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In the year twenty-one twenty-oneDie Welt, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr, weil inzwischen ein Großteil der Erdoberfläche der des Mars ähnelt.Aber die Menschheit existiert - auf zwei unterschiedliche Arten. Die Analogen leben in Sphären - Habitaten unter Kuppeln aus Graphen und Polymeren, geschützt von Filtern und Spiegeln. Die Digitalen existieren als denkende Form von Nullen und Einsen in einer virtuellen Welt, in der nichts unmöglich scheint.Maxx ist fest in der analogen Welt verankert: Ein Kerl wie aus Titan und Schützling des reichsten Mannes aller Sphären. Für ihn sind Digitale nicht viel besser als ein Taschenrechner.Mju ist eine Waise und ihrer Großmutter in die digitale Welt gefolgt. Eine überstürzte Handlung, wie sie mehr und mehr zu erkennen glaubt.Durch einen Auftrag, der Mju das Leben kosten könnte, treffen beide aufeinander. Doch anstatt sich gegenseitig zu bekämpfen schließen sie einen Pakt, weil beide entdeckt haben, dass analoge Oligarchen einen Plan verfolgen, der die digitale Welt letztendlich zerstören kann.Und ihnen bleiben dafür noch drei Tage.
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Seitenzahl: 475
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Für Max und Lisa.
Ohne euren Input wäre diese Geschichte nicht, was sie ist.
Sehr gelungenes Buch eines Genres, das ich vorher wenig gelesen habe, aber ich bin sicher, dass ich auch den 3. Band lesen werde, den es hoffentlich gibt.
ALEX1309 ZU »BAT BOY 2«
Tolle Story, mit Überraschungen, viel Spannung und Privateinblick bei den Protagonisten.
ECKHARD SCHMITZ ZU »E-DEATH«
Du hattest mich schon mit dem ersten Entwurf. Wehe, du schreibst das nicht zu Ende!
AUTORENKOLLEGIN ZU »OFFF«
SPHEROPE-REIHE
BUCH 1
1. Auflage, 2023
© 2023 C.A.Raaven – alle Rechte vorbehalten.
C.A.Raaven
c/o Fakriro GbR
Bodenfeldtstr. 9
91438 Bad Windsheim
https://www.c-a-raaven.de
Covergestaltung: © Nina Döllerer unter Verwendung von Motiven carlos castilla bei shutterstock.com / https://www.instagram.com/nd.de.sign
Die Kapitelgrafiken wurden unter Nutzung des KI-Tools Midjourney erstellt. https://www.midjourney.com/app/users/703350208519602298/
Autorenfoto: © gezett / https://www.gezett.de
Erstellt und überarbeitet mit Papyrus Autor / https://www.papyrus.de
ISBN der Printfassung: ###
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Erstellt mit Vellum
Nicht ganz nüchtern
Analoge Welt, Primäre Sphäre, Büro der Federal Urbanisation Administration Genf-Plainpalais, Zeitindex 08052121_0900 – 1100
#theresnoplace like 127.0.0.1
Digitale Welt, Sporting_Life, Trainingszentrum, Zeitindex 08052121_1000 – 1100
Nicht ganz ehrlich
Analoge Welt, Primäre Sphäre, Dachterrasse der Residenz von Iurii, Genf-Les Pâquis, Zeitindex 08052121_1100 – 1200
#atomsmakeupeverything
Digitale Welt, Le Village, Villa von Alma Matèrne, Zeitindex 08052121_1130 – 1330
Nicht ganz allein
Analoge Welt, Sekundäre Sphäre, Wohnsilo 7of9, Zeitindex 08052121_1330 – 1430
#onofffrelationship
Digitale Welt, Le Village, Villa von Alma Matèrne, Zeitindex 09052121_0800 – 1000
Nicht ganz allwissend
Analoge Welt, Sekundäre Sphäre, Wohnsilo 7of9, Zeitindex 08052121_1600 - 09052121_0800
#digitalyyours
Digitale Welt, Le Village, Villa von Alma Matèrne und Dig_Italy, Zeitindex 09052121_1000 – 1200
Nicht ganz erfolgreich
Analoge Welt, Sekundäre Sphäre, Wohnsilo 7of9, Zeitindex 09052121_0900 – 1200
#mjutothemaxx
Digitale Welt, Ceasar’s Palace, Zeitindex 09052121_1200 - 1400
Nicht ganz da
Analoge Welt, Sekundäre Sphäre, Wohnsilo 7of9, Zeitindex 09052121_1345 - 1545
#keepcalmandcarryon
Digitale Welt, Le Village, Atelier in der Villa von Alma Matèrne, Zeitindex 09052121_1545 - 1600
Nicht ganz wahr
Analoge Welt, Sekundäre Sphäre, Wohnsilo 7of9, Zeitindex 09052121_1545 – 1615
#teaforthree
Digitale Welt, Le Village, Villa von Alma Matèrne, Zeitindex 09052121_1600 - 1700
Nicht ganz alltäglich
Digitale Welt, Le Village, Villa von Alma Matèrne, Zeitindex 09052121_1715 - 1815
#whatthefact
Analoge Welt, Sekundäre Sphäre, Wohnsilo 7of9, Zeitindex 09052121_1815 - 2015
Nicht ganz fertig
Digitale Welt, Le Village, Villa von Alma Matèrne, Zeitindex 09052121_2015 - 2145
#mjunification
Digitale Welt, Le Village, Studio in der Villa von Mju, Zeitindex 09052121_2145 - 2245
Nicht ganz planlos
Digitale Welt, Le Village, Villa von Mju, Zeitindex 09052121_2245 - 10052121_0145
#letsgodefenceletsgo
Digitale Welt, dig_italy, Zeitindex 10052121_1000 - 1200
Nicht ganz willig
Digitale Welt, Le Village, Villa von Mju, Zeitindex 10052121_1105 - 1205
#lockdown
Digitale Welt, Le Village, Studio in Mjus Villa, Zeitindex 10052121_1205 - 11052121_1205
Nicht ganz bereit
Digitale Welt, Le Village, Studio in Mjus Villa, Zeitindex 11052121_1205 - 1505
#twosomething
Digitale Welt, Le Village, Studio in Mjus Villa, Zeitindex 111052121_1505 - 1705
Nicht ganz zu spät
Analoge Welt, Sekundäre Sphäre, Wohnsilo 7of9, Zeitindex 11052121_1605 - 1835
#unsafehaven
Digitale Welt, Le Village, Studio in Mjus Villa, Zeitindex 11052121_1735 - 1835
Nicht ganz sichtbar
Analoge Welt, Down_Under, Zeitindex 11052121_1835 - 1935
#nogloryinprevention
Digitale Welt, Le Village, Burg oberhalb von Mjus Villa, Zeitindex 11052121_1900 - 1940
Nicht ganz zufrieden
Analoge Welt, Down_Under, Zeitindex 11052121_1935 -1950
#agileplanning
Digitale Welt, Le Village, Burg oberhalb von Mjus Villa, Zeitindex 11052121_1940 - 2010
Nicht ganz orientierungslos
Analoge Welt, Down_Under, Zeitindex 11052121_2110 - 2210
#sorrynotsorry
Digitale Welt, Le Village, Burg oberhalb von Mjus Villa, Zeitindex 12052121_0200 - 0340
Nicht ganz unbemerkt
Analoge Welt, Down_Under, Zeitindex 12052121_0030 - 0530
#loneliestnumber
Digitale Welt, Le Village, Burg oberhalb von Mjus Villa, Zeitindex 12052121_0340 - 0540
Nicht ganz komplett
Analoge Welt, Tertiäre Sphäre, Xpress-Route zur Quartären Sphäre, Zeitindex 12052121_0530 - 0730
#waitinghurts
Digitale Welt, Le Village, Burg oberhalb von Mjus Villa, Zeitindex 12052121_1158 - 13052121_0000
Nicht ganz am Ende
Analoge Welt, Quartäre Sphäre, Zeitindex 12052121_1800 - 13052121_0005
Orkus
#afterhour
Digitale Welt, Le Village, Burg oberhalb von Mjus Villa, Zeitindex 13052121_0700 - 13052121_0730
Limbus
Ohne Titel
Vielen Dank, das war’s
Darf’s noch etwas mehr sein?
Wer ist C.A.Raaven?
Von C.A.Raaven bisher erschienen
MAXX
Oh verdammt, irgendeine dieser Substanzen wird dich nochmal umbringen.
Ich reibe mir den schmerzenden Schädel und schüttle den Kopf, bis meine Sicht klar wird. Natürlich muss ich mir das Zeug nicht reinziehen. Nur manchmal, in der Nacht. Wenn diese beschissenen Träume mich nicht loslassen und nicht mal ein paar der Filme aus der guten alten Zeit wirken, wo Männer noch Männer waren. Dann geht einfach nix über ein Büro, das 24/7 offen ist – und den einen oder anderen Kick.
Mein Blick fällt auf das halbvolle Glas, das auf der Ablagefläche des Workseats steht. In der bernsteinfarbenen Flüssigkeit schwimmt etwas Undefinierbares und zieht kaum sichtbare Schlieren durch die ölige Brühe.
Ach, Scheiß drauf. Wenn schon in die Hölle, dann wenigstens in die erste Reihe.
Ich greife nach dem Glas, während ich das Wort in meinem Geist hin und her bewege.
Hölle ... was für ein seltsamer Begriff.
Vor ein paar Wochen bin ich mehr zufällig in einem Video-Feed drauf gestoßen. Da haben sie ständig was von ‘zur Hölle fahren’ und so gefaselt. Zuerst habe ich das tatsächlich für ne Ortsbezeichnung gehalten, bis Honey mich wieder einmal eines Besseren belehrt hat. Sie sagte, dass es früher einige Glaubensgemeinschaften gab, bei denen die fiktiven Orte ‘Himmel’ und ‘Hölle’ nach dem Tod eine wichtige Rolle spielten. In den äußeren Sphären soll es sie auch immer noch geben, diese Religionen. Im Himmel ist alles gut, geradezu paradiesisch. In der Hölle eher nicht. Und wie inzwischen auch die Climatics und NOPEs nimmt jede dieser Religionen für sich in Anspruch zu wissen, wie es dort aussieht und auf welche Art und Weise man entweder an den einen oder anderen Ort gelangt.
Heute ist das viel einfacher. Himmel und Hölle liegen direkt nebeneinander auf der Erde. Entweder man ist in einer Sphäre – oder eben draußen. Und selbst bei der Tertiären oder Quartären Sphäre wäre ich mir nicht so sicher.
Beim Greifen nach dem Drink streift meine Hand den Scan-Bereich des Rechners und der Seat schwenkt aus der halb liegenden in die sitzende Position. Seine Projektoren erwachen aus dem Standby-Modus und füllen drei Wände meiner Kabine mit Holo-Anzeigen. Die Linke gewährt einen Einblick in den Zustand der Sphärenabschirmung – alles im grünen Bereich. In der Mitte ist das fast fertige Energiesparkonzept für die Administration zu sehen, an dem ich letzte Nacht noch gearbeitet habe. Auf dem rechten Holo flackern die hektischen Bilder einer Nachrichtensendung.
»Honey, mach mal lauter.«
Meine krächzende Stimme klingt selbst für mich fremd und meine Kehle fühlt sich an, als hätte ich mit Rasierklingen gegurgelt. Aber meine persönliche KI versteht mich und schaltet den Ton der Live-Übertragung an.
»... sind bei der Überflutung einer der Röhren des Kanal-Tunnels vermutlich hundert Menschen ums Leben gekommen«, spricht ein Reporter aus dem Off, während die verwackelten Bilder von einem Schema des Beförderungssystems ersetzt werden. Am unteren Bildrand läuft der Börsenticker. TubeXpress ist um 20 Punkte runter.
Kein Wunder bei solchen Nachrichten. Welcher Idiot investiert schon in ein Transportsystem, bei dem Menschen sterben – selbst wenn es nur welche sind, die ne Krankheit haben.
Unwillkürlich hebe ich meinen linken Arm, an dem ich den Communicator trage. Das Display erwacht und ich kann die Oxy-App ablesen. Sie zeigt eine Sauerstoffsättigung von 100% an.
Bleib ruhig, Alter. Du bist kerngesund.
Eine sanfte, getragene Melodie dringt an meine Ohren. Sie klingt fremdländisch, aber doch irgendwie vertraut. Langsame Akkorde eines Saiteninstruments, unterlegt mit sphärischen Modulationen und dem Spiel einer Flöte.
Hat die KI meinen Stresslevel erkannt und will mich entspannen?
»Honey, bist du ...?«, beginne ich, doch in diesem Moment fällt mein Blick auf das rechte Holo.
Untermalt von der Musik werden dort Landschaften angezeigt, die es schon seit über fünfzig Jahren kaum noch irgendwo gibt: weitläufige, üppig grüne Hügel, kilometerlange feinsandige Strände, gesäumt von Palmen, schneebedeckte Berge.
»Sind Sie es leid, Ihr Leben in ständiger Angst vor Krankheiten zu fristen?«, ist eine sonore, väterlich klingende Stimme zu hören. »Sehnen Sie sich nach einem Dasein in einer paradiesischen Umgebung und ohne Kriminalität? Dann sollten Sie über die Aufnahme in die digitale Gesellschaft nachdenken.«
Fuck, schon wieder so ein beschissener Upload-Spot.
»Das ist ja nicht zum Aushalten!«, platzt es aus mir heraus.
Sofort wird der Ton stummgeschaltet.
Honey, du kennst mich eben – auch wenn du nur aus Nullen und Einsen bestehst ...
Ein sanftes Tippen auf dem Handgelenk beendet den Gedanken.
Ich schaue auf meinen Communicator. Auch ohne die Nachricht auf der Retina aufzurufen, ist mir klar, worum es geht, denn sie enthält das Wort ‘Iurii’.
Der große Meister ruft. Dann wird es wohl nix mit Duschen und Umziehen.
Gähnend lasse ich mich vom Workseat in die Senkrechte bringen, habe beim Aussteigen aber trotzdem das Gefühl, außer dem Knacken, mit dem sich ein paar meiner Wirbel zurück an ihren angestammten Platz bewegen, sogar ein Quietschen in meinem Hüftgelenk wahrzunehmen.
Wird Zeit, dass du deinen faulen Arsch mal wieder hochkriegst und trainierst.
Als ich mich der Tür zuwende, schießt mir eine Idee durch den Kopf und ich drehe mich noch einmal zurück zum Seat. Dort lege ich die linke Hand auf den Konnektor und lade die Daten meiner Ausarbeitung in den Körperspeicher. Dann nehme ich die Treppe.
* * *
»Guten Morgen, Master Maxx«, begrüßt mich der Wachmann, als ich durch die vordere Schleuse des Instituts gehe. »Na, wieder im Büro übernachtet?«
»Sie haben mich erwischt«, erwidere ich augenzwinkernd.
Er tippt sich zum Gruß an die Uniformmütze. »Aber einer muss wohl darauf aufpassen, dass hier in der Primären Sphäre alles rund läuft.«
Ich gebe ihm das Daumen-hoch-Zeichen und gehe durch das Portal nach draußen.
Wenn du wüsstest, dass ich letztens Iuriis Nacktkatze durch die falsche Ausrichtung eines Spiegels einen ordentlichen Sonnenbrand am Hintern verpasst habe.
Vor dem Hauptgebäude der Federal Urbanisation Administration bleibe ich kurz stehen, schaue mich um und hole tief Luft. Die Berge ringsum ragen majestätisch in die Höhe, ihre Gipfel kantig und grau, die Hänge bedeckt mit verschiedenen Schattierungen von Grün. Auch direkt um die FUA herum dominieren das Grün von Blättern und die Violett-Töne von Oleander und Rhododendren. Eine leichte Brise vom See dahinter trägt neben dem Summen von Insekten auch einzelne Schreie von Möwen zu mir.
Kaum zu glauben, dass all dies nur durch eine Kuppel aus Metall und Polymeren, Spiegel und ihre Steuerung ermöglicht wird. Und ich kann hoffentlich dazu beitragen, dass das noch lange so bleibt.
Ich wende mich nach links und halte Ausschau nach einem Transportmittel. Nicht weit von mir entfernt entdecke ich eine Reihe mannshoher, silbrig glänzender Kugeln und gehe auf die vorderste zu. Als ich meine Hand auf die Oberfläche lege, wird sie transparent und ein Segment gleitet zur Seite, um mich einzulassen.
»Hey, Betty, bring mich zu Iurii.«
Kaum dass ich mich auf dem Sitz im Innern niedergelassen habe, setzt sich das Bubble-Car des Sphären-Transport-Service in Bewegung und gleitet in Richtung Les Pâquis. Die Fahrt dauert nicht lange – vielleicht auch deswegen, weil alle anderen Fahrzeuge anhalten und uns Vorrang gewähren.
Das sieht dem Alten ähnlich – automatische Priorität für alle, die auf dem Weg zu ihm sind.
Wie immer habe ich auf der Fahrt das Gefühl, in einer Zeitmaschine zu sitzen. Trotzdem hier im Verwaltungsbereich schlanke Türme aus Stahl und Glas die Umgebung dominieren, ist der größte Teil des Bodens begrünt. Schließlich sind Pflanzen immer noch die besten Sauerstoff-Produzenten. Und sie funktionieren ohne Strom. Den brauchen wir, um den ganzen Rest am Laufen zu halten. Aber schon ab dem rautenförmigen Bereich der »Plaine« wird das Grün immer spärlicher. Dahinter kann ich die antiken Gebäude der Altstadt erkennen, in denen die Geldsäcke wohnen.
Warum eigentlich stehen die Typen so auf diese ollen Steinhaufen und die tristen Schluchten dazwischen? Vielleicht haben sie aber auch alle ne Dachterrasse, da können sie schön über den Dingen stehen.
Dann jedoch überquert die Bubble eine Brücke und beendet damit nicht nur meine wandernden Gedanken, sondern auch die Blicke, die ich in die Runde geworfen habe. Das Flussbett unter mir ist schon lange durch eine Staumauer abgeriegelt und fast vollkommen ausgetrocknet. Aber nicht der übrig gebliebene Abgrund ist mein Problem, sondern der direkte Blick auf den Genfer See, den man von hier aus werfen kann. Sicherlich werden das auch die meisten Anderen tun. Aber ich nicht, denn mir läuft dabei jedes Mal ein eiskalter Schauer den Rücken runter. Dumm nur, dass Iuriis Anwesen fast direkt am Ufer des Sees liegt. Daher bleibt mir nichts anderes übrig als die Zähne zusammenzubeißen. Oder die Augen zu schließen.
Aber so tief bin ich noch nicht gesunken.
* * *
Das fünfstöckige Eckgebäude, in dem Iurii residiert, muss früher mal Teil eines Ensembles mehrerer Häuser gewesen sein. Zumindest legt das die Bebauung außen herum nahe. Die anderen hat er wohl dem Erdboden gleichmachen lassen, denn es steht dort als Solitär. Schon aus einiger Entfernung kann ich daher erkennen, dass jedes einzelne Fenster erleuchtet ist – mitten am Tag.
Und ich bringe ihm ein Energiesparkonzept. Vielleicht sollte ich ihm einfach mal empfehlen, seine beschissenen Lichtschalter auch zu bedienen.
Ich verlasse die Bubble an einer Station des Transport-Service und gehe die letzten paar hundert Meter zu Fuß – vorbei an der Anlegestelle seiner Yacht. Der Koloss zieht im Vorbeigehen unwillkürlich meinen Blick an. Ich muss mich zusammennehmen, um nicht einfach starrend davor stehenzubleiben. Der schwimmende Palast wirkt auf mich wie der Abtransport einer kranken Person durch den Umwelt-Service. Man kann nicht anders, als hinzuschauen und ist gleichzeitig froh, dass es einen nicht selbst getroffen hat. Wieder zuckt meine Hand hoch, damit ich einen Blick auf die Oxy-App werfen kann.
Es ist alles gut, du bist nicht wie die ...
Doch dann schießt dahinter der »Jet d’eau« in die Höhe und bricht den Bann. Ich schüttle meinen Kopf, wende mich dem Eingangsportal des ehemaligen Luxushotels zu und trete ein. Drinnen erhellen tausende Lichter einen Prunk aus alten Zeiten. Überall glänzen und blinken Gold und Kristall. Zwischen zwei imposanten Sphinxen führt eine Treppe hinauf in eine Lobby mit einem Counter, hinter dem ein vierschrötiger Typ in schwarzem Anzug und Sonnenbrille mit vor der mächtigen Brust verschränkten Armen steht.
Aber als ich gerade die oberste Stufe erreicht habe, tritt der Majordomus auf mich zu. Wie immer vermittelt es den Eindruck, als hätte er sich dorthin teleportiert.
»Master Maxx, wie schön, dass Sie es einrichten konnten. Der Dominus erwartet Sie bereits.«
Als ob es eine Alternative dazu gegeben hätte.
Ich ignoriere seine Geste, ihm in den Lift zu folgen, und sprinte stattdessen auf die Treppe zu. Nachdem sich mein Körper all der Trainingseinheiten erinnert hat, die ich zugunsten der Arbeit in den letzten Tagen vernachlässigt habe, schreit er förmlich nach Bewegung. Auf der Dachterrasse angekommen, fühle ich mich angenehm erschöpft und gehe mit einem Lächeln auf Iurii zu.
Der massige, breitschultrige Mann sitzt in einem Hover-Chair, der ihm die Beine ersetzt, die er schon vor einiger Zeit bei einem Unfall verloren hat. Trotzdem ist auf den ersten Blick klar, dass er der Boss ist. Der purpurne Anzug ist eindeutig maßgeschneidert. Aus dem von einer stahlgrauen Mähne umrahmten, kantigen Gesicht blicken grüne Augen mit einer Intensität, die den Eindruck erweckt, sogar die Sphärenabschirmung sprengen zu können. Iurii hebt eine Augenbraue, während sich seine Stirn kurz in Falten legt.
»Maximus. Du weißt aber schon, dass es für so etwas einen Lift gibt, Junge?«
»Jawohl, Master. Es verlangte mich nur spontan nach ein wenig körperlicher Betätigung.«
»Ein wenig?«, dröhnt es in diesem Moment.
Ich drehe mich um und sehe einen Mann aus einem der umliegenden Bogengänge auf die bestimmt 200 Quadratmeter messende Fläche kommen, die auf dem Dach des Gebäudes thront. Der Mann ist fast so groß wie ich, wiegt aber wahrscheinlich doppelt so viel. In der Hand hält er einen kristallenen Cognac-Schwenker, der bis zur Hälfte mit einer blassgoldenen Flüssigkeit gefüllt ist. Er watschelt an mir vorbei und klopft mir dabei auf die Schulter.
»Wenn ich auch nur eine der fünf Etagen erklommen hätte, dann wäre ich reif fürs Sauerstoffzelt.«
Bist du dir sicher, dass du nicht schon für den ersten Treppenabsatz einen Kran gebraucht hättest?
Ich bemerke, wie ein Lächeln meine Lippen kräuselt. Aber ich schaffe es noch rechtzeitig, den Gedanken durch ein leichtes Verneigen in seine Richtung zu kaschieren. Es ist nicht sinnvoll, den Prinzipal der Administration zu verärgern.
»Vielen Dank, Master Ridicc. Ich tue mein Möglichstes, um Körper und Geist in Form zu halten.«
»Gut für dich, mein Sohn«, bemerkt der Mann glucksend. Dann zwinkert er mir zu. »Aber ich habe mir sagen lassen, dass du vielfältigen Genüssen durchaus zugetan bist.«
Shit, wer hat da geplaudert? Und was hat er erzählt? Nur vom Suff? Oder sogar von den anderen Sachen? Was, wenn die mich jetzt aus der FUA werfen? Dann kann ich auch die Wohnung vergessen.
Doch ich werde einer Antwort enthoben, denn nun ist Iuriis Bass zu hören, leise aber befehlsgewohnt.
»Sei dem, wie es sei. Aber nun haben wir einige Dinge zu bereden, Ridicc. Und du, Junge. Du kannst einstweilen schauen, was mit dem Swimmingpool nicht stimmt. Du hast doch Technik studiert.«
Nur mit Mühe kann ich es verhindern, dass ein »Ernsthaft?!« meine Kehle verlässt. Stattdessen wende ich mich um und gehe zum anderen Ende der Terrasse, das fast vollkommen vom Pool eingenommen wird.
Da kann man einen Master in Verfahrenstechnik haben. Aber für den, der alles bezahlt hat, ist man plötzlich der Poolboy.
* * *
Ich überprüfe Pumpe, Leitungen und Zusammensetzung des Wassers. Der Fehler ist schnell gefunden, aber die Behebung dauert einige Zeit. Also ziehe ich meine Kreise um das Schwimmbecken.
So ein Dreck. Hat denn noch keiner einen selbstreinigenden Pool erfunden?
Eigentlich doch.
So ein Ding heißt See, aber es funktioniert auch nur so lange, wie nicht ständig reiche Bonzen beim Schwimmen reinschiffen.
Hin und wieder bekomme ich Fetzen des Gesprächs von Iurii und Ridicc mit. Es scheint um Digitale zu gehen. Damit lässt mein Interesse an dem, was Ridicc zu sagen hat, direkt wieder nach. Digs sind keine Menschen – zumindest nicht mehr. Sie haben sich dafür entschieden, in einen Desintegrator zu steigen, um sich in Luft auflösen zu lassen und nur noch als Nullen und Einsen zu existieren. Also sind sie im Prinzip das Gleiche wie Honey oder die anderen Bettys.
Als ich gerade die letzten Handgriffe mache, um Iuriis Pool wieder in den makellosen Zustand zu versetzen, den er gewohnt ist, legt mir jemand eine Hand auf die Schulter. Überrascht fahre ich herum und finde mich plötzlich in einer halben Umarmung mit dem Prinzipal wieder.
»Master ...«
»Jetzt lass mal die Förmlichkeiten, Söhnchen. Immerhin bist du Master Iuriis Schützling. Und wir sind unter uns.«
Bietet der mir ernsthaft das ‘Du’ an?
»Oh«, mache ich – etwas Eloquenteres will mir einfach nicht einfallen.
Ridicc setzt ein väterliches Lächeln auf. Dann zieht er mich mit dem Arm, den er immer noch auf meiner Schulter zu liegen hat, ein Stück hinunter.
»Um noch einmal auf vorhin zurückzukommen«, raunt er in mein Ohr. »Es stimmt doch, dass du gern mal einen durchziehst.«
Ich muss schlucken, bevor ich antworten kann.
»Wenn ... wenn es Kritik an meiner Arbeit geben sollte. Der Spiegel ... also ...«
Ridicc winkt ab.
»Ach was. Ich habe nichts dergleichen gehört.« Er schaut mich mit blitzenden Augen und einem verschlagenen Lächeln an. Dann hebt er etwas hoch genug, dass es in mein Blickfeld gelangt. »Du weißt, was das ist?«
Fragt er mich das wirklich? Das weiß doch jedes Kind.
»Ein Oxy. Also ein Pulsoxymeter. Für die Leute, die es nicht im Communicator ...«
Sein Lächeln wird breiter.
»Ja und nein. Du hast leider nur fünfzig Punkte.«
Ich schaue Ridicc mit gerunzelter Stirn an, innerlich auf der Suche nach der Antwort, die er von mir haben will.
»Mach dir keine Gedanken. Das, was dir die restlichen 50 Punkte eingebracht hätte, kannst Du gar nicht wissen. Das wissen im Moment nur 5 Personen in dieser Sphäre.«
Meine Augenbrauen wandern nach oben.
»Ja, es ist ein Oxy. Aber gleichzeitig hat es auch eine interessante Zusatzfunktion. Nimm es mal.«
Er reicht mir das Gerät.
Ich drehe es in den Fingern und untersuche es von allen Seiten. Bis auf einen Schlitz an der Unterseite ähnelt es vollkommen dem Gerät, das jeder Bürger der Sphären in der Tasche hat, der keinen Communicator besitzt. Ohne ein solches vom Umwelt-Service erwischt zu werden, hätte fatale Folgen. Mit erneut gerunzelter Stirn sehe ich nun wieder den Prinzipal an.
»Du hast doch deinen Körperspeicher aktiviert, oder? Dann setz es auf die Hand mit dem Konnektor und ich zeige es dir.«
Ich tue wie geheißen. Kaum dass es auf meinem linken Zeigefinger steckt, wird das Display aktiviert und zeigt immer noch den beruhigenden Wert 100% an.
»Und jetzt schau mal, was passiert, wenn ich dies hier tue. Wenn ich dich richtig einschätze, dann wird es dir gefallen.«
Damit schiebt er einen Speicherkristall in den Schlitz.
Der Effekt tritt augenblicklich ein.
Während die ersten Auswirkungen durch meinen Körper fegen, wird mir instinktiv klar, dass diese Entscheidung ein Fehler war.
MJU
Ich schwitze. Eine Haarsträhne hat sich aus dem Pferdeschwanz gelöst und klebt mir so im Gesicht, dass sie mein linkes Auge halb verdeckt. Trotzdem kann ich den Mann hinter mir in einem Spiegel erkennen.
Er hat seinen Größenvorteil genutzt und mir den rechten Arm um den Hals geschlungen, einen entschlossenen, konzentrierten Ausdruck auf dem ebenfalls verschwitzten Gesicht. Ohne diesen Gesichtsausdruck sähe er direkt nett aus. Fast schon süß mit seinem dunkelblonden Wuschelkopf, dem kleinen Grübchen im Kinn und den Dackelblick-Augen. Auch die Größe würde passen.
Was soll das? Konzentrier dich, du bist hier nicht beim Dating.
Meine linke Faust hämmert zwei Mal zwischen seine Beine. Ich bemerke, wie sein Suspensorium dabei verrutscht. Der Griff um meine Kehle lockert sich ein wenig, als er sich instinktiv zusammenkrümmt. Ich nutze es, um mich zu drehen und den Ellenbogen rückwärts hochfahren zu lassen. Er findet sein Ziel an Kyles Unterkiefer. Nun bin ich endgültig frei, fahre im Aufrichten vollkommen herum und steche ihm zwei Finger in den Hals.
Muss das jetzt wirklich sein? Er sieht doch auch so schon aus, wie ein Häufchen Elend.
Aber die Technik-Einheit verlangt noch eine letzte Handlung und halbe Sachen sind nicht mein Ding. Also schwinge ich ein Bein nach oben und trete ihm ein weiteres Mal in den Schritt.
Mein zugeloster Sparringspartner kippt zur Seite und bleibt zusammengekrümmt auf dem Boden des Sportzentrums liegen.
»Wow, wie ... hast du das gemacht, Mju?«, krächzt er nach einer Weile. Dann rollt er sich auf den Rücken und hebt den Oberkörper in eine sitzende Position.
Verdammt. Bin ich vielleicht doch nicht in einem Krav Maga Level-3-Kurs gelandet? Hat mich die App aus Versehen einem Anfänger zugeteilt?
»Alles klar bei dir?«, frage ich, während ich Kyle die Hand hinstrecke, um ihm beim Aufstehen zu helfen. »Und ... was meinst du?«
Er zieht sich hoch, bleibt aber noch einen Moment lang in leicht gebückter Haltung, bevor er zunächst aus- und dann vorsichtig einatmet. Es tut weh – so viel kann ich auf den ersten Blick erkennen.
Das sieht mir mal wieder ähnlich. Da gehe ich nach fast einem Jahr überhaupt mal aus dem Haus und dann haue gleich den ersten Typen um, auf den ich treffe.
»Na, dieser Ellenbogen, wo ist der hergekommen? Ich hab nix geschnallt, bis du mich getroffen hast.«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich habe einfach nur die Anweisungen der Lektion befolgt. Die sollte exakt diesen Effekt haben.«
»Ist schon klar.« Kyle winkt ab. »Aber diese Geschwindigkeit. Wie bekommst du das hin?«
»Ich übe.«
Der Besiegte legt den Kopf schräg und schaut mich mit säuerlicher Miene an. »Ha ha. Glaubst du, ich nicht? Ich hab mir sämtliche Lektionen des dritten Abschnitts schon vor einer Woche hochgeladen.«
Ho-hoch...g-ge...la-la-la...dennnnn.
Es kommt mir so vor, als würde das Wort in meinem Innern ein Echo erzeugen. Auch wenn es schon einige Monate her ist, dass ich selbst hochgeladen wurde, so kann ich immer noch nicht das Gefühl dabei vergessen. Wobei, wenn ich es mir recht überlege, dann ist das Problem eher dieses plötzliche Fehlen jeglicher Gefühle, das mit dem Desintegrationsprozess einhergeht. Mamie hat es mir in ihrer unnachahmlich nüchternen Art erklärt und natürlich ist es rein logisch betrachtet auch ganz klar. Wenn Körper und Geist sich in Daten und Algorithmen verwandeln, dann ist da eben dieser kurze Moment, wo der digitale Avatar, in dem diese Daten ihr neues Zuhause finden, noch nicht bereit dazu ist, ein Feedback zu geben. Eigentlich nur ein paar Mikrosekunden. Doch für mich war es wie die Ewigkeit.
Unwillkürlich schüttele ich meinen Kopf, um die sich anschleichenden Bilder zu vertreiben.
Kyle kann das natürlich nicht wissen. Daher schaut er mich nur fragend an.
Wo waren wir nochmal? Ach, ja.
»Hochgeladen. Genau da ist das Problem.«
»Äh, wie jetzt? Meinst du, das ist zu lange ...?«
»Nein«, unterbreche ich ihn. »Es geht nicht um die Zeit seit dem Upload, sondern darum, dass du einfach darauf vertraust, dass die Algorithmen und Parameter der Datei, die du dir reingezogen hast, schon dafür sorgen, dass du alles richtig machst.«
Kyle runzelt die Stirn. »Und wie soll das sonst gehen?«
»Sagte ich doch. Mit Üben.«
»Du meinst ...«
»Ja, Kyle, üben. Eine Sache immer und immer wieder tun. So lange, bis man es schafft, ohne darüber nachdenken zu müssen.«
»Das ... das ist doch ... total analog.«
Du sagst es, Baby.
»Aber es funktioniert.« Ich schaue ihn mit leicht schräggelegtem Kopf lächelnd an. »Was ist, noch eine Runde?«
»Danke, ich verzichte ... ist auch schon ganz schön spät.«
Automatisch hebe ich meinen linken Daumen ein Stück an, bis ich die Ziffern erkennen kann, die auf dem Nagel schimmern. »Ja, hast recht. Die Stunde ist fast rum. Ich muss dann auch los, Mamie wartet wahrscheinlich schon mit dem Essen.«
Kyles Blick spricht Bände seines Unverständnisses. »Euch soll mal einer verstehen.« Er schüttelt seinen Kopf.
»Wieso, das ist doch was ganz Normales.«
»Ja, für Analoge vielleicht. Mann, bei mir ist der Upload schon so lange her, dass ich dir nicht mal sagen könnte, ob wir früher jemals zusammen gegessen haben. Und jetzt sag bloß, da gibt’s Virtufood.«
»Igitt, dieses Industriefutter ist doch eklig.«
»Und was sonst? Doch bestimmt keine Nutri-Bytes wie bei mir.«
»Nein, wir kochen.«
»Kochen«, keucht Kyle. Danach bleibt ihm der Mund offen stehen. »Das ist doch irre aufwändig ... an die Unmengen von DiCs, die das kostet, will ich gar nicht denken.«
Wärme steigt von meinem Hals hoch bis ins Gesicht. Ich blicke zu Boden.
Was soll das? Es muss dir nicht peinlich sein!
Ich schnaube leise und blase damit die vorwitzige Strähne aus dem Gesicht.
Echt schräg, dass die Programmierung so weit geht, dass das Ding mir selbst hier ständig aus dem Pferdeschwanz entwischt.
Dann fixiere ich wieder meinen Sparringspartner.
»Na ja, das ist bei uns halt anders. Ich denke, Mamie will mir ein bisschen was von früher erhalten, weil ich freiwillig hier bin. Kennst du Alma Matèrne?«
Kyles Augen werden groß. »Ernsthaft?! Das ist deine Oma?«
Ich hebe meine Schultern und grinse leicht.
»Okay, jetzt bin ich offiziell neidisch. Deine Großmutter hat das hier ...?« Er macht eine allumfassende Geste mit seinen Händen. »Dann ist es natürlich klar, dass ihr euch um nichts Sorgen machen müsst.«
Ich würde ihm gern zustimmen. Doch das wäre gelogen. Zumindest was mich anbelangt. Ich habe mir vorher schon Sorgen gemacht. In der analogen Welt.
Ist das wirklich erst ein gutes Jahr her?
Damals hauptsächlich, weil es Mamie immer schlechter ging und ich ihr nicht helfen konnte. Aber auch jetzt haben die Sorgen nicht aufgehört. Nur der Grund hat sich geändert. Ständig zerbreche ich mir nun den Kopf darüber, ob es richtig war, meine Freunde zurückzulassen, um hier mit Mamie zu leben. Aber ein Zurück gibt es nicht.
Anscheinend steht mir das innere Ringen auch auf dem digitalen Gesicht geschrieben, denn Kyle wirkt nach einem Blick auf mich ziemlich bedrückt.
»Ich weiß, wir kennen uns eigentlich gar nicht. Aber möchtest du mir erzählen, was da passiert ist?«
Ohne nachzudenken, breite ich mein Leben vor diesem Mann aus, der mir nur durch das Zufallsprinzip einer App zugelost wurde. Einfach, weil er da ist.
»Meine Eltern sind bei einem Unfall ums Leben gekommen, als ich noch ganz klein war. Da hat meine Großmutter mich zu sich genommen. Ungefähr 20 Jahre ist das schon her.«
Ungefragt steigen Bilder vor meinem inneren Auge auf. Eine schlanke Frau mit dunkelbraunen, lockigen Haaren und ein großer, breitschultriger Mann, der trotz Brille und Glatze nicht alt wirkt. Beide lächeln mich an. Nein, sie haben in die Kamera gelächelt, die jemand mit auf dieser Party damals gehabt hat. Der letzten Party. Dann eine schlanke Basalt-Stele mit ihren Namen darauf. Und eine große Frau mit ersten grauen Strähnen in ihrem braunen Pixie-Cut, die meine Hand hält, während sie mir mit versteinerter Miene in die Augen blickt.
Meine Stimme versagt und ich muss mich räuspern.
»Hey, wenn es dich so mitnimmt, dann musst du es mir nicht erzählen. Ich wollte nur ...« Kyle ist sichtlich unwohl.
»Ist schon in Ordnung«, unterbreche ich ihn erneut. Seltsamerweise fühlt es sich gut an, die ganze Sache jemandem anzuvertrauen, der nicht zu meiner Familie gehört.
Vor allem, da ich dich vermutlich nie wiedersehe.
»Ich bin also bei Mamie aufgewachsen und hab nebenbei auch etwas von der Technik mitbekommen, die hinter der Digitalisierung steckt. Später hat sie mich darin bestärkt, es zu studieren. Damit habe ich auch angefangen, bin dann aber in die Design-Schiene gewechselt, weil mir der reine Technik-Kram ... na ja, zu technisch war. Mamie war zwar erst ein bisschen traurig, hat es aber akzeptiert. Alles hätte gut sein können. Doch dann kam die nächste Katastrophe. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich meinen Master-Abschluss in darstellender Informatik gemacht habe. Wir wollten das groß feiern. Aber aus der Feier wurde nichts. Mamie hatte plötzlich einen Anfall und es wurde schnell klar, dass sie die Krankheit hat.«
»Shit!«, entfährt es Kyle.
Ich zucke mit den Schultern und fahre fort: »In ihrem Alter kam das einem Todesurteil gleich. Also hat sie mir nur noch schnell die Vollmachten erteilt, alles in der analogen Welt abzuwickeln, und ist dann direkt in den Desintegrator.«
»Und du?«
»Ich hab erst mal einfach nur funktioniert. Sie hatte schon vorgesorgt, sodass die Digitalisierung aller ihrer Sachen kein Problem war. Das Haus am See und ein ordentliches Vermögen hatte sie mir überschrieben. Ich hätte ein cooles Leben in der Primären Sphäre führen können.«
»Aber das hast du nicht.«
»Nein. Ich konnte es einfach nicht. Mamie war mein ganzes bewusstes Leben lang immer da. Immer verlässlich, immer fördernd, manchmal auch fordernd, aber immer voller Herzenswärme. Also habe ich alles verkauft und bin ihr hinterher. Hierher.«
»Krasser Scheiß! Und deine Freunde?«
»Ich habe eh nur ein paar, die ich wirklich Freunde nennen kann. Und die haben es verstanden – sie kennen mich eben. Es ist ja auch nicht so, als könnten wir einander nun nicht mehr treffen und sehen.«
Kyle schnaubt. »Ja, nur beschränkt sich das auf das Starren auf Holos.«
»Nicht mit Virtutrip«, entschlüpft es meinen Lippen, bevor ich sie davor verschließen kann.
Oder war das doch ein bisschen Absicht? Ist ja immerhin besser, als weiter in meinen Wunden zu bohren.
Mein Gegenüber fixiert nun mich und hebt dabei langsam eine Augenbraue.
Ich bemerke, wie mir Wärme den Hals hinaufsteigt und sich auf dem Gesicht ausbreitet. Dabei kann ich nicht anders als die Entwickler der digitalen Welt dafür zu bewundern, dass sich auch digitale Empfindungen exakt so anfühlen, wie im richtigen Leben.
Falscher Ansatz. Das hier ist richtiges Leben, sonst gäbe es keine Gefühle. Sieh zu, dass du das endlich akzeptierst.
»Verrat’s keinem. Das ist ne Sache, bei der ich meiner Oma aktuell ein bisschen helfe. So richtig kapiere ich das alles hier immer noch nicht, auch wenn ich es tausendmal an der Uni hatte. Offiziell gibt’s das System noch nicht, aber ich kann es für Tests benutzen.«
Nun hebt sich auch Kyles zweite Augenbraue. »Und das macht was genau?«
»Kannst du dir vermutlich denken. Es kreiert einen Avatar, in den ein Analoger schlüpfen kann. Zwar nur mit visuellen, auditiven und rudimentären taktilen Sinnen, aber man kann ansonsten ganz normal miteinander interagieren. Wir wollen es zum nächsten großen Systemupdate rausbringen.«
»Der Hammer. Und kann man damit auch in die andere Welt?«
»Vielleicht später mal. Wir sind schon froh, dass wir es in unsere Richtung einigermaßen hinbekommen.« Ich schaue noch einmal auf die Uhr. »Ich sollte jetzt aber wirklich ...«
»Na klar«, sagt Kyle lächelnd. »Danke für das Sparring ... und die unerwarteten Einsichten. Vielleicht werden wir ja mal wieder einander zugelost.«
»Und versuch’s in der Zwischenzeit wirklich mal mit Üben.«
Ich wende mich nach links, wo in diesem Moment eine Tür im nüchtern eingerichteten Trainingsraum erscheint.
»Was machst ...«, erklingt hinter mir Kyles Stimme. »Vergiss die Frage. Du wirst wohl nach Hause laufen, stimmt’s?«
»Exakt«, antworte ich und lege meine Hand auf die Türklinke.
»Du bist echt was ganz Besonderes«, bemerkt Kyle. Er dreht seine linke Hand mit der Handfläche nach oben. Sofort erscheint darüber ein Display. Er tippt auf ein Symbol und verschwindet.
»Danke schön«, murmele ich, während ich mich langsam wieder zurück zur Tür drehe.
Na, immerhin scheint er den Tritt in die Kronjuwelen ganz gut weggesteckt zu haben. Eigentlich schade, dass ich ihn wohl wirklich nicht wiedersehen werde. Wer weiß, wen die App beim nächsten Mal für mich hat.
Bevor ich mich aber komplett der Tür zugewandt habe, entdecke ich aus dem Augenwinkel etwas Schillerndes an dem Punkt, wo eben noch Kyle gehockt hat. Ich zögere, dann gehe ich dorthin und bücke mich.
Es ist ein Plektrum mit irisierenden Mustern darauf, das Kyle anscheinend aus einer Tasche gefallen ist.
Er spielt Gitarre. Und sieht echt ganz süß aus. Gleich doppelt schade, dass wir uns nur zufällig getroffen haben und er jetzt schon wieder weg ist. Na ja, vielleicht will es ja der Zufall auch, dass wir uns doch nochmal treffen.
* * *
Im Licht einer warmen Spätsommersonne liegt die Hauptstraße vor mir. Die Straße windet sich an einem rot umrandeten rechteckigen Schild vorbei, auf dem, Schwarz auf Weiß, »Le Village« geschrieben steht. Dann verliert sie sich zwischen den Häusern des Dorfes. Die meisten sind aus Natursteinen errichtet oder haben Fachwerkwände.
Ich schlendere über die mit Kopfsteinpflaster bedeckte Straße, vorbei am Bäcker und Gemüsehändler. Dabei sauge ich den Geruch des frischen Backwerks, vermischt mit dem Aroma der am offenen Fenster zum Trocknen aufgehängten Gewürze, ein. Als ich über den Dorfplatz gehe, erkenne ich einen Bekannten meiner Großmutter, der mit seinem Fahrrad und Angelutensilien in Richtung See fährt. Er hebt seine Hand zum Gruß und ich erwidere ihn.
Danke Mamie, dass du so unermüdlich daran gearbeitet hast. Es wirkt alles so dermaßen echt. Nein, verdammt. Es ist echt! Wird Zeit, dass ich das akzeptiere.
Hinter dem Dorfkrug erklimme ich einen steilen Pfad den Hügel hinauf, der mich zu unserem Heim führt, das direkt unterhalb einer halb verfallenen Burg erbaut worden ist. Bevor ich das viktorianisch anmutende Gebäude betrete, werfe ich noch einmal einen Blick auf das Tal, in dem das Dorf angesiedelt ist.
Insekten summen um mich herum. Eine leichte Brise trägt den Duft von Lavendel heran. In der Ferne kann ich den Schrei eines Falken vernehmen.
Lächelnd wende ich mich um und öffne die Tür.
»Hallo, Mamie«, rufe ich, nachdem ich eingetreten bin. »Wartest du schon lange?«
Keine Antwort.
Nanu, hat sie heute einen ihrer strengen Tage? Sonst ist sie doch nicht sauer, wenn ich mich mal ein paar Minuten verspäte.
»Mamie? Sorry, dass ich mich verspätet habe. Ich hatte ein überraschend langes Gespräch mit einem ... Trainingspartner. Du sagst doch immer, ich soll endlich anfangen, Bekanntschaften zu anderen Digitalen zu knüpfen.«
Doch ich erhalte weiterhin keine Antwort.
Zuerst betrete ich die rechts von der Eingangstür liegende Küche. Hier ist wie immer alles blitzblank. Nur auf dem Abtropfbrett neben der Spüle liegen ein paar Utensilien zum Trocknen ausgebreitet. Ich gehe zurück ins Vestibül und von dort in den Salon. Auch hier finde ich meine Großmutter nicht. Weder hier, noch auf der Veranda ist etwas zu erkennen, das angezeigt hätte, dass Mamie sich zumindest kurzfristig dort aufgehalten hat. Nach einem kurzen Abstecher in die Bibliothek wende ich mich in Richtung Arbeitszimmer.
Hattest du womöglich einen Geistesblitz, der deine Probleme mit dem Avatar von gestern löst und hast dich wieder vollkommen in der Arbeit vergraben?
Schmunzelnd öffne ich die Tür und blicke auf das wohlvertraute kreative Chaos, das diesen Raum mit so viel mehr Leben erfüllt als alle anderen. Bücher stapeln sich neben dem Schreibtisch – selbst auf den beiden vor dem Fenster aufgestellten Ohrensesseln liegen sie. Modelle verschiedenster Dinge stehen hie und da herum. Auch die weiß gekalkten Wände sind zum Großteil kaum noch erkennbar unter einem Wust von daran angehefteten Papieren mit Skizzen oder handschriftlichen Notizen. Lediglich der Arbeitsbereich selbst ist fast vollkommen sauber.
Doch von Alma ist nichts zu sehen. Dort, wo sie gesessen hätte, liegt allerdings ein einzelnes Blatt Papier auf der Schreibtischoberfläche.
Ich nehme den Bogen an mich und kann dabei nicht umhin, Mamie für das zu bewundern, was sie beim Programmieren vollbracht hat. Es fühlt sich exakt so an wie das handgeschöpfte Büttenpapier, das sie auch in der analogen Welt für ihre Korrespondenz bevorzugt hat.
In den typischen leicht uneinheitlichen Zeichen, die doch eigentlich ziemlich untypisch für eine Person von so analytischem Wesen sind, hat sie eine Nachricht darauf hinterlassen.
Ma chère Muriel,
nachdem es mir endlich gelungen ist, unserem Ziel näherzukommen, musste ich leider feststellen, dass mir die letzte Zeit ohne Schlaf durchaus zu schaffen macht.
Daher werde ich mich gleich offline begeben, um ein wenig Kraft zu tanken.
Das Essen habe ich bereits zubereitet und dir in dein Atelier gestellt. Du solltest dich wirklich wieder einmal um deine Kunst kümmern.
À bientôt, Alma
Ein erleichtertes Seufzen entfährt mir.
Danke, Mamie. Du hast unermüdlich dafür gesorgt, dass ich möglichst nichts vom Leben in der analogen Welt vermissen muss. Darüber hättest du fast vergessen, dass man auch in dieser Welt nicht die elementaren Grundlagen des Lebens ignorieren kann.
Ich setze mich auf den antiken Schreibtisch-Sessel und erwecke den Rechner aus dem Standby-Modus. Ein wenig seltsam fühlt es sich schon an, dass ausgerechnet eine der Personen, die für das Fortschrittlichste verantwortlich sind, was die Computertechnik zu bieten hat, einen Arbeitsplatz verwendet, der so altertümlich wirkt. Aber im Grunde genommen hat sie recht, denn so passt alles besser ins Ambiente. Kurz lasse ich meine Blicke über die letzten Code-Zeilen wandern, die Mamie hinzugefügt hat. Dabei kann ich nicht anders, als über die Leichtigkeit zu schmunzeln, mit der sie ihr hartnäckiges Problem des letzten Tages in den Griff bekommen hat. Das hier verstehe sogar ich. Dann meldet sich mein Magen mit einem Grummeln. Ich denke sofort an das bereitstehende Abendessen und verlasse voller Vorfreude das Arbeitszimmer – vorbei an der Tür, auf der in ihrer Handschrift sanft pulsierend das Wort »Offf« leuchtet.
Ach, Mamie. Du musst wirklich ziemlich fertig sein, wenn dir sogar schon Schreibfehler unterlaufen.
MAXX
Bilder von Orten, Dingen, Personen hämmern auf mich ein. Ein altertümlich anmutendes Haus ... ich kenne es ... oder nicht? Wasser. Die FUA ... aber viel früher ... oder ist es doch nur irgendein Bürokomplex? Sonnenaufgänge. Iurii ... eine heiß aussehende Frau an seiner Seite, die ich noch nie gesehen habe ... oder doch? Felsen werden gesprengt. Eine donnernde Kakophonie in meinen Ohren, meine Glieder fühlen sich an, als stünden sie unter Starkstrom. Autos wie aus alten Filmen ... mit vier Rädern und einem Motor, der Brennstoff zum Funktionieren braucht. Eine Gruppe von Leuten ... zwei Frauen ... eine Alte mit weißer Mähne, eine Junge ... ein Mann ... ein Mädchen ... unbekannt ... aber doch auch nicht. Eine Yacht. Codezeilen über Codezeilen ... unverständlich ... und doch so vertraut. Ein Skelett ... nein ein Roboter. Sonnenuntergänge. Grüne Wiesen. Die Sphäre ... von außen ... noch im Bau. Regen. Düstere Gänge, durch die blitzende Lichter schießen. Alles vermengt sich zu einem Mahlstrom aus Formen und Farben, der danach trachtet mir mein Bewusstsein zu nehmen.
Durch dies alles hindurch kann ich verschwommen die Anzeige auf dem Oxy erkennen.
Blutdruck 70/40, Puls 200, Sättigung 120%. Was zur Nullpointer-Exception ist hier ...?
In diesem Moment erfolgt die Explosion.
Aber nicht ich explodiere, sondern etwas in mir. Es fühlt sich an, als ob in mir eine Sonne aufginge und ihr Licht meinen gesamten Körper erfüllt.
Wenn ich jetzt einen Spiegel hätte, würde ich mich dann leuchten sehen?
Schwärze.
Ich hole japsend Luft und schüttle heftig den Kopf. Als mein Blick sich wieder klärt, starre ich Ridicc an, der immer noch nah bei mir steht. Dabei schaut er mich mit einer Intensität an, dass ich das Gefühl habe, eine Zellkultur unter dem Mikroskop zu sein.
»Interessant«, bemerkt er und auf seinem Gesicht zeigt sich kurz ein Ausdruck von Besorgnis. »Das hätte ich nicht erwartet.«
»Was ... erwartet?«, frage ich röchelnd, während mein Herz sich langsam wieder beruhigt.
»Nun ja, ich schätze, wir haben die Wirkung wohl unterschätzt. Eine ganze Entität scheint tatsächlich sogar zu viel für einen normalen Menschen zu sein.«
Ridicc wirkt nun zufrieden. Es kommt mir glatt so vor, als würde er innerlich DiCs zählen.
»Entität?«
»Kümmer dich nicht drum, Söhnchen. Freu dich lieber, dass du der erste warst, der in den Genuss des allerneuesten Stoffs gekommen ist.«
»Was verdammtnochmal ist da drin?«, zische ich. Dann wird mir bewusst, mit wem ich rede, und ich verkneife mir die Worte, die bereits auf meiner Zunge liegen.
»Das braucht dich nicht weiter zu interessieren«, erwidert der Prinzipal und klopft mir auf die Schulter. »Ich nenne es ‘Offf’. Und ich bin mir sicher, dass du davon in Zukunft öfter hören wirst.«
»Das heißt also, dass ich in Zukunft noch in der Lage sein werde zu hören ... und so?«
Ein breites Grinsen erscheint auf Ridiccs Gesicht.
»Aber natürlich. Du hast es bis hierher geschafft. Also ist alles in Ordnung. Ich hab dich bewusst ausgewählt, weil du eine so außergewöhnlich starke Konstitution hast. Wenn Probleme aufgetreten wären, dann in den ersten 5 Sekunden. Hast du bemerkt, was der Oxy angezeigt hat?«
Ich kann nur stumm nicken, als mir eins bewusst wird.
Ein fucking Versuchskaninchen! Erst ein Poolboy und jetzt das. So können die nicht ...
Doch dann wird mir klar, dass sie das sehr wohl können. Sie haben die DiCs. Und DiCs sind Macht.
Ich kann mich wahrscheinlich glücklich schätzen, dass ich in der Sekundären Sphäre lebe und nicht weiter draußen, wo es diesen beiden in den Sinn kommen könnte, mich in einem Death-Match antreten oder mich digitalisieren zu lassen.
»Siehst du«, fährt der Prinzipal ungerührt fort. »Solche Werte würden bei weniger trainierten Menschen bestimmt zum Kollaps führen. Aber bei dir war ich mir sicher, dass du es wegsteckst.«
Ich bringe immerhin ein schiefes Grinsen zustande.
Ridiccs Miene spiegelt nun gespannte Erwartung wider, als er fragt: »Und? Wie war’s? Wie hat es sich angefühlt?«
Wie soll ich das in Worte fassen? Probier’s doch selbst aus, du ...
Ich atme tief ein und lasse die Luft langsam wieder ausströmen. Dabei suche ich nach einer Antwort, die ihm gefällt.
Ich entschließe mich zu: »Heftig. Heftig ... aber cool.«
Ein strahlendes Lächeln bricht sich Bahn im Gesicht des Prinzipals.
»Cool genug, um mehr zu wollen?«
Niemals!
»Bestimmt«, murmele ich.
»Das ist mein Junge«, ruft Ridicc und klopft mir heftig auf beide Schultern.
Er senkt seine Stimme.
»Jetzt haben wir alles, was wir brauchen, um das Zeug zur Serienreife zu bringen. Danke für deine Einsichten. Wenn du wieder mal nen besonderen Kick gebrauchen kannst, komm zu mir.«
Er wirft einen verstohlenen Blick über seine Schulter.
»Aber Master Iurii müssen wir nicht mit solchen Erkenntnissen belasten. Die sind am besten bei mir aufgehoben, wenn du verstehst, was ich meine.«
Er zwinkert mir zu und verlässt fröhlich summend die offene Ebene.
»Hmmm-hm-hmmm ... Digs sind DiCs, sind DiCs, sind DiCs. Hmmm-hm-hm-hm-hmmm ...«
Einen Moment lang schaue ich ihm hinterher. Dann aber besinne ich mich darauf, auf wessen Terrasse ich stehe. Ich gehe um den Pool herum bis zu dem Punkt, wo Iurii in seinem Hover-Chair sitzt.
Er nimmt keinerlei Notiz von mir. Stattdessen schaut er konzentriert auf die holografische Projektion einiger Diagramme.
Was sind das für Daten?
Ich bewege mich ein Stück zur Seite, um vielleicht einen Blick darauf erhaschen zu können. Gerade als es mir gelingt, bemerkt er mich und schaut auf. Doch der kurze Moment hat genügt, um zu erkennen, worum es geht. Die Charts zeigen Werte zu Bevölkerung und Energieverbrauch der Sphären. Eine hat auch etwas mit den Digs zu tun, aber mein Blickwinkel erlaubt keine genaue Beurteilung.
Mist! Da war einer schneller als ich.
Mühevoll die Enttäuschung darüber verbergend, dass die letzten beiden Nächte fast ohne Schlaf anscheinend umsonst waren, wende ich den Blick meinem Mentor zu.
»Maximus«, bemerkt er in einem Tonfall, der klingt, als ob er mich vergessen hatte. »Natürlich, ich hatte dich ja wegen der Sache mit Sphynx kommen lassen. Du weißt ja, mein Kater.«
Hört denn dieser Scheiß-Tag niemals auf?
Ich hebe vorsichtig eine Augenbraue und versuche, mit leicht schräggelegtem Kopf ahnungslos-interessiert zu wirken.
Oder weiß er, was passiert ist, und testet mich?
»Du weiß sicherlich, dass dem armen Geschöpf kürzlich ein Unglück widerfahren ist. Er schlief im oberen Garten, als ein Lichtblitz eine Schneise mitten hindurch zog und ihn ... verletzte.«
Okay, jetzt wird es Zeit zuzugeben, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich hab keinen Bock drauf, ewig Versteckspielen zu müssen. Wenn er mir dann den Stiel aus der Birne dreht, dann ist das eben so.
Ich öffne meinen Mund, um ihm zu erzählen, wie es zur falschen Ausrichtung dieses Spiegels gekommen ist, doch Iurii kommt mir zuvor.
»Wie könntest du auch nicht. Dieses Drohnen-Video war ja schließlich überall in den Social-Feeds. Irgendeine Paparazzo-Made hat dafür gesorgt, dass nicht nur mein Kater, sondern auch ich inzwischen zum Gespött aller Sphären geworden bin.«
Er schmettert das Glas, das er in seiner Hand hält, zu Boden.
Das Kristallglas zerschellt. Der Cognac spritzt in alle Richtungen – ein Teil davon landet auf meiner Hose.
»Verdammt, auch wenn Katzenvideos im Netz der äußeren Sphären schon seit über hundert Jahren ein bestimmendes Element sind, hat dieses arme Tier doch niemandem etwas getan!«
Iurii wendet seinen Blick von mir ab und lässt den Hover-Chair an den Rand der Terrasse gleiten, wo im Schatten eines Vordachs eine Sitzgruppe aufgebaut ist. Dort lässt er sich in seinem Sessel absetzen.
Ich gehe hinterher, bleibe dann aber unschlüssig neben ihm stehen, denn auch das gegenüber stehende Sofa ist besetzt – zumindest teilweise.
Auf einem smaragdgrünen Samtkissen thront Sphynx und schaut mich intensiv an. Sein rechtes Auge hat einen sanften Grünton, fast wie Jade, das linke strahlt im Stahlblau eines kalten Herbstmorgenhimmels. Mit diesem ungleichen Paar fixiert er mich nun, als ob er wüsste, dass ich die Schuld an seinem Zustand trage. Und dieser Zustand ist vor dem Hintergrund des grünen Samtes nur allzu gut zu erkennen. Sein Schwanz ist zwar unter einem Gaze-Verband verborgen, aber das gesamte Hinterteil ist krebsrot und mit Brandblasen überzogen.
Armer Schatz.
Ich stutze, denn obwohl mir mein Missgeschick natürlich leidtut, wäre mir dieser Gedanke nicht in den Sinn gekommen, bevor ich ihn gedacht habe.
Aber habe ich das überhaupt? Es hat sich irgendwie nicht wie ein Gedanke angefühlt. Nur, was soll es sonst gewesen sein?
Mit einem Mal verändert sich etwas in dem Kater. Er legt seinen Kopf schräg und der eben noch so anklagend wirkende Blick, wird plötzlich – es gibt kein anderes Wort dafür – sanft.
»Nun gut«, erklingt Iuriis Stimme. »Offensichtlich hat Sphynx dir deine Nachlässigkeit vergeben.«
Er wusste es! Natürlich wusste er es.
Ich setze zu der längst fälligen Erklärung an, aber Iurii hebt seine rechte Hand und ich verstumme noch vor dem ersten Ton.
»Selbstverständlich hat man mir von der unglücklichen Spiegel-Konstellation berichtet, die zu diesem Unglück geführt hat. Und selbstverständlich habe ich gewusst, dass du es mir beichten wolltest.«
Er bedeutet mir mit einer Handbewegung, dass ich mich neben Sphynx aufs Sofa setzen soll.
»Ebenso selbstverständlich wird es nun für dich sein, dieses Reporter-Ungeziefer zur Strecke zu bringen, das aus dem Unglück inzwischen eine sphärenweite Kampagne zur Schädigung meines ... unseres Rufes gemacht hat!«
»Das ... also, ich ...«, beginne ich, aber Iurii ist noch nicht fertig.
»Es ist mir egal, was du machst oder wie du es machst«, sagt er in einem Tonfall, der mich an die herannahende Bomber-Staffel aus einer Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg erinnert. Passenderweise fallen seine weiteren Worte nun auch wie Brandbomben auf mich herunter. »Finde ihn. Mach ihn mundtot. Zerstöre seine Karriere. Und dreh ihm den Saft ab!«
Fassungslos starre ich Iurii an.
Meint er das wirklich? Also wirklich wirklich?
»Du hast mich schon verstanden«, sagt der Alte und fixiert mich. »Nimm dir ein paar Tage frei und finde dieses Lumpenpack. Deine Arbeit ist kein Problem. Das habe ich bereits mit Ridicc geklärt. Ohnehin hat er mir vorhin ein Energie-Konzept vorgelegt, mit dem wir in Zukunft keine Probleme mehr haben sollten, den Standard hier aufrechtzuerhalten. Die Digitalen werden es ebenfalls verschmerzen können. Jedoch werden dafür umfangreiche Änderungen im Omni-Relationalen-Betriebssystem erforderlich, sodass deine Anwesenheit in der FUA eine Weile lang nicht erforderlich sein wird.«
Aus der Nummer kommst du wohl nicht mehr raus. Auch wenn er keine Krone trägt, so zieht er doch überall die Fäden. Sogar der Prinzipal kuscht vor ihm. Und wenn der König der Welt dir einen Auftrag gibt, dann kannst du ihn nicht ablehnen.
Hilflos lasse ich meinen Blick umherschweifen. Er streift Sphynx und der Kater scheint darauf zu reagieren.
Als ob er mich beruhigen wollte, legt er mir eine Pfote auf den Arm und fährt ganz sacht die Krallen aus, gerade so weit, dass sie meine Haut berühren. Es wirkt wie der bekräftigende Druck der Hand eines Freundes.
Und plötzlich ist alles anders.
Ich halte Sphynx auf meinen Händen. Er ist viel kleiner als eben noch – eher ein Kätzchen. Und er schaut mich mit seinen ungleichen Augen voller Interesse und Zuneigung an. Dann strecke ich meine Arme aus und setze ihn auf einem weißen Laken ab. Mein Blick weitet sich und ich erkenne, dass es sich um ein Krankenbett handelt. Überall sind Monitore, Scan-Einrichtungen, Schläuche und Kabel. Und mitten zwischen ihnen liegt ein kleines Bündel Mensch – unter Laken und Verbänden nicht zu erkennen.
Mit einem Mal habe ich das Gefühl zu fallen – nach oben. Alles dreht sich um mich. Die Schwärze von vorhin, die direkt außerhalb meines Sichtfeldes gelauert zu haben scheint, streckt kalte, klebrige Finger aus, um mich zu sich ins Dunkel zu zerren.
Und dann sitze ich wieder neben dem ausgewachsenen Sphynx auf seinem Samtkissen und gegenüber von Iurii, der mich mit gerunzelter Stirn ansieht.
»Was ist los, Junge? Hast du Zweifel daran, die Aufgabe erledigen zu können? Oder ist da etwas anderes?«
Ich schüttle meinen Kopf – mehr, um ihn wieder klar zu bekommen, denn als Verneinung.
»Es ist alles in Ordnung.«
Mir bekommt nur die brandneue Droge nicht so richtig, die dein Hampelmann auf eigene Rechnung unter die Leute bringen will.
»Nun gut, dann will ich dich nicht weiter aufhalten.«
»Wenn ich dann bitten dürfte, Master Maxx?«, ertönt die Stimme des Majordomus hinter mir.
Ich muss schmunzeln.
Ob dieses arme Schwein den ganzen Tag lang hinter der Tür warten muss, bis er seinen Boss so etwas sagen hört? Dagegen bin ich als plötzlicher Poolboy ja noch gut dran.
»Mach dir keine Umstände«, antworte ich ihm und erhebe mich. »Ich nehme die Treppe, wie auch schon vorhin.«
Der Mann neigt kurz seinen Kopf und tritt zur Seite.
Während ich mich in Richtung des Treppenhauses bewege, werde ich das Gefühl nicht los, dass mir zwei, wenn nicht sogar drei, Augenpaare hinterherstarren.
Ich umrunde erneut den Pool und trete ins Halbdunkel neben dem Lift. Kaum dass ich die erste Stufe erreicht habe, erwachen Leuchten an den Wänden zum Leben und erhellen den Weg vor mir mit ihrem gelblichen Schein. Trotzdem habe ich auf meinem Weg nach unten mehrfach das Gefühl, dass die Dunkelheit mich verfolgt, nur darauf wartend, mich endlich umfangen zu können.
Und tatsächlich. Als ich den Weg nach unten schon fast zur Hälfte überwunden habe, kommt es mir so vor, als ob mir meine Beine nicht mehr gehorchen wollen. Das rechte zögert mitten in der Bewegung kurz und ich gerate vor einem Treppenabsatz ins Stolpern. Nun zuckt das linke, das mich vor einem Sturz bewahren könnte, zurück anstatt vorzuschnellen. Ich kippe vornüber und kann es nur durch einen Griff nach dem Handlauf der Treppe verhindern, mit dem Kopf gegen die Wand zu prallen. Noch bevor ich mich darüber freuen kann, wird mir schwarz vor Augen.
* * *
Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Treppenabsatz gelegen habe. Allerdings kann es nicht sehr lang gewesen sein, sonst hätte mich der Majordomus bereits aufgespürt.
Er wartet bestimmt schon unten darauf, mich zur Tür zu bringen, um sicherzugehen, dass ich auch wirklich die heiligen Hallen seines Dominus verlasse.
Um ihm nicht doch noch einen Grund zu geben, nach mir zu suchen, rapple ich mich auf und eile die letzten Stufen hinunter, diesmal vorsichtshalber mit einer Hand am Geländer.
Du benimmst dich schon wie ein alter Mann. Hoffentlich hat dieses Zeug dir nicht dein Leben geklaut.
MJU
Ah Mamie, du weißt, wie man einen ordentlichen Flammkuchen zubereitet.
Ich schließe genießerisch die Augen, während ich kaue. Ich kann nicht anders als dabei die Textur und den Geschmack zu analysieren. Und doch tut es dem Genuss keinen Abbruch. Auch früher haben wir uns oft einen Spaß daraus gemacht, herauszufinden, aus welchen Zutaten die jeweils andere eine Speise zubereitet hat.
Es ist eben doch ein Unterschied, ob man einen gebackenen Teig mit Sauerrahm, Speckstückchen und Zwiebeln programmiert oder die einzelnen Komponenten hernimmt und in einem Ofen bäckt – selbst wenn das alles auch nur aus Daten und Algorithmen besteht.
Ich lecke mir die Finger ab und stehe vom Tisch im Atelier auf, wo ich das Tablett mit meiner Lieblingsspeise vorgefunden habe. Dann gehe ich ans Fenster und werfe einen Blick auf das noch unfertige Projekt – die Plaine de Plainpalais. Von meinem momentanen Standort aus wirkt es, als ob man einfach nur durch die Fensterfront eines Ladenlokals auf den rautenförmigen Platz schaut, der mitten in unserer Heimatstadt liegt.
Kann ich dazu eigentlich noch Heimatstadt sagen?, geht es mir durch den Kopf, während ich auf die Glastür neben dem Schaufenster zugehe. Ich habe Genf doch längst verlassen, um in der digitalen Welt zu leben. Na ja, immerhin haben sie hier von diesem Platz auch eine digitale Kopie erstellt, sonst hätte ich gar keine Chance gehabt, an die Snapshots zu kommen.
Meine Gedanken wandern weiter, zurück zu dem Punkt, an dem Mamie mir vorgeschlagen hat, den Master-Abschluss wirklich zu nutzen, um eine völlig neue Art von Kunst zu starten. Vielleicht wollte sie mir eine Ablenkung verschaffen, damit ich nicht ständig darüber nachgrübele, ob ich mit diesem ganzen digitalen Zeug hier klarkomme. Aber wahrscheinlich war ich einfach so ätzend drauf, dass es reiner Selbstschutz war.
Und Leo ist immerhin ein netter Gesprächspartner.
Eigentlich war die KI nur als User-Interface für das Tool gedacht, mit dem ich komplexe Momentaufnahmen unserer aktuellen Wirklichkeit machen kann. Aber in all den Stunden, die ich mit Leo verbrachte, ist er zu einer Art Vertrautem geworden. Ich weiß schon gar nicht mehr, was ich ihm alles erzählt habe, während wir die von mir gemachten Datenschnitte katalogisiert und betrachtet haben – bis hin zur molekularen Ebene. Und richtig cool wurde es, als wir herausgefunden haben, dass man sie nicht nur betrachten, sondern auch betreten und sogar verfremden kann.
Kein Wunder, dass ich da voll drauf eingestiegen bin. Nicht nur ich. Die Broadcasts aus dem Atelier, zu denen mich Mamie überredet hat, bekommen Tonnen von Views und Likes. Und der Typ von der Galerie ist ganz wild drauf.
»Genau«, murmle ich und reibe mir die Hände. »Und damit er meine neueste Idee bald ausstellen kann, sollte ich zusehen, dass ich fertig werde.«
Also öffne ich die Tür und trete hinaus auf den Platz.
* * *
Es ist jedes Mal ein seltsames Gefühl, einen Snapshot zu betreten. Durch das Fenster betrachtet kann man noch denken, es wäre tatsächlich die Plaine, die dort zu sehen ist. Aber dann befindet man sich mitten in einem dreidimensionalen Gemälde, auf dem sogar Insekten still in der Luft schweben und von allen Seiten betrachtet werden können.