Das Geheimnis der verschwundenen Frauen - Mara Stein - E-Book

Das Geheimnis der verschwundenen Frauen E-Book

Mara Stein

4,7

Beschreibung

Alles begann mit dem rätselhaften Verschwinden der Frauen. Zwar gab es schon beunruhigende Vorzeichen, aber die konnte damals niemand deuten. Doch jetzt gibt es keinen Zweifel mehr; von allen Frauen verlassen ist das Königreich dem schleichenden Untergang geweiht. Allein ein alter Weiser fasst wieder Hoffnung. Er hat im jungen Prinzen den Auserwählten erkannt, der das Geheimnis der verschwundenen Frauen ergründen und die verlorengegangene Harmonie wiederherstellen könnte. In der Obhut des Weisen lernt der Prinz, seine Selbstzweifel zu überwinden und versucht, mit seinen Aufgaben zu wachsen. Und er spürt, nur wenn er sich in andere Wirklichkeiten wagt, kann er hoffen, einen Weg zu den Frauen zu finden. Von magischen Träumen und einer geheimnisvollen Liebe geleitet, wächst die innere Stärke des Prinzen, bis er entschlossen ist, sein Schicksal anzunehmen. So beginnt eine fantastische Reise durch Raum und Zeit, die ihn in rätselhaften und überraschenden Wendungen durch zauberhafte Traumlandschaften führt. Eine Reise, die ihn am Ende dort ankommen lässt, wo er es am wenigsten erwartet hätte. Dieser Fantasy-Roman entführt auf märchenhafte Weise in ein Land der Träume und möchte dazu ermutigen, "... Träume aus dem Schlaf zu holen, sie der Ernüchterung auszusetzen und sich ihnen doch anzuvertrauen." (Ilse Aichinger)

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„Hörst du, wie die Brunnen rauschen?

Hörst du, wie die Grille zirpt?

Stille, stille, lass uns lauschen!

Selig, wer in Träumen stirbt;

selig, wen die Wolken wiegen,

wem der Mond ein Schlaflied singt!

Oh, wie selig kann der fliegen,

dem der Traum den Flügel schwingt,

dass an blauer Himmelsdecke

Sterne er wie Blumen pflückt:

Schlafe, träume, flieg, ich wecke

bald dich auf und bin beglückt.“

Clemens Brentano

(aus: Das Märchen von dem Myrtenfräulein)

Ein junger König und seine Frau lebten einst fern von der großen Welt in einem kleinen friedlichen Königreich. Sie waren im ganzen Land sehr beliebt und immer gern gesehen; ein Leuchten ging von ihnen aus, das einem jeden Traurigen so viel Kraft und neuen Mut gab, dass sich all seine Sorgen in Luft auflösten. Fast alles, was sich ereignete, war so voller Harmonie, dass es nicht selten geschah, dass zwei, die sich ansahen, zur selben Zeit das Gleiche dachten.

Doch plötzlich und unerwartet veränderte sich die harmonische Stimmung im Königreich. Zerstörerische Unwetter zogen über das Land und fegten alles hinweg, das sich ihnen in den Weg stellte. Die schützende Hütte flog so manch einem davon; die verwüsteten Felder gaben nichts Essbares mehr her. Die sorgenfreie Zeit war vorüber, man musste nun um sein Überleben kämpfen. Ein Unwetter nach dem anderen bewies den nun verängstigten Menschen, dass nicht sie das Steuer in der Hand hielten, sondern Mächte über sie herrschen konnten, die die Menschlein sehr klein aussehen ließen.

Der König widmete sich ganz seinem Amte und lernte dabei, wie machtlos er sich fühlen konnte. Doch allmählich schienen sich die wilden Zeiten zu beruhigen. Die Unwetter, die sich des Friedens bemächtigt hatten, zogen ab, so schnell, wie sie gekommen waren. Bei schönstem Sonnenschein und lauen Lüften begann man, die Spuren des Unheils zu beseitigen, aber nur die Spuren, die man erkannte.

Obwohl nun alle stark zusammenhielten und man sich half, wo es nur ging, die kindliche Unbeschwertheit vergangener Tage schien für immer verloren zu sein, das einst so tiefe Vertrauen war erschüttert. Das große Aufräumen voran zu treiben, die Hilfen an richtige Stellen zu leiten, die Schäden am Schloss reparieren zu lassen, all das beanspruchte den König so sehr, dass er sich kaum jemals Ruhe gönnte. Er wollte so schnell wie möglich das Erlebte ungeschehen machen und den harmonischen Zustand von einst wiederherstellen.

Während er Tag und Nacht darüber grübelte, welche Methode zu welchem Ziel führen könnte, bemerkte er gar nicht, wie sehr er sich veränderte. Er sah nun die Schönheiten der Natur nicht mehr und so boten diese ihm weder Trost noch Ausgleich. Allmählich veränderte sich sein Gemütszustand so sehr, dass eine tiefe Traurigkeit auf allem zu lasten schien, das ihn umgab. Obwohl der Frieden mit der Natur in das Land zurückkehrte, wollte die innere Unruhe und Anspannung des Königs nicht weichen. Irgendetwas war geschehen, dass sich alles nur noch so abspielte, wie in jedem gewöhnlichen Königreich.

Immerhin stellte sich ein neues Gleichgewicht ein, allerdings eines, das eine tiefe ungestillte Sehnsucht nach schon fast Vergessenem in sich barg und damit auch den Keim der Unzufriedenheit. Noch bevor die letzten Spuren des Unheils beseitigt waren, ereignete sich ein noch weit schlimmeres Unglück. Und das sollte zum endgültigen Schicksalsschlag für das einst so harmonische Königreich werden. Sämtliche Frauen im Land begannen zu schweigen und es wurde kein einziges Kind mehr geboren. Schließlich gab es keinen Zweifel mehr, dass die Frauen unfruchtbar geworden waren. Dabei hatte alles schleichend begonnen. Anfangs waren sie nur sehr still geworden, doch nun versiegten auch die letzten Worte, da halfen kein Bitten und kein Flehen. In Haus und Hof blieb vieles liegen, die Kinder verstanden nicht, was hier vor sich ging. Die Frauen zogen sich von ihren Männern zurück, auch die Verliebten wurden getrennt durch diesen Rückzug der Frauen in die Stille. Ein tieftrauriger Schleier verhängte den sonst so strahlenden Blick der Frauen. Sorgenerfüllt beratschlagten die Männer, was wohl zu tun sei. Doch eines Tages geschah das offenbar Unvermeidliche; in einer Neumondnacht waren die Frauen verschwunden und hatten auch nicht ein einziges weibliches Kind zurückgelassen.

Ein feiner Nebel senkte sich nieder und legte sich über das Land. Die Nebelschwaden durchzogen bald jedes Haus und umwölkten die Sinne der Männer, so dass sie nur noch wie schlafwandelnd ihren Alltagsgeschäften nachgehen konnten. Dieser seltsame Nebel wollte nicht wieder weichen und löste sich erst auf, als man aufgegeben hatte, darauf zu hoffen. Nun allmählich gab er den Blick auf den Himmel wieder frei, doch am Ende wusste keiner so recht zu sagen, wie lange sie diesen schon nicht mehr gesehen hatten. Und die Frauen, die blieben verschwunden.

Ein Jahr lang und dann doch über viele Jahre hinweg, versorgten und erzogen die Männer ihre Knaben und machten alles so, wie die Alten es ihnen empfahlen. Zwar fehlten die Frauen bei allem, doch ließ es sich bald schon keiner mehr anmerken und allmählich vergaß man beinahe, wie es denn früher einmal gewesen war. Die kleinen Burschen wuchsen schnell heran und kamen in das Alter, in dem man Denken lernt und damit beginnt, sich und anderen Fragen zu stellen.

Nun mussten die Väter zurückblicken in ihre eigene Geschichte und versuchen, das Vorgefallene zu erklären. Noch einmal wieder wurde geforscht, wie am Anfang, was denn die Ursache sein konnte für das Verschwinden der Frauen und groß wurde die aufkeimende Sorge um die Zukunft. Da ja bisher kein Wunder geschehen war, würde es wohl auch weiterhin keinen Nachwuchs mehr geben. Schwer genug war es den Männern gefallen, die Aufgaben der Frauen zu erfüllen, ihre Stellen so plötzlich zu ersetzen. Von mancher Arbeit, die gemacht werden musste, hatten sie vorher nie bemerkt, wie sie scheinbar ganz nebenbei erledigt wurde. Auch die Mühe und Geduld, um Haus und Hof und erst recht die Kinder liebend zu versorgen, war immer unterschätzt worden, man hatte es nur wie von Ferne betrachtet, vornehmlich die angenehmen Seiten. Doch so im Ganzen erschien es nun in anderem Lichte. Wie sehr sie sich auch Mühe gaben, sich an all das zu erinnern und, der bohrenden Fragen ihrer Jungen wegen, untersuchten, was genau geschehen war, der Tag, an dem das Unglück endgültig hereingebrochen war, ausgerechnet dieser Tag erschien verschwommen. Eingehüllt in Nebel verloren sich alle Erinnerungen.

Der Sohn des Königs war ein stilles Kind. Oft erwachte er weinend aus dem Schlaf und blieb dann stumm und sah sehr traurig aus. Der König war besorgt darüber und verschwieg es lange Zeit, denn tagsüber zeigte der Prinz ein ruhiges und scharfsinniges Herangehen an die Dinge und viel Geduld im Umgang mit Tieren. Doch nachts änderte sich auch nach einigen Jahren nichts am Verhalten des Sohnes. Immer wieder erwachte er weinend aus dem Schlaf und schien nie über Gründe oder Empfindungen mit seinem Vater sprechen zu können. Da erinnerte sich der König an einen Weisen, von dem behauptet wurde, er wüsste sehr viel über die Geschichte des Königreichs. Ihn bat der König ins Schloss und weihte ihn ein in das seltsame Geschehen und machte ihn zu seinem vertrauten Berater und besonders zum Erzieher seines Sohnes, jedoch unter strengster Ermahnung an seine Schweigepflicht. Die Augen des weisen Mannes leuchteten auf, als der König ihm die unruhigen Nächte des Prinzen schilderte. Er hielt es für das ersehnte Zeichen, nach dem er schon seit Jahren Ausschau hielt. Doch als der König fragte, was das zu bedeuten habe, da schwieg er bedächtig, und gab keinerlei Antwort.

Der König überließ ihm eine Kammer im Schloss, sie lag direkt beim Zimmer des Sohnes, und der Alte verbrachte von nun an viel Zeit mit ihm. Er beobachtete jede Handlung des so glückverheißenden Prinzen und dieser war froh, solche Achtung zu erfahren und mochte den Alten gleich von Anfang an.

Tag für Tag drängte der König den Weisen, er möge etwas preisgeben, von dem was er wusste, der aber lächelte nur weise und versprach, die Dinge zu erklären, sobald die Zeit reif dafür sei. Lediglich, dass es ein gutes Zeichen sei, ein sehr gutes sogar, das verriet er. Außerdem sei er überaus froh, dass der König nach ihm gerufen habe, um sich seines Sohnes anzunehmen. So könnte alles noch ein gutes Ende nehmen. Diese Worte klangen vieldeutig, doch der König war voller Vertrauen in den Alten. So konnte er sich wieder seinen Geschäften widmen und wusste seinen Knaben in guten Händen. Nach einigen Monaten wurde es zur lieben Gewohnheit, dass der Weise mit dem König speiste. So unterhielten sie sich nun schon sehr vertraulich und der König fand in ihm einen unersetzbaren Berater, der ihm bereitwillig zur Seite stand. Allein die Gespräche über den Prinzen führten sie nicht an der Speisetafel, sondern führten sie im Verborgenen. Und dem Prinzen schien es wirklich bald schon besser zu gehen. Seitdem der Alte ihm vertrauensvoll zur Seite stand, begann sein Kinderherz zu lachen.

Nach vollen sieben Jahren endlich lenkte der Weise das Gespräch auf das große Geheimnis des Königreichs. Um alles zu verstehen, verlangte er viel Kraft vom König und der griff sogleich nach seinem Schwert und hielt es empor, bereit, gegen jedes Ungetüm zu kämpfen.

Der Alte schwieg dazu und schüttelte traurig den Kopf. Hier ging es nicht um die Kraft des Körpers, sondern um die Kraft des Geistes. Er musste wohl einen anderen Weg suchen, um sich dem König verständlich zu machen. Er bat ihn nach Mitternacht zur Kammer des Prinzen, um gemeinsam dessen Schlaf zu beobachten. Sie trafen sich direkt vor der Tür und unter der Führung des Weisen schlichen sie an das Bett des Prinzen. Das Gesicht des Prinzen war sorgenfrei und so hell umstrahlt, dass sein Antlitz leuchtete. Der Mond schien zum Fenster herein und tauchte den Raum in ein mildes silbriges Licht. Der König staunte nicht schlecht, kein Zeichen von Traurigkeit, keine Schwere der Nacht, die den Prinzen sonst umwölkte, klar und friedlich schlummerte er und atmete in kraftspendenden Zügen. Welch ein Unterschied zu früher, der Weise schien ihn wohl geheilt zu haben. Doch der zog den König schnell wieder aus dem Raum und flüsterte vor der Türe, dass der Prinz nun all seine Kraft brauchen werde, da er vor einer großen Prüfung stände. Allerdings müsse er seine Aufgabe erst noch annehmen. Danach aber käme eine wahrlich schwere Zeit auf ihn zu; dann wäre nichts mehr so, wie es einmal war. Dies zu erfahren erschütterte den König, hatte er doch gehofft, dass nun jegliche Last ein für alle Mal von seinem Sohne genommen wäre. Doch der Alte schnalzte mit der Zunge und sorgte mit diesem seltsamen Geräusch dafür, dass der König nicht mehr darüber nachdachte. Der Alte sprach dann eindringlich: „Du kannst dich glücklich schätzen und stolz auf deinen Sohn sein, nichts Ehrenvolleres könnte ihm geschehen, als das, was ihm bestimmt zu sein scheint. Es gibt ganz verschiedene Kämpfe im Leben und jeder muss in den seinen ziehen. Der Kampf aber, der deinem Sohne bevorsteht, verlangt wahre Größe“, er schaute dem König in die Augen und versuchte zu ergründen, ob der ihn verstand. Dann setzte er fort: „Doch das muss unser Geheimnis bleiben. Er darf es nicht von dir erfahren, er könnte sonst den Mut verlieren und wir alle würden scheitern.“ Der König blickte ihn betroffen an und wurde plötzlich ungewöhnlich müde. Der Alte begleitete ihn zu seinem Gemach und wünschte ihm eine gute Nacht. Am nächsten Morgen schien der König alles vergessen zu haben, was sich in der Nacht ereignet hatte.

Einige Tage später schlich sich der Weise nachts zum Bett des Prinzen, der in tiefem Schlaf lag, und strich dort ganz sacht über dessen Körper hinweg, ohne ihn dabei zu berühren. Er schien ihn gleichsam fortzuziehen, denn der Prinz stand auf und folgte der Anziehung bis zum Gemach des Vaters und an dessen Bett. Dort beugte er sich nieder und berührte die Stirn des Vaters, woraufhin der erschrak und nun seinerseits mit dem Kopf auf des Sohnes Stirn schlug. Schnell führte der Weise den schlafwandelnden Sohn wieder ins Bett zurück und sorgte sich dann auch um des Königs tiefen Schlaf.

Am nächsten Morgen saß der König bedrückt am Frühstückstisch. Auch der Prinz erschien sehr schweigsam. Beide vermieden es, Blicke auszutauschen, obwohl sie doch keine Ahnung haben konnten vom nächtlichen Geschehen. Der Alte beobachtete die Beiden und stieß, während er sich langsam erhob, wie aus Versehen seinen Stuhl um. Im Augenblick des Aufschreckens begegneten sich die Blicke von Vater und Sohn. Mit einem Aufstöhnen erhob sich nun auch der König und verließ eilig den Raum, suchte seine Bibliothek auf und wurde für den Rest des Tages nicht mehr gesehen.

Der Alte besuchte ihn dort heimlich und brachte ihm ein weißes Laken und einen großen Krug voller Wasser. Ohne ein Wort verließ er den Raum. Der König würde nun hierbleiben, bis sein Geist sich wieder geklärt hätte. Und er blieb ganze sieben Tage, schlief auf dem harten Boden, nur mit dem Laken bedeckt, aß nichts und trank nur selten etwas Wasser. Der Weise schaute jeden Tag nach ihm. Eines Morgens fand er ihn so bleich und kraftlos vor, dass der Weise sich Gedanken machte und den Ablauf beschleunigen wollte. So schickte er den immer noch schweigsamen Prinzen zu einem bestimmten Hügel, um ein besonderes Kraut herbei zu schaffen. Er ging, er kam wieder, und er brachte dem Alten dieses seltsam duftende Pflänzchen. Er war behutsam vorgegangen, um es nicht zu verletzen, und er machte dies, weil er dem Alten vertraute. Von Anfang an schien der ihn irgendwie zu verstehen. So vieles schien zwischen ihnen gesagt worden zu sein, ohne dass es jemals vieler Worte bedurft hätte. Manchmal genügte ein Blick, um selbst Unsagbares zu erklären. Dieses stille verstanden werden hatte dem jungen Prinzen so sehr gefehlt, bevor der Weise ins Schloss gezogen war, und er war seinem Lehrer nun unendlich dankbar. Wenn der Prinz auch sicher noch nicht alles verstehen konnte, so war er doch stets mit großer Aufmerksamkeit darum bemüht, die Anweisungen des Weisen zu befolgen, so auch diesmal. Der Prinz bekam das zurechtgezupfte Kraut vom Alten zurück und sollte es gründlich zerkauen, doch verschlucken sollte er davon nichts. Sein Speichel wurde mehr und mehr und schließlich reichte der Weise ihm einen Becher, in den er alles ausspucken sollte. Dann fügte der Alte zuerst sich selbst und dann auch dem Prinzen eine kleine Schnittwunde am Ringfinger zu und ließ aus jeder genau vier Tropfen Blut zu dem süßlich riechenden Kräuterbrei in den Becher tropfen. Schnell füllte er das Gemisch mit Wein auf, schwenkte es um und ließ es bis zum Abend abgedeckt stehen. Das alles machte den Prinzen sehr neugierig, er stellte dem Alten viele Fragen und dabei erwachte auch seine Lebenslust wieder. Der Alte aber verriet nicht, was es damit auf sich hatte und lächelte nur schelmisch über die sprudelnden Worte des Prinzen.

Am späten Abend, als der Mond schon in seiner vollen Größe am Himmel stand, ging der Alte zum König und reichte ihm den Becher. Er befahl ausdrücklich, ihn in einem Zug zu leeren und der König, heut noch matter als sonst, schaute ihn mit großen Augen an. Es waren die ersten Worte seit Tagen und sie drangen wie fremde Töne an sein Ohr. Aber er nickte und tat wie ihm befohlen und als er den Becher geleert hatte, da wurde ihm ganz seltsam und er streckte sich wieder lang auf dem Rücken aus. Der Weise schaute noch einmal nach, ob die Tür gut verriegelt war und versperrte auch das Fenster mit riesigen Bücherstapeln, wenngleich es dahinter ganz weit geöffnet war. Der König begann zu stöhnen, wälzte sich auf dem Boden und öffnete und schloss seine Augen immer wieder, bis er sich plötzlich aufsetzte und sich an den nahe bei ihm sitzenden Alten lehnte. Der dirigierte dessen Schwanken zu rhythmischen Bewegungen und summte dazu, bis auch das Stöhnen des Königs ein Summton wurde. Einige Zeit hielt das so an, dann legte der Alte den König auf den Rücken, band mit zwei durchsichtigen Fäden seine Hände und Füße zusammen und befestigte jeden Faden an einem Tischbein des großen Büchertisches. Der König war leise geworden und auch ganz starr, während der Alte ununterbrochen weitersummte.

Zu Mitternacht plötzlich begann ein feiner, fast unhörbarer Glöckchenklang. Dazu erschienen in der Dunkelheit des Raumes Farbpünktchen, die auf einem einzigen Mondstrahl zu tanzen schienen, der sich an den Büchern vorbei durch das Fenster ins Zimmer schlich. Doch der Mond wanderte und nahm seinen Strahl mit sich fort, ebenso die kleinen Farbpünktchen. Genau in diesem Augenblick zuckte der König zusammen und zerrte plötzlich an den feinen Fäden, die doch stark genug waren, ihn zu halten. Seine Augen blieben geschlossen, während er zappelnd versuchte, sich loszumachen. Der Alte summte nur immer lauter und beobachtete blinzelnd, wie der König sich bewegte. Doch der beruhigte sich wieder und wurde still und stiller, je mehr sich die Morgendämmerung näherte. Als er eingeschlafen zu sein schien, löste der Alte die Fäden vom König und nahm die Bücherstapel vor dem Fenster beiseite, um die kühle Morgenfrische einströmen zu lassen. Sodann ergriff er den Becher und verließ leise die Bibliothek.

Der Weise wollte nun auch ein wenig schlafen, aber begab sich dazu in den Garten und legte sich etwas verborgen ins taunasse Gras. Spät erst fand die Sonne ihn hinter einer Hecke und kitzelte ihn wach. Erfrischt begab er sich in seine Kammer, doch wollte er dann sogleich zum Frühstückstisch.

Indessen suchte ganz verwirrt der junge Prinz nach dem weisen Alten. Noch bevor der den Frühstückstisch erreichte, stießen sie geradewegs zusammen und so machte der Alte kehrt und zog den aufgeregten Prinzen einfach mit sich in seine kleine Kammer. Sie ließen sich gerade noch auf den Sitzkissen seitlich neben dem Fenster nieder, da sprudelte der Prinz schon los und erzählte alles, was er so dringend mitteilen wollte. Es ging um einen lebhaften Traum, den er heute Nacht gehabt hatte. Er betonte, dass er ihn wahrhaftig erlebt hätte und dass das eben der Grund sei, weshalb er ihn, den weisen Mann, jetzt brauchte. Nur er könne ihm erklären, was es mit solchen Dingen auf sich habe. Der weise Alte legte dem aufgeregten Prinzen die Hand auf die Schulter und lächelte ihm beruhigend und von einem Glücksgefühl erfasst zu. Nun würden die Dinge ihren Lauf nehmen und alles würde gut. Er lauschte gespannt den Schilderungen des Prinzen und erkannte, dies war wirklich ein besonderer Traum.

Vater und Sohn hatten sich in der vergangenen Nacht in Eulen verwandelt und der Vater kam zu des Sohnes Zimmer geflogen, um ihn für einen gemeinsamen Ausflug in die Dunkelheit abzuholen. Es schien das Natürlichste der Welt zu sein, dass sie beide so als Eule miteinander redeten, obwohl er sich nicht sicher an gesprochene Worte erinnern konnte. Offenbar konnten sie sich einander mitteilen, ohne sich zu wundern. Ganz selbstverständlich flogen sie los; sie hatten eine lange Strecke zu fliegen; viele Wälder mussten sie überqueren, bis sie schließlich einen besonders merkwürdig aussehenden Wald erblickten. Da nämlich waren die Bäume weiß, die Stämme ebenso wie die Blätter oder die Nadeln der Tannen; auch der Erdboden und all die anderen Pflanzen, einfach alles, alles war weiß und von einem besonderen Licht umgeben. Ein zartblauer Schimmer umgab dieses sanfte weiße Leuchten und zog die Beiden magisch an. Vater und Sohn schienen gleich zu empfinden und so fühlte sich der Eulen-Sohn seinem Eulen-Vater ungewohnt nahe. Sie wollten beide näher an die Grenze zu dieser anderen Natur, doch sie zögerten etwas, da sie fürchteten, diese Erscheinung könnte sich vor ihnen in Luft auflösen. Und ein klein bisschen hatten sie vielleicht auch Angst, sich selbst zu verlieren, wenn sie diese Welt berührten.

Als der Prinz sich nun an diese Traumbilder erinnerte, lachte er kurz auf, denn die Vorstellung, als Eule Angst zu haben, den Körper zu verlieren, erschien ihm doch äußerst seltsam. Umso klarer wurde ihm, wie sehr sie sich ganz wie sie selbst gefühlt hatten, trotz ihrer offenkundig ungewöhnlichen Erscheinungsweise. Der Weise bat ihn, jetzt nicht weiter darüber nachzudenken und stattdessen wieder ganz in seinen Traum einzutauchen, damit er ihn mit ihm zusammen nacherleben dürfte. Und so ließ der Prinz diese unglaublich wirkende Schönheit aus flimmerndem Licht wieder vor sich erscheinen.

Die Eulen entschlossen sich nun doch, ganz dicht an die Grenze oder auch darüber zu fliegen, als ein feines Klirren sie erschreckte und sie zu warnen schien, weiter zu fliegen. Es klingelte klirrend, als wenn die Kristalle eines prächtigen Kronleuchters vom Winde gerüttelt aneinander schlugen und doch vernahmen sie hinter dem Geklingel eine Stimme, die sie fast zu verstehen glaubten, leider nur fast.

Ein einzelner Eichbaum stand so nah an der Grenze, dass man meinte, er streckte seine Arme fast schon über sie, doch genauer betrachtet hielt auch er sich gefügig an die Trennlinie zum weißen Land. Diese Eiche bot sich an, um einen weiten Überblick zu bekommen, jedoch ohne die weiße Grenze zu verletzen. Gleichzeitig flogen die beiden Eulen los und ebenso gleichzeitig landeten sie auf dem Ast, der der Grenze am nächsten lag. Wieder klang es sanft, doch diesmal feiner und nicht klirrend.

Was sie sahen, überwältigte sie beinahe. Inmitten des sanften weißen Lichts erschien ein Lichtermeer aus hüpfenden Farbpünktchen. Wie in einem Fluss spiegelten sich die bunten Lichtchen leicht gedämpft noch einmal neben sich selbst wider. Das alles wirkte fröhlich und glückverheißend, doch sie konnten keine bunten Lampen erkennen, auch keine Menschen und kein Fest. Alles war ein flirrendes Leuchten, das mal Gestalt anzunehmen schien und dann doch wieder nicht. Wann immer man etwas zu erkennen glaubte, löste es sich auch schon wieder im Flimmern dieses Lichtes auf. Im Prinzen begann die Neugier zu wachsen und doch war er fest entschlossen, auf die klingende warnende Stimme zu hören. Etwas in ihm schien aufzupassen, dass er nichts tat, das er bereuen müsste. Doch gleichzeitig wuchs das Bedürfnis, mehr über diese geheimnisvolle Welt zu erfahren. Sie kam ihm so eigenartig vertraut vor, obwohl er hätte schwören können, so etwas noch nie gesehen zu haben. Ein starker Sog ging von ihr aus, dem er nur schwerlich standhalten konnte, und plötzlich stieg etwas in seiner Kehle auf. Er nahm alle seine Kraft zusammen und umklammerte den Ast, auf dem er saß, ganz fest mit seinen Krallen, um nur nicht herunter geschleudert zu werden, als ein lauter Ruf wie eine Druckwelle aus ihm herausschoss, ein Ruf, den er in die Weite des weißen Landes hinein ausstieß. Ohne zu merken, was er rief, hallte dieser Ruf nach und der König erschauerte. Mit der Stimme eines zweijährigen Jungen hatte der Eulen-Prinz das Wort Mama gerufen. So markerschütternd und voller Sehnsucht, so voller Entsetzen über den Verlust. Genau zwei Jahre alt war er gewesen, als seine Mutter fortgegangen war. Konnte er das denn noch wissen? Dem Prinzen gefiel das Spiel mit dem Echo und so rief er noch einmal und immer wieder. Er verstand nicht, was er tat, doch der König wurde dabei traurig, ließ die Flügel hängen und flehte, er möge damit aufhören, es würde ihm ja ganz schwer ums Herz. Erstaunt und ungläubig schaute der Sohn dem Vater ins Eulengesicht, als sich ein feines und angenehm klingendes Glöckchen zu nähern schien. Gespannt lauschten beide und sahen, wie eine Kutsche aus bunten Lichtfleckchen scheinbar schwebend auf sie zukam. Eine Kutsche, auch nur von Farbpunkten gezogen, und darin ein bläulich weißes Licht, ein Strahlen ohne feste Umrisse und doch irgendwie in Form einer menschlichen Gestalt. Dem König wurde angst und bange und er wäre am liebsten davongeflogen; stattdessen schloss er seine großen Eulenaugen und bedeckte sie ganz fest mit seinen Flügeln. Der Prinz hingegen war völlig fasziniert; er hatte einen Laut gerufen, der ihm bekannt vorkam, doch dessen Bedeutung er nicht ahnte, und daraufhin näherte sich etwas Geheimnisvolles, das ihn nun nur noch neugieriger machte. Jetzt wegzufliegen wäre undenkbar gewesen, er riss seine Eulenaugen auf, soweit er nur konnte.

Und der König, obwohl er seine Augen fest verschlossen hatte, sah noch immer alles so deutlich wie zuvor. Er hatte seine einstige Frau, seine Königin, erkannt, und zwar in den formlosen Strahlen weißen Lichts in der Kutsche. Diese leuchtende Gestalt war das Abbild der Frau, die er einst so unermesslich geliebt hatte, doch vor deren gespenstischem Erscheinen er sich nun sehr fürchtete, ja grauste. Er spürte zerrende Spannungen zwischen sich und der weißen Grenze, die Luft schien zu wabern und ließ sich kaum noch atmen. Und er spürte noch etwas in sich, etwas, das er nicht kannte, etwas, das er noch niemals gespürt hatte, allein deshalb machte es ihm Angst.

Dicht an der Grenze hielt die Lichtkutsche mit der strahlenden Gestalt. Ob auch sie nicht weiter durfte oder nur aus Vorsicht hielt, war nicht zu erkennen. Doch die Leuchtfrau verließ die Kutsche und kam die letzten Schritte zu Fuß oder wohl eher schwebend. Je näher sie kam, desto deutlicher war sie zu erkennen. Direkt auf der Linie blieb sie stehen und begann ihres Sohnes einstiges Wiegenlied zu singen, und zwar mit ebendieser Stimme, die der Knabe damals vernommen hatte.

Da flog der Prinz vom Eichenbaum herab, landete direkt auf der Grenzlinie, sah dort eine wirkliche Frau und wusste plötzlich, wer sie war. Direkt auf der Linie hatte er sein Gefieder verloren und sie bildete in all ihrem Leuchten den echten, warmen Frauenleib aus und rief ihn bei seinem Namen. Ohne zu begreifen oder wirklich zu wissen, spürte er die Gewissheit in sich, dass dies seine Mutter sei. Er kniete vor ihr nieder und griff nach ihrer Hand, doch sie entzog sie ihm, bevor er sie berühren konnte. Mit Tränen in den Augen flüsterte sie ihm zu, wie glücklich sie sei, dass gerade er, ihr Sohn, der Auserwählte sei, der alle Frauen erlösen und die Schande, die über sie gekommen war, wiedergutmachen könnte. Ergriffen fragte er, was er denn tun könnte und wollte mehr darüber wissen, was damals geschehen war. Sie aber antwortete ihm, dass auch das herauszufinden noch seine Aufgabe wäre. Doch er müsse eine geheime Führung an seiner Seite haben, das könne sie spüren. Sie trat einen Schritt ins Weiße zurück und ihr Körper ward wieder nur noch Licht. Mit nun seltsam klingender Stimme raunte sie ihm zu, dass er noch sehr viel Kraft aufbringen müsse und vor allem nie und unter keinen Umständen den Glauben an sich verlieren oder seine Überzeugung verleugnen sollte. Seine letzte Waffe sei Schweigen. Doch er konnte schon fast nichts mehr verstehen, denn sie begab sich wieder zur Lichtkutsche zurück. Er flehte, sie solle noch bleiben und ein Klirren antwortete ihm, dessen Klang schon keine Worte mehr ergaben, die er dennoch verstand. Bedrückt trat auch er einen Schritt rückwärts von der Grenze weg und augenblicklich flog er, wieder im Gefieder der Eule, zu seinem Vater auf die Eiche und sagte, „sie kann nicht länger bleiben“. Der Vater nahm die Flügel von den Augen, streckte sich und spreizte die Federn. Er drehte seinen Kopf aus der inneren Versenkung und forderte seinen Sohn auf, nun rasch umzukehren. Also flogen sie in einem Stück durch bis nach Hause. Kaum im Schlossgarten angekommen, strebten sie, ohne sich noch einmal umzublicken, jeder in sein Gemach.