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In dem seltsamen Garten des wunderschönen Landhauses wird Miranda eines Tages klar: »Es sind nicht nur meine Katzen, die mich beobachten«. Die einsame Villa am Meer scheint ein weit größeres Geheimnis zu hüten. Ungewöhnliche Gäste laden Miranda zu wahrhaft phantastischen Ausflügen in unbekannte Dimensionen ein. Dass solche Höhenflüge auch riskant sein können, muss Miranda erst erfahren. Meister aus anderen Wirklichkeiten erscheinen, die ihr Lektionen erteilen und sie auf ein bedeutsames Ereignis in ihrem Leben vorbereiten. Wird Miranda eines Tages bereit sein, Phönix zu folgen?
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Seitenzahl: 234
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Und wenn der Schatten sich auflöst und nicht mehr da ist, dann wird das Licht, das zurückbleibt, der Schatten eines anderen Lichts.
Khalil Gibran
(aus: Der Prophet/Der Narr/Der Wanderer)
Es war wieder einmal soweit … Konrad schaute zur Tür herein und gab Miranda das Zeichen. Sie stand automatisch auf und folgte ihm aus dem Zimmer heraus, den Flur entlang und ins Treppenhaus. Da war es wieder, ... dieses magische Leuchten. Aus der Treppensäule schienen bunte Nebelschleier aufzusteigen, die sich im hohen Treppenhaus an den Wänden verteilten und durch die luftige Höhe des Schachtes zu tanzen schienen. Wie aufgelöste Schleifenbänder schwebten sie in einem nicht spürbaren Aufwind aufwärts oder krochen in Spiralen an den Wänden entlang hinauf, als wenn eine unsichtbare Bergstraße dort in Serpentinen an den Wänden entlangführte. Kaum aber berührten die bunten Lichtstreifen oben die schräge Decke, fielen sie genau in der Mitte des Schachtes hinab, als hätten sie plötzlich größeres Gewicht bekommen. Sie fielen hinab und legten sich auf die Treppenstufen, auf denen Konrad und Miranda standen, und wo jeder auf seine Weise diese Energiewirbel wahrnahm. Auf den Stufen verblasste das farbenfrohe Leuchten, der rohe Beton der unbelegten Treppe schien es förmlich in sich aufzusaugen. Miranda bückte sich und wollte eines dieser herabfallenden Lichtstreifen, noch vor der Berührung der Stufe, mit flach ausgestreckten Händen auffangen. Doch dies leuchtende Band wich geschickt dem plötzlich aufgetretenen Hindernis aus, indem es einen sanften Salto über ihre Handgelenke hinweg machte. Dieses Licht schien von seinem Verlöschen zu wissen und hatte doch keine Angst davor. Oder wechselte es bloß seinen Seins-Zustand und verschwand lediglich für die menschliche Wahrnehmung?
Wieder tanzte eines dieser Schleifenbändchen aus Licht um Miranda herum.
Als wollte es auf die Fragen in ihren Gedanken antworten, umkreiste es ihre Stirn. Miranda schloss unwillkürlich die Augen und erwartete die scheinbar doch unvermeidliche Berührung, jedoch sank auch dieses Lichtbändchen sacht und berührungslos an ihr herab. Sie öffnete gerade rechtzeitig die Augen, um noch zu sehen, wie es direkt vor ihren Füßen die Stufe berührte und sich in Nichts auflöste. Das machte Miranda ein wenig wehmütig. Hatte sie nicht zu diesem Bändchen gerade eine innere Verbindung aufgenommen? Hatte es beim Umkreisen ihrer Stirn nicht seine Leuchtenergie mit ihr geteilt, wenn auch ganz ohne Berührung? Miranda lehnte sich an die Wand und sank in die Hocke nieder. Die kühle Wand drückte jede kleine Unebenheit durch ihr dünnes T-Shirt.
Das Treppenhaus war mit Marmorpulver verputzt und noch immer nicht gestrichen worden. Es waren die einzigen Wände in dieser schönen Villa, die noch nicht gestrichen worden waren. Sie schienen sich gegen jegliche Behandlung zu sträuben, als wenn die Energien, die dort auf und ab steigen wollten, keinen Farbanstrich duldeten. Genauso, wie Geckos gestrichene Fassaden meiden, weil sie sich nicht so gut daran halten können. Miranda erinnerte sich an die Renovierung der Terrassenwände in der früheren Wohnung. Nur unter den Dachziegeln hatten Konrad und sie einen schmalen Streifen nicht gestrichen, damit die roten Ziegel nicht von unten weiß bekleckert würden. Diesen schmalen Streifen nutzten die Geckos später als Transitzone vom seitlichen Dach zur Außenwand. Miranda nannte diesen Bereich fortan Gecko-Autobahn. Jedes Mal, wenn die Tierchen einen Schritt daneben auf den gestrichenen Bereich taten, klatschten sie herab auf die Terrasse.
Vielleicht mochten nun die schwebenden Energiefäden auch lieber noch nicht angestrichenen Putz, der noch Poren hatte und atmen konnte. Jedenfalls konnte man sich, außer im Treppenhaus, nirgends sonst dieser magischen Begebenheit aussetzen. Vielleicht lag es auch an etwas anderem. Das Treppenhaus war ein riesig hoher Schacht bis zum Dach, ohne Zwischenboden und auch ohne Fenster. Und es hatte immer schon etwas Eigenartiges damit auf sich. Wann immer Miranda dort hindurch in die obere Etage stapfte, … ermüdet, nach einem anstrengenden Garteneinsatz oder seelisch erschöpft nach zu vielen Fragen nach dem Ungewissen … immer wieder wehte sie dort ein Lufthauch an, der sich lebendig anfühlte und sie tröstete, nicht allein zu sein auf dieser Welt.
Gemeint ist dieses Alleinsein, das Miranda auch in großen Menschenmengen verspüren konnte oder das, welches sie empfand, wenn Nachbarn um sie herum schwafelten und die Töne, die sie von sich gaben, allmählich zu einer teigigen Masse wurden, die nicht mehr hörbar, zumindest nicht mehr verständlich war. Gemeint ist das Alleinsein, in welchem Miranda sich einen wahren Freund an ihrer Seite wünschte, einen, vor dem sie sich so zeigen könnte, wie sie war, ganz gleich in welcher Verfassung oder Stimmungslage, ganz gleich, ob bekleidet oder nackt, ob geschminkt oder ungeschminkt. Für Miranda bedeutete ›ein Freund‹ jemand, vor dem sie laut denken konnte. Jemand, der mit dem Auf und Ab ihrer Stimmungen umzugehen verstand und der wie eine Luftmatratze bei heftigem Wellengang immer oben blieb und die Heftigkeit der Wellen als lustige Seepartie, als Abenteuer auffasste. Jemand, der nahe bei ihr bliebe und alles mit ihr zusammen durchstehen könnte, aber beständig obenauf bliebe und sich nicht in ihr aufgewühltes Gefühlsmeer hineinziehen ließe … Ein Mensch, der mit der Leichtigkeit einer Luftmatratze ihr notfalls als Sicherheitspolster dienen könnte.
Und der tröstende Lufthauch in diesem Treppenhaus streichelte ihr in Momenten solchen Alleinseins sanft über den Hinterkopf wie eine liebevolle Großmutter, die jeden Schritt ihres Enkelkindes bewacht, ohne jedoch zu freiheitsbeschränkend einzugreifen.
Manchmal hatte Miranda sich noch einmal umgesehen, wenn sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, und suchend zurückgeblickt. Zu gern hätte sie die streichelnde Hand entdeckt. Doch dieser suchende Blick erhielt stattdessen einen kalten Hauch als Antwort, der die Leere des Treppenhauses betonte. In der plötzlich gähnenden Leere fühlte sich Miranda mit einem Mal äußerst unbehaglich und schloss schnell die Tür hinter sich. So lernte Miranda, auf ›diesen Blick zurück‹ lieber zu verzichten. Nur so konnte ihr der tröstende Lufthauch auch in Zukunft erhalten bleiben.
Konrad zog Miranda, die noch immer an der Wand kauerte, vorsichtig zu sich hinauf. Er hatte die ganze Zeit neben ihr gestanden, ihre Blicke verfolgt und ihren Gesichtsausdruck beobachtet. Nun war all das flatternde Leuchten verschwunden. Konrad wollte Miranda lieber von der Treppe führen, weil sie so abwesend erschien. Er konnte die Schleifenbändchen nicht sehen, aber er konnte ein eigentümliches Pulsieren um sich herum wahrnehmen. Als sich dieser Zauber zum ersten Mal ereignet hatte, waren Konrad und Miranda gerade zusammen im Treppenhaus gewesen. Sie hatte ihm ganz aufgeregt jedes einzelne dieser bunten Bänder gezeigt, welche ihr, als sie zu tänzeln begannen, wie riesige Geister-Schmetterlinge vorgekommen waren. Konrad hatte nichts gesehen, aber er hatte ein komisches Gefühl um die Ohren gehabt. Er bezeichnete es an jenem Tag als Töne, die man nur fühlen, aber nicht hören könne. Miranda hatte gekichert, weil er das so selbstverständlich nahm, dass jeder wüsste, wie sich nur gefühlte Töne anhörten.
Die Beiden waren damals frei von jedem Gedanken gewesen, etwas zu tun oder tun zu müssen, frei auch von jeglichem Zeitgefühl. Sie waren neugierig gewesen wie Kinder und aufgeschlossen für alles. Ohne jegliche Erwartungen auf den Tag oder auch nur auf den nächsten Augenblick, waren sie Hand in Hand die Treppe hinaufgestürmt und dabei von dem seltsamen Phänomen überrascht worden. Seit damals wussten sie, dass es auf beide gemeinsam einwirken konnte, doch dass sie es unterschiedlich wahrnahmen; sie hatten aber damals erst einmal vermieden, viel darüber zu reden. Das erschien ungewöhnlich, denn sonst redeten sie gerade über besondere Begebenheiten bis ins kleinste Detail. Aber in diesem Fall hatten sie es sich nur deutlich beschrieben, bis jeder nachfühlen konnte, was der Andere wahrgenommen hatte, allerdings ohne nach Erklärungen zu suchen. Sie hatten auch nicht versucht, dieses unglaubliche Phänomen zu deuten. Und das passte gar nicht zu Miranda. Sie neigte sonst eher dazu, alles zu zerreden. Doch diese Magie im Treppenhaus hatte so empfindlich und flüchtig gewirkt. Miranda hatte befürchtet, jede Bewegung, auch jedes im Verstand Umwälzen, könnte diese Erscheinung für immer verwischen.
Konrad zog Miranda von der Treppe und nahm sie unten im Gang fest in seine Arme. Sie legten ihre Stirne aneinander und schlossen die Augen. Die Treppenstufen hinter ihnen wirkten schon nur noch wie ganz normale Treppenstufen in jedem Haus. Doch Konrad und Miranda umgab ein feiner Hauch wie ein silbriger Nebelstreif.
Konrad duftete nach Parfümresten vom gestrigen Tag; Miranda sog diesen Duft ein und ließ zu, dass er ihre ganze Aufmerksamkeit an sich band. Ihre Umarmung wurde enger. Konrads Hand strich sanft auf Mirandas Rücken auf und ab und schien jeden Wirbel, jeden Muskel einzeln zu erfühlen. Sein typischer Körpergeruch entfaltete sich und kroch aus seinem Halsausschnitt direkt in ihre Nase. Dies vernebelte ihr auf angenehmste Weise die Sinne. Und da geschah es wieder. Um sie herum löste sich alles in Luft auf und sie hoben sich heraus aus Raum und Zeit.
Sodann schossen sie in die Höhe hinauf, durch jedes Gemäuer hindurch, sie drehten sich in Spiralen nach oben, als wenn sie wüssten, wohin es diesmal ginge.
Als das zum ersten Mal passiert war, waren Miranda vor Angst die Sinne geschwunden. Doch nachdem sie heil wieder angekommen war, wollte sie beim nächsten Mal, wenn es denn eins gäbe, sich nicht entgehen lassen, wie es sich anfühlen würde, die Etagendecke und das Dach unbeschadet zu passieren. Und es hatte seitdem noch viele Gelegenheiten gegeben, dieses Unvorstellbare aktiv mitzuerleben. Jeder eigentlich feste Gegenstand und jedes Hindernis, das sie durchflog, fühlte sich am ehesten wie eine flüssige Wand an. Als würde sie an einem herab brausenden Wasserfall sorglos die Wasserwand durchschreiten und in eine bis dahin unsichtbare Welt treten. In dieser Welt gab es keine Begrenzungen. Miranda sah zwar Wände und Felsen und Höhlen, doch sie konnte ganz selbstverständlich durch jede Wand, die einen Raum begrenzte, umschloss, ja erst zu einem Raum machte, hindurch. Sie ging tatsächlich durch Wände, als wären sie nur ein Vorhang aus Luft … und sie brauchte ihn noch nicht einmal beiseite zu heben.
Diesmal standen Konrad und Miranda plötzlich in einem Mohn-Feld. Inmitten ausgestreckter Bergketten befand sich diese Ebene, die sonst gespickt mit Disteln, jetzt üppig voller Klatschmohn stand. Der blühte in solch leuchtendem Blutrot, dass Konrad und Miranda sich gar nicht daran sattsehen konnten. Normalerweise hätte Miranda sich gleich vor Zecken gefürchtet, aber hier legte sie sich mitten hinein in dieses betörende Mohn-Bett, streckte sich genüsslich auf dem Rücken aus und starrte in den Himmel; dort zogen irisierende, flauschig-kuschelige, ja verspielt wirkende Wölkchen entlang; es fühlte sich für Miranda so behaglich an, dass sie keine Fragen mehr stellen wollte. Doch allmählich wurde ihr klar, dass der Himmel neon-grün und die Wolken zart fliederfarben waren. Es wirkte überaus natürlich und harmonisch, … so freundlich umstimmend … und doch war es nicht das gewohnte Bild. Miranda betrachtete noch einmal das Mohn-Feld um sich herum. Während sie eine Blüte abpflückte, wurde diese Blüte immer größer in ihrer Hand. Die Farbe der Blüte blieb blutrot und auch der Stängel sah normal grün aus, allerdings, während sie ihn so fixierte, war sie sich nicht mehr ganz sicher, ob der Stängel nicht doch zunehmend dunkel-lila wirkte. Unvermittelt erschien Konrad wieder in ihrer Nähe. Er flog ganz flach über die Mohnblüten hinweg und machte dabei Schwimmbewegungen. Miranda schaute ihm dabei zu und spürte währenddessen auch um sich herum ein Medium wie Wasser. Aber flog sie nicht? Schwebte sie? Träumte sie? Konrad sah überglücklich aus. Er bewegte sich offenkundig auf sie zu, und je näher er ihr kam, desto mehr begann er zu leuchten. Er wurde goldgelb wie eine lebendige Sonne. Als er über Miranda schwebte, versuchte er sie zu küssen, doch keiner von ihnen vermochte, sich dem Körper des Anderen zu nähern. Wie aus weiter Ferne vernahm Miranda Konrads Stimme: »Warum siehst du so blau aus? In diesem Meer aus roten Klatschmohnblüten wirkst du in deinem leuchtenden Türkisblau ziemlich seltsam«. Miranda vernahm seine Worte, doch sie schienen wie Libellen durch die Luft zu fliegen. Miranda fühlte den Sinn, die Gedanken dahinter, doch sie hörte seine Worte nicht wirklich. Als sie sich darauf konzentrieren wollte, hob sich ihr Körper an und heraus aus dem Blütenmeer und Konrad und sie schwebten nun, dicht übereinander und doch berührungslos, einfach davon, hinein in das große Nichts.
Als sie sich das nächste Mal ansahen, standen sie auf dem langen Balkon des Hauses, das sie scheinbar eben erst verlassen hatten. Aber es war mittlerweile schon Dämmerung geworden und sie wussten nicht, wie spät es inzwischen war oder interessierten sich nicht dafür. Konrad stand hinter Miranda und umarmte ihren Leib, als wenn er ihn vor der Abendkühle schützen wollte. Aber es war noch mild, sie spürten die Temperatur nicht einmal. Plötzlich stieg vor ihnen ein riesiger roter Vogel auf. Er schwebte, trotz seiner gewaltigen Größe, direkt vor ihnen, recht nahe an der Balkonbrüstung. Sein Schnabel leuchtete gelb, sein Gefieder war von leuchtend-blauen Federn durchzogen, seine Brust hatte ein goldgelbes Lätzchen. Er war so unfassbar schön, dass Miranda augenblicklich die Luft anhielt, um diese unglaubliche Erscheinung durch nichts zu verscheuchen. Seine großen, kugelrunden Augen musterten sie unablässig; er suchte Blickkontakt, um Gedanken zu übertragen. Nachdem Miranda seinen Wunsch erkannt hatte, wich sie seinem steten Blick nicht mehr aus. Sie hörte auf, sein prächtiges, farbenfrohes Gefieder zu bestaunen und stellte sich mutig seinem Blick. Sie schaute ihm in seine tiefschwarzen Augen und merkte dabei, wie diese etwas von ihr in sich einsogen. Die starke Strömung zwischen ihr und dem Vogel empfand sie wie ein von heftigem Wind flach gefegtes Feuer. Auf diesem Feuerschweif rasten alle ihre Gedanken zu ihm hinüber. Und Miranda war, als zöge er gleichsam auch alle die Gedanken mit, die sie je gedacht hatte. Ein Lichtkegel stülpte sich über Miranda und sie fühlte sich wie im Scheinwerferlicht auf einer einsamen Bühne. Sie wusste es jetzt. Dieser Wundervogel war Phönix … und er hatte ihr soeben all seine Aufmerksamkeit geschenkt. Miranda überkam ein Glücksgefühl; ein rauschendes, wärmendes, pulsierendes Strömen in all ihren Adern; Phönix hatte sie aufgesucht, hatte ihr Beachtung geschenkt. Ehrfürchtig streichelte sie ihm, wenn auch nur im Geiste, so doch mit intensivster Aufmerksamkeit, sanft über seinen Kopf, seinen Hals, seine Flügelschultern. Sie liebte ihn. Sie war ihm dankbar für sein Erscheinen, war dankbar für seinen Kuss ihrer Seele. Als wenn sie ihn tatsächlich berühren könnte, spürte sie jede einzelne Feder, es schien fast, als könnte sie ertasten, welche Federn blau und welche rot leuchteten. Sie schaute ihm noch einmal suchend in die Augen und verlor dabei schlagartig ihr berauschendes Glücksgefühl; plötzlich wusste sie, dass er sie hatte abholen wollen, doch sie noch nicht bereit dazu wäre.
Vor Jahren war Phönix ihr mal in einem Traum erschienen. Genau an dieser Stelle, die Erinnerung tauchte kurz in ihr auf. Damals sollte sie ihm einen vielverzweigten Ast eines Granatapfelbaumes übergeben, doch es hingen nicht genügend Früchte daran.
Miranda wusste noch immer nicht, wie viele Früchte es denn hätten sein sollen, sie hatte auch vergessen, wie viele sie ihm schon hätte überreichen können … allein, es waren nicht genug gewesen. Diese Granatäpfel hatten im typischen Schein des Traumlichtes golden geglänzt, als wären sie mit Blattgold überzogen. Dennoch war ihre Gabe für diesen Vogel noch nicht reif zur Übergabe gewesen. Dieser Traum lag schon viele Jahre zurück und Miranda hätte nie gedacht, dass er auch einmal wahr werden könnte.
Und nun? Sie hatte nicht den kleinsten Granatapfelzweig bei sich. War Phönix diesmal gekommen, um zu sehen, ob sie inzwischen bereit wäre, die Prüfung zu bestehen? Miranda wollte sich augenblicklich auf seinen Rücken schwingen, wollte seinen schlanken rot befiederten Hals liebkosen; sie wollte ihn nicht wieder alleine fortfliegen lassen. Phönix reagierte auf ihre sehnsuchtsvolle visuelle Berührung und landete vor Miranda auf der Brüstungsmauer, um deren Haltbarkeit Miranda dabei bangte. Phönix umklammerte die Kante mit seinen riesenhaften Krallenfüßen, während er Miranda mit seinem Flügel streichelte, den er dafür gleichmäßig auf spreizte, wie einen gigantischen Fächer. Er streichelte ihr so zart den Kopf, dass Miranda unwillkürlich staunte, wie zartfühlend er sein konnte. Miranda neigte ihren Kopf seinem Flügel zu und schmiegte sich in die Liebkosung, dabei legte Miranda ihre Hand sanft auf seine sie streichelnden Federn und drückte sie sich an die Wange, als wären es die Finger eines Geliebten. Obwohl ihre überströmende Liebe zu diesem grandiosen Vogel so unverhofft erwidert wurde, zog Phönix seinen Flügel wieder zurück und fächerte Miranda nur noch liebkosenden Wind durchs Haar; festgehalten werden wollte er nicht.
Miranda liebte dieses erstaunliche Wesen so sehr, als wenn ihr Leben davon abhinge und sie wusste auf einmal, ihr Leben hing von ihm ab. Er hatte sie für eine besondere Aufgabe auserkoren und er wartete geduldig auf den Moment, an dem Miranda endlich dazu bereit sein würde. Miranda hatte es plötzlich verstanden. Gleichzeitig fühlte sie sich schuldig, weil sie noch immer nicht seinen Wünschen entsprechen konnte; Phönix würde also wiederkommen müssen. Und doch wäre Miranda ihm so gerne auf der Stelle in seine Welt gefolgt. Phönix aber schwang sich eilig von der Balkonbrüstung, die von seinem kraftvollen Abstoß erzitterte. Mit zwei drei Flügelschlägen zog er in den Himmel hinauf, so dass er geschwind Mirandas Blick entkam.
Augenblicklich spürte Miranda wieder Konrads Arme, die sie fest umschlungen hielten. Konrad stand hinter Miranda, küsste ihr zärtlich den Nacken und holte sie so zu sich zurück. Es war dunkel geworden. Die Sterne glänzten am Himmel und Miranda kam es vor, als hätte jemand den Theatervorhang ihrer einsamen Bühne zugezogen. Ihr geliebter Phönix war dahinter verschwunden. Auf einmal endete die Welt wieder vor dem Vorhang und sie blickten auf den ganz normalen, aber doch wunderschönen Sternenhimmel und genossen die laue Sommerluft.
Konrad strahlte übers ganze Gesicht, er schien gerade außerordentlich glücklich zu sein. Ein Lächeln ruhte friedvoll auf seinen Lippen und straffte alle kleinen Fältchen, die sonst um die Mundwinkel spielten, auch die Augenpartie wirkte auffällig entspannt. Miranda drehte sich innerhalb seiner Umarmung und wendete sich ihm ganz langsam zu. Sie umarmten sich nun beide und gaben einander Halt. Hinter ihrem Rücken spürte Miranda noch immer das Aufsteigen des Phönix, es war wie ein gefühltes Nachbild, denn Phönix war längst verschwunden und auch Mirandas rauschhaftes Glücksgefühl schrumpfte restlos in sich zusammen. Konrad fragte sie, was sie gesehen hätte. Miranda erzählte ihm alles ausführlich, denn sie wusste ja inzwischen, dass sie nur in Ausnahmesituationen Magisches auf gleiche Weise wahrnehmen konnten.
Ganz leise, als hätten sie Angst, jemanden aufzuwecken, öffneten sie die Balkontür und schlichen sich ins Wohnzimmer des Obergeschosses. Miranda fragte Konrad, was er denn erlebt hätte, doch seltsamerweise schaute Konrad nur versonnen vor sich hin und antwortete nicht. Nach einer Weile, als Miranda schon gar nicht mehr damit gerechnet hatte, begann Konrad zu sprechen: »Es war, als hätte ich all das, was du erzählt hast, auch erlebt, aber ich hab es nicht gesehen. Erst, nachdem du mir beschrieben hast, was dir erschienen ist, weiß ich, dass es bei mir dasselbe war wie bei dir. Zu dumm, dass ich es nicht selber sehen konnte, zu gerne hätte ich diesen wundervollen Vogel mit eigenen Augen betrachtet«.
Miranda gab Konrad einen Kuss auf die Stirn, der ihn trösten sollte. Sie waren zusammen gewesen, mehr konnte man wohl vorerst noch nicht erwarten. Miranda fragte sich im Stillen, ob Konrad denn wohl denken würde, dass er leer ausgegangen sei, während sie großartig beschenkt worden wäre. Sie legte ihren Arm um seine Schultern, als könnte sie ihn so an ihrem Glücksempfinden teilhaben lassen. Sie wollte gern alles mit ihm teilen, denn sie wusste, er würde ihr ihre dazugewonnenen Schätze in Augenblicken zeigen können, in denen sie nicht an ihre Existenz glauben könnte, sie nicht mehr sehen oder fühlen könnte. Für die Zeiten ihrer Zweifel wusste Miranda in Konrad einen unschätzbaren Bewahrer ihrer nicht-materiellen Schätze. Konrad erklärte schließlich: »Ich werde mich vielleicht damit abfinden müssen, nur dein Wegbereiter zu sein. Du hast einen speziellen Weg vor dir und brauchst noch eine Weile einen Verbündeten. Damit kommt ja auch mir eine wichtige Rolle zu. Vielleicht bin ich dafür ebenso unentbehrlich wie du es bist«.
Er klang sehr reif und abgeklärt. Miranda hatte nicht den Eindruck, dass er noch Trost gebraucht hätte. Trotzdem fügte sie hinzu: »Vielleicht wirst du ihn beim nächsten Mal auch sehen können, immerhin bist du unablässig dabei gewesen und hast mich fest in deinen Armen gehalten. Vielleicht hätte ich ohne deinen lebensechten Halt der Mächtigkeit der Erscheinung gar nicht standhalten können. Ja, ich glaube jetzt sogar, wir durften ihn nicht beide gleichzeitig sehen, denn dann wärest du nicht mehr in der Lage gewesen, mich zu halten und zu erden«. Konrad nickte. Er hatte es längst schon begriffen und akzeptiert. Während Miranda noch versuchte, ihm Hoffnungen auf ein nächstes Mal zu machen, war er schon mit seiner Rolle zufrieden. Miranda bewunderte ihn im Stillen dafür und er lächelte dankbar.
Das Mondlicht fiel zur Balkontür herein und eroberte den Raum bis zur Flur-Tür hin. Während Miranda versonnen auf den langen Mondkorridor starrte, überstrahlte das helle Licht prompt alle inneren Bilder, die in so viel Helligkeit augenblicklich verblassten. Konrad und Miranda gingen durchs Treppenhaus hinab, in welchem die Bewegungsmelder-Lämpchen unverzüglich reagierten. Sie gingen ins untere Wohnzimmer, ließen sich aufs Sofa fallen und die Katze hopste, erfreut sie wiederzusehen, dazwischen und schmiegte sich ganz dicht an sie. Ihr Schnurren wirkte so idyllisch in dieser Situation, dass es die Beiden wiederum fortzog. Allerdings nicht wirklich fort, sondern nur in eine angenehme Schläfrigkeit hinein. Konrad griff Miranda um die Schulter und zog sie näher zu sich heran. Jeder von beiden streichelte mit einer Hand die Katze, die dabei immer lauter schnurrte. Das war ein Hauch Alltagsglück. Und diesmal wirkte es fast schon ein bisschen kitschig.
Nach einer Weile stellte Miranda fest: »Ich könnte jetzt etwas zu trinken gebrauchen. Kommst du mit?« Konrad folgte ihr in die Wohnküche und Miranda kochte einen duftenden Kräutertee. Während der ziehen musste, schnappte Miranda sich ihr Mandel-Döschen und knabberte drauflos. Sie zerstückelte die Mandeln mit den Schneidezähnen und amüsierte sich insgeheim über diese ihre Marotte, aber so hatte sie sehr lange etwas von einer Mandel. Der Tee-Duft durchströmte den Raum und rief zum Abgießen, das warme Getränk tat ihnen dann gut. Sie hatten nur wenig Licht gemacht, um die romantische Stimmung noch eine Weile zu erhalten. Denn Licht verändert die Sicht der Dinge; was man selbst von innen heraus anstrahlen wollte, würde überblendet, und man sähe vielleicht Dinge, die man in dieser Stimmung gar nicht sehen wollte.
Das Abendessen hatten sie ausfallen lassen. Ein paar Apfel-Schnitze und Käsehäppchen wurden ein schöner Ersatz für eine größere Mahlzeit. Nachher erhoben sie sich zufrieden vom Tisch. Vor dem Einschlafen war Mirandas letzter Gedanke: Heute fühle ich mich unsagbar glücklich. Hoffentlich gibt es noch viele solche Tage. Sie gab Konrad einen Gute-Nacht-Kuss und kuschelte sich ein. Er rückte dicht an sie heran und legte seinen Arm auf ihre Seite. So schliefen sie ein.
Am frühen Morgen miaute die Katze, leise zwar, doch unmissverständlich nachdrücklich, denn der Futternapf war leer. Miranda stand gegen ihren Willen auf und Mietzi umkreiste und umgarnte ihr die Beine und schnurrte und gurrte ein extra Dankeschön. Als Miranda sich wieder hinlegen wollte, wendete Mietzi sich schnell wieder vom Fressnapf ab und ihr zu. Mietzi wollte Unterhaltung und nicht nur Futter. Unschlüssig saß Miranda auf der Bettkante. Mietzi hatte Lust auf einen Terrassenspaziergang, wollte von dort in den Garten und die Morgenfrische genießen, die Vögel wenigstens beobachten, sich die arglosen Schmetterlinge neben den Blumenkästen um die Nase tanzen lassen. Sie wollte die kleinen Grashüpfer verfolgen, die Katzenmarken der Gartenkatzen untersuchen, feststellen, ob es über Nacht heimliche Besucher gegeben hatte. Sie hatte Appetit auf ein Grashälmchen hier und ein Hälmchen dort, wollte am Thymian schnuppern, ihr Köpfchen in den Rosmarinstrauch reiben und ihre eigenen Duftspuren hinterlassen.
Aus diesem gemeinsamen Morgenspaziergang war ein kleines Ritual geworden. Mittlerweile hatte Mietzi ein Recht darauf. Mit einem Anflug von Trotz wie: Wenn schon, dann aber nicht ohne einen duftenden Kaffee vorher, erhob sich Miranda von der Bettkante. Im selben Moment gähnte Konrad lautstark und Miranda musste kichern. Ein richtiges Löwen-aaüaha. Selbst die Katze blickte sich fasziniert um und näherte sich Konrads Bettseite. Sie sprang hinauf, schnurrte sofort los und tretelte, als fühlte sie sich eben dazu eingeladen von diesem herzzerreißenden Gähnen. Das war für Miranda eine günstige Gelegenheit, um unbemerkt zu entkommen. Sie wollte noch vor dem Spaziergang ungestört ihren Kaffee genießen.
Der Tag begann wie ein herrlicher Sonntag. Die Vögel im Garten zwitscherten, die Katze legte sich nach ihrem Spaziergang aufs Fensterbrett und genoss ihr luftiges Plätzchen, das ihr niemand je streitig machte. Miranda begann mit den Hausarbeiten. Alles war gut. Doch in der Müdigkeit des Nachmittags fielen ihr die Begebenheiten des gestrigen Tages wieder ein und sie grübelte darüber nach:
Wie lange wird es wohl dauern, bis dieser zauberhafte Phönix sich mir mal wieder zeigen wird? Wenn er sich überhaupt je wieder sehen lässt … eher im Traum oder auch wieder einmal in Folge dieser Treppenhaus-Magie?
Kann ich ihn irgendwie selbst herbeilocken oder einladen, zu mir zu kommen, und wenn, wie? Was an mir muss ich verändern, auf welche Weise muss ich wachsen oder reifen, damit er mich für meine Aufgabe geeignet findet?
Miranda bekam ein unbehagliches Gefühl; sie hatte keinen blassen Schimmer, was für eine Aufgabe das wohl sein würde, und erhielt stattdessen ein Gefühl der Gewissheit, dass sie sich dieser Aufgabe so oder so nicht entziehen könnte. Plötzlich war sie sich gar nicht mehr so sicher, ob sie diese Aufgabe überhaupt annehmen wollte.
Warum konnte ich es gestern gar nicht erwarten, Phönix so schnell wie nur möglich zu folgen? Hier ist es doch auch ganz schön. Gerade jetzt in der großen Villa inmitten des traumhaften Gartens. Phönix will mir wohl eine neue Rolle zuweisen.
Aber im Augenblick störte Miranda das Ungewisse daran. Welche Verantwortung würde dadurch auf sie zukommen?
Müsste ich nicht automatisch Verpflichtungen eingehen, die mich meiner Freiheit beraubten? Wer ist Phönix, wofür steht er eigentlich? Warum kann ich mich seiner Wirkung jedes Mal nicht entziehen? Sobald er mir erscheint, scheine ich zu wissen, was mir bevorsteht und bereit zu sein, seinem Ruf zu folgen. Aber jetzt, bei wachem Verstand wüsste ich auch zu gern, wofür ich mich bereithalten soll.
»Liebe«.
Was? …Was war denn das jetzt?
»Phönix steht für Liebe«.
Wer sagt das?
»Du wirst in die Dimensionen der Liebe eingeführt und dein Wissen in die Welt hinaustragen«.
Wer spricht da? … Ich soll ein Liebesbotschafter werden? … So ein Quatsch!
»Nicht die Liebe zwischen Menschen ist gemeint, … es geht um universelle Liebe«. Die Stimme verstummte wieder.
Miranda erinnerte sich auf einmal mit jeder ihrer Zellen an die pulsierende, sie durchflutende Liebe, die sie in Phönix Gegenwart empfunden hatte. Liebte sie denn gar nicht diesen Wundervogel selbst, sondern das, wofür er stand, was er verkörperte? Ging sie nicht auf im Rausch der Liebe zu diesem Traumvogel, sondern im Rausch der allumfassenden Liebe? Bilder der Erinnerung zogen an ihr vorüber.
Sie fühlte noch einmal den Grapefruitbaum, der ihr einst seine Äste vertrauensvoll entgegengestreckt hatte, während sie ihn so stark zurückschnitt, bis sie sein gesundes Holz erreichte. Er, der immergrüne Baum, hatte nicht ein einziges Blatt mehr gehabt und jeder, der den Baum damals zu Gesicht bekam, gab dieses kahle Astgerüst augenblicklich auf. Miranda wollte es auch tun, aber sie konnte es nicht, … konnte es nicht, nachdem sie dem armen Baum mit den Fingern durch die dürren Äste gestrichen war, als wollte sie sich von dem einst so schönen Baum verabschieden. Eine letzte Berührung … in diesem Moment kam etwas über sie. Sie besorgte sich auf der Stelle die große Ast-Schere und die kleine Baumschere, die Säge und ein paar derbe Handschuhe, welche die Piekserei der Dornen abmildern sollten. Aber die Handschuhe zog sie dann nicht an; sie wollte den Baum erfühlen und er verschonte sie im Gegenzug mit Kratzern. Stundenlang schnitt sie sich in sein Grundgerüst hinein. Sie streichelte hin und wieder über seinen glatten Stamm, der schon dick wie ein Elefantenbein war. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass er sich noch einmal anstrengen würde, wenn sie ihm gut zuredete und ihm versicherte, dass sie ihm fortan nach Kräften helfen würde. Sie glaubte, sein Kampf ums Überleben wäre doch noch nicht verloren. Währenddessen war sie zwischen seinen Ästen eingeklemmt wie ein Yogi, der sich in eine viel zu kleine Kiste hineinzwängt. Sie spürte nichts um sich herum, als nur das Gefühl, sich mit dem Baum zu verbinden. Sie war sich sicher, dass er seine Dornen von ihr weg bog, während sie um sein Leben kämpfte, als wenn es ihr eigenes Leben wäre.