzogen worden war und er bei seinen Großeltern in Südschweden lebte und den Großteil der Ferien bei Kathrin in Deutschland verbrachte, beachtliche schulische Fortschritte gemacht und sprach inzwischen recht gut Deutsch. Nur wenn er nervös oder abgelenkt war, schlichen sich Fehler ein. Die blassrosa, sich kringelnden und windenden Tierchen brachten ihn ganz aus dem Häuschen, machten ihn noch aufgekratzter, als er eh schon war. Er scheute sich auch nicht, den Zeigefinger in die Dose zu stecken, und beobachtete interessiert, wie eine Made es sich auf seiner Fingerspitze gemütlich machte.
»Wieso mögen die Fische sie?«
»Ich nehme an, weil sie Protein zum Heranwachsen brauchen«, antwortete Bernd. »In Kombination mit den Kohlehydraten aus dem Mais.« Er schüttete die Körner zu den Maden, gab aus einer Plastiktüte ein wenig Trockenfutter hinzu und vermischte alles vorsichtig. »So, nun ist das Frühstück für die Rotaugen angerichtet.«
»Und jetzt?« Finn zappelte vor Aufregung, sodass das kleine Angelboot ins Schwanken geriet.
»Still sitzen!«, herrschte Henrik den Jungen an.
Er war zwar ein waschechtes Nordlicht, in Hamburg geboren und aufgewachsen, jedoch eine bekennende Landratte. Den Fuß auf ein Boot oder ein Schiff setzte er nur, wenn es nicht zu verhindern war. So wie heute. Henrik wünschte sich, sie würden endlich zurückrudern. Doch Bernd und Finn kamen erst richtig in Fahrt.
»Jetzt füllst du den Köder in das Futterkörbchen hier.« Bernd wies auf ein Metallkörbchen, das oberhalb des Hakens an der Angelschnur befestigt war. »Und dann werfen wir das Vorfutter an der Schnur in den See, um den Fischen eine Spur zu legen. Wenn sie dadurch gleich ganz wild auf die Happen sind, haben wir sie ruckzuck am Haken.«
»Ich bin mir sicher, dass es in Eschwege ein Fischgeschäft oder einen Supermarkt mit Frischfisch gibt. Eine Eisdiele bestimmt auch«, versuchte Henrik verzweifelt, die beiden von ihrem Tun abzulenken und die unliebsame Angeltour zu verkürzen. Vergeblich.
Bernd holte Schwung und warf die Angelschnur weit aus. Das Körbchen ging mit einem leisen Platschen unter. Durch langsames Drehen an der Angelrolle holte er die Schnur wieder ein.
»Willst du auch mal?«, fragte er Finn, als sie das Körbchen erneut befüllt hatten.
Die Augen des Jungen strahlten. Bernd zeigte ihm, wie er die Rute korrekt handhabte und die Schnur mit einer leichten Rückwärtsbewegung zum Fliegen brachte.
»So, und jetzt wird es ernst«, verkündete Bernd, nachdem sie das Körbchen wieder aufs Boot gezogen hatten. Er zeigte auf den großen, gekrümmten Haken aus Kohlenstoffstahl am Ende der Schnur. »Auf den spießt du zwei Maiskörner und dann eine Made.«
»Uh nee. Nicht wirklich, oder?« Henrik schüttelte sich angewidert.
Finn zeigte weder Scheu noch Ekel und tat, wie Bernd ihn geheißen hatte.
»Weit ausholen«, kommandierte Bernd, »und dann die Schnur freigeben, übers Wasser schnellen lassen.« Der Haken und das Spaltblei tauchten unter. Sie warteten drei, vier Minuten, in denen nichts geschah.
»Ha, ich wusste doch, dass die Fische um die Uhrzeit nicht beißen«, triumphierte Henrik. Da rupfte es an der Rutenspitze.
»Langsam einholen«, befahl Bernd und legte seine Hände auf die des Jungen, um ihn anzuleiten. Ein silbrig glänzender Fischkörper tauchte an der Wasseroberfläche auf.
»Schnell den Kescher!« Bernd wirkte jetzt so aufgeregt wie der Junge. Er platzierte das Fangnetz unter dem zappelnden Fisch, sodass der nicht mehr entkommen konnte.
»Ich hab einen gefangen, einen Fisch gefangen.«
Wenn Henrik seine Hand nicht fest auf Finns Schulter gelegt hätte, wäre er aufgesprungen und vor Freude im Boot auf und ab gehüpft. Bernd griff nach dem Fisch und zeigte ihn dem Jungen.
»Ein prächtiges Rotauge. Und sieh mal hier am Maul, waidgerecht gehakt.« Vorsichtig löste er den Haken und ließ den Fisch in einen Eimer mit frischem Seewasser gleiten.
»Darf ich noch mal?«, bat Finn mit roten Wangen.
Sie bestückten den Haken und warfen die Schnur erneut aus, holten sie langsam ein. Diesmal war ihnen das Angelglück nicht hold.
»Man darf nicht zu früh aufgeben«, sagte Bernd. »Manchmal sitze ich drei Stunden und länger auf dem See, bevor ich genügend Fische gefangen habe, dass es für eine Mahlzeit reicht. Doch für mich gibt es kaum etwas, das mich mehr entspannt. Hier ist kein Druck, kein Stress, niemand kann mich stören. Herrlich, diese Ruhe.«
Henrik merkte, wie ihm die Lider schwer wurden. Nochmals schnellten der Haken und die Bleikügelchen durch die Luft, erreichten die Wasseroberfläche und gingen unter. Finn hob die Rutenspitze an und versuchte, die Schnur einzuholen.
»Es geht nicht«, beschwerte er sich.
»Wahrscheinlich hast du einen Hänger.« Bernd nahm ihm die Angelrute aus der Hand und machte ein paar kurze, geschmeidige Aufwärtsbewegungen. Dann drehte er an der Kurbel der Angelrolle. Die Schnur glitt langsam durch die Ösen zurück. »Komisch, ganz schön schwer.«
»Ein großer Fisch?«, fragte Finn hoffnungsvoll.
»Nein, der müsste ja zappeln«, erwiderte Bernd.
»Vielleicht ist dir ein U-Boot an den Haken gegangen«, frotzelte Henrik.
»Eher ein Klumpen Laichkraut«, widersprach Bernd und zog weiter an der Schnur. Ein dunkler Gegenstand durchbrach die Wasseroberfläche.
Henrik lachte laut auf. »Petri Heil! Du hast einen Schuh gefangen.«
»Keinen für die Füße«, rief Finn. »Einen für die Hand. Das ist ein Handschuh.«
»Tatsächlich.« Bernd schüttelte missmutig den Kopf. »Was die Leute alles in den See schmeißen.« Vorsichtig bugsierte er das dunkelbraune Objekt ins Bootsinnere und ließ die Rute sinken.
Henrik reagierte instinktiv. Er schnappte sich den Eimer, kippte das Rotauge samt Wasser zurück in den See und stülpte den Eimer über den Handschuh.
»Ja bist du jetzt völlig übergeschnappt?«, rief Bernd verärgert aus.
»Manno, unser Abendessen«, protestierte Finn.
Henrik nahm die Ruder auf, streckte die Arme nach vorn, tauchte die Blätter ins Wasser und zog die Arme zurück in Richtung Oberkörper. Das Boot setzte sich in Bewegung.
»Lasst uns zum Ufer zurückkehren.«
»Schon?«, maulte Finn.
»Aber warum denn?« Bernd war anzusehen, dass er Henriks Entscheidung nicht billigte.
»Weil ich es sage«, presste Henrik zwischen den Zähnen hervor und warf Bernd einen warnenden Blick zu. Der schien die stumme Aufforderung zu verstehen, denn er klopfte Finn aufmunternd auf die Schulter.
»Ich bin mir sicher, dass wir morgen mehr Glück haben werden. Da gehen wir auf Karpfen. Manche von den Burschen hier im See sind so riesig, dass sie nicht in den Kescher passen. Geschweige denn in die Pfanne.«
»Echt?« Finns Augen wurden vor Erstaunen groß und rund.
»Erst vor Kurzem hat ein Angler ein Prachtexemplar aus dem Wasser gezogen, das mehr als einen Meter lang und über fünfzig Kilogramm schwer war.«
»So einen großen will ich auch fangen«, sagte Finn prompt. »Und dann machen wir ein Foto mit dem Handy, das ich meinem Opa schicke.«
Henrik war sich sicher, dass der Monsterkarpfen ausgewachsenes Anglerlatein war, doch Bernds Taktik schien aufzugehen. Finn war abgelenkt und hatte den Handschuh fürs Erste vergessen. Eine glückliche Fügung. Denn Henrik hatte im Handschuhinneren etwas entdeckt, das ihm mehr Ekel einflößte als die Maden in der Plastikdose.
»Sorry, dass ich eben so schwer von Kapee war«, entschuldigte sich Bernd. »Aber wer rechnet auch mit so was? Gut, dass der Junge nichts davon mitbekommen hat.«
Nach einer kurzen Rücksprache mit Kathrin hatten die beiden Freundinnen Finn kurzerhand in Nicoles Jeep verfrachtet und waren zum Eisessen in die Stadt gefahren.
»Einen schönen Fang haben wir da an Land gezogen.«
Henrik saß auf einem Klapphocker und beäugte ihr Fundstück. Die beiden Männer hatten sich auf den Teil der von den Kiefers angemieteten Parzelle zurückgezogen, der von außen nicht einsehbar war. Er stülpte ein Paar blaue Vinylhandschuhe über und befingerte den dunkelbraunen Lederhandschuh.
»Vielleicht sollten wir das da im Handschuh«, Bernd schluckte schwer, »lassen, wo es ist.«
»Nein, ich will wissen, ob das ein schlechter Scherz ist oder ob ich noch mal die Polizei rufen muss«, widersprach Henrik. Er hielt den Handschuh mit der linken Hand fest und zog mit der rechten das, was darin feststeckte, behutsam hervor.
»Oh mein Gott.« Bernd wandte sich ab.
Henrik hatte inzwischen wieder vom Freizeitmodus in den Arbeitsmodus gewechselt und ging die Angelegenheit mit der gewohnten Professionalität an. »Hm, ein glatter, sauberer Schnitt, direkt hinter dem Handgelenk. Da konnte jemand mit einem Messer umgehen.«
»Überlebt man das?«, fragte Bernd mit rauer Stimme.
»Es gibt durchaus Fälle, in denen eine abgetrennte Hand oder ein paar Finger erfolgreich wieder angenäht wurden. Im Sägewerk passieren derartige Unfälle öfter, als man glaubt. Voraussetzung für ein Gelingen ist allerdings, dass sofort eine medizinische Versorgung eingeleitet wird, ansonsten verblutet man. Und die amputierten Gliedmaßen müssen, soweit ich weiß, bis zur Operation kühl und trocken gelagert werden. Wenn sie erst einmal durchfeuchtet wie hier sind, kriegt man die Knochen und Blutgefäße, die Sehnen und Nerven nie wieder zusammen.«
»Du meinst also, dass es kein Unfall war?«
»Glaubst du allen Ernstes, dass jemand mit der Hand in eine Kreissäge gerät, die abgetrennte Pranke in einen Handschuh steckt und sie in den See wirft, um danach munter weiterzuarbeiten?«
»Nein, das erscheint mir unwahrscheinlich.«
»Ich habe in meiner zwanzigjährigen Laufbahn schon so einiges erlebt«, sagte Henrik. »Deshalb gehe ich hundertprozentig davon aus, dass die Person, der diese Hand einmal gehörte, nicht mehr am Leben ist.«
»Wie schrecklich. Mir wäre lieber, ich hätte unserem Angelausflug nie zugestimmt.«
»Dann wäre dieses Kapitalverbrechen höchstwahrscheinlich nie aufgedeckt worden«, gab Henrik zu bedenken. »Ich gehe fest davon aus, dass sich noch weitere Körperteile im See befinden. Warum sollte jemand nur die rechte Hand ins Wasser schmeißen? Nein, der Handschuh hier ist nur der Anfang.«
»Wir müssen die Polizei informieren.«
»Ja, das müssen wir«, stimmte Henrik zu. »Aber gib mir ein paar Minuten Zeit. Ich frage mich, wo mir so etwas schon einmal untergekommen ist.« Henrik wies mit dem Zeigefinger auf den Handrücken, auf dem mittig ein verblasstes Tattoo auszumachen war.
Bernd beugte sich hinunter. »Sieht aus wie ein Emblem oder ein Wappen. Mit einer Zahlenfolge darunter. Vielleicht das Symbol für eine Beziehung, mit dem Datum des Hochzeitstages? Oder ein Seemann mit der Nummer eines Schiffes? Oder das Erkennungszeichen eines Geheimbundes? Die Leute lassen sich heutzutage doch die seltsamsten Dinge in die Haut ritzen.«
»Hm, das sagt mir was. Wenn ich nur wüsste, was.« Henrik war tief in Gedanken versunken. Er war sich sicher, dass ihm ein ähnliches Tattoo schon einmal unter die Augen gekommen war. Allerdings auf einer Hand, die sich noch am Arm eines lebenden Menschen befunden hatte.
»Vielleicht war es ein Ritualmord? Jemand sollte aus einem Clan oder einer Clique entfernt werden, weil er für die anderen gefährlich geworden war«, fabulierte Bernd.
»Du schaust zu viel Netflix«, brummte Henrik. Dann richtete er den Oberkörper auf und schlug sich mit dem Handballen gegen die Stirn. »Du hast recht. Das Tattoo gehört tatsächlich zu einer Gruppe. Zu einer Studentenverbindung, wenn ich es richtig in Erinnerung habe.«
Er zog sein Handy hervor und machte ein paar Fotos, die er per WhatsApp versendete. Drei Minuten später nahm er den Anruf seines Freundes Carsten Heinemann entgegen.
»Wen hast du vom Corps Heidelbergensis getroffen?«
»Getroffen ist der falsche Ausdruck«, antwortete Henrik und berichtete in wenigen Worten, was vorgefallen war.
»Und es gibt keinen Zweifel?«
»Nein, ich habe dir doch eben die Fotos geschickt. Das muss die Hand eines Corpsmitgliedes sein. Das Tattoo sollte dir bekannt vorkommen, du hast immerhin auch eins auf dem Handrücken.«
»Ich hatte eins«, korrigierte ihn Carsten. »Nach meinem Austritt habe ich es entfernen lassen.«
»Trotzdem hast du mehr Insiderwissen als ich. Hast du eine Ahnung, wessen Hand das sein könnte?«
Carsten Heinemann schwieg eine Weile. »Wenn du mich ganz nett bittest, könnte ich mich überwinden und einen meiner ehemaligen Corpsbrüder anrufen«, sagte er schließlich.
»Ich flehe dich geradezu an«, antwortete Henrik mit einem trockenen Lachen.
»Weißt du, es ist so«, erklärte Carsten. »Jedem der Corpsbrüder wird nach der erfolgreichen Burschung, also wenn jemand als vollberechtigtes Mitglied aufgenommen wurde, das Corpswappen und eine Kennziffer eintätowiert. Die Kennziffer wird in eine Liste eingetragen, anhand der man die jeweiligen Corpsbrüder ausmachen kann. Es ist praktisch so eine Art interne Identnummer.«
»Hast du was zu schreiben? Ich gebe dir die Zahlen durch. Auf den Fotos sind sie nicht so gut zu erkennen. Das Tattoo wirkt dadurch, dass die Hand im Wasser lag, schon ein wenig verwaschen«, sagte Henrik.
»Okay, ich kümmere mich«, versprach Carsten. »Aber ehrlich, ich habe ein echt mieses Gefühl.«
»Ich auch«, stimmte Henrik zu. Dann wählte er zum zweiten Mal an diesem Tag die Nummer der Polizeistation Eschwege.
»Schade, dass du nicht mitkommst«, sagte Henrik.
»Es ist besser, wenn wir noch eine Weile hier am See bleiben.« Kathrin tätschelte die hellbraunen Ohren von Henriks Beagle. »Finn hat sich gerade mit ein paar Camperkindern angefreundet. Und wenn er nicht mit denen unterwegs ist, hängt er wie eine Klette an Bernd. Wahrscheinlich sieht er in ihm so eine Art Vaterersatz.«
»Sein leiblicher Vater und seine Mutter haben ja eher durch Abwesenheit geglänzt.« Henrik zog eine angewiderte Grimasse. Jedes Mal, wenn er sich daran erinnerte, was Finns Eltern dem Jungen angetan hatten, hätte er am liebsten auf sie eingedroschen.
»Es bringt nichts, sich ständig mit der Vergangenheit herumzuschlagen. Was passiert ist, lässt sich nicht mehr ändern«, sagte Kathrin leise, die seine Gedanken erahnt zu haben schien.
»Du hast ja recht.« Henrik schüttelte die schmerzhaften Erinnerungen ab. »Lass uns positiv bleiben. Ich bin mir sicher, dass wir uns noch mal treffen werden, bevor Finn wieder zurück nach Schweden muss.«
»Schauen wir mal, was sich so ergibt.« Kathrin zupfte einen Grashalm aus Leos Fell. »Wir haben ja noch mehr als vier Wochen Zeit. Die schwedischen Sommerferien sind viel länger als die deutschen.«
»Ich schreibe dir eine Nachricht, sobald ich im Schwarzwald angekommen bin.«
»Was hast du denn konkret vor? Wir hatten gestern Abend ja keine Gelegenheit mehr, darüber zu sprechen. Der Polizeieinsatz hat ewig gedauert.«
»Er ist noch immer nicht beendet.« Henrik wies mit der Hand in Richtung See, wo Boote der Wasserschutzpolizei vor Anker dümpelten und Taucher das Gewässer absuchten. »Sie werden nicht eher aufhören, bis sie die restlichen Körperteile des armen Mannes geborgen haben.«
»Schrecklich.« Kathrin schüttelte sich. »Ich frage mich, wer so abgebrüht ist, einen Menschen erst umzubringen, ihn wie ein Schlachttier fein säuberlich zu zerlegen und seine Reste dann in den See zu schmeißen. So etwas liest man doch eigentlich nur in blutigen Thrillern. Dass es hier in dieser wunderbaren Landschaft und mitten in einem Urlaubsgebiet passiert, das kann ich noch immer nicht recht glauben. Mein Gehirn hat Schwierigkeiten, es als real anzusehen, es zu akzeptieren.«
»Genau deshalb hat mein Freund Carsten ja auch vorgeschlagen, dass wir der Witwe beistehen. Noch bevor die polizeilichen Untersuchungen und die der Pathologie abgeschlossen sind. Wenn Carsten es ihr mit seinen eigenen Worten beibringt, ist es für sie sicherlich besser zu ertragen, als wenn es ein Fremder tut.«
»Dein Freund kennt also nicht nur den Toten, sondern auch dessen Frau?«
»Ja, sie sind einander bei Zusammenkünften der Corpsmitglieder begegnet. Zu manchen waren auch die Familienmitglieder eingeladen. Vor ein paar Jahren hat sich mein Freund allerdings von dieser Verbindung losgesagt, weil sie ihm zu politisch wurde, einen Rechtsruck durchmachte.«
»Schon ein irrer Zufall, dass ausgerechnet ein Freund von dir dazu beitragen konnte, den Toten zu identifizieren.«
»Ohne das Tattoo mit der Nummer hätte es wahrscheinlich Ewigkeiten gedauert, bis die Polizei herausgefunden hätte, um wen es sich handelt. Jetzt müssen sie zur Bestätigung nur noch einen DANN-Abgleich machen. Vielleicht war es ein bisschen Glück im Unglück. Überleg mal, was die Familie hätte durchstehen müssen. Nach dem plötzlichen Verschwinden eines geliebten Menschen monatelang oder gar jahrelang in Ungewissheit zu leben ist verdammt hart.«
»Das kannst du wohl laut sagen.« Kathrin nickte. »Bei mir hat es acht Jahre gedauert, bis ich endlich wusste, was mit Peter geschehen ist.«
»Das bleibt den Angehörigen von diesem Hübner nun wenigstens erspart. Ich treffe mich heute Abend mit Carsten in Sasbachwalden, dem Wohnort des Opfers, und morgen früh gehen wir zur Witwe. Carsten hat mich gebeten, ihn zu begleiten. So emotional belastende Situationen sind schwierig für ihn. Vor der Rente war er ein knallharter Jurist, hat selten Gefühle an sich herangelassen. Auch privat nicht.«
»Na, da habt ihr ja was gemeinsam.« Kathrin berührte kurz seinen Arm.
»Wahrscheinlich verstehen wir uns deshalb trotz des Altersunterschiedes so gut.« Henrik ließ den leisen Vorwurf an sich abprallen. »Außerdem ist es für Carsten eine prima Gelegenheit, endlich mal sein Wohnmobil zu testen. Er hat es vor drei Monaten vom Händler übernommen, und seitdem steht es sich alle sechs Reifen platt, setzt im Hamburger Regen Grünspan an.«
»Ich nehme mal an, dass es dir nicht langweilig wird.«
»Nein, das wird es nicht.«
»Leo bestimmt auch nicht«, meinte Kathrin und kraulte den Beagle kurz am Rutenansatz, dort, wo er es am liebsten hatte. »Bleibt er jetzt eigentlich für immer bei dir?«
»Sieht so aus.« Henrik gab einen theatralischen Seufzer von sich. »Hätte ich geahnt, dass sich meine Schwester erst den Oberschenkelknochen bricht und sich dann im Krankenhaus ausgerechnet in einen australischen Arzt verliebt, dem sie nach Down Under folgt, hätte ich das ungezogene Hundevieh nie aufgenommen.«
»Leo ist kein Hundevieh«, protestierte Kathrin.
»Nein, er ist meine Alarmanlage, meine Wärmeflasche für die Füße und ein perfekter Beifahrer. Auch wenn er nicht sehr gesprächig ist.«
»Ihr seid inzwischen ein klasse Team.«
Henrik legte dem Beagle sein Sicherheitsgeschirr an und setzte sich auf den Fahrersitz. »Bis bald. Und grüß Finn von mir.«
»Gute Fahrt! Und kommt sicher an!« Kathrin hob zum Abschied die Hand.
Die etwa vierhundert Kilometer in Richtung Süden erschienen Henrik endlos. Auf der Bundesstraße zwischen Eschwege und Bad Hersfeld kam er zwar zügig voran, doch bei der Auffahrt auf die A 4 steckte er prompt im ersten Stau. Auf der A 5 reihte sich, wie es ihm vorkam, eine Baustelle an die nächste. Kurz hinter Bruchsal waren zwei Lkws kollidiert, und für eine geschlagene Stunde bewegte sich nichts mehr. »Verdammt«, fluchte Henrik. »Da wäre ich doch glatt zu Fuß schneller unterwegs. Selbst wenn Leo an jedem zweiten Grashalm eine Pinkelpause eingelegt hätte.«
Aus Frust und Langeweile trommelte er mit den Fingern auf dem Armaturenbrett und betrachtete die Fahrzeuge in seiner direkten Umgebung. Die meisten Lkws hatten ausländische Kennzeichen. Rechts neben ihm befand sich ein holländisches Wohnwagengespann, das wohl, wie Henrik wegen der Surfbretter auf dem Dach des Kombis vermutete, auf dem Weg an den Gardasee oder ans Mittelmeer war. Auf der linken Seite streckten ihm zwei Jungen in einer Mittelklasselimousine die Zunge heraus.
»Rotzbengel«, brummte Henrik, ließ sich jedoch vom heiteren Grimassenschneiden anstecken. Ein paar Minuten hatten sie alle einen höllischen Spaß an dem Spiel, dann ging es auf der äußeren Fahrspur ein Stück weiter, und Henrik verlor die Jungen aus den Augen.
Er blickte in den Seitenspiegel und stutzte. Drei Pkws hinter ihm stand ein weißer Sprinter, der Henrik bereits zuvor wegen einer markanten Delle im Vorderdach aufgefallen war. Konnte es sein, dass der Kleintransporter dieselbe Strecke wie er hatte? Dass er ihm durch Zufall seit dem Kirchheimer Dreieck, also seit etwa zweihundertfünfzig Kilometern, auf den Fersen war? Oder folgte er ihm? Wurde er etwa beschattet? In seinem Job musste Henrik mit allem rechnen. Er kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen, doch er konnte weder das Nummernschild erkennen noch das Gesicht des Fahrers ausmachen.
Schließlich setzte sich die Autoschlange auf allen drei Fahrstreifen wieder in Bewegung. Der weiße Sprinter zog nach links, überholte Henrik und war aus seinem Sichtfeld verschwunden. Du wirst paranoid, dachte Henrik und kramte ein Schächtelchen mit extrastarken Pfefferminzdragees aus dem Handschuhfach hervor. Die ätherischen Öle würden ihm helfen, einen klaren Kopf zu bekommen. Henrik gab Gas, er war spät dran.
Entsprechend ungehalten reagierte sein Freund Carsten, als Henrik endlich auf dem Wohnmobilstellplatz in Sasbachwalden ankam.
»Ich habe schon geglaubt, du wärst unterwegs verschüttgegangen.«
»Dauerstau«, erwiderte Henrik und schaute um sich.
Das geschotterte Areal an der Rückseite der Winzergenossenschaft »Alde Gott« bot Platz für etwa dreißig Campingfahrzeuge. Gut zwanzig hatten es sich dort bereits gemütlich gemacht. Auf der äußeren rechten und linken Seite standen vor allem große Wohnmobile und Liner. In der Mitte wurde das Gelände diagonal durch Holzbohlen und Pflanzkübel geteilt, sodass Raum für die deutlich kürzeren Kastenwagen, Campingbusse und kleineren Wohnmobile entstand. Von allen Plätzen aus hatte man eine herrliche Aussicht auf die sanft ansteigenden Hänge, die im unteren Bereich mit Reben, weiter oben mit Wiesen und Obstbäumen bepflanzt und danach mit Tannen und Fichten bewaldet waren. Schmucke Fachwerkhäuser grenzten an den hinteren Teil des Stellplatzgeländes. Selbst als passionierter Biertrinker musste Henrik sich eingestehen, dass der Wohnmobilhafen und vermutlich auch der Ort viel Charme versprühten.
»Mach schnell, sonst sind alle Plätze weg«, warnte ihn Carsten.
Henrik stieg in seinen Kastenwagen und bugsierte ihn in eine Lücke zwischen zwei Wohnmobilen. Von dort aus konnte er direkt auf den munter plätschernden Bach schauen, der dem Ort seinen Namen gab. Der Liner von Carsten stand weiter hinten, vor einer Blumenwiese.
»Übrigens komische Leute hier«, meinte Carsten. »Die haben glatt darauf bestanden, dass ich mich genau so und nicht anders hinstelle.«
Henrik musterte die Wohnmobile, die mit etwas Abstand neben dem seines Freundes geparkt waren. Sie waren allesamt mit der Motorhaube nach vorn aufgereiht. »Sieht für mich völlig okay aus. Was stört dich denn daran?«
»Ich wollte, dass sich meine Eingangstür zur Wiese hin öffnet«, beschwerte sich Carsten. »Da hätte ich von meiner Sitzgruppe aus auf die Blumen schauen können. Jetzt habe ich, wenn ich am Tisch sitze, die Seitenwand meines Nachbarn vor der Nase. Also schön nenne ich was anderes.«
Henrik wusste nicht, ob er laut auflachen oder sich fremdschämen sollte. »Du wolltest dich quer und nicht längs hinstellen?«
»Klar doch. Als ich ankam, war schließlich noch genügend Platz. Da hätte ich mit meinen neun Metern locker hingepasst.«
Henrik unterdrückte ein Seufzen. Als Camping-Greenhorn hatte Carsten offensichtlich noch viel zu lernen. »Auf den meisten Wohnmobilstellplätzen ist es Usus, die Fahrzeuge in Längsrichtung aufzustellen«, erklärte er. »Dadurch wird das Gelände optimal ausgenutzt. Allerdings sollte man beim Einparken tunlichst darauf achten, dass man seinem Nachbarn nicht zu nah auf die Pelle rückt. Außerdem ist der Sicherheitsabstand wegen der Brandgefahr einzuhalten. Kuschelcamper werden nirgendwo gern gesehen.«
»Ich wusste gar nicht, dass die Campergemeinde so pingelig sein kann.« Carsten klang aufrichtig erstaunt.
»Ich würde es nicht pingelig nennen«, erwiderte Henrik. »Es geht um gegenseitige Rücksichtnahme und ein freundliches, respektvolles Miteinander. Wenn alle ein paar wenige Regeln einhalten, dann flutscht es.«
»Okay, okay.« Carsten grinste verlegen. »Ich bin bereit dazuzulernen. Ich will schließlich nicht als Rüpel gelten. Stell dir mal vor, in meinem Alter.«
»Du schaffst das«, versicherte ihm Henrik.
»Wollen wir für morgen einen Schlachtplan aufstellen?«, schlug Carsten vor. »Ich war schon vorn im Verkaufsraum der Winzergenossenschaft und habe mich mit drei Sorten Wein eingedeckt. Die Trauben dafür stammen, wie man mir versichert hat, direkt von den Winzern aus dem Ort. Ich habe Weißburgunder, Riesling und Spätburgunder besorgt. Du kannst aussuchen, womit wir anfangen. Die Weine von hier haben alle einen ausgezeichneten Ruf.«
»Gib mir eine halbe Stunde, um mich frisch zu machen und mit Leo eine kurze Runde zu drehen«, bat Henrik. »Dann komme ich zu dir.«
»Edel, edel«, sagte Henrik anerkennend. Sein Freund hatte nach seiner Pensionierung ein ordentliches Sümmchen in die Hand genommen und in ein Wohnmobil mit allen Schikanen investiert. Die Sitze im Cockpit und die Loungegruppe im Wohnbereich waren mit cognacbraunem Büffelleder bezogen, das an den Rückenlehnen mit einem gesteppten Rautenmuster versehen war. Die Küche war cleverer angelegt und besser ausgestattet als die in Henriks Wohnung: Vom Drei-Flammen-Gaskocher über einen Backofen, eine Kühl-Gefrierkombination, eine beigefarbene Arbeitsplatte aus Mineralwerkstoff, Wandfliesen in Schieferoptik und ein Doppelwaschbecken mit Designerwasserhahn war alles vorhanden, was das Herz eines Hobbykochs auf Reisen begehrte. Im Heck befanden sich ein Wellnessbad und ein üppiges Queensizebett mit elektrisch verstellbarem Kopfteil.
»Ich sage dir, hier kann man’s aushalten.« Carsten versprühte Neubesitzerstolz. »Jetzt brauche ich nur noch eine attraktive Co-Pilotin, die mit mir auf Tour geht.«
»Mit dem rollenden Palast als Lockmittel solltest du keine Schwierigkeiten haben, eine passende Begleitung zu finden«, prophezeite Henrik. »Aber ich dachte immer, du wärest mehr so ein einsamer Wolf.«
»Nun ja, auch der einsamste Wolf lässt ab und zu ein nettes Weibchen in seinen Bau.«
»Deine bisherigen Beziehungen haben nie länger als ein Dreivierteljahr gedauert«, erinnerte ihn Henrik.
»Du hast wahrscheinlich recht. Nach vier, fünf Tagen in trauter Zweisamkeit wird es mir hier womöglich doch zu eng«, räumte Carsten ein. »Ich glaube, ich besorge mir lieber einen Hund. Oder besser eine Katze, mit der muss ich nicht Gassi gehen.«
Henrik ließ sich auf die Couch fallen. »Deine Sorgen möchte ich haben.«
Carsten wies mit der Hand auf die drei Flaschen, die einladend auf der Arbeitsplatte der Küchenzeile standen. »Wonach ist dir? Weiß oder rot?«
Henrik unterdrückte ein Gähnen. »Ein Kaffee als Auftakt wäre nicht schlecht.«
»Ristretto, Espresso, Lungo? Decaffeinato oder Café au Lait?«, ratterte Carsten herunter.
»Schwarz, stark und ohne Zucker.«
Carsten drückte auf einen Knopf, und eine hochmoderne Kapselmaschine schwebte wie von Geisterhand aus dem Küchenoberschrank hinunter auf das Niveau der Arbeitsplatte. Im Nullkommanichts hatte Henrik eine dampfende Tasse Kaffee vor sich auf dem Tisch stehen.
»Mmh, sehr aromatisch«, lobte er.
»Ja, genauso gut wie zu Hause«, stimmte Carsten zu. »Obwohl ich die Kaffeemaschine werde reklamieren müssen. Heute auf der Hinfahrt hat sie gestreikt, da habe ich sie nicht zum Laufen gebracht. Erst hier funktioniert sie wieder einwandfrei. Komisch.«
Henrik stellte seine Tasse in das Spülbecken. »Hast du bei deiner Fahrpause den Wechselrichter eingeschaltet? Du hast doch einen, oder? Bei Wohnmobilen in dieser Preisklasse gehören sie eigentlich zur Standardausstattung.«
»Wechselrichter?« Carsten schaute Henrik an, als ob er plötzlich Suaheli redete.
»Einen Spannungswandler oder Inverter.«
»Wozu brauche ich so etwas?«, fragte Carsten verdattert. »Ich habe einen Stromanschluss und Steckdosen. Das reicht mir.«
»Aber nur, wenn du auf einem Stellplatz oder Campingplatz stehst und dich an das Stromnetz angedockt hast, also wie zu Hause Landstrom zur Verfügung hast. Wenn du unterwegs bist, musst du mit der Zwölf-Volt-Stromversorgung aus deinem Bordnetz klarkommen.«
»Ich dachte, ich hätte alles tutto completto gekauft.« Carsten wirkte gekränkt.
»Hast du wahrscheinlich auch«, beruhigte ihn Henrik. »Die meisten Geräte im Wohnmobil funktionieren auf Zwölf-Volt-Basis. Die Kaffeemaschine, dein Föhn und dein Rasierapparat zum Beispiel, die laufen aber nur mit haushaltsüblichen zweihundertdreißig Volt Wechselstrom. Der Wechselrichter ist dazu da, die zwölf Volt Gleichstrom aus deinen Bordbatterien kurzfristig in zweihundertdreißig Volt Wechselstrom umzuwandeln.«
»Himmelherrgott, ist das kompliziert«, rief Carsten aus. »Hätte ich gewusst, dass man für so ein Wohnmobil anscheinend eine einjährige Zusatzausbildung benötigt, hätte ich besser den Flugschein gemacht.«
Henrik klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Du wirst dich in die Angelegenheit schon noch einfuchsen. Aber komm, lass uns endlich einen Schluck von deinem Wein trinken.«
Auf Carstens Gesicht machte sich ein Ausdruck von Verlegenheit breit. »Ehrlich gesagt bin ich mir gerade nicht sicher, ob ich so etwas Simples wie einen Korkenzieher dabeihabe.«
»Kein Problem.« Henrik zog sein Multifunktionsmesser aus der Hosentasche und öffnete die Flasche Weißburgunder. »Zum Wohl!«, prostete er dem Freund zu.
»Schön frisch und fruchtig.« Carsten nickte anerkennend.
»Was weißt du über diesen Hübner?«, wollte Henrik wissen, als er sein Glas abgesetzt hatte.
»Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, war er zwei Jahre jünger als ich, nahm dadurch sein Studium in Heidelberg erst später auf. Das bedeutet«, Carsten machte eine kurze Pause, »er kam 1981 oder 1982 von Freiburg aus an den Neckar.«
»Was hat er studiert?«
»Ich glaube Chemie oder Lebensmittelchemie. Ich kann mich erinnern, dass er oft noch im weißen Laborkittel zu unseren Treffen erschien. Meistens war er spät dran.«
»Wurde er sofort in die Corpsgemeinschaft aufgenommen?«
»Nein, er musste wie wir alle eine Fuchsenzeit, also eine Art Probezeit, durchlaufen, bevor er mit der Burschung als Vollmitglied integriert wurde.«
»Wie stand es bei ihm mit der Mensur? Das war bei euch doch ein Thema, oder?«
»Klar, die Mensur hat er, wie es beim Corps Heidelbergensis üblich ist, absolviert. Mir ist allerdings im Gedächtnis geblieben, dass Hübner dabei nicht sehr diszipliniert war.«
»Inwiefern?«
»Zum einen trank er gern nicht nur einen, sondern auch zwei oder drei über den Durst.«
»Ist es nicht genau das, was von einem aufstrebenden Mitglied in einer typischen Studentenverbindung erwartet wird?« Henrik hob sein Weinglas mit einem spöttischen Grinsen.
»Abstinenzler haben es im Corps eher schwer«, musste Carsten eingestehen. »Der Alkohol dient der Geselligkeit. Doch von niemandem wird ein Dauerbesäufnis erwartet.«
»In welcher Hinsicht mangelte es Hübner noch an Disziplin?«
»Nun.« Carsten steckte sich ein paar gesalzene Erdnüsse, die er auf den Tisch gestellt hatte, in den Mund und kaute, bevor er weitersprach. »Beim Mensurfechten werden, anders als zum Beispiel beim Sportfechten, ausschließlich Hiebe mit dem Schläger –«
»Schläger?«, unterbrach Henrik fragend.
»Die bei der Mensur verwendete Waffe, so eine Art Florett«, erklärte Carsten. »Mit der, wie gesagt, nur Hiebe ausgeführt werden dürfen. Stechen ist dagegen verpönt.«
Henrik langte ebenfalls in das Schälchen mit den Nüssen. »Ich könnte mir nach deinen bisherigen Schilderungen vorstellen, dass Hübner nicht viel Lust verspürte, sich an diese Regeln zu halten.«
»Nein, er ist wohl ein paarmal knapp daran vorbeigeschrammt, unehrenhaft aus dem Corps entlassen zu werden. Auch dass er nicht von der Uni geflogen ist, grenzte an ein Wunder.«
»Hat er es dennoch geschafft, sein Studium zu beenden?«
»Ja. Anders als du hat er nicht nach ein paar Semestern die Flinte ins Korn geworfen«, sagte Carsten mit tadelndem Unterton in der Stimme.
Henrik ließ sich nicht provozieren. »Die beste Entscheidung meines Lebens.«
»Aus dir wäre ein Top-Jurist geworden.«
»Jetzt bin ich halt ein Top-Ermittler. Aber zurück zu Hübner«, drängte Henrik. »Du hast eben gesagt, dass er Chemie studiert hat. Warum hat er nach seinem Abschluss nicht bei BASF oder Degussa oder bei einer anderen Chemiebude gearbeitet, sondern ist Winzer im Schwarzwald geworden? Wie passt das zusammen?«
»Das hättest du ihn selbst fragen müssen. Ich hatte ja keinen engeren Kontakt zu Bertram, ich bin ihm bis zu meinem Austritt aus dem Corps nur sporadisch auf dem einen oder anderen Treffen begegnet. Da habe ich dann ein paar Worte mit ihm gewechselt. Mit ihm und Susanne.«
»Seiner Frau?«
»Ja, du wirst sie morgen kennenlernen.«
»Sie kommt von hier?«
»Ja, ihr Vater hatte ein paar Rebflächen und einen kleinen Winzerhof.«
»Und so wurde aus dem Chemiker ein Winzer?«
Carsten hob die leere Weinflasche fragend in die Höhe. »Wollen wir noch den Riesling probieren?«
»Für mich allerhöchstens ein halbes Glas«, wiegelte Henrik ab. »Ich will dich morgen nur kurz zu den Hübners begleiten, und dann mache ich mich auf den Weg zurück in den Norden. Ich war jetzt über zehn Wochen unterwegs, ich muss in meiner Bude dringend mal nach dem Rechten sehen. Und meine Kontakte in Polizeikreisen ein wenig pflegen.«
»Ich war davon ausgegangen, dass wir hier ein paar Tage gemeinsam verbringen.« Carsten stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. »Du hattest doch versprochen, mir eine Einweisung ins Camperleben zu geben.«
Henrik ließ sich erweichen. »Okay, von mir aus. Auf die eine Nacht mehr oder weniger wird es auch nicht ankommen.«
»Na dann. Auf unseren Junggesellentrip.« Carsten goss vom Riesling ein.
»Noch mal zurück zu Hübner«, nahm Henrik das ursprüngliche Thema wieder auf. »Mich macht stutzig, dass er seinen eigentlichen Job anscheinend recht schnell geschmissen hat. Warum? Als studierter Chemiker hatte man damals doch super Karrierechancen, man konnte in der Branche richtig gutes Geld verdienen. Kann es wahrscheinlich immer noch.«
»Ich vermute, dass Bertram das Potenzial des Winzerhofes erkannte, den Susanne mit in die Ehe gebracht hat. Ich habe noch im Kopf, dass er peu à peu Rebflächen dazugekauft hat. Und dann haben sie gemeinsam einen Restaurantbetrieb aufgezogen. Wir werden es ja morgen kennenlernen.«
»Er war also auf der Erfolgsspur?«
»Mein ehemaliger Corpsbruder, den ich gestern dazu befragt habe, hat dies ganz klar bejaht. Bertram hat was aus seinem Leben gemacht.«
»Das letztlich dann schneller endete, als er erwartet hatte.«
»Und unter so tragischen Umständen noch dazu. Ganz ehrlich: Wenn er in der Gastronomie so erfolgreich war, wie mein Corpsbruder behauptet hat, dann hätte er vermutlich eher an einem Herzinfarkt oder an einer Schrumpfleber sterben müssen. Das zählt bei Gastronomen, wie ja allgemein bekannt sein dürfte, zu den Berufskrankheiten. Doch zerstückelt im See zu landen … Himmel, was für ein grausames Schicksal.«
»Ich frage mich, was er überhaupt am Werratalsee wollte.«
»Ich nehme mal an, dass uns Susanne dazu Näheres sagen kann. Noch ein Schlückchen?« Carsten wies mit dem Zeigefinger auf die Flasche.
»Nein danke, für mich ist es höchste Zeit, in die Falle zu gehen«, sagte Henrik. »Wir sehen uns morgen um neun.«
»Du kannst gern einen Kaffee bei mir trinken, bevor wir aufbrechen«, bot Carsten an. »Mit Strom und nicht mit diesem komischen Wechselrichter zubereitet«, fügte er grinsend hinzu.
»Das Angebot nehme ich gern an.« Henrik öffnete die Aufbautür. »Was für eine herrliche Nacht«, entfuhr es ihm.
Ein riesiger goldgelber Vollmond war über der Hügelkette aufgegangen und strahlte mit der von Scheinwerfern angeleuchteten Pfarrkirche um die Wette. Grillen zirpten, und der Bach gab ein beruhigendes Plätschern von sich. Ansonsten war alles still. Die anderen Camper schliefen offenbar schon.
»Bis morgen«, flüsterte Henrik und wandte sich vom Liner seines Freundes ab.
»Guten Abend.« Eine sonore Bassstimme erklang vom Nachbarwohnmobil her.
Henrik grüßte leise zurück.
»So lässt es sich aushalten«, sagte die Stimme. »Diese Stille, dieser Frieden. Und ein guter Tropfen. Was braucht man mehr zum Glück?«
Henrik machte ein paar Schritte vorwärts und konnte dann den Mann erkennen, der zur Stimme gehörte. Er saß unter der Markise seines Wohnmobils und hielt ein Weinglas in der Hand. »Auch einen Schlummertrunk?«
»Nein danke. Ich habe schon mit meinem Freund eine kleine Weinprobe gemacht.«
Der Mann schien trotz der späten Stunde in Plauderlaune. »Hier kann man endlich mal zur Ruhe kommen. Wir waren gestern und vorgestern auf diesem anderen Platz.« Der Mann wies mit dem Weinglas in Richtung der Schwarzwaldhöhen. »Ich sage Ihnen: Was für ein Rummel, was für ein Radau. Die vielen Wohnmobile und Wohnwagen, dazu die Musik von der Showbühne. Die plärrte bis fast zum Morgengrauen. Schrecklich. Meine Frau hat kaum ein Auge zubekommen. Und das Essen hat sie auch nicht vertragen. Das Spanferkel vom Spieß war viel zu fett. Damit kommen die Galle und die Leber in unserem Alter nicht mehr klar. Dabei hatte meine Frau extra nachgefragt, und man hatte ihr gesagt, dass das Fleisch mager sei.«
»Nun ja, der Wein tut bestimmt das Seinige dazu.« Henrik spürte den Weißburgunder und Riesling inzwischen auch in den Gliedern.
»Den Wein dort können Sie getrost vergessen«, verkündete der Mann wie aufs Stichwort. »Andauernd aufstoßen musste ich davon, und meine Frau hatte Kopfweh. Keine gute Sorte, wenn Sie mich fragen.«
Höchstwahrscheinlich waren die Malaisen seiner Nachbarn eher auf die konsumierte Weinmenge als auf die Weinsorte zurückzuführen, schätzte Henrik. Doch er wollte sich höflich zeigen.
»Ich hoffe, dass es Ihrer Frau bald besser geht.«
»Ja, wird schon. Sie hat eine Tablette genommen und ist nach den ›Tagesthemen‹ ins Bett. Aber auf diesen Platz da oben fahren wir nie wieder.«
»Nun ja, zum Glück gibt es in der Region reichlich Auswahl. An schönen Stellplätzen mangelt es nicht.«
»Das stimmt. Und auf anderen Plätzen muss man sich auch nicht von so seltsamem Volk, von so Typen, die auf Gutmenschen machen, anpöbeln lassen. Da wird man als Camper noch geschätzt.«
»Wo waren Sie denn?« Henrik war neugierig geworden.
»Auf diesem Winzer-Eventhof«, antwortete der Mann. »Wir hatten auf der letzten CMT, auf dieser Urlaubsmesse in Stuttgart, zwei Gutscheine für ein Camping-Dinner gewonnen. Die haben wir jetzt eingelöst.«
»Waren Sie etwa auf dem Hof von Bertram Hübner?«, hakte Henrik nach.
»Richtig. Genau dort.«
Na, das kann morgen ja heiter werden, dachte Henrik und verabschiedete sich von dem redseligen Wohnmobilisten.