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I want to break free Obwohl die digitale Welt vorerst sicher ist, haben Mju und Arnaud keinen Grund zum Feiern. Denn der Preis dafür war hoch: Ihr Retter schwebt nun selbst in höchster Gefahr. Beide begeben sich auf eine gefährliche Rettungsmission in die analoge Welt, werden dabei aber durch einen Systemfehler getrennt und landen an zwei extremen Schauplätzen: Arnaud auf einer von Krankheiten gezeichneten Insel und Mju auf einem ihr unbekannten Kontinent – auf der anderen Seite von Analogien. Während sie nicht nur ihren Gefährten, sondern auch sich selbst wiederfinden müssen, werden ihre Fragen immer größer. Haben ihre Probleme etwas mit dem seltsamen Verhalten ihrer KI-Freundin Honey zu tun? Hat sie womöglich die Seiten gewechselt? Und welchen Plan verfolgt diese andere KI der Analogen? Während die Oligarchen nach der Wiederherstellung ihrer Macht streben und die digitalen Anarchisten durch immer massivere Anschläge das erzwungene Patt strapazieren, wird die Grenze zwischen Freund und Feind zunehmend brüchiger. Im zweiten Teil der Spherope-Trilogie entführt C.A.Raaven die Leser in eine Zukunft, in der die Definition von Menschlichkeit neu geschrieben wird. Zwischen digitalen Codes und den Schattenseiten der analogen Welt entfaltet sich ein Netz aus Verrat, Überlebenskampf und der Suche nach einer harmonischen Existenz in einer zunehmend verschlüsselten Realität.
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Seitenzahl: 476
Für Jedida und Carin.
Ihr macht diesen Job zu einem Vergnügen.
Mir hat es großen Spaß gemacht Maxx und Mju bei ihrem Parforceritt durch die analoge und digitale Welt zu begleiten. Der Autor C. A. Raaven hat viel Fantasie und Detailreichtum in die Erschaffung der der Welten gesteckt.
MRSMURPHY ZU »OFFF«
Das Cover hat mich direkt angesprochen und ich fand die Idee, an den Anfang von jedem Kapitel ein (mehr oder weniger) passendes, KI-generiertes Bild zu stellen echt gut.
Der Schreibstil ist super und die wechselnde Perspektive sorgt dafür, dass man von beiden Hauptcharakteren genug mitbekommt.
MARTIN ZU »OFFF«
Du hattest mich schon mit dem ersten Entwurf. Wehe, du schreibst das nicht zu Ende!
AUTORENKOLLEGIN ZU »OFFF«
1. Auflage, 2024
© 2024 C.A.Raaven – alle Rechte vorbehalten.
C.A.Raaven
c/o Fakriro GbR
Bodenfeldtstr. 9
91438 Bad Windsheim
https://www.c-a-raaven.de
Covergestaltung: © Nina Döllerer
Die Kapitelgrafiken wurden unter Nutzung des KI-Tools Midjourney erstellt.
https://www.midjourney.com/app/users/703350208519602298/
Erstellt und überarbeitet mit Papyrus Autor / https://www.papyrus.de
ISBN der Printfassung: 978-3-98942-047-2
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
https://d-nb.info abrufbar.
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Erstellt mit Vellum
Wie hat es so weit kommen können?
#seekingblindly
Unvollständig
Limbus
#allyouneedisping
Erwartungsvoll
#algorithmisa dancer
Orkus
Ergebnisorientiert
#vanityfair
Körperbewusst
Limbus
#strangenewworld
Verplant
Domus
#backagain
Gejagt
Orkus
#whatsnext
Limbus
Überrascht
Domus
#inbetween
Limbus
Zerstört
Orkus
#mju2rescue
Ertrunken
Domus
#matchmadeinhell
Erleuchtet
Orkus
#redalert
Domus
Todesmutig
#outoftheblack intotheblue
Orkus
#hardreset
Ich wollt’ noch Danke sagen
Darf’s noch etwas mehr sein?
Wer ist C.A.Raaven?
Von C.A.Raaven bisher erschienen
Ohne Titel
Ein Streifzug durch »OFFF«, den ersten Teil der Trilogie
Im Jahr 2121 gleicht der überwiegende Teil von Europa in etwa der des Mars, weil sich die Menschheit Anfang des 21. Jahrhunderts nicht auf konsequente Maßnahmen zur Abwendung der Klimakatastrophe einigen konnte.
Auf der Erdoberfläche können Menschen nur in Habitaten existieren, die Sphären genannt werden. Die Haupt-Sphäre befindet sich in einem Umkreis von 130 Kilometern um den Genfer See. Diese ist in vier Abschnitte unterteilt: Der innerste Ring wird als Primäre Sphäre bezeichnet und bietet Platz für die zentralisierte Verwaltung und die oberen Zehntausend. Darum herum sind die Ringe der Sekundären bis Quartären Sphäre angeordnet. Je weiter außen diese liegen, umso desolater sind dort die Lebensumstände. Trotzdem reicht der Platz nicht für alle, sodass die analogen Bürger dazu ermutigt werden, sich digitalisieren zu lassen. In der digitalen Welt können sie wie ganz normale Menschen leben, da eine ausgefeilte Computertechnik die digitalen Entitäten mit allem ausstattet, was auch analoge Menschen ausmacht – bis hin zur Atmung.
Regiert werden alle Sphären und die digitale Welt offiziell von Ridicc, dem gewählten Prinzipal der »Federal Urbanisation Administration (FUA)«, der jedoch nur die Marionette des Oligarchen Iurii ist. In einem Versuch, die digitale Welt auszubeuten, schränken sie die Ressourcen für deren Betrieb sukzessive ein, um selbst mehr davon zu haben. Auch hat Ridicc einen Weg gefunden, um digitale Bürger, die offline gehen, in eine lukrative Droge für Analoge umzuwandeln, die er »OFFF« nennt.
* * *
Die zwei Hauptpersonen, Mju und Maxx, gehören unterschiedlichen Welten an – Mju der digitalen, Maxx der analogen.
Maxx erholt sich gerade vom unfreiwilligen Konsum der OFFF-Droge, da erhält er von seinem Mentor Iurii den Auftrag, den Urheber eines wenig schmeichelhaften Videos von diesem zu finden und auszuschalten. Bei seinen Recherchen wird er von Honey, seiner persönlichen KI, unterstützt. Mit ihrer Hilfe findet er heraus, dass der Verantwortliche ein junger Hacker namens Kyle ist, der mit einer Gruppe digitaler Anarchisten der analogen Welt hin und wieder Streiche spielt. Also nutzt er Honeys Matrix, um Kyle in der digitalen Welt zu stellen.
Dabei trifft er allerdings nicht nur auf Kyle, sondern auch auf die digitale Künstlerin Mju, die ebenfalls herausgefunden hat, dass in ihrer Welt etwas ganz und gar nicht stimmt. Anstatt sich zu bekämpfen, stellen die drei jedoch fest, dass sie mehr verbindet als trennt. Zusammen mit Mjus Großmutter Alma – einer Pionierin der digitalen Welt – entwickeln sie den Plan, ein Systemupdate zu nutzen, um zumindest eine Pattsituation zwischen analoger und digitaler Welt herzustellen.
Sie wollen den Umstand nutzen, dass digitale Menschen anstatt zu schlafen nur hin und wieder offline gehen. Dabei träumen sie üblicherweise nicht und haben es auch verlernt, dies zu tun. Wenn es aber genug von ihnen tun würden, dann könnte gezielt eine Überladung verursacht werden, die Energie aus der analogen Welt in die digitale verschiebt. Hierzu ist es allerdings notwendig, dass vor dem anstehenden Upgrade des Betriebssystems ein physischer Schalter an einem Ort betätigt wird, an den sich selbst Alma nur noch vage erinnern kann. Kyles Kenntnisse in Binar, der Sprache, in der sämtliche technischen Geräte miteinander kommunizieren, sind dabei eine große Hilfe.
Mju trainiert zusammen mit Kyle und den Anarchisten die Träumer. Maxx, der inzwischen herausgefunden hat, dass er eigentlich Iuriis Sohn Arnaud ist, macht sich währenddessen mit Alma in der analogen Welt auf die Suche nach dem Schalter. Zu diesem Zeitpunkt sind sie alle aber bereits in den Fokus der FUA geraten.
Arnaud wird in seinem Apartment überfallen und muss mit Alma, die er in sich gespeichert hat, fliehen. Dadurch verlieren sie den Kontakt zu den anderen.
Mju und Kyle gelingt es nach einem Überfall der Analogen, sich zusammen mit einer kleinen Gruppe von Traum-Kämpfern an einem gesicherten Ort zu verschanzen. Allerdings haben sie Mühe, sich nicht nur den Angriffen zu widersetzen, sondern auch die Gruppe zusammenzuhalten.
Arnaud und Alma führt derweil die Suche an den äußersten Rand der Sphäre, wo sie prompt in die Schusslinie ihrer Verfolger geraten.
Währenddessen zieht sich auch die Schlinge um den Rückzugsort der Digitalen immer weiter zu. Ohne zu wissen, ob Arnaud seinen Auftrag erledigen konnte, muss Mju die Wahl treffen, ob sie den Traum-Angriff startet oder nicht. Eine falsche Entscheidung könnte das abrupte Ende der digitalen Welt bedeuten.
Da bringen es die Analogen fertig, eine Falle in das Camp der Anarchisten zu schmuggeln. Zwar glückt es Kyle, Mju davor zu bewahren, aber er gerät dabei selbst hinein und Mju muss hilflos zusehen, wie er im OFFF verschwindet.
Letztendlich gelingt es den Digitalen, das Patt herbeizuführen, doch fragen sie sich, ob der Preis dafür nicht zu hoch war.
Digitale Welt, Burg oberhalb von Le Village,
Zeitindex 14052121_0200 – 14052121_0400
MJU
»Oh verdammt, wir sitzen hier ratlos rum und Kyle ist irgendwo da drüben bei den Analogen. Vielleicht sind sie gerade in diesem Moment dabei, ihn zu zerhacken oder er ist längst Toast!« Ich bemerke, wie mir ein kalter Schauer über Rücken und Arme läuft, als mir bewusst wird, dass die Wahrscheinlichkeit, ihn jemals wieder in die Arme schließen oder über einen seiner manchmal etwas unreifen Scherze lachen zu können, in jeder Mikrosekunde sinkt. In meinen Augenwinkeln beginnt es zu brennen und ich presse die Lider fest zusammen, um die Tränen am Fließen zu hindern. Ich fahre mir mit den Händen durchs Haar und schaue in die Runde.
Drei Augenpaare blicken zurück. In jedem von ihnen kann ich eine ähnliche Frustration erkennen, wie auch ich sie empfinde. Nein, nicht in allen. Zwar können Arnaud und Mamie ihre Gefühle nicht vor mir verbergen, aber Honey zeigt wie meistens ein Pokerface. Als KI fällt ihr das wahrscheinlich sogar leichter als sich mit den widersprüchlichen Regungen zu beschäftigen, die wir ehemals analogen Menschen als normal empfinden. Nur ein einziges Mal hat sie ihre Algorithmen nicht im Griff gehabt und vor Wut eine Mauer gesprengt. Das ist noch gar nicht so lange her.
Aber doch habe ich das Gefühl, seitdem wäre eine Ewigkeit vergangen. Auch hat sich mir dieser spezielle Moment wie eine Zeitenwende ins Gedächtnis geprägt und ein »Davor« und »Danach« geschaffen. Im »Davor« waren wir zu fünft und haben alles daran gesetzt, die Typen in der analogen Welt davon abzuhalten, uns Digitale nach ihrem Gutdünken ausbluten zu lassen. Arnaud und Honey, Mamie und ich – und Kyle. Dann kam der Augenblick, wo er mich daran hinderte, rücklings in mein Verderben zu gehen, und stattdessen selbst verging.
Nun schießen die Tränen doch hervor, die ich eben noch zurückdrängen konnte. Ich schlage mir die Hände vors Gesicht und stütze mich schwer auf meine Ellenbogen.
»Hey, nun hör schon auf, dir deswegen wieder Vorwürfe zu machen«, sagt Arnaud für seine Verhältnisse ungewöhnlich sanft. »Du konntest nichts dafür, dass Kyle ins OFFF gezogen wurde. Es ist nicht ...«
Ich gebe ein unwilliges Grunzen von mir, das seinen Versuch mich zu trösten stoppt. »Du hast leicht reden. Du warst nicht dabei. Du hast es nicht mit ansehen müssen, wie er dort in der Luft hing und vergeblich versucht hat, nicht verschlungen zu werden.«
»Genau«, gibt Arnaud mit ernstem Gesicht zurück. »Ich war in Analogien und habe versucht, weder gegrillt noch in die Luft gesprengt oder zerquetscht zu werden und dabei den ollen Schalter zu finden, den wir gebraucht haben, um Iurii in Schach zu halten.«
Diesmal verlässt ein Seufzen meine Kehle. »Du hast ja recht. Sorry. Aber ... ach, Mist. Ich kann einfach nicht anders. Was, wenn er schon längst zu einem Kick für irgendeinen analogen Junkie gemacht wurde?«
Mamie tritt hinter mich und legt ihre Hände auf meine Schultern. »Ich denke, das ist nicht zu befürchten, Muriel. Zusammen mit Honey habe ich noch einmal die Telemetrie-Daten für den Zeitindex ausgewertet, als es geschah. In diesem Moment ist eindeutig eine große Menge Programm-Code produziert worden.«
»Du meinst, Kyle hat sich wirklich schützen können?«
Eine Welle von Hoffnung durchströmt mich. Ich drehe den Kopf zur Seite, lege die rechte Hand auf ihre Linke und schaue sie an. Ich möchte Mamie noch mehr fragen, sie dazu bringen, mir einen zweifelsfreien Beweis dafür zu liefern, dass dieser Code bedeutet, dass Kyle in Sicherheit ist. Doch mein Hals ist wie zugeschnürt und ich bekomme keinen Ton heraus.
»Das kann ich nicht eindeutig bestätigen«, wirft Honey zu allem Überfluss ein und lässt mich zu ihr herumfahren. »Weder die Art des Codes noch der Emittent desselben lässt sich aus den gespeicherten Daten extrahieren. Aber die Tatsache, dass eine solche Menge ausgerechnet zu diesem Zeitindex produziert wurde, spricht eher für eine Korrelation als für eine Koinzidenz.« Bei ihren letzten Worten schleicht sich in Honeys ansonsten relativ neutrale Miene ein halbes Lächeln und ihre Augen beginnen zu leuchten.
Kommt mir das nur so vor oder sucht auch sie nach einer Rettungsleine, an der sie sich festklammern kann?
Endlich kann ich wieder tief Luft holen. »Denkst du also doch, dass Kyle in Sicherheit ist?«
»Entschuldigt bitte«, unterbricht uns eine Stimme.
Mein Kopf zuckt in ihre Richtung und sehe die zierliche Gestalt von Beatrice in genau dem Durchgang zur Festhalle stehen, wo Kyle in die Falle der Analogen geschlittert ist.
Das ist Vergangenheit! Die Falle existiert nicht mehr. Dank Mamie und Honey ist die Burg jetzt wieder von einer undurchdringlichen Firewall geschützt.
»Ich wollte nur Bescheid sagen, dass die gesicherten Tunnel, die Honey uns für den Transfer eingerichtet hat, gut funktioniert haben. Gerade kam die Meldung, dass alle unsere Mitkämpfenden wohlbehalten in Ceasars Palace angekommen sind und schon damit angefangen haben, das neue Hauptquartier aufzubauen.«
»Gut«, sagt Honey mit einem kurzen Nicken. »Dann gehst du jetzt auch dorthin.«
»Also ... ich ... ich würde gern«, beginnt Beatrice zu stammeln und eine leichte Röte überzieht ihr Gesicht. »Wenn es ginge ... würde ich gern noch hierbleiben und ...«
»Du hast bereits genug getan!«, herrscht Honey sie unvermittelt an und verwandelt sich dabei in eine streng blickende, altmodische Gouvernante.
Spontan will sich alles in mir Honeys Worten anschließen. Schließlich war es der fast schon kindliche Übereifer von Beatrice, der es den Analogen ermöglichte, die fatalen OFFF-Portale überhaupt erst in unser Refugium einzuschleusen. Durch einen außer Kontrolle geratenen Klartraum hatte sie die Firewall durchbrochen. Und doch lasse ich die Luft, die ich eingesogen habe, langsam wieder entweichen. »Bea hat es ja nicht absichtlich gemacht.«
Honey schaut mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
»Letztendlich ist es doch so, dass es uns einen wesentlichen Vorteil verschaffen würde, wenn noch mehr von uns das Klarträumen in einer Art und Weise lernen, die sicher ist«, ergänze ich mit einem beschwörenden Blick in Honeys Richtung. »Vielleicht könntest du ihr dabei helfen, eine solche sichere Variante zu konzipieren.«
»Ein durchaus logisches Vorhaben«, bemerkt Honey und ihre Züge werden wieder neutral. Dann verwandeln sie sich in die eines Drill-Sergeants, der Beatrice nun ein dünnlippiges Grinsen zeigt. »Na, dann Abmarsch, Soldatin Beatrice. Wir werden nicht eher ruhen, bis das funktioniert. Du wirst nicht eher ruhen!« Damit schiebt sie das Mädchen vor sich aus dem Festsaal.
»Oh, Mann«, kommt es von Arnaud. »Wenn ich mir überlege, dass sie früher einfach nur ne KI in meinem Communicator war.« Er schaut den beiden kopfschüttelnd hinterher.
»Nun gut«, meldet sich Mamie wieder zu Wort. »Es ist in der Tat wichtig, dass wir auf weitere Angriffe der Analogen reagieren können. Und die wird es mit Sicherheit geben, weil er sich nicht lange durch unsere Drohungen einschüchtern lassen wird. Dazu kenne ich Iurii gut genug. Honey und Beatrice tun also gut daran, sich mit einer Möglichkeit zu beschäftigen, wie wir das Klarträumen zielgerichtet einsetzen.«
Da war doch was! Mamie und Iurii. Und dieser Unfall.
Ich öffne meinen Mund, um sie danach zu fragen. Mir gegenüber scheint es Arnaud ähnlich zu gehen.
Doch Mamie hebt abwehrend die Hände und entgegnet: »Ach, Kinder. Ich kann es ja verstehen, dass ihr etwas über diese Zeit damals wissen wollt, als er und ich mehr miteinander zu tun hatten. Ganz besonders du, Arnaud, denn dieser Unfall ...« Ihre Stimme verklingt und einen Moment lang scheint sie in ihren Gedanken gefangen zu sein. Dann schüttelt sie heftig den Kopf. »Es wird eine Zeit kommen, in der ich euch alles von damals erzähle. Aber selbst wenn sich Kyle in einen Zustand versetzen konnte, der ihn erst einmal schützt, habe ich das Gefühl, dass ihm nicht unbegrenzt viel Zeit bleibt. Also sollten wir nicht säumen und uns noch einmal alles vergegenwärtigen, was wir über das OFFF wissen. Vielleicht finden wir so einen Hinweis darauf, wo und wie wir Kyle erreichen könnten.«
»Was gibt’s da schon groß zu wissen«, fährt Arnaud auf. »OFFF ist ne beschissene Droge für Analoge, die von einer digitalen Entität gespeist wird, wenn die den Geist aufgibt!«
Mamie nickt mit einem feinen Lächeln. »Und weiter?«
»Wie, ‘weiter’?«
»Nun, das ist etwas zum ‘Was’ und ‘Warum’. Aber was wissen wir über das Procedere – das ‘Wie’? Und auch über das ‘Was’ gibt es vielleicht noch Wissen, das wir zusammentragen können.«
Ich schaue mich im Festsaal um. Jetzt, wo wir alles an Ausrüstung ins zukünftige Hauptquartier transferiert haben, wirkt der Raum bedrückend leer. Die dunklen Holzbalken der Decke verstärken diesen Eindruck noch. Selbst das durch das Glas-Mosaik der großen Fenster auf der Südseite hineinfallende Sonnenlicht schafft es nicht, das Ambiente freundlicher zu gestalten. »Können wir das vielleicht woanders besprechen? Irgendwo, wo ich nicht ständig auf dieses Portal oder das Loch in der Mauer schauen muss?«
Mamie wendet ihren Kopf in Richtung des Punktes, an dem Honey die Wand durchbrochen hat, um einen Weg vorbei an dem kompromittierten Portal zu bahnen, und tippt sich dabei nachdenklich mit dem Finger an die Unterlippe. »Natürlich, chérie«, sagt sie schließlich. »Wie wäre es, wenn wir uns in die Küche begeben. Dort ist ja auch ein Tisch im Alkoven und wir könnten uns nebenbei etwas zur Stärkung machen.«
Ich nicke und blicke dann Arnaud an.
»Was immer ihr wollt, Ladys«, bemerkt er und breitet seine Arme aus. »Let’s go.«
* * *
Wenig später sitzen wir mit dampfenden Tassen in einem durch achteckige steinerne Säulen abgetrennten Nebengewölbe der großen Küche. Hier sind während der letzten Tage die Mahlzeiten für die »Digitalen Renegaten« zubereitet worden, wie wir von den Handlangern der Analogen genannt werden. Nun ist sie bis auf uns leer, was mich spontan an all die Leute denken lässt, die wir im Laufe unseres Kampfes außer Kyle noch verloren haben. Doch wenigstens sorgt ein in der altertümlichen Feuerstelle entfachtes Feuer dafür, dass wir uns nicht ganz so preisgegeben fühlen, wie oben in der großen leeren Halle.
»So«, sagt Mamie und wischt mit ihrer rechten über die linke Hand in Richtung der weiß gekalkten Wand uns gegenüber. Sofort verwandelt sie sich in einen Bildschirm, der bereits einige Punkte in einer Mindmap anzeigt. »Also, was haben wir noch?«
»Zum ‘Was’ ist mir noch etwas eingefallen«, kommt es von Arnaud. »Die Typen scheinen wirklich einen Weg gefunden zu haben, um eine digitale Entität zu zerteilen.«
Ein Keuchen ertönt. Arnaud stoppt und blickt teilnahmsvoll zu Mamie, die bei seinen Worten erbleicht ist.
»Entschuldigt bitte«, sagt sie leise und nimmt schnell einen Schluck Tee. »Mir ist nur gerade wieder bewusst geworden, das so etwas auch mir hätte passieren können. Und diese Vorstellung ist ... nun ja.« Ihre Stimme verklingt und sie schüttelt sich kurz, wie um die ungewollten Gedanken abzuschütteln.
Arnaud nickt. »Ja, das ist echt ein Scheißspiel. Und die haben es ausgerechnet mir zu verdanken, dass sie noch mehr Profit machen können, weil ein ganzer Digitaler für mehr als einen Kick ausreicht. Keine Ahnung, in wie viele Teile man eine Entität zerstückeln kann – ist ja wahrscheinlich nicht so wie bei einem analogen Körper, dem man einen Arm abtrennen könnte oder so.«
Bei den Bildern, die seine Worte in meinem Kopf erzeugen, läuft nun mir ein eiskalter Schauer über den Rücken und lässt mich unwillkürlich zusammenzucken.
»Ja, in der Tat«, unterbricht Mamie den Gedanken. »Ein digitaler Organismus besteht aus Daten und Algorithmen, die für sich allein möglicherweise gar keinen Effekt mehr erzielen würden, während sie sich auflösen. Ich musste gerade daran denken, dass du, Arnaud, davon erzählt hast, dass Schlaglichter meines Lebens vor deinem inneren Auge abliefen, als du mich in dich aufgenommen hast. Vielleicht ist der Ansatz der Spaltung eher darin zu suchen, dass verschiedene Ausprägungen des Gedächtnisses ... Ach, das ist eine akademische Frage, die uns nicht weiterbringt. Aber der Punkt der möglichen Teilung einer digitalen Entität gehört auf jeden Fall in unsere Datensammlung.« Sie wischt eine weitere Text-Blase auf den Bildschirm.
»Könnte es sein, dass Kyle das auch selbst hinbekäme?«, frage ich mehr mich selbst, aber anscheinend laut genug, dass Mamie und Arnaud es hören können.
»Wieso sollte er das tun?«, kommt es von ihm.
»Das ist gar nicht so abwegig«, wirft Mamie mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck in seine Richtung ein. »Kyle benimmt sich zwar manchmal etwas ... nun ja, infantil. Aber er ist alles andere als dumm.«
»Stimmt«, bemerkt Arnaud. »Aber nochmal: Warum sollte er es dann den Typen noch leichter machen, indem er sich schon selbst filetiert?«
»Weil er genau das Gegenteil tut!«, platze ich heraus und springe vor Erregung auf. Oh, bitte lass es so sein! »Vielleicht hat er ... seine Daten verschlüsselt und den Key dafür abgespalten.«
»Okay, das könnte ihm wirklich ähnlich sehen«, gibt er zu.
Mamie ergänzt weitere Blasen in der Mindmap. »Das könnte ja sogar bedeuten, dass wir keine so große Eile hätten, wie wir es bisher vermutet haben.«
»Nur wissen können wir es nicht.« Ich hebe die Schultern und Arme. Dann lasse ich die Hände zurück auf die Oberschenkel sinken.
»Ja, in der Tat.« Sie legt eine Hand bekräftigend auf meine. »Und deswegen wenden wir uns jetzt auch direkt dem ‘Wie’ zu. Also: Wie funktioniert der Download in die analoge Welt?«
»Portale«, sagt Arnaud.
Mamie runzelt die Stirn und bewegt ihren Kopf hin und her. »Hmm, das klingt mir ein wenig zu sehr nach Hokuspokus. So wie vor zehn Jahren, als behauptet wurde, die Teleportation sei erfunden. In Wirklichkeit handelte es sich nur um einen ultraschnellen Scanner und einen ebensolchen Producer, die den Eindruck von Verschwinden am einen und Erscheinen am anderen Ort erzeugten. Und der erste Test mit einem Lebewesen ... ihr erinnert euch sicherlich an das unerfreuliche Ergebnis.« Sie zieht eine angeekelte Grimasse. »Aber ein Teil deiner Antwort macht trotzdem Sinn. Ein Port. Und zwar einer, der so an einen bestehenden Offline-Port angedockt werden kann, dass er den Datenverkehr unweigerlich dorthin umleitet.«
»Er müsste eine wesentlich größere Bandbreite besitzen, um das zu gewährleisten«, sinniere ich.
»Hmm, normalerweise ist die Bandbreite einer Leitung nicht veränderbar«, ergänzt Arnaud. »Aber es gibt ja immer einen Hin- und einen Rück-Kanal. Und wenn in diesem Fall der Rück-Kanal umgekehrt wäre, dann würden beide gebündelt weg von uns und in die analoge Welt führen.«
Ich rufe die Datensammlung auf, die ich gemeinsam mit Kyle gemacht habe, als Mamie plötzlich verschwunden war, und wische sie auf den Bildschirm. Zusammen durchforsten wir noch einmal alles, was wir zum Offline-Gehen zusammengetragen haben.
Mamie schaut mit gerunzelter Stirn auf die Datensammlung und wiegt ihren Kopf dabei hin und her. Dann aber nickt sie. »Immerhin werden wir zukünftig nicht mehr so einfach in die OFFF-Falle gehen. Doch was den eigentlichen Prozess betrifft, wenn ein Digitaler durch einen der Ports abgesaugt wurde, die wir identifiziert haben, tappen wir immer noch vollkommen im Dunklen. Das alles geschieht vollkommen außerhalb unserer Sphäre.«
In diesem Moment gibt Arnaud ein Keuchen von sich, das uns beide zu ihm herumfahren lässt. »Wisst ihr, was das bedeutet? Ich schon. Es bedeutet, dass ich jetzt einen Anruf machen muss.«
Digitale Welt, Burg oberhalb von Le Village,
Zeitindex 14052121_0400 – 14052121_0600
ARNAUD
»Wer verdammtnochmal stört mich mitten in der Nacht?«, dröhnt es in mein Ohr. Es ist seine Stimme. Ich erkenne sie sofort, auch wenn sie im Augenblick jegliche Jovialität verloren hat. Leider ist sie damit nur allzu gut geeignet, mir die Kehle spontan staubtrocken werden zu lassen.
Ob das wirklich so eine gute Idee war? Immerhin hat er mir seine Schläger auf den Hals gehetzt und ich weiß nicht, ob sie mich nur einschüchtern oder sogar ausknipsen sollten.
»Hast du deine Zunge verschluckt?!«, herrscht mich der Prinzipal der Sphären an. Und wo er schon mal in Rage ist, schickt er sich an weiterzumachen: »Welche Missgeburt einer Hure aus der Quartären ...?«
»Maxx!«, fahre ich dazwischen. Zu mehr reicht meine Stimme nicht.
Doch zum Glück muss sie das auch nicht.
Nun herrscht auf seiner Seite Stille, nur durchbrochen von keuchenden Atemzügen.
Mit zusammengebissenen Zähnen und Schweißperlen auf der Stirn lausche ich ihnen und warte. Ich hoffe, dass er das nicht lange aushalten wird.
Und wenn er einfach auflegt? Dieser Niedervolt-Leuchte wäre es zuzutrauen, dass er versucht, sich das Problem auf diese Art vom Hals zu schaffen.
»Wo...her hast du ... diese Nummer?«, haucht er jedoch nach ein paar Sekunden. Die Stimme ist kaum noch als seine zu erkennen.
Meine Kiefermuskulatur entspannt sich ein wenig.
Okay, reiß dich zusammen. Jetzt ist Showtime!
»Dir ist vermutlich nicht bekannt, dass ich kürzlich im Auftrag des Dominus Recherchen über die Bürger der Sphären betrieben habe«, beginne ich. Ich erkenne meine Stimme auch kaum wieder. Aber ich gebe mich der Hoffnung hin, dass Ridicc das nicht bemerkt, und ergänze: »Recherchen, für die ich von ihm mit umfassenden Autorisierungen ausgestattet wurde.«
»Nein«, kommt es nach weiteren Gedenksekunden immer noch in einem zarten Stimmchen zurück, das so gar nicht zu der massigen Gestalt des Oberhaupts der Federal Urbanisation Administration passt. »Aber trotz...«
»Trotzdem ist diese Nummer eigentlich nur Eingeweihten zugänglich«, unterbreche ich ihn erneut – froh darüber, dass meiner Stimme inzwischen keine Anstrengung mehr anzumerken ist. »Genauso wie gewisse hochverschlüsselte Dateiablagen mit interessantem Videomaterial.«
Ridicc japst nach Luft. Jetzt weiß ich, dass jegliche Schlaftrunkenheit von ihm abgefallen ist, und ich seine volle Aufmerksamkeit besitze.
Doch er fängt sich erstaunlich schnell wieder und fragt nach einem Räuspern: »Jetzt musst du mir ein wenig auf die Sprünge helfen. Ich habe keine Ahnung, was für Dateien in was für einem Verzeichnis du meinen könntest.«
Natürlich. Er hofft, dass ich nur bluffe, weil ich die Verschlüsselung nicht knacken konnte.
Ich schnalze dreimal mit der Zunge. »Wer wird denn so vergesslich sein? Lassen wir die strafrechtlich relevante Sammlung diverser übler Video-Feeds mal außen vor. Allein ein gewisses Drohnen-Video würde sicherlich große Beachtung in oberen Kreisen finden. Es wurde übrigens von einer Aufklärungs-Drohne der FUA aufgezeichnet, die seltsamerweise genau zum richtigen Zeitpunkt von ihrer regulären Flugbahn abgewichen ist. Wer hat eigentlich die Weisungsbefugnis in der Administration, um so etwas veranlassen zu können?«
Das ist zwar ziemlicher Bullshit, denn ich weiß ganz genau, dass er es nicht war. Aber das weiß er ja nicht.
»Aber ... nein ... er ... ich ... würde nie«, stammelt Ridicc.
Ich bin mir sicher, dass sein feistes Gesicht in diesem Augenblick jegliche Farbe verloren hat. Ihm ist klar, dass Iurii fuchsteufelswütend war, als dieses Video vom Unfall seines geliebten Katers in den Social-Feeds viral ging. Deshalb hat der Dominus alles daran gesetzt, es vollkommen aus dem Netz tilgen zu lassen. Nur konnte er nichts dagegen tun, dass manche Leute es sich bereits in ihren persönlichen Speicher geladen hatten. Und wenn Iurii wüsste, dass es auch bei seinem Lakaien schlummert, dann wäre er sicherlich not amused.
»Dieses Video war übrigens ausschlaggebend für meinen Recherche-Auftrag vom Dominus«, rede ich weiter. »Dementsprechend erwartet er natürlich auch, dass ich ihm detailliert berichte. Durch die ... na ja, recht bewegten letzten Tage bin ich zwar noch nicht dazu gekommen, ihm das Ergebnis meiner Nachforschungen mitzuteilen, aber ...«
»Was willst du?«, fährt der Prinzipal mit einem Anflug früherer Autorität in der Stimme auf.
»Zunächst einmal will ich wissen, warum du mir diese Typen auf den Hals gehetzt hast!«, schieße ich zurück.
»Aber du warst doch gar nicht da.«
Erwischt!
»Dann kamen sie also tatsächlich von dir. Vielen Dank für die Bestätigung.«
»Ähm ... aber wo ... wie ...«
»Das braucht dich nicht zu interessieren. Aber mich interessiert, warum die traurigen Gestalten in meiner Wohnung waren und sie ... umgestaltet haben. Also, ich höre.« Hoffentlich war das jetzt nicht zu viel! Unwillkürlich verkrampfen sich die Finger meiner Hände ineinander.
Ridicc atmet tief ein und es hat den Anschein, dass er mit sich ringen würde.
Was mache ich, wenn der mir das nicht abkauft? Er hat bestimmt schon öfter ...
Doch dann seufzt er. »Die sollten dir nur ein bisschen auf den Zahn fühlen.«
Ich gebe ein Schnauben von mir und hoffe, dass er nicht bemerkt, wie erleichtert ich gerade bin. »Weil?«
»Weil ... ich mich darüber geärgert habe, dass du Iu... dass du dem Dominus etwas von meiner neuen Einnahmequelle gesteckt hast.«
»Lächerlich«, grunze ich. »Warum hätte ich das tun sollen?«
Und schon ist die Anspannung wieder da, denn natürlich habe ich genau das getan, was er mir vorwirft.
»Äh ... wie? Aber er hat doch ...«
»Er hat dich drangekriegt«, werfe ich ein und gebe ein gefaktes Lachen von mir. »Der große Meister hat dir eine Geschichte erzählt, auf die du prompt hereingefallen bist.«
»Oh, verdammt«, entfährt es ihm und seine Stimme klingt dabei tatsächlich zerknirscht. »Wenn das stimmt, dann habe ich dich vollkommen ohne Grund ...«
»Geschenkt«, winke ich verbal ab. Jetzt oder nie! »Aber wo wir schon beim Thema sind. Wie läuft diese ‘Einnahmequelle’ denn so?«
Der Prinzipal gibt ein nicht unzufriedenes Brummen von sich. »Nach Abzug seiner Beteiligung ist es jetzt zwar um einiges weniger, aber noch sehr ordentlich. Immerhin haben wir inzwischen herausgefunden, dass ... aber das würde jetzt zu weit führen.«
Fuck, das ist doch genau das, was wir wissen müssen!
»Du meinst den Trick mit der Aufteilung?«, schieße ich ins Blaue. »Also wirklich, Ridicc. Das sieht dir gar nicht ähnlich, nix über so eine Meisterleistung zu erzählen. Damit stehst du doch auf einer Stufe mit dem Genie, das vor ein paar hundert Jahren das geschnittene Brot erfunden hat.«
Ich zwinge mich dazu, nicht noch weiter zu reden. Stattdessen hoffe ich, dass meine Schmeichelei verfängt.
Und richtig. Schon nach zwei Sekunden zeigt mir das typische Ridicc-Glucksen, dass er am Haken hängt. »Geniestreich, wie?«, brummt er in einem zufriedenen Ton. »Ja, das kann man wohl so sagen. Auf bis zu vier Kicks lässt sich das Zeug strecken. Die Jungs im Labor haben mir erzählt, dass das dann wohl auf der einen Seite der Körper und das Gehirn auf physischer Ebene sind ... kann man das überhaupt sagen, wenn die nur noch aus Nullen und Einsen bestehen? Egal, du weißt schon, was ich meine. Die sind jetzt nicht so ergiebig, deswegen sind sie aber gut zum Einstieg geeignet. Kosten auch nicht so viel.«
»Und die anderen?«
»Ach, Junge. Du lässt nicht locker, was?«
»Kennst mich doch. Ich mag es, Leuten zuzuhören, die wissen, wovon sie sprechen.«
Ridicc gibt ein dröhnendes Lachen von sich. Dann erklingen ein klimperndes und ein gluckerndes Geräusch. Er hat sich wohl nen Drink eingeschenkt, denn ich kann ihn trinken hören, bevor er fortfährt.
»Nun ja, die zwei anderen Teile sind die eigentlichen Schätzchen. Das ... prozedurale und deklaratorische Gedächtnis.«
»Okay, prozedural klingt nach Dingen, die man tut oder getan hat ...«, versuche ich, das Gespräch aufrechtzuerhalten. Doch inzwischen ist keine Ermunterung mehr notwendig. Ridicc erzählt mir im Plauderton, dass das Erstere aus sämtlichen unbewussten oder erlernten Funktionen und Fähigkeiten besteht. Das Letztere wird jedoch am meisten geschätzt, denn es enthält das, was man im weitesten Sinn als Erinnerungen bezeichnen kann.
Spontan muss ich wieder daran denken, wie es war, als er mir den Trip aus Almas Daten reingedrückt hat. Mir wird speiübel, aber ich kann mich gerade noch beherrschen.
Was gäbe ich dafür, jetzt so einen Schalter zu haben, wie ihn Alma in meinen künstlichen analogen Körper programmiert hatte. Einfach die Einstellung auf null und nichts mehr fühlen.
»Hmm«, mache ich, um etwas Zeit zu gewinnen. »Das klingt tatsächlich ... einträglich. Und wisst ihr eigentlich auch, wie die Sache überhaupt funktioniert?«
»Warum ist das wichtig?« Ridicc klingt mit einem Mal um einiges wacher als nach meinem Spruch über seine Dateien.
Shit, ich habe mich von seiner Vertrautheits-Masche einlullen lassen. Bin ich zu weit gegangen?
»Ach, pff ... Berufskrankheit ... so als Verfahrenstechniker«, entgegne ich mit einer Gleichmut, die ich nicht empfinde. »Ist auch egal.«
»Also rein berufliches Interesse?«
»Na ja, wenn du so fragst, dann ... okay, jetzt ehrlich, das Interesse ist auch ganz persönlich, aber nicht unbedingt am ‘Wie’ oder ‘Warum’, sondern ... am OFFF selbst.«
Ridicc bricht in sein typisches, joviales Glucksen aus. »Aha! Also ist das der eigentliche Grund für deinen Anruf. Da hättest du aber nicht erst so große Geschütze auffahren müssen. Ich schulde dir doch sowieso noch was für meinen Überfall damals mit dem ersten Test des Stoffs.«
»Wenn du das so siehst ... hast du dann vielleicht sogar ein Ganzes?«
»Eine komplette Entität?!« Ridicc schnappt nach Luft.
Es ist schwer zu sagen, ob er nur Theater spielt oder es möglicherweise noch gar nicht so viele gekaperte Digitale für diese Droge gibt. Letzteres wäre mir lieber, obwohl das bedeuten würde, dass ich mein Ziel nicht erreiche. Mir ist klar, dass zumindest einige der Opfer dieser fiesen Offline-Fallen schon längst zerhackt worden sind. Trotzdem dreht sich mir bei dem Gedanken, von Ridicc vielleicht wirklich einen solchen Kadaver zu bekommen, erneut der Magen um.
Doch dann lenkt der Prinzipal ein. »Na ja, ohne dich wären wir zwar längst nicht so weit, aber da verlangst du ganz schön viel, Junge.«
Bei seinen Worten keimt die Hoffnung wieder in mir auf. Ich bemühe mich, dies nicht in meiner Stimme anklingen zu lassen. »Ist bloß so’n Gedanke. Du weißt ja, ich bin damit klargekommen. Und jetzt hab ich einfach das Gefühl, dass mir so’n Viertel nix mehr geben würde. Ich mein’, was bringt einem ein Kick, von dem man weiß, dass das nicht alles ist, was gehen könnte.«
Ridicc brummt unschlüssig vor sich hin.
Ich dringe nicht weiter in ihn. Vorhin habe ich es mit einer Äußerung zu viel fast versaut. Das will ich nicht noch einmal riskieren.
»Na gut«, sagt er schließlich. »Ich lass mir ein Unbehandeltes von drüben schicken. Du kannst es heute Abend bei mir abholen.«
Drüben?, hallt es in meinen Gedanken. Ich muss mich zusammennehmen, um den Prinzipal nicht danach zu fragen. Aber ich habe noch eine Klippe zu umschiffen. »Heute Abend klingt gut«, sage ich leichthin. »Nur das mit dem Abholen wird eher schwierig.«
»Warum?«
»Erinnerst du dich daran, was deine Leute bei mir in der Wohnung veranstaltet haben?«
»Sie haben nach dir gesucht, dich aber nicht gefunden. Dann sind sie wieder abgehauen.«
Na das nenne ich mal kreative Berichterstattung.
Unwillkürlich muss ich glucksen. Dann sage ich: »Sie haben dich belogen.«
»Inwiefern?«, fragt der Prinzipal mit einem Klang in der Stimme, der erkennen lässt, dass er wirklich überrascht ist.
Das kommt mir zupass. Endlich eine Gelegenheit, ihn etwas mehr auf meine Seite ziehen zu können. »Ich hatte mich nach ner kleinen Tour durch ein paar Läden ein bisschen aufs Ohr hauen wollen, da haben sie die Tür zu meinem Apartment aufgesprengt. Ich hatte zu dem Zeitpunkt ja keinen Schimmer, wer das war. Aber Typen, die das als Klopfen betrachten, wollte ich nicht begegnen – nur mit ner Hose an. Also bin ich über den Notausgang raus und abgehauen.«
Der Prinzipal gibt ein Keuchen von sich. »Du ... bist über die Notrutsche?!« An seinem Tonfall ist klar zu erkennen, dass er sich ausmalt, was hätte passieren können, wenn sein Rollkommando mich in diesem Szenario tatsächlich in die Finger bekommen hätte.
Also beschließe ich, noch einen draufzusetzen. »Dazu hätte die funktionieren müssen, aber das tut sie wohl nur bei Feuer«, antworte ich und lasse meine Stimme verklingen.
»Und ... was hast du ... getan?«, kommt es von ihm schließlich in kraftlosem Tonfall.
Nun endlich breitet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Jetzt kann ich ihn wenigstens ein bisschen dafür schwitzen lassen, dass ich bei der Kletterei fast Honeys Rechner verloren hätte. »Ich bin über den Catwalk in der inneren Konstruktion und da dann auf einen Lift, der mich letztendlich unten abgeliefert hat.«
»Aber ... die Dinger bewegen sich doch teilweise auch seitlich. Was, wenn du zwischen zwei von denen geraten wärst?«
Ich lasse ihn ein paar Sekunden schwitzen. »Dann wäre das zwei Mal Pech gewesen. Zuerst für mich. Und etwas später, wenn Iurii davon Wind bekommen hätte, auch für dich.«
Ein leises Stöhnen ist von seiner Seite zu hören.
»Kennst du Down_Under?«, frage ich schließlich.
»Was soll das sein?« Seine Stimme klingt matt. Anscheinend ist er mit der Fülle an Informationen, die ich ihm gerade gegeben habe, einigermaßen überfordert.
Wunderbar, dann kann es klappen.
»Das ist ein ziemlich großer Bereich unter der Sphäre, wo alles mit allem verbunden ist. Habe ich bei meinem Abgang eher zufällig entdeckt und bin erst einmal dort geblieben. Das Dumme ist, dass man hier unten schnell die Orientierung dafür verliert, was sich gerade über einem befindet. Es kann also sein, dass ich nicht mal mehr in der Nähe der Primären Sphäre bin. Das Gute aber sind zwei Sachen. Eine ist gut für mich, die andere könnte auch gut für dich sein.«
»Inwiefern?« Sofort klingt Ridicc wieder sehr interessiert.
»Gut für mich ist, dass hier richtig fette Datenleitungen sind, durch die du mir das Ding ohne Probleme schicken kannst.«
»Hmm, und ...«
»Und gut für dich könnte sein, dass hier ne Menge Typen arbeiten, die sicher froh wären, wenn sie ab und zu mal was hätten, um ihrem öden Dasein entfliehen zu können. Natürlich nicht so was Exquisites wie OFFF, aber ich denke, du hast bestimmt auch noch andere Kicks am Start.«
»Natürlich«, ruft er und ich weiß, dass ich ihn am Haken habe.
»Also, wie funktioniert das dann mit dem Dateiversand?«
Und Ridicc beginnt zu erzählen.
* * *
»Gute Nachrichten«, rufe ich Alma und Mju zu, als ich die Küche betrete.
Die beiden schauen mir fragend entgegen.
»Wieso?«, fragt Mju. »Mit wem hast du denn dieses ominöse Gespräch geführt?«
»Mit dem Prinzipal.«
Ein glockenhelles Lachen lässt Mju und mich zusammenzucken.
»Also, eins muss man dir lassen, Arnaud«, bemerkt Alma keuchend, als sie sich wieder halbwegs beruhigt hat. »Du machst keine halben Sachen.«
Ich hebe grinsend die Schultern.
»Jetzt erzähl«, fordern Alma und Mju fast gleichzeitig und tragen dabei einen Gesichtsausdruck zur Schau, der erkennen lässt, dass sie Enkelin und Großmutter sind.
Zu meinen Schultern hebe ich auch noch die Hände. »Ich war gerade dabei. Also, ihr wisst ja, dass es Ridicc war, der mir das allererste OFFF gegeben hat. Deshalb habe ich ihm ein bisschen auf den Zahn gefühlt, um herauszufinden, wie das mit den Dateien läuft, nachdem sie abgezogen wurden. Ihr werdet es nicht glauben, die Dinger werden allen Ernstes als Anlagen zu Kryptowährungs-Transaktionen quer durch die Sphären verschickt und können sogar eine Weile lang nicht nur in einem persönlichen Wallet, sondern sogar in einem öffentlichen Ledger – also einer Art Hauptbuch für die Transaktionen – abgelegt werden. Das ...«
»Das ist in der Tat eine gute Nachricht«, unterbricht mich Honeys Stimme.
Wir drehen uns alle drei zu der im Durchgang zur Küche Stehenden um.
»Und es nicht nicht die einzige, denn auch ich habe gerade bei der Arbeit mit Beatrice eine höchst interessante Entdeckung gemacht.«
du hast jegliches gefühl für zeit verloren. sind sekunden vergangen? tage? wochen? was ist zeit an diesem ort, der sich nie verändert?
nein, das stimmt nicht. um dich herum ist permanente veränderung. doch du bist kein teil davon.
aber du kannst sie beobachten. vielleicht sogar verstehen. was gäbe es hier anderes zu tun, um das warten erträglicher zu machen? also siehst du zu, sammelst informationen, wertest aus.
plötzlich schießt etwas wie ein pfeil auf dich zu. du fragst dich zuerst, was es ist, als es kurz bei dir verharrt, um dann zu verschwinden. dann weißt du wieder, dass es eine bedeutung hat. du selbst hast diese bedeutung erschaffen. es ist der leitstrahl, das signal, das sie zu dir führen wird. doch je mehr sekunden – tage – wochen verrinnen, umso blasser wird die erinnerung.
nur der gleichbleibende fluss der veränderung bleibt.
also sammelst du weiter, wertest aus und beginnst zu verstehen.
Digitale Welt, Burg oberhalb von Le Village,
Zeitindex 14052121_0530 – 14052121_0700
MJU
»Leuchtfeuer?«, ist meine erste Reaktion auf das, was uns Honey berichtet hat. Ich schaue verwirrt zu Alma und Arnaud. Sie blicken mit ähnlichen Mienen zurück.
»Es mag sein, dass ich die falsche Analogie gewählt habe«, räumt Honey ein. »Die Vielfalt eurer sprachlichen Wendungen, Vergleiche und nur scheinbar passender Ausdrücke stellt für mich immer noch eine Herausforderung dar.«
»Verstehe ich das richtig, dass du der Meinung bist, in den Pings, die du während der Arbeit mit Beatrice bemerkt hast, ein Muster erkennen zu können?«, fragt Alma.
»Exakt. Ich habe in der Zeit, die sie gebraucht hat, um auch in ihren Träumen die gesicherten Tunnel zu nutzen, ständig unsere Firewall kontrolliert. Schließlich galt es zu verhindern, dass sie versehentlich noch einmal ein Loch hineinbohrt. Und dabei sind mir periodisch auftretende Pings aufgefallen, die immer auf den gleichen Port zielten. Genauer gesagt den antiken Port, den Kyle benutzt hatte, um auf diese Drohne zuzugreifen.«
»Dann kannst du mit deiner Wortwahl durchaus richtig gelegen haben. Wenn es sich tatsächlich herausstellt, dass es sich um ein Muster handelt, das eine zielgerichtete Interaktion mit diesem Port beinhaltet, dann kann man es wirklich als eine Art Leuchtfeuer bezeichnen.«
Ob Almas Worten wirkt Honey erleichtert, wenn nicht sogar zufrieden oder geschmeichelt. »Vielen Dank für diese Definition, Madame. Ich werde sie zu meiner Trainings-Datenbank hinzufügen, um diese Art von Synonymen zukünftig mit höherer Effizienz entschlüsseln zu können.« Dann wirft sie einen Blick in die Runde und ihr Gesichtsausdruck verändert sich. »Um noch ein weiteres eurer menschlichen Sprichworte zu bemühen: ‘Wir haben keine Zeit zu verlieren.’ Daher habe ich alles an Datenmaterial bereits aufbereitet, damit wir Kyle so schnell wie möglich lokalisieren können.« Mit diesen Worten projiziert Honey eine Darstellung von Genf an die nächste freie Wand.
Nicht nur ich scheine die Anzeige ungewöhnlich zu finden, denn auch Mamie und Arnaud geben Laute von sich, die zu meiner Überraschung passen.
»Ähm, Honey, was ...?«, beginne ich, doch sie wirft mir einen Blick zu, der erkennen lässt, dass sie nicht gestört werden will. Also lasse ich meine Frage unausgesprochen.
»Bei diesem Kartenmaterial handelt es sich um antike Daten von vor dem Bau der Sphäre«, erklärt Honey nach einem kurzen Nicken. »Dies ist notwendig, weil mir bei der Interpretation der Daten aufgefallen ist, dass die Pings nur zum Teil aus Genf gesendet werden. Also benötigen wir einen wesentlich größeren Bereich.« Bei ihren Worten scheint Bewegung in die Karte zu kommen.
Nein, sie bewegt sich nicht. Honey zoomt heraus!
Es wirkt, als würde die Stadt schrumpfen, während der Ausschnitt größer und größer wird.
Mir stockt der Atem, als sich zuerst am unteren Rand, dann auch oben und besonders auf der linken Seite blau markierte Strukturen in den Bildausschnitt schieben.
Das alles ist um uns herum?
Allerdings es geht noch weiter. Inzwischen kann ich immer mehr Blau sehen.
Blau passt irgendwie zu Wasser. Aber das kann doch unmöglich Wasser sein. So viel Wasser gibt’s doch gar nicht. Wie alt ist diese Karte?!
Obwohl ich erkennen kann, dass die Landmasse am unteren und rechten Rand der Karte noch lange nicht zu Ende ist, stoppt Honey das Herauszoomen.
»Dieser Ausschnitt sollte ausreichend sein«, meldet sie sich zurück. »Ich blende nun die Geodaten der Pings ein.«
Dreifaches Keuchen ist zu hören, während wir zusehen, wie quer über Land und Wasser ein riesiger, fünfzackiger Stern gezeichnet wird. Doch so groß der Bereich auch ist, der untere Zacken des Sterns ist immer noch nicht vollständig zu sehen. Also vergrößert Honey den Ausschnitt noch weiter.
Mir wird schwindelig, als ich begreife, wie weit entfernt dieser Zacken ist.
»Honey?«, meldet sich Mamie zu Wort. »Kannst du Beschriftungen einblenden, damit wir erkennen können, ob die Ecken des Sterns will... oh.«
Während sie noch ihre Frage stellte, hat Honey schon reagiert. Nun ist klar, dass es sich nicht um ein willkürliches Muster handelt, auch wenn die Form allein es bereits nahegelegt hat.
»London« ist am oberen linken Zacken zu lesen, darüber steht »United Kingdom« geschrieben. Rechts oben befindet sich »Berlin« in etwas, das »Deutschland« genannt wird. Weiter geht es mit »Madrid« in »España« auf der linken, »Beograd« in »Sřbija« auf der rechten Seite und ganz unten mit »Kampala« in »Uganda«, das in einer großen Struktur liegt, die durch eine erhebliche Menge Wasser von dem Bereich getrennt ist, in dem sich unsere Sphäre befindet.
»Honey?«, meldet Arnaud sich zu Wort. »Kannst du irgendwie die zeitliche Reihenfolge der Pings anzeigen?«
Eine Sekunde später können wir den genauen Verlauf der Figurenzeichnung erkennen: London, Beograd, Madrid, Berlin, Kampala, London. Von dort springt sie um zu Genf, wo sie länger verharrt, um dann mit London wieder zu starten.
»Ich erinnere mich noch von früher an Leute, die sagten, dass die Welt groß ist«, haucht Mamie überwältigt. »Aber nie im Leben hätte ich vermutet, wie groß dieses ‘groß’ wirklich ist.«
»Und wer auch immer da versucht, unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Er weiß, was er tut«, ergänzt Arnaud. »Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, ob es sich tatsächlich um Kyle handelt.«
Ich seufze. »Ich kenn ihn ja am längsten von uns, aber trotzdem hab ich keinen Plan. Wie sollen wir das nur ...?«
»Moment!«, fährt Mamie dazwischen. »Ein Ping versendet kleine Datenpakete, um Erreichbarkeit des Ports, Übertragungsgeschwindigkeit und Übertragungsqualität zu testen.«
»Das ist korrekt«, bestätigt Honey. »Wünschst du eine Auswertung der übermittelten Daten?«
»Exakt, Honey«, bestätigt nun Mamie. »Ich sehe, wir verstehen uns. Könntest du also bitte ...«
»Bereits geschehen. In sämtlichen der von mir aufgezeichneten Pings haben die Datenpakete denselben Inhalt.«
»Und welchen?«, platzt Arnaud dazwischen, woraufhin Honey und Mamie ihn mit demselben indignierten Gesichtsausdruck anschauen. Mit einem schuldbewussten Grinsen hebt er die Schultern. »Schon klar. Ihr wisst, was ihr tut.«
»Es ist ein alphanumerischer Code. Und bevor du wieder dazwischenfährst, Boss, hier ist er.« Damit blendet Honey eine kurze Zeichenfolge auf dem Bildschirm ein. »48 61 6C 6F 20 49 20 62 69 6D 73 20 1E«
»So wenig?«, entfährt es mir. »Wie soll uns das weiterhelfen?«
»Definiere ‘wenig’«, kommt es von Honey.
»Na ja, ich hatte gehofft, dass es ein längerer Text ist, in dem uns Hinweise dafür geliefert werden, mit wem wir es zu tun haben. Vielleicht auch Erklärungen oder Hilfestellungen, wie es weitergehen kann.«
Mamie legt mir eine Hand auf den Arm. »Nur die Ruhe, ma chérie. Zunächst einmal gilt es, den Code zu entschlüsseln.«
»Hast du vielleicht eine Idee, was für ein Code das sein könnte, Honey?«, fragt Arnaud.
Die Angesprochene schaut mit säuerlicher Miene zurück. »Während wir sprechen gehe ich sämtliche der gängigen Verschlüsselungsverfahren durch, aber keines der Ergebnisse macht einen Sinn.«
»Da sagst du was«, gibt er zurück.
»Wie soll ich das interpretieren, Boss?«
»Gängige Verfahren. Ich musste gerade daran denken, dass Kyle – so wie ich – manchmal auf die alten Zeiten steht. Immerhin ist er ja auch auf diesen antiken Port gekommen.«
»Hey, gute Idee!« Ich gebe ihm das Daumen-hoch-Zeichen. »Und welcher antike Code könnte das sein?«
»Nach meinen Berechnungen könnte ich ihn bereits gefunden haben. Er nennt sich ‘ASCII’ – ein Hexadezimalcode aus den Anfängen der Computertechnik.«
»Ja, das könnte passen«, murmelt Arnaud. »Und was ist das Ergebnis?«
»Das Ergebnis ist«, hier macht Honey eine für sie ungewöhnlich lange Pause, »ansatzweise lesbar.«
»Zeig!«, fordern Mamie und ich fast gleichzeitig.
Der Text erscheint auf dem Bildschirm.
Mamie und ich starren verständnislos darauf.
Und Arnaud fängt schallend an zu lachen.
Digitale Welt, Burg oberhalb von Le Village,
Zeitindex 14052121_0730 – 14052121_0930
ARNAUD
Eine Weile lang gebe ich mich der befreienden Wirkung des Gelächters hin, das mich überfallen hat, als ich die Zeile gelesen habe, die Honey eingeblendet hat. »Halo I bims ^^« steht dort geschrieben.
»Was ist an diesem Kauderwelsch so lustig?«, verlangt Alma schließlich zu wissen.
Ich wische mir die Lachtränen aus den Augen und bemühe mich, wieder zur Ruhe zu kommen. »Ach, weißt du, Alma, an dem Spruch selbst ist gar nicht mal so viel lustig. Es ist mehr das Gefühl von Erleichterung gewesen, das mich übermannt hat.«
»Aber warum, verdammt?«, fordert nun auch Mju.
Ich hebe beruhigend die Hände. »Weil ich mir ziemlich sicher bin, dass wir es tatsächlich mit unserem Sonnyboy Kyle zu tun haben.«
»Bitte einen Beweis für deine These, Boss«, kommt es von Honey.
»Das ist ‘Vong’.«
»Fong?!«, fragen die drei Damen mit gerunzelter Stirn.
»Ja, ‘Vong’. Das ist eine Kunstsprache, die sich in einem Land entwickelt hat, das es jetzt bestimmt nicht mehr gibt. Das war vor gut hundert Jahren im damals zur ersten Blüte kommenden sozialen Netz. Da wurden Worte bewusst leicht falsch oder nur in verkürzter Form geschrieben, manchmal wurden auch Teile eines Wortes durch eine ähnlich klingende Zahl ersetzt. ‘Nacht’ wurde so zum Beispiel zu einer Kombination aus ‘N’ und der Zahl Acht. War aber nur eine kurze Phase.«
»Ausgehend von diesen Prämissen interpretiere ich den Text demnach als ‘Hallo, ich bin’s.’«, bemerkt Honey. »Aber was haben die letzten beiden Zeichen zu bedeuten?«
Ich muss erneut schmunzeln. »Das ist eben auch noch aus der Zeit, als Emojis nicht zum Standard-Zeichensatz gehört haben. Sie mussten damals aus dem erstellt werden, was die Tastatur halt so hergab. In diesem Fall soll das zwei bei einem Lächeln verschmitzt zusammengezogene Augen darstellen.«
»Okay, das alles zusammengenommen sieht sowas von nach Kyle aus«, bestätigt Mju.
»Dann ist damit die weitere Strategie klar«, attestiert Honey.
»Ach wirklich?« Ich schaue sie mit einer hochgezogenen Braue an. Mir gegenüber tut Mju in etwa das Gleiche.
»Ja, in der Tat«, kommt es von Alma. »Das liegt doch auf der Hand.«
Nun mustern Mju und ich ihre Großmutter mit verwirrten Blicken.
»Da wir uns darin einig sind, dass die These, dass es sich um Kyle handelt, verifiziert ist, geht es nun nur noch darum, herauszufinden, wie wir einen Kontakt herstellen können«, fügt Honey hinzu.
Ich schaue lächelnd von der Einen zur Anderen. »Ihr ergänzt euch wirklich gut. Was für ein Glück, dass wir es sind, die euch beide mit am Start haben.«
Wir machen uns daran, die von Honey gesammelten Daten noch einmal zu sichten, um einen Ansatzpunkt zu finden. Viel ist das allerdings nicht, wie wir schnell feststellen müssen.
»Das bringt doch nix«, murrt Mju kurze Zeit später. »Wie sollen wir denn etwas über seinen Standort herauskriegen, ohne mit ihm kommunizieren zu können?«
»Aber das können wir vielleicht!«, platze ich heraus. »Honey, hast du auf die Pings bisher geantwortet?«
»Negativ, Boss. Das hielt ich nicht für ratsam, solange ...«
»Solange wir uns nicht darüber klar waren, wer uns anpingt. Sorry, dass ich dich unterbreche, Honey. Aber im Gegensatz zu dir gehen mir Gedanken manchmal verloren, wenn ich sie nicht direkt formulieren kann.«
»In Ordnung, Boss«, gibt sie in ihrem typisch stoischen Tonfall zurück, aber am Gesichtsausdruck ihres Avatars bemerke ich ein Flackern, das mir zeigt, wie überrascht sie ist.
Wahrscheinlich ist sie es gewohnt, dass Leute ... nein, dass ich sie nicht wie eine wirkliche Gesprächspartnerin behandele. Wird Zeit, dass ich das dauerhaft ändere.
Ich verziehe meinen Mund zu einem entschuldigenden Lächeln und fahre fort: »Wenn wir uns jetzt aber einig sind, dass wir es riskieren wollen, dann könnten wir zunächst einmal das ändern.«
»Sind wir?« Honey schaut in die Runde.
Alma und Mju nicken. Ich tue es ihnen gleich.
»Oh«, macht Honey.
»Äh, wie jetzt? Überrascht es dich, dass wir uns einig sind?«
»Negativ, Boss. Ich habe die Antworten in der Mikrosekunde angeschaltet, als auch du deine Zustimmung gegeben hast.«
»Warum dann ...?«
»Weil die Pings gestoppt haben.«
»Fuck!«, entfährt es mir, worauf Alma indigniert die Nase rümpft.
»Arnaud, ich muss doch sehr bitten ... auch wenn du durchaus recht hast. Aber überleg doch einmal. Dieses Stoppen muss kein negatives Zeichen sein. Es ist möglich, dass ein Parameter gesetzt wurde, der die Pings so lange wiederholt, bis eine Antwort erfolgt. Also könnte ...«
»Sie haben wieder gestartet.«
»Und, hat sich an dem Satz etwas geändert?«, spricht Mju meinen Gedanken aus.
»Negativ.«
Mju seufzt. Auch mir ist danach und Alma macht ein enttäuschtes Gesicht.
»Aber an der Ergänzung«, sind die Worte, die uns drei überrascht aufblicken lassen. »Ist dir die Bedeutung einer Zeichenfolge aus einem Doppelpunkt, einem Bindestrich und einer schließenden Klammer bekannt?«
»Yes!«
»War das eine Zustimmung, Boss?«
»Das kann man so sagen«, antworte ich glucksend. »Ja, die Bedeutung ist mir bekannt. Und ja, ich denke, dass uns das weiterbringt. Das ist eines der ersten, wenn nicht sogar das erste Emoji, damals Smiley genannt. Es steht nämlich für ein lächelndes Gesicht.«
Alma nickt. »Das klingt verheißungsvoll. Honey, kannst du Einfluss auf die Datenpakete nehmen, die als Antwort auf den Ping versendet werden?«
»Positiv, Madame.«
»Perfekt, dann sollten wir uns jetzt einen Text überlegen, der eine würdige Antwort darstellt«, sagt Alma und sieht mich auffordernd an.
»Ähm.« Mein Blick wandert zwischen den anderen hin und her und ich blase verunsichert die Wangen auf. »Warum seht ihr mich an?«
Mju grinst. »Ist doch klar. Weil du der Einzige hier bist, der diesen Buchstabensalat schon länger kennt.«
Da hat sie natürlich recht. Also lass dir was einfallen!
Eine Weile lang starre ich ins Gewölbe der Küche, während ich versuche, mich daran zu erinnern, ob diese ‘Sprache’ tatsächlich so etwas wie eine Grammatik hat. Dann baue ich eine Antwort zusammen, die klappen könnte. Die drei anderen unterhalten sich in der Zeit, ohne dass ich verstehen kann, worüber sie reden.
»Ich glaub, ich hab was«, melde ich mich schließlich wieder zu Wort.
Alle wenden mir ihren Blick zu. »Erzähl!«, fordert Mju.
»Also, so wie Kyle habe ich mir einen möglichst kurzen Ausdruck überlegt, der Außenstehenden möglichst wenig sagt, aber von ihm verstanden werden kann. Ich weiß allerdings nicht, ob er dir gefallen wird, Honey.«
»Nun, Boss, erst wenn du uns den Datensatz gibst, können wir ihn interpretieren.«
Oha, das klingt in ihren Worten wie ‘Nu mach schon, Alter!’.
Ich räuspere mich. »So soll es sein. Die Antwort ist: ‘Halo wir bimsen vong Freundschaft her. Die Erste die Kleinste der Größte und ... Bienenkotze.’«
Mju prustet los: »Bienen...?«
Alma sieht mich mit alarmiertem Gesichtsausdruck an.
»Ein passender Text«, gibt Honey jedoch zurück. Als wir uns ihr zuwenden – Alma und Mju mit überraschten Ausdrücken, ich mit erleichtertem – ergänzt sie: »Während ich mich mit Alma und Mju über unser weiteres Vorgehen unterhalten habe, hatte ich Gelegenheit, auf das im Netz archivierte Datenmaterial dieser antiken Kunstsprache zuzugreifen. Die Syntax ist passend und unsere Bezeichnungen auch.«
»Bienenkotze? Ernsthaft?« Mju sieht zuerst sie und dann mich verständnislos an.
»Insekten der Gattung Apiformes, die in den äußeren Sphären immer noch die größte Bedeutung für den Reproduktionszyklus von Pflanzen haben, sondern eine süß schmeckende Substanz ab, die in raffiniertem Zustand als Honig bezeichnet wird«, gibt Honey zur Antwort. »In der Sekundärliteratur, die ich im Zusammenhang mit meinen Vong-Recherchen gescannt habe, tauchte der von ... Arnaud genannte Begriff mehrfach auf. Er stellt anscheinend eine Art Metapher dar, die den Absonderungsprozess zwar unkorrekt beschreibt, jedoch in seiner etwas immaturen Art gut zu Kyles Verständnis von Humor passt. Insofern stellt er einen adäquaten Ersatz für das von ihm genutzte Emoji dar und bietet gleichzeitig eine codierte Beschreibung für mich.«
Mit einem Lächeln legt Alma ihre Hand auf die von Honey. Deren Blick zuckt kurz dorthin, bevor sie es mit einem »Lächeln, Nummer 4«, wie ich es für mich nenne, beantwortet. Sie hat insgesamt neun davon – jedes für den generischen Ausdruck einer durchaus individuell gedachten Interaktion mit uns. Das macht mir eines bewusst. Auch wenn die Manifestation von Honey hier in der digitalen Welt schon wesentlich mehr dem eines digitalen Organismus ähnelt, als es in der analogen Welt der Fall war, so ist sie es nicht.
Aber wünscht sie es sich vielleicht?
Doch im Augenblick stehen andere Dinge an, also schiebe ich den Gedanken erst einmal beiseite.
»Danke, dass du es so siehst, Honey. Kannst du das dann bitte codieren und in das nächste Antwort-Paket integrieren?«
»Erledigt.«
»Und ...«
»Eine Antwort liegt bereits vor.«
»Exzellent, ma chère«, ruft Alma aus. »Würde es dir etwas ausmachen, uns die Antwort direkt zu übersetzen, damit auch ich sie ohne Interpretation verstehe?«
»Ich hatte einen entsprechenden Wunsch bereits berechnet«, antwortet die Angesprochene und lässt das Ergebnis auf dem Screen erscheinen.
»Schön, dass wir uns gefunden haben. Der Flieger.«
Mju runzelt ihre Stirn. »Das klingt schon mal ganz gut. Aber ... der Flieger?«
»Ich interpretiere diese Bezeichnung als Code für denjenigen, der mittels eines fliegenden Objekts – sprich einer Drohne – letztendlich für das Zusammentreffen unserer Gruppe gesorgt hat.«
»Das kann tatsächlich passen«, murmele ich.
»Das kann nicht nur passen, das klingt perfekt!«, nimmt Mju meinen Gedanken auf. »Also, was wollen wir jetzt antworten? Was müssen wir wissen, um ihn wirklich zu finden und wieder zu uns zu holen? Wie ...?«
»Es ... tut mir leid, nun dich zu unterbrechen«, wirft Honey ein. »Aber es gibt da eine Information, die zunächst sinnvoll sein kann.«
»Und die wäre?«
»Mit den folgenden Pings sind weitere anderslautende Datenpakete geschickt worden. Ich berechne eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass wir zunächst diese lesen sollten.«
Mju schaut überrumpelt drein, nickt aber gleichwohl.
»Wie viele sind es?«, will Alma wissen.
»Es sind insgesamt drei. Dementsprechend fehlen noch zwei. Soll ich sie beide einblenden?«
Ich muss schmunzeln. »Danke für das Angebot, Honey. Du weißt ja, dass wir es mögen, wenn direkt zum Punkt gekommen wird. Aber da wir zwei Texte nicht simultan lesen können, würde das keinen Sinn machen. Oder seht ihr das anders?« Damit schaue ich Alma und Mju an.
Beide schütteln den Kopf, und Honey blendet daraufhin einen wesentlich längeren Text ein.
»Ich bin noch intakt. Zumindest fast. Habe mich selbst aufgeteilt. Ein Teil ist versteckt und verschlüsselt. Der andere ist sozusagen flüssig und surft herum. Er versucht eure Aufmerksamkeit zu erregen. Das hat ja wohl geklappt – Smiley. Versucht beide Teile zu finden. Erst wenn sie zusammengebracht sind, werden Zusammenfügen und Entschlüsselung ausgelöst. Ich zähl auf euch.«
»Ja!«, ruft Mju freudig. »Wir haben ihn. Jetzt müssen wir nur noch mehr über seine Aufenthaltsorte herausfinden. Also, was sollen wir ihn fragen? Wie sollen wir ...?«
»Bei aller Euphorie, Muriel«, wirft Alma ein. »Ich verstehe dich ja, aber vielleicht sollten wir uns vorher noch die weitere Nachricht von Kyle ansehen.«
Mju nickt mit einem verlegenen Lächeln.
Honey blendet den dritten Text ein.
Und ich schließe entmutigt die Augen.
Digitale Welt, Burg oberhalb von Le Village
Zeitindex 14052121_0930 – 14052121_1130
MJU
»Das waren automatisch generierte Antworten. Um meinen Standort nicht für die Fieslinge auffindbar zu machen, können wir nicht miteinander kommunizieren, bis sich unsere Dateien im gleichen lokalen Netzwerk befinden. Viel Glück für uns.«
Ich fixiere die Zeilen, so als ob ich sie durch meine pure Aufmerksamkeit dazu zwingen könnte, ihren Sinn zu ändern. Währenddessen kann ich wahrnehmen, dass sich Mamie und Arnaud aufgeregt mit Honey unterhalten, doch es wirkt seltsam entfernt. Ich kann nicht verstehen, was sie sagen, da in meinem Kopf andere Worte dröhnen.
Wie konntest du nur denken, dass sich alles so einfach lösen lässt? Denn das tut es nicht. Ein verdammtes Puzzle, das über tausende von Kilometern verteilt ist. Und du weißt genau, dass es deine Aufgabe sein sollte, Kyle zu finden, denn er ist nur deinetwegen in dieser beschissenen Situation!