Ökofeminismus: Zwischen Theorie und Praxis - Lina Hansen - E-Book

Ökofeminismus: Zwischen Theorie und Praxis E-Book

Lina Hansen

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Beschreibung

Was haben antimilitaristische Proteste in den USA und Europa, Kämpfe um Saatgut in Indien oder Kenia und indigener Widerstand gegen Extraktivismus in Ecuador mit Kampagnen zum Thema Hausarbeit – wie der Streik der Care-Arbeiter*innen gegen das neoliberale Gesundheitswesen in NRW – gemein? Das Zusammendenken von feministischen, ökologischen und dekolonialen Fragestellungen, wie es Ökofeminist*innen bereits in den 1970er-Jahren vorgemacht haben, stellt das Leben – und zwar nicht nur menschliches – in den Fokus der Analyse und des politischen Handelns. Die Autorinnen legen dar, wie Ökofeminismus es schafft, die Verbindung zwischen verschiedenen Herrschaftsstrukturen aufzuzeigen und die Herrschaft über Frauen, queere, migrantisierte, rassifizierte Menschen und andere marginalisierte Gruppen mit der Herrschaft über Natur zusammenzudenken. In der Praxis zeigt sich das in Form von Streiks und Besetzungen, Commoning und kollektiver Subsistenzarbeit bis hin zu autonomen Gemeinschaften und alternativen Gesellschaftsentwürfen. Zugänglich geschrieben und mit zahlreichen Beispielen aus der Praxis versehen ermöglicht das Buch einen niedrigschwelligen Einstieg in die Vielfalt der Theorien und Praxen der Ökofeminismen. »Es geht um etwas, das wir alle schon wissen, weil wir es spüren und jeden Tag neu erleben: Wasser trinken, in einen Apfel beißen, die Schuhe auf der Wiese ausziehen, Windeln wechseln, unter einer Berührung erschaudern, Pflanzen und Erde riechen, müde werden … Unsere Verbundenheit mit allen-allem und deren Lebenswelten bringt eine fröhliche Verbindlichkeit – vielleicht ist dies eine gute Definition für Ökofeminismus. Da sind immer unzählbar viele Strömungen, unbekannt viele Lachen und Rinnsale, Dinge, die wir nicht in eine einzige Geschichte packen können. Da geht es um die Kraft des Erzählens und Erinnerns und Begleitens, nicht um eine Historie mit striktem Anfang oder Ende. Mir scheint, in dem hier vorliegenden Buch laufen einige dieser Rinnsale und Strömungen zusammen …« – Aus dem Vorwort

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Seitenzahl: 411

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Lina Hansen liebt den Ökofeminismus, seitdem sie in Jena den soziologischen Schwerpunkt ›Gesellschaftliche Transformation und Nachhaltigkeit‹ studiert hat und sich während ihres soziologischen Bachelors im Stadtgarten ›Ab geht die Lucie‹ feministisch engagiert hat. Mittlerweile hat sie viele feministische Konferenzen organisiert. Derzeit bringt sie ihren ökofeministischen Blick im Kollektiv Common Ecologies, bei der Feminist and Degrowth Alliance (FaDA) und bei der Organisation der Vergesellschaftungskonferenz ein. Sie liebt es, in Stadtgartenprojekten queere ökofeministische Workshops zu geben, kollektiv zu ackern oder an der Universität Feministische Theorie und Degrowth zu lehren. Sie arbeitet an einem ökofeministischen Promotionsvorhaben, welches von Hanna Meißner betreut wird.

Nadine Gerner ist Sozialwissenschaftlerin und lehrt an verschiedenen Universitäten zu den Themen Care, Soziale Reproduktion, Degrowth und Ökofeminismus. Darüber hinaus ist sie bei Common Ecologies und der Feminism and Degrowth Alliance (FaDA) aktiv. Zurzeit organisiert sie zum zweiten Mal eine Strategiekonferenz zu Vergesellschaftung und setzt sich für feministisches Vergesellschaften ein. Sie gibt Workshops zu Ökofeminismus und ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung sowie in feministischen Kollektiven und Kampagnen unterwegs.

Nadine Gerner, Lina Hansen

Ökofeminismus zwischen Theorie und Praxis

Eine Einführung

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Nadine Gerner, Lina Hansen:

Ökofeminismus zwischen Theorie und Praxis: Eine Einführung

1. Auflage, März 2024

eBook UNRAST Verlag, April 2024

ISBN 978-3-95405-192-2

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Ramin Aryaie – www.aryaie.studio

Bildnachweis für die auf dem Umschlag verwendete Fotografie:

© Greenham Women Everywhere, aus den Beständen von Maggie Sully

Satz: Andreas Hollender, Köln

Mit einem kollektiven Vorwort von:

Corinna Dengler

Daniela Gottschlich

Katharina Hoppe

Sherilyn MacGregor

Milo Probst

Anna Saave

Andrea Vetter

Manuela Zechner

Bücher sind wie Samenkörner. Manchmal sind sie Früchte des Zorns und entstehen aus sozialen Bewegungen. Man wirft sie hinaus in die Welt und weiß nicht, ob und wo der Samen aufgeht. (Maria Mies)

In Gedenken an Maria Mies und die vielen Wegbereiter*innen.

Inhalt

Ein kollektives Vorwort

EINLEITUNG: Ökofeminismus ist überall!?

Warum jetzt ein Buch zum Thema Ökofeminismus oder: Was können wir heute von Ökofeminist*innen lernen?

Warum wurden wir Ökofeministinnen oder: Wie kam der Ökofeminismus zu uns?

Zu Inhalt und Aufbau des Buches

EINS – Ökofeminismus in Bewegung(en): Eine (un)vollständige Geschichte

Von Waffen, Würmern, Wolle und Bäumen – Ökofeminismus in den 1970er- bis 1990er-Jahren

Die historischen Kontexte

Aufstand aus der Küche

Umwelt(un)gerechtigkeit oder: Race, class und gender treffen auf Ökologie

Die ökofeministische Intervention in die Umwelt- und Friedensbewegung

Womyn’s Lands: Von Lesben und der Revolution auf dem Land

Unsichtbare Kämpfe oder: Welche Geschichte(n) noch erzählt werden könnte(n)

Von der Hochzeit des Ökofeminismus zu verpönten Gottesanbeterinnen, Straßenkämpfer*innen und Philosoph*innen

ZWEI – Von der Bewegung zur Theorie: Auf dem Weg zu einer Definition

Was haben tree-hugging in Indien, das Pflanzen von Bäumen in Kenia, die Anti-Atom-Bewegung in Europa und Anti-Militarisierungskämpfe in den USA gemeinsam?

Zum Zusammenhang von Frau und Natur im Ökofeminismus

Ökofeminismus ist Kritik des neuzeitlichen Naturverhältnisses und der modernen Wissenschaft: Ein Blick in die feministische Wissenschaftskritik

Dualismen!? Kritik der Trennstrukturen im Kapitalismus

Ökofeminismus? Ökofeminismen! Verschiedene theoretische Wendepunkte

Ökofeminismus? Ökofeminismen! Verschiedene Strömungen

Strömungen durchfließen oder fluide Strömungen?

DREI – Vorbehalte und Fallstricke – zu Recht!: Ein ständiges Hinterfragen der Debatte

Von der Straße und der Militärbasis zur Präsident*innenschaftswahl

Ökofeminismus will mehr als Gleichstellung

Lohnarbeit für alle oder Emanzipation?

Von der Karrierefrau zum Bio-Ei: Nachhaltiger Konsum

Wie essentialistisch ist der Ökofeminismus? Oder: Ökofeminismen!

Für einen radikalen Ökofeminismus

VIER – Ökofeministische Gesellschaftskritik: Denken, betrachten, verändern!

Ökofeministische Politische Ökonomie: Das Ganze der Wirtschaft betrachten und messen

Von Staubflusen unter dem Bett, Pausenbroten und Eisbergen

Homo oeconomicus: Wer ist das Subjekt der Wirtschaftstheorie?

Das Pausenbrot Schmieren in der Unterwasserökonomie: Was ist (keine) Arbeit?

Ein ökofeministischer Klassen- und Arbeitsbegriff oder: Was ist denn nun auch noch meta-industrielle Arbeit?

Was hat die Arbeit von Hausfrauen in der BRD mit der Arbeit von mexikanischen Kleinbäuer*innen zu tun?

Ob Hausfrau oder Kleinbäuerin: Wie Subsistenzarbeit ausgebeutet wird

Auf Kosten anderer: Wie der Kapitalismus auf Kosten von Subsistenz entstanden ist und akkumuliert

Wir sind alle Hausfrauen!

Ursprüngliche Akkumulation: Subsistenzarbeit wird fortlaufend vom Kapitalismus angeeignet

Wie der Westen das mechanische Weltbild auf die Äcker der Frauen in den Kolonien brachte

Warum wir über Kosmologien, karibische Standpunkte und Welten reden müssen und nicht über das Universum, die Moderne und das Anthropozän

Warum Würmer und Cyborgs »matter«

Was haben sexende Schnecken, BDSM und die Kleinfamilie miteinander zu tun?

Was haben Eichhörnchen mit Zugänglichkeit und Ökoableismus zu tun?

Von ökofeministischen Epistemologien und vom Brüllen

Gesellschaft ökofeministisch verändern: Was wollen Ökofeminist*innen? Wie sehen ökofeministische Welten aus?

Wie sieht also eine utopische ökofeministische Gesellschaft aus?

FÜNF – Von der Theorie zurück zur Praxis: Ökofeminismus heute und morgen

Gesellschaft kompostieren! – Von Saatgut über Atommüll bis hin zu radikalen Feen und Frauenrevolution

Ökofeministisch netzwerken bei La Via Campesina, dem Emanzipatorischen Landwirtschaftsnetzwerk und dem Netzwerk Care Revolution

Queere Ökologien in der Praxis: Folleterre, ein ökofeministischer Zufluchtsort für radikale Feen

Von Notre Dame des Landes über Lützerath bis Bure: Ökofeministisch besetzen, autonome Zonen errichten!

Vom Beerenpflücken zu (öko)feministischem und antirassistischem Syndikalismus: Jornaleras de Huelva en Lucha

Ökofeminismus von unten und von links: Die autonome Regierung der Zapatistas in Chiapas

Ökofeministische Revolution: Ökologie, Feminismus und Demokratie in Nord- und Ostkurdistan

Schluss: Was sind heutige ökofeministische Kämpfe?

Schluss – Über Ökofeminismus schreiben oder: Compos(t)ing together

Ökofeminismus zwischen Theorie und Praxis

Ein essayistischer Ausblick: Kann der Ökofeminismus wieder Wurzeln schlagen?

Ein Schritt voran: Kann es wieder eine ökofeministische internationalistische Bewegung geben?

Ökofeminismus weiterspinnen und ökofeministische Banden bilden

Ökofeminist*innen im Portrait

Oladosu Adenike – eine panafrikanische Ökofeministin

Maria Mies – eine marxistische Ökofeministin

Laura Conti – eine kommunistische Ökofeministin

Myriam Bahaffou – eine queere Ökofeministin

Danksagung

Zum Weitermachen

Lesen

Hören

Literatur

Anmerkungen

Ein kollektives Vorwort

von Nadine Gerner und Lina Hansensowie Corinna Dengler, Daniela Gottschlich, Katharina Hoppe, Sherilyn MacGregor, Milo Probst, Anna Saave, Andrea Vetter, Manuela Zechner

Ein Einführungsbuch in den Ökofeminismus zu verfassen ist nicht nur unser alleiniger Wunsch. Daher war uns an einer kollektiven Umrahmung dieses Buches gelegen und wir sind froh über diese ersten Seiten. Dieses Vorwort ist entstanden, da uns mehrmals ans Herz gelegt wurde, diesem Buch ein Vorwort voranzustellen.[1] Da sich die übliche Form des Vorworts durch eine einzelne Person für uns jedoch nicht stimmig anfühlte, möchten wir diesem Buch gerne eine kollektive Form des Vorworts voranstellen. Dieser Flickenteppich an Gedanken zum Buch stammt von Menschen, die uns auf dem Weg zu diesem Einführungsbuch begleitet und inspiriert haben – sowohl persönlich als auch durch ihre (öko)feministische Arbeit. Wir möchten dieses Voneinanderlernen wertschätzen und allem voran sichtbar machen. Durch dieses Spinnen ökofeministischer Fäden wollen wir uns nochmal mit diesen Personen verknoten. Dadurch weben wir ihre Gedanken ein und verstricken sie mit unseren Geschichten. Für uns ist diese kollektive Umrahmung zugleich zu einer schriftlichen dankenden Umarmung geworden.

Anna Saave: In einem Interview aus dem Jahr 2009 antwortet Maria Mies auf die Frage, wie ein feministisches Konzept von Arbeit ihrer Meinung nach aussehen sollte: »Ein feministischer Begriff von ›Arbeit‹ kann nicht auf Herrschaft beruhen […]« und er muss »das räuberische ökonomische Verhältnis des Menschen zur ›Natur‹ durch ein kooperatives ersetzen«. Ein solches kooperatives Verhältnis sei auch der »einzige Weg, mit dem Frauen ihre körperliche Integrität und Ganzheit, ihre Würde und ihre Souveränität über (ihre eigenen) lebendigen Prozesse wiedererlangen können« (Mies und Salleh 1990: 81, Saaves Übersetzung).

Aus der Perspektive einer ökofeministischen Bewegungsgeschichte ist Mies’ Antwort ambivalent. Sie zeigt einerseits, dass ökofeministische Gesellschaftsentwürfe umfassende Änderungen einfordern, die noch verwirklicht werden müssen: Arbeit ohne Herrschaft, kooperative Mensch-Natur-Beziehungen, die Wiederherstellung der Integrität weiblicher Körper und weiblicher Selbstbestimmung! Ökofeministische Visionen treiben damit sozial-ökologische Transformationen kritisch an. Das Zitat zeigt aber auch den partikularen Blick der Ökofeministinnen ›der ersten Stunde‹, deren Denken ab den 1980er-Jahren bekannt wurde. Diese Frauen gewinnen eine Stimme angesichts ihrer Betroffenheit als gesellschaftlich gemachte Frauen-Subjekte, als weibliche und als naturalisierte Körper. Dieser partikulare Blick brachte den Ökofeminismus oft weg vom Antreiben und manchmal hin zum Stolpern: denn Souveränität fordern nicht nur Frauen, sondern alle Subalternen; Würde fordern nicht nur Frauen, sondern alle, deren Körper (strukturell) verwundbarer sind oder gemacht werden; körperliche Integrität fordern nicht nur Frauen, sondern alle, deren körperliche und geografische Territorien penetriert werden. Der Ökofeminismus der ersten Stunde – und es ist dieser Ökofeminismus, welcher den meisten Leser*innen als ›der Ökofeminismus‹ bekannt ist – hat dies an vielen Stellen bereits mitreflektiert und mitbesprochen. Aber auf den Punkt gebracht hat er es noch nicht. Ökofeminismus heute ist, auch deswegen, immer noch damit beschäftigt, seine Offenheit unter Beweis zu stellen. Das macht ökofeministische Politiken einerseits anschlussfähiger, bremst sie oft aber auch aus.

Die Einführung Ökofeminismus zwischen Theorie und Praxis wird ein Wegbegleiter sein für Ökofeminist*innen und für alle, die es werden wollen. Das Buch wird dabei helfen, nicht jedes Mal komplett von vorne anfangen zu müssen. Und es wird helfen, im Blick zu behalten, dass ökofeministische Politiken nicht nur immer neu gemacht werden müssen, sondern auch, dass alle, die für diese streiten und dem rassistischen, patriarchalen Kapitalismus ein ökofeministisches Leben abringen, nicht alleine sind.

Katharina Hoppe: In einem meiner ersten akademischen Vorträge bei einer wissenschaftlichen Konferenz in der Geschlechterforschung präsentierte ich einige Gedanken zu dem, was häufig unter der Chiffre ›Neuer Materialismus‹ diskutiert wird. Es ging um Materialitäten und Natur und Ontologie und Politik, aber um eines ging es nicht: die Traditionslinie des Ökofeminismus. Und ich fühlte mich damals von vielen älteren Kolleg*innen ertappt, die den Diskurs um Feminismus und Naturverhältnisse jahrzehntelang vorangetrieben hatten. Nicht weil ich noch nie etwas vom Ökofeminismus gehört hätte, aber weil dessen Genealogien und klassische Positionen akademisch – zumindest während meines Studiums in den späten 2000er- und 2010er-Jahren – tatsächlich wenig Aufmerksamkeit erfahren haben und auch ich bis zu dem Zeitpunkt nur wenige Texte wirklich gelesen hatte. Ökofeminismus schien etwas Verstaubtes, etwas für ›Frauen mit lila Tüchern‹, etwas Esoterisches. Ich begann aber zu ahnen, dass ich damit eine Karikatur verinnerlicht hatte, die mein Aufwachsen in der Bundesrepublik in den 1990er-Jahren reflektiert. Also begab ich mich auf eine Spurensuche, die ich schließlich in ein Masterseminar an der Goethe-Universität Frankfurt übersetzte. Selten habe ich mehr gelernt, selten kontroverser diskutiert und selten länger von einer Lehrveranstaltung gezehrt. Dass die Tradition des Ökofeminismus mit der vorliegenden Publikation nun durchgearbeitet und wiederbelebt wird, ist von unfassbar großem Wert. Mit diesem Überblick über die breite und wichtige Tradition des Ökofeminismus können wir die Wiederentdeckung und Weiterentwicklung eines Ökofeminismus vorantreiben, der die Analyse und Kritik der ökologischen Krisen der Gegenwart begleitet und zu neuen Begriffen und Geschichten anregt.

Daniela Gottschlich: An dem Morgen, bevor mich die Einladung zu diesem kollektiven Vorwort erreichte, hatte ich mich mit dem Konzept der ›Klima-Nische‹ beschäftigt. Als Klima-Nische bezeichnen Timothy M. Lenton und Kolleg*innen (2023) jene Regionen, die eine Jahresdurchschnittstemperatur zwischen sechs und 28 Grad Celsius haben und damit noch als ›bewohnbar‹ gelten. 2023 leben bereits 600 Millionen Menschen außerhalb dieser Nische – in Gebieten, die viel zu heiß und viel zu trocken sind, um ein gutes Leben zu führen. Sollte sich die derzeitige Klimapolitik weltweit nicht ändern und eine globale Erwärmung von mindestens 2,7 Grad Celsius tatsächlich eintreten, dann könnte bis zum Ende dieses Jahrhunderts ein Drittel aller Menschen betroffen sein und außerhalb der Klima-Nische leben. Wie soll eine Anpassung an diese lebensbedrohlichen Bedingungen für arme Menschen und für arme Länder längs des Äquators möglich sein? Selbst wenn wir die angestrebten 1,5 Grad Celsius einhalten sollten, werden laut der Studie Quantifying the human cost of global warming von Lenton et al. (2023) immer noch 14 Prozent aller Menschen aus der Klima-Nische rutschen. Wer die Möglichkeit und die Mittel hat, zieht um. Auch innerhalb von Ländern wie den USA.

Angesichts dieser Entwicklungen brauchen wir ganz dringend »Geschichten des Gelingens« (Hochmann), die Mut machen, die zeigen, dass und wie es anders gehen kann. Ökofeminismus zwischen Theorie und Praxis ist so ein Buch. Machen wir uns nichts vor: Wir werden Mut, wir werden einander und viele Netze des Widerstandes gegen die kapitalistische Zerstörung alles Lebendigen und gegen Menschenverachtung in all ihren Formen brauchen – ebenso wie sichere Räume, in denen wir (wieder) lernen zu träumen, in denen wir uns über Ideen, die uns inspirieren, austauschen, um sie kollektiv Wirklichkeit werden zu lassen. In meiner Vorstellung ist eine Welt möglich, in der die verflochtenen Verhältnisse der Herrschaft über Frauen, queere, migrantisierte, rassifizierte Menschen und andere marginalisierte Gruppen sowie über Natur, also all jene Herrschaftsverhältnisse, von denen das Buch handelt, aufgelöst werden können. Und ich brauche dieses »Prinzip Hoffnung« (Bloch), das sich im Zusammendenken von feministischen, dekolonialen, politisch-ökologischen Perspektiven entfaltet, für mein Denken, Handeln und Sein, um mich weiter mit Fragen sozial-ökologischer Transformation aus einer kritisch-emanzipatorischen Perspektive beschäftigen zu können. Danke, Lina und Nadine, dass ihr in ökofeministische Denk- und Handlungsalternativen einführt und sie damit vielen zur Verfügung stellt.

Corinna Dengler: »Ökofeminismus? Ökofeminismen!« (be)schreiben Lina und Nadine in ihrem Buch. Sie stellen sich damit gegen die Kanonisierung von Wissen, die Ökofeminismus als eine Theorieschule versteht, die sich vom angloamerikanischen Sprachraum her entwickelt hat – inspiriert von frühen Ökofeminist*innen wie Rachel Carson und Carolyn Merchant und Veranstaltungen wie die »Women and Life on Earth: Ecofeminism in the Eigthies«-Konferenz in Amherst (USA). Stattdessen lassen sich frühe Ansatzpunkte ökofeministischer Theorie vielerorts finden, sind zudem zuvorderst nicht Theorie, sondern Praxis und stehen für eine miteinander verwobene, zyklische, bewegungsnahe und kollektive Produktion von Wissen. Sich gegen eine lineare Geschichtsschreibung zu stellen, den Kanon also gegen den Strich zu bürsten, ist nicht einfach – denn neben einigen prominent gewordenen Beispielen wie der Chipko-Bewegung in Indien oder der Green-Belt-Bewegung in Kenia gibt es zahlreiche ökofeministische Bewegungen und Wegbereiter*innen, die in Vergessenheit geraten sind. Einige davon werden in Ökofeminismus zwischen Theorie und Praxis rehabilitiert. Die Verwobenheit von ökofeministischer Theorie und Praxis weltweit wird immer wieder betont und Lina und Nadine leisten damit einen wichtigen Beitrag, um die Pluralität von Ökofeminismen sichtbar zu machen.

Milo Probst: Linas und Nadines Buch ist nicht nur ein Buch über den Ökofeminismus. Es greift selbst ökofeministische Denk- und Darstellungsweisen auf. Wie viele Ökofeminist*innen vor ihnen spinnen sie eine Geschichte des Ökofeminismus, die unabgeschlossen, ausgangsoffen, spielerisch und experimentell ist.

Definitionen weisen sie als provisorische aus, Kategorisierungen als vorübergehende. Das Gewirr der Fäden, die die ökofeministische Geschichte ausmachen, betrachten sie aus der Distanz, um den Lesenden einen ersten Überblick zu geben. Sie folgen aber auch einzelnen Strängen, wie sie sich mit anderen verknoten, sich verheddern oder ausfransen. Mit ihrem eigenen Garn weben sie neue Geschichten, Orte und Erfahrungen ein. Und sie geben zahlreiche Anhaltspunkte, wo Unabgeschlossenes fortgesetzt, nur Angedachtes weiterverfolgt, Vergessenes wiederentdeckt werden könnte.

Statt eines klassischen Vorworts oder einer – wohlverdienten – Würdigung des Buches hier also eine weitere kleine Geschichte, die ich einweben möchte:

Herbst 1976 an der Unterelbe. Der Bau des Atomkraftwerks Brokdorf konkretisiert sich – zur Empörung vieler Anwohner*innen und Atomkraftgegner*innen. Eine erste Großdemonstration findet Ende Oktober statt. Unter den Demonstrierenden sind zwölf Frauen, die sich unwohl fühlen: Während die Macker um sie herum Barrikaden bauen, sitzen sie nur herum, fallen in ein ›passives Rollenverhalten‹ zurück, wie sie selbst nachträglich in einem Artikel für die feministische Zeitschrift Courage reflektieren (o. N. 1977: 16).

Sie nehmen sich fest vor, bei der nächsten Demonstration zwei Wochen später das Geschehen aktiv mitzubestimmen. Sie rüsten sich mit Schutzbrillen, Mundschutz und wasserfester Kleidung aus. Trotz dieser Vorbereitung merken sie, dass es nicht ausreicht, sich gegenseitig als ›stark‹ aufzubauen. Die verdrängten Ängste kehren wieder; die Beziehungen zu den Mitstreiterinnen erweisen sich als zu unsicher, um sich entschieden ins Getümmel der Aktion zu stürzen. Sie kommen zur Erkenntnis, dass das Sprechen über Ängste und andere Gefühle Teil ihres Aktivismus werden muss. Sie beschließen, sich regelmäßig zu treffen, um nicht zu resignieren und Wege aus ihrer Ohnmacht zu finden.

Bewusst oder unbewusst – ich weiß es nicht – formulieren sie einen ökofeministischen Grundsatz: »Frauenbewegung/Frauenkampf beinhaltet für uns nicht das bloße Beschäftigen mit ›frauenspezifischen‹ Problemen, sondern den Kampf für eine menschenwürdigere Welt, den Versuch, schon hier und jetzt anders, menschenwürdiger zu leben. Nicht in später Zukunft, sondern schon heute wollen wir uns Bedingungen schaffen, in denen wir uns wohlfühlen, d.h. z.B. ohne Unterdrückung leben können.«

Ihre Gedanken widmen sie »allen Frauen, die ganz tolle Sachen im Kopf haben, aber noch nicht wissen, wie sie sie ausführen können«. Dank Linas und Nadines Buch wissen wir, dass diese zwölf anonym gebliebenen Frauen viele Schwestern hatten und immer noch haben. Vor allem auch solche, die auf der Suche nach Auswegen aus ihrer Ratlosigkeit auf bedenkenswerte Antworten gestoßen sind.

Sherilyn MacGregor: Ecofeminist politics have been reclaimed, reframed and revitalised in the past five years. Across the world, but particularly in global South contexts, the mobilisation of ecofeminist ideas about the interconnection of colonialism, racism, heteropatriarchy, mastery/masculinism and capitalism have informed women-led struggles against extractivism and male violence. The COVID-19 pandemic has concentrated minds on the role of care work, the crisis of care provisioning in most societies, and the insanity of treating a health emergency as something distinct from the climate emergency. These shifts have resulted in a reframing of ecofeminist politics as first and foremost about intersectionality, systems change and global multispecies justice, with a considerable reduction in arguments from the last century (and the first part of this one) that women qua women are both uniquely harmed and especially skilled to solve the socio-ecological crisis.

But we must not overstate or celebrate naively the idea that ecofeminisms have been reclaimed and reframed. Sure, more people seem comfortable with claiming the label than did in the past. Let us not forget that for decades, many ecofeminist-identifying scholars eschewed the label because it was seen as incompatible with being taken seriously as an academic. It was »named but not claimed« (Hamilton / Neimanis 2018: 504) in a lot of interesting work exploring the intersections of feminist and ecological theorizing. It feels gratifying to see this fearless naming and claiming today, yet the contexts and circumstances in which this happens is very different from 20 years ago. And the idea of reframing only goes so far: there has been a broadening of focus, but the basic frame – the analysis of the connections between patriarchy, colonialism, capitalism and anthropocentrism – remains intact and is as powerful and promising as it was in the ’70s and ’90s. In many ways what was promising about ecofeminist praxis in the early days of d’Eaubonne, Warren, Plumwood and Shiva (to name a few) still endures. And we can say that ecofeminist praxis today closely resembles what it has always purported to be: intersectional, interdisciplinary and international. Please let us not forget that it has never been liberal! It has always been materialist and anti-capitalist. So to overblow today’s visions as radically new, would do a disservice to its pioneers. As Myriam Bahaffou and Julie Gorecki state: »if we want [ecofeminism] to have a future, we must remember its past« (Gorecki und Bahaffou 2022: 2). At the core of ecofeminist politics for the past five decades is a commitment to criticising the past and present existence of exploitation and injustice while also developing political imaginaries that embody radical hope. Ecofeminists have always voiced demands for redressing current injustices as loudly as expressing hope for better futures for coming generations of life on Earth. Long may we continue.

Manuela Zechner: »Ecofeminismo o Barbarie«, sagt Yayo Herrero. Was bringt uns der Ökofeminismus, das wir nicht schon wissen? Der Feminismus zeigt uns, wie und wo wir von der Arbeit und Liebe anderer Menschen abhängen, wie wichtig Sorge und Pflege für unser Überleben sind, wie stark wir als Frauen und Versorgende sind und was für eine Illusion die Unabhängigkeit ist. Die Feministische Ökonomie zeigt uns den Wert und die Kraft der reproduktiven Arbeit, ein Wert und eine Kraft, die weit über Zahlen hinausgehen. Unsere Wirtschaft neu zu denken ist heute überlebenswichtig, denn der Kapitalismus reißt uns in die Tiefe, er ist in einer tiefen Krise, todessüchtig. Wirtschaft neu zu denken bedeutet nicht nur, Zahlen anders zu wälzen. Es bedeutet, unsere Interdependenz neu zu denken. Das fordert uns heraus, care als politisches, ethisches, soziales und auch ökologisches Prinzip umzusetzen: ein Prinzip, das wir dem Profit und dem Beherrschen entgegensetzen können. »Das Leben ins Zentrum stellen«, wie die lateinamerikanischen und spanischen Feministinnen sagen, ist eine antikapitalistische sowie antipatriarchale und dekoloniale Angelegenheit.

Dabei geht es nie nur darum, unsere menschlichen Abhängigkeiten, Versorgungssysteme und Sorgeformen anzuschauen. Es geht auch um unsere radikale Ökodependenz, wie Herrero sagt, um alles, wovon wir abhängen – Menschen, Tiere, Wasser, Erde, Pflanzen … – all diese Elemente sind Commons, Dimensionen unserer Gemeinschaft auf dieser Erde. Menschen, Tiere, Flüsse, Bakterien, Wälder – sie gehören alle zusammen. Das versteht der Ökofeminismus seit eh und je, als ein Strom und als viele Strömungen, die unsere Territorien durchziehen, mit Flussbetten, Deltas, Strudeln; mit trockenen und feuchten Zonen und Zeiten; Überschwemmungen und kleinen Dämmen; mit Bibern, Fischen, Störchen und badenden Nixen. Den Ökofeminismus würde ich als etwas Uraltes und Omnipräsentes verstehen, wie das Wasser auf der Erde: von unseren als Hexen verfolgten Urururururururgroßmüttern geschürt und beschwört, von presokratischen Hebammen und Philosophinnen besungen, von amazonischen Frauen und plurigeschlechtlichen Schamanen geschätzt und geschützt, von streikenden Müttern am 8. März in der Großstadt zelebriert, von sich an Pipelines kettenden FLINTA*s getragen und so manche queere boys, sogar andere Männlichkeiten, infizierend – durch das Menstruationsblut der jungen Fridays-for-Future-Mädels in die Schulklos gespült und hinein in unseren Wasserkreislauf …

Zwei Aktivist*innen im Schatten: Vor und hinter den Zäunen des Militärstützpunkts in Greenham Common trugen sich in den 80er-Jahren viele ökofeministische Aktionen zu. (Bridget Boudewijn Archiv, Greenham Women Everywhere)

Mir scheinen das Wort und die Tradition ›Ökofeminismus‹ dabei eher sekundär. Es geht um etwas, das wir alle schon wissen, weil wir es spüren und jeden Tag neu erleben: Wasser trinken, in einen Apfel beißen, die Schuhe auf der Wiese ausziehen, Windeln wechseln, unter einer Berührung erschaudern, Pflanzen und Erde riechen, müde werden … Unsere Verbundenheit mit allen-allem und deren Lebenswelten bringt eine fröhliche Verbindlichkeit – vielleicht ist dies eine gute Definition für Ökofeminismus. Da sind immer unzählbar viele Strömungen, unbekannt viele Lachen und Rinnsale, Dinge, die wir nicht in eine einzige Geschichte packen können. Da geht es um die Kraft des Erzählens und Erinnerns und Begleitens, nicht um eine Historie mit striktem Anfang oder Ende. Mir scheint, in dem hier vorliegenden Buch laufen einige dieser Rinnsale und Strömungen zusammen, Nadine und Lina laufen einigen von ihnen mit Begeisterung nach, sie springen hinein, lassen sie dann auch wieder weiterziehen und ihre eigenen Wege gehen. Das wird diesen ganzen, von mir großteils so geliebten Geschichten gerecht, und das finde ich schön – wie auch euer Buchcover. Wasser und Rinnsale wird es auf der Erde immer geben.

Andrea Vetter: Seit mindestens zehn Jahren hatte ich dieses Projekt in meinem Beutel, es trug den Arbeitstitel »Ökofeminismus 2.0«, und mir war ganz unklar, welche Form es annehmen würde: eine Podcast-Serie, ein Interview-Buch, eine Video-Reihe, eine Website … Aber Kern war es, die ›alten‹ ökofeministischen Ideen und Vordenkerinnen wieder zum Sprechen zu bringen, sie aufzuschließen für junge Menschen heute, einen Generationendialog zu beginnen. Nun weiß ich, welche Form dieses heimliche Projekt, das nie das Licht der Welt erblickt hat, gefunden hat: dieses Buch! Es ist ein wirklich wunderbares Glück, wenn eine gefühlte Notwendigkeit von anderen Menschen fachkundig aufgegriffen und in die Welt geboren wird. Vielen Dank euch beiden!

Einleitung: Ökofeminismus ist überall!?

In Frankreich organisieren Ökofeminist*innen Anti-Atom-Camps ohne cis Männer, in Ecuador kämpfen Indigene[2] Gruppen gegen Extraktivismus und Landnahme, in NRW streiken Care-Arbeiter*innen gegen das neoliberale Gesundheitswesen und kürzlich hat das Bündnis Ende Gelände den Zusammenhang zwischen kolonialen Kontinuitäten und dem Bau von Flüssiggasterminals in Norddeutschland aufgezeigt. Für uns ist Ökofeminismus gerade überall – teilweise auch ohne als solcher benannt zu sein – wie schon so oft in der Geschichte des Ökofeminismus.

Wenn die deutsche Klimagerechtigkeitsbewegung in ihrem Blick auf die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse und den Zustand der Welt die Klimakrise mit Rassismus, kolonialen Kontinuitäten und Gender zusammendenkt,

dann reiht sie sich in die Denktradition von Ökofeminist*innen ein: Wir denken an Maria Mies und Vandana Shiva, die bereits in den 1980er-Jahren den Kolonialismus und den patriarchalen Kapitalismus kritisierten.

Wenn Eva von Redecker in ihren Podcasts, Büchern und Vorträgen Phantombesitz erklärt und heutige politische Kämpfe als Revolution für das Leben analysiert; oder wenn Autor*in Kim de l’Horizon die ökofeministische Hexe Starhawk zitiert und als Lehrerin nennt,

dann denken wir an Silvia Federici, die bereits 1984 anhand von Hexenverfolgungen und der Ausbeutung von Wissen und Frauenkörpern die Einhegungen von gemeinschaftlichem Eigentum und den Übergang zum Privateigentum aufzeigte.

Wenn in Frankreich Gewerkschaften, Umweltbewegte und Feminist*innen gemeinsam auf die Straßen gehen, weil sie bis ins hohe Alter arbeiten und Reichtum produzieren sollen, von dem sie nichts abbekommen, um dann eine schlechtere und spätere Rente zu erhalten; oder wenn jährlich immer noch Arbeit im Wert von elf Billionen US-Dollar unbezahlt von Frauen geleistet wird,

dann wird deutlich, dass sich an den materiellen Verhältnissen der 1960er bis 2000er, in denen der Ökofeminismus fruchtete, reichlich wenig geändert hat, sodass ökofeministische Analysen im Hier und Jetzt noch Früchte tragen.

Wenn die französischen und englischen Verlage Le Passager Clandestin und Verso Werke der Ökofeministin Françoise d’Eaubonne herausgeben, in Deutschland der oekom Verlag Carolyn Merchants Der Tod der Natur in einer Reihe zu »Nachhaltigkeit« neu auflegt und der Unrast Verlag eine Chronik der Kampagne »Lohn für Hausarbeit« und Silvia Rivera Cusicanquis Konzept des Ch’ixi übersetzt,

dann wird deutlich, dass vieles des von Ökofeminist*innen Geschriebenen nur rudimentär verlegt, übersetzt und veröffentlicht wurde, obwohl insbesondere ökofeministisches Wissen uns beim Verstehen von derzeitigen Krisen helfen kann.

Wenn das Missy Magazin in der Ausgabe vom Dezember/Januar 2023 den Pilzen gleich ein ganzes Dossier widmet,

dann fragen wir uns, ob der Ökofeminismus von einer neuen Generation von Queerfeminist*innen weitergetragen werden kann.

Und dann wird schließlich deutlich, dass dies für uns genügend Gründe sind, diese Einführung in den Ökofeminismus zu schreiben – und offensichtlich für dich Grund genug, dieses Buch in die Hand zu nehmen und weiterzutragen.

Warum jetzt ein Buch zum Thema Ökofeminismus oder: Was können wir heute von Ökofeminist*innen lernen?

Maria Mies schreibt im Jahr 2015 in ihrem Vorwort zur Neuauflage von Patriarchat & Kapital:

»Zwischen 1986 und heute hat sich die Weltlage insgesamt verschlechtert. Natur- und menschengemachte Katastrophen und Krisen haben zugenommen. Der Klimawandel, verursacht durch unseren Lebensstil, ist nicht mehr rückgängig zu machen. Die Ressourcen, auf deren Ausbeutung unser Lebensstil basiert, gehen zu Ende. Die Zahl der Armen hat zugenommen, nicht nur in den armen, sondern auch in den reichen Ländern. Überall wird die Natur mehr und mehr zerstört. In seiner Gier nach immer mehr Profit nimmt der Kapitalismus keine Rücksicht auf Mensch und Natur. Um weiteres Wachstum voran zu treiben, werden neue Technologien erfunden, die jedoch allesamt negative Auswirkungen auf Mensch und Natur haben.« (Mies 2015: 9)

Auch acht Jahre später, während wir dieses Buch schreiben, zeigen das gewaltvolle kapitalistische System und die darin verwobenen Herrschaftsstrukturen an vielen Stellen ihr Gesicht:

– Das besetzte Braunkohledorf Lützerath wurde Hand in Hand von der nordrhein-westfälischen Landesregierung, dem Energiekonzern RWE, der Polizei und einigen grünen Handlanger*innen geräumt;

In Saint Soline erleben die gegen den Bau eines Rückhaltebeckens Demonstrierenden gewaltvolle Repression seitens der französischen Polizei;

Pflegenotstand und Krankenhausstreiks; Applaus und symbolische Anerkennung statt besserer Arbeitsbedingungen prägen den deutschen Gesundheitssektor;

Deutschland gibt 100 Milliarden Euro für die deutsche Rüstungsindustrie aus;

In Argentinien wird jeden Tag etwa eine Frau, Lesbe oder trans Person getötet; alle vier Tage wird eine Frau in Italien ermordet, in Österreich sind es drei Femizide im Monat;

In Deutschland ist die Streichung der Abtreibungsparagraphen 218 ff. immer noch nicht vollzogen;

In Lahore, Pakistan, sowie in Hebei und Peking in China gab es eine große Flut; in Maui auf Hawaii große Brände; ein Erdbeben hat viele Regionen Kurdistans erschüttert; Extremwetter wie Dürreperioden und Überschwemmungen sind vielerorts immer häufigere Ereignisse.

Diese kurze Bestandsaufnahme ist ein Ausdruck vieler Symptome der derzeitigen Krisen des Spätkapitalismus. Care-Krise, Klimakrise, ökologische Krise, Wirtschaftskrise, Finanzkrise, usw.: Sie lösen einander nicht ab oder auf, sie greifen ineinander, verstärken sich wechselseitig, reichen sich die Hand. Diese Bestandsaufnahme zeigt einmal mehr, dass die Krisenhaftigkeit dem kapitalistischen System innewohnt. Sie zeigt auch, inwieweit das kapitalistische System sich an der Ausbeutung und Zerstörung von Ökosystemen erlabt, während die ökologische Basis degeneriert und erstickt. Die oben genannten Beispiele verdeutlichen, dass unser Wirtschaftssystem auf den Schultern von marginalisierten Menschen und deren (prekärer, un- und unterbezahlter) Arbeit steht und dass es auch diese Basis immer weiter zerdrückt und zunehmend in die Knie zwingt. Die strukturelle und systemische Gewalt ist allgegenwärtig und beraubt Menschen ihrer Würde und ihres Lebens. Die Symptome jener gewaltvoller Strukturen sind im alltäglichen Leben spürbar, beispielsweise wenn es um mentale Gesundheit, die eigenen Beziehungen, die Sinnhaftigkeit unserer Arbeit, die Vereinzelung in den eigenen vier (oder keinen!) Wänden, die Freiheit, einen Wohnort zu wählen, die Informationsfluten und die Ohnmacht angesichts des Zustands der Welt geht. Wie unser alltägliches Leben – die vielen kleinen Akte und unsere Denkweisen – mit dem großen Ganzen – den materiellen gesellschaftlichen Strukturen – zusammenhängt: damit beschäftigt sich Ökofeminismus.

Ökofeminismus kann erklären, …

… warum einerseits Natur eine (queer)feministische Angelegenheit und andererseits Feminismus eine ökologische Angelegenheit ist.

… warum Ökologie(n) und Natur(en) Fragen des Kolonialismus aufwerfen.

… was ein Plattenbau im Ruhrgebiet mit einer Grünanlage im Prenzlauer Berg, einem Wald im Himalaya und einer Müllhalde in Agbogbloshie zu tun hat.

… dass wir nicht ›rausfahren‹ müssen, um in der Natur zu sein; dass der Begriff Umwelt fehlleitend ist, denn wir werden nicht von Natur umgeben, ›wir sind Natur‹.

… was Pflegestreiks in Deutschland mit Subsistenzbäuer*innen in Indien und zapatistischer Selbstorganisierung in Mexiko zu tun haben.

… warum der Kapitalismus niemals grün sein kann; warum eine Tesla-Fabrik in Brandenburg weder eine Lösung für Mobilitätsengpässe und Ressourcenknappheit bietet, noch Ausdruck nachhaltiger und gerechter Mobilität ist.

… warum es nicht ausreicht, sich mit CO

2

-Zertifikaten das unternehmerische Gewissen reinzukaufen.

… warum nicht alle bio oder vegan sein müssen; es nicht ausreicht, in den eigenen vier Wänden Müll zu trennen oder zu reduzieren, während unser Wirtschaftssystem auf Überproduktion basiert.

… warum es nicht reicht, wenn

weiße

[3]

Mittelstandsfrauen CEOs von großen Unternehmen, Vorstände oder Bundeswehrkommandantinnen werden, während andere Frauen deren Kinder hüten, Eltern pflegen oder sich als Genossinnen organisieren oder gar zu Milizen zusammenschließen, um ein demokratisches Leben in ethnischer Vielfalt zu verteidigen.

… warum es nicht ausreicht, wenn der Ehemann in einer heterosexuellen Paarbeziehung im Haushalt ›hilft‹, während Mütter weiter das Gros der dreckigen, ungemütlichen, unpassenden anfallenden Sorgearbeit übernehmen.

… inwiefern die sogenannte reproduktive Arbeit die Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft darstellt, beziehungsweise gar gesellschaftliches Leben erst möglich macht.

… warum es keine universelle Handlungsoption für alle, sondern mehrere Denkweisen, Welten und Ansätze gesellschaftlicher Veränderung gibt und braucht.

… dass ohne die Sorge(arbeit)

für, durch

und

um

Menschen oder nicht-menschliche Entitäten

[4]

weder Lohnarbeit noch jegliche Form von Tätigsein – also kein gesellschaftliches (Über-)Leben – möglich ist.

Ökofeminismus nimmt all die unsichtbaren, unter- und unbezahlten Schultern, auf denen das kapitalistische System ruht, in den Blick: Ökosysteme wie das Meer, die Wälder, Böden und Flüsse; die migrantische Mutter, die Schulklos putzt; die weiße Studentin, die nach der Uni im Café arbeitet und babysittet; den rassifizierten Altenpfleger in der überlasteten Pflegeeinrichtung; die rumänischen Erdbeerpflücker*innen auf deutschen Feldern; die versklavten Menschen in deutschen Kolonien, deren Geschichten im Schulunterricht gar nicht auftauchen, und all jene Kräfte, die unsichtbar sind und kollektiv Macht entfalten können.

In diesem Buch werden wir zeigen, welche (unsichtbaren) Geschichten sich Ökofeminist*innen erzählen, wie sie Gesellschaft erklären, wie sie Kapitalismus, Patriarchat und Kolonialismus kritisieren und welche – meist kämpferischen – Wege sie aufzeig(t)en, um die herrschenden Verhältnisse zu überwinden.

Warum wurden wir Ökofeministinnen oder: Wie kam der Ökofeminismus zu uns?

Diese Fragen begleiten uns als Autorinnen schon länger im gemeinsamen Fäden Spinnen. Damit verbunden sind die Fragen, was uns wann biografisch geprägt hat und wie dies mit ökofeministischen Fragestellungen zusammenhängt.

In der gängigen Wissensproduktion werden Biografien, individuelle Erfahrungen und Gefühle, kollektives Wissen und Erinnerung, Nicht-Verschriftlichtes und Erzähltes oft ausgeblendet, diskreditiert und gar zerstört. Ökofeminismus hingegen fragt danach, wie Wissen produziert wird und welche Art von Wissensproduktion legitim und valide ist. Aus diesem Grund diskutieren wir an dieser Stelle ökofeministische Biografien: die unseren, die sowohl die anderen als auch die weiteren sein können.

Die Ökofeministin Maria Mies reflektiert in ihrem Buch Das Dorf und die Welt (2008) Schlüsselmomente ihres Lebens: Sie beschreibt darin ihre Kindheit während des Zweiten Weltkrieges in einer Landschaft voller schützender Berge und Höfe. Ihr eigenes Leben setzt sie ins Verhältnis zu ihrer ökofeministischen Theoriearbeit und Forschung. Durch das Verdeutlichen der eigenen Positionierung und ihres Erlebten erklärt sie, dass es einen Zusammenhang zwischen ihrer Forschung und ihrem eigenen Leben gibt. Auch Elemente aus unseren Biografien waren ausschlaggebend für unsere Auseinandersetzung mit feministischen und ökologischen Themen und brachten uns letztlich zum Ökofeminismus.

Wir möchten daher sichtbar machen, wie unser Wissen biografisch eingebettet und an welche Emotionen und gelebten Erfahrungen es geknüpft ist, und so verdeutlichen, dass dies nur eine Einführung ist – die unsere –, eingefangen in einem kurzen Moment. Dieser Prozess der Wissensproduktion kommt dem Säen eines Saatkorns gleich, das vor einiger Zeit, ungewiss, von wem und unter welchem Umstand, vielleicht durch einen Vogel hinterlassen und damit gesät wurde und nun wächst. Die Saat der gewachsenen Pflanze wird vielleicht durch einen weiteren Vogel wieder fortgetragen. Eine Kuh für Hillary von Veronika Bennholdt-Thomsen (1997, mehr dazu siehe S. 160) war ein solches Saatkorn, welches wir weitergetragen haben. Er war einer unserer ersten ökofeministischen Texte, den Maria Backhouse in einem Seminar zu Umwelt und Entwicklung zur Lektüre aufgab. Wir verwendeten ihn daraufhin immer wieder in unseren Workshops und Lehrveranstaltungen zu Ökofeminismus, aus denen heraus schließlich dieses Buch entstehen sollte.

Vor und während unserer[5]Kindheit in einem norddeutschen Dorf gab es immer weniger landwirtschaftlich geführte Höfe und immer weniger diverse Felder. Der Bau einer Biogasanlage führte, wie die Tante es den Kindern schon vor der Projektumsetzung kritisch erläuterte, zu einem Meer an monotonen Maisfeldern. Neben dieser Monokultur prägten Spargelfelder mit Plastiktunneln saisonal die Peripherie des Dorfes. Auf dem Dorf kannten sich alle untereinander. Während wir mit dem Auto zum nächsten Dorf fuhren, konnten wir aus dem Fenster beobachten, wie Figuren, die sonst nicht im Dorf zu sehen waren, den Spargel stachen. Niemand tratschte über sie, wie sonst über jegliche Dorfbewohner*innen. Vielmehr, so schien es, waren sie unsichtbar. Wer waren sie? Wie sah ihr Alltag aus? Und: Wo gingen sie nach der Saison hin, fragten sich die Kinder. Dass viele Dorfbewohner*innen das Spargelstechen unter jenen Arbeitsbedingungen gar nicht erst als Jobmöglichkeit in Betracht zogen, führte dazu, dass dies an migrantische Saisonarbeiter*innen ausgelagert wurde. Dass Letztere in der Dominanzgesellschaft strukturell ausgeschlossen und ausgebeutet werden, damit der Preis niedrig bleibt, erschloss sich den Kindern erst später. Das Spargelessen hingegen war und bleibt ein Statussymbol, auf das die Dorfbewohner*innen noch heute Wert legen.

Prägend wie die Autofahrten zwischen Dorf und Kleinstadt waren für die Kinder auch die obligatorischen Gartenrunden beim gegenseitigen Besuch verschiedener Familienmitglieder. Dabei waren Beete auf Balkonen, im Garten oder auf der Fensterbank zu finden. Gemeinsame Gartenarbeit prägte gerade im Sommer und Herbst die gemeinsam verbrachte Zeit. Wir beackerten verschiedene Stellen im Garten in alleiniger Verantwortung und erinnern uns gut, wie wir das Saatgut in die Erde taten. Die Karotten, die wir ernteten, waren wie menschliche, sich umarmende Figuren zusammengewachsen. Schon in unserer Kindheit war der Garten als Experimentierraum ein zentraler Lebensort. Während er für die Großeltern noch mit der Produktion von Nahrungsmitteln lebenserhaltend war, versorgte das gemeinsame Unkraut Jäten die Kinder zwar mit Momenten des Miteinanders, der Garten aber wurde immer mehr zur Zierde …

Bis dahin wussten wir noch nichts vom Begriff des Ökofeminismus, auch wenn diese Erlebnisse später unser Interesse am Ökofeminismus prägen sollten. Erst später würden die Kindern lernen, die Welt durch eine ökofeministische Brille zu betrachten.

An der französischen Elite-Universität Sciences Po, an der die Studentinnen einige Jahre lang studierten, kamen kritische Inhalte wie alternative Wirtschaftstheorien oder feministische Inhalte äußerst selten vor. Doch eines Semesters belegten sie einen Kurs zu ›Environmental Justice‹ bei der ökofeministischen Professorin Sherilyn MacGregor. Daraus entwickelte sich zunächst eine leidenschaftliche Begeisterung für das Thema Müll und es wurde mit der Zeit ein Stein ins Rollen gebracht: Wir wollten uns mehr mit Kapitalismuskritik und Feminismus auseinandersetzen, sowohl theoretisch als auch in sozialen Bewegungen. In Frankreich begeisterten sich die Studentinnen außerdem für Ökodörfer, in der Hoffnung, dass auf diesen Inseln ein antikapitalistisches Leben erleb- und erfahrbar würde. Für ihre Masterarbeiten setzten sie dann eine feministische Brille auf und beleuchteten Genderrollen in den ökologischen Gemeinschaftsprojekten. So kamen sie zur sozialen Reproduktion und zum Marxismus. Der Ökofeminismus ist durch die Universität, die paar wenigen kritischen Menschen dort und die vielen kritischen Menschen in sozialen Bewegungen zu uns gekommen. Auch wenn die Uni jener Ort ist, an dem die Studentinnen sich oft verloren, nicht genug, zu dumm und unpassend vorkamen, eröffneten ihnen die Texte, Bücher und Menschen dort eine akademische Welt. Die Welt der Hörsäle, Formalien und Professoren hatten sie nicht in die Wiege gelegt bekommen, dafür aber die Selbstständigkeit, den Mut und den Ehrgeiz, diese heute ökofeministisch auseinanderzunehmen.

Dies ist ein Ausschnitt der Erfahrungen, an die wir denken, wenn wir uns fragen, warum uns Ökofeminismus berührt. Diese gelebten Erfahrungen und die Emotionen prägen unseren Ökofeminismus. Das Forschen, politisch aktiv Sein, Agieren, Lehren ist von diesen nicht zu trennen. Demnach ist auch unser Schreiben von unserem Standpunkt in der Gesellschaft geprägt – vom »where we stand«, wie bell hooks es nennt, wenn sie vom Klassismus und Rassismus, den hooks als Schwarze[6] Person erlebt, schreibt. Wo stehen wir in einer Gesellschaft, die von Rassismus, Sexismus, Ableismus und weiteren Machtstrukturen durchzogen ist? Was sind unsere gelebten Erfahrungen als cis Frauen, die zur weißen Dominanzgesellschaft gehören? Was können wir – in Arbeiter*innenfamilien aufgewachsen oder als erste in der Familie zur Uni gegangen – wissen und weitergeben? Welche emotionalen Erfahrungen im Garten der Tanten; welche aktivistischen Erfahrungen Hand in Hand mit Klimaaktivist*innen und Feminist*innen in Deutschland oder Frankreich prägen dieses Buch maßgeblich? Einige Perspektiven und Beispiele können wir beschreiben, weil wir selbst bei Besetzungen mitgemacht haben, weil wir viel Zeit auf Plena verbracht haben, weil wir Teil bestimmter Gruppen oder Bewegungen sind oder waren. Von weiteren Perspektiven, wie zum Beispiel denen Schwarzer, beHinderter, verRückter oder Indigener Feminist*innen, wissen wir nicht durch gelebte Erfahrung, sondern wir können sie nur durch Freund*innenschaft, Genoss*innenschaft, durch Austausch, Lektüre und Bildung sowie durch gemeinsames Kämpfen und geteilte Arbeit hier abbilden.

Damit wird deutlich, dass wir eine spezifische Brille haben, die zu Auslassungen führt, bestimmte Räume weniger betrachtet, andere mehr. Für uns sind beim Schreiben dieses Buches mehr komplexe Fragen als einfache Antworten aufgekommen und mehr Lücken, die wir in Zukunft miteinander und durch VerLernen füllen wollen.[7]

Beim Schreiben treibt uns an, dass sich erstaunlich wenig getan hat und sich erstaunlich viel erhalten hat, seitdem Ökofeminist*innen begonnen haben, die bestehenden Verhältnisse zu beschreiben und zu kritisieren. Wir wollen zeigen, wie wir uns in ihren Gedanken und Analysen wiederfinden, wie wir ihnen nahe sind und zugleich in einigen Punkten sehr fern. Außerdem schreiben wir uns in einen Prozess des Sichtbarmachens und Lücken- und Leerstellen-füllen-Wollens ein, insbesondere von marginalisiertem Wissen, wie dem der Aktivist*innen und Theoretiker*innen der ökofeministischen Bewegungen in den 1970er- bis 1990er-Jahren. Zu diesem Wissen, welches selten zu Papier gebracht wird und für welches wir viele Eselsohren falten, Tabs öffnen, viel zuhören und aushalten mussten, wollen wir den Einstieg mit dieser Lektüre erleichtern. Mit diesem Buch möchten wir unser Interesse, unsere Leidenschaft, unsere Wut, unsere Zerrissenheit, unsere eigene Widersprüchlichkeit, unser eigenes Nicht-Wissen, die Freude und die Erotik des Ökofeminismus teilen. Wir wollen ökofeministisches, nicht patentiertes Saatgut säen und schauen, mit welchen Händen, in welchen Kontexten und Bewegungen diese kämpferischen Analysen der zerstörerischen Verhältnisse im Spätkapitalismus aufgegriffen werden, fruchten, wachsen und gedeihen können.

Zu Inhalt und Aufbau des Buches

Ökofeminismus zwischen Theorie und Praxis bietet keine einführende Lektüre in den Ökofeminismus, sondern in die Vielfalt von Ökofeminismen in all ihrer Widersprüchlichkeit und Uneinigkeit. Da es nicht die eine Erzählung ökofeministischer Bewegungen und Theorien gibt, zeichnen wir zunächst die (un)vollständige Geschichte des Ökofeminismus nach. In vollem Bewusstsein möglicher Ausschlüsse werden wir anti-militärische Kämpfe in Nordamerika und Europa, Kämpfe um Saatgut und Bäume in Indien oder Kenia, Kämpfe um Indigene Territorien sowie Kämpfe um Körper und Hausarbeit in unsere Erzählung einschließen. Hierdurch stellen wir die Vielschichtigkeit ökofeministischer Kritik und Analyse der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und (Un-)Ordnungen vor (Kapitel 1).

Da es nicht nur einen Ökofeminismus gibt, kann auch nicht von der einen Definition des Ökofeminismus die Rede sein. Von differenzfeministischen über materialistische bis hin zu queerfeministischen Definitionen spannen wir in Kapitel 2 den Bogen über verschiedene ökofeministische Strömungen hinweg. Die Geschichte weist verschiedene Zeitverläufe und zugleich deren Überschneidungen auf. Wir zeigen, wie der Ökofeminismus es schafft, eine nicht anthropozentrische, eine antikapitalistische, feministische und dekoloniale Kritik an bestehenden Verhältnissen zu formulieren und mit seinen Konzepten und Praktiken die Verbindung zwischen Herrschaftsstrukturen aufzuzeigen: Ökofeminismus denkt die Herrschaft über Frauen, queere, beHinderte, migrantisierte, rassifizierte Menschen und weitere marginalisierte Gruppen sowie über Ökologien zusammen.

Zudem spricht Ökofeminismus ein Klassenbewusstsein an und kritisiert insbesondere liberale Feminismen sowie den hegemonialen Nachhaltigkeitsdiskurs für ihre In-Verantwortungsnahme von Individuen, statt die unnachhaltigen kapitalistischen Verhältnisse infrage zu stellen. Im Zusammenhang mit Ökofeminismus sprechen einige von Parallelen und Analogien zwischen Frauen und der Natur und meinen, dass es eine gewisse Nähe zwischen Frauen und der Natur gebe. Warum dies umstritten ist und zu einer Marginalisierung ökofeministischen Denkens geführt hat, anstatt dass die bedeutenden Kritiken des Ökofeminismus an liberalen Politiken gewürdigt würden, darauf gehen wir in Kapitel 3 näher ein.

Anschließend werden in Kapitel 4 gesellschaftliche Zusammenhänge durch theoretische Konzepte wie Subsistenz, Hausfrauisierung, gesellschaftliche Naturverhältnisse, Eisbergmodell sowie queere und dekoloniale Ökologien ausformuliert und verständlich gemacht. Es gilt, die Gesellschaft ökofeministisch zu betrachten, indem wir einen Blick auf die gegenwärtigen politischen und ökonomischen Verhältnisse werfen – insbesondere auf das vorherrschende Wachstumsdogma mit seinen (Re-)Produktionsverhältnissen. Diese komplexen theoretischen Zusammenhänge erläutern wir auf fragend-spielerische Art. Damit erschließt sich für die Leser*innen die Anwendbarkeit und Aktualität ökofeministischen Denkens bis in ihre alltäglichen, vermeintlich privaten Belange hinein: Wer macht die Care-Arbeit? Warum eine Kritik an Mutterschaft und Kernfamilie? Warum ist Gärtnern politisch und Einkaufen nicht? Was zählt als Naturerfahrung?

Diesen Argumentationsstrang nehmen wir in Kapitel 5 konstruktiv auf, indem wir Vorstellungswelten, Erfahrungen und Perspektiven aus derzeitigen Kämpfen präsentieren, die wir dem ökofeministischen Spektrum zuordnen. Hierbei möchten wir gesellschaftliche Handlungsoptionen der Organisierung, Vergemeinschaftung, Vergesellschaftung und internationalistischen Solidarität sowie Solidarität mit der Natur aufzeigen und diskutieren.

Mit diesem Buch ermöglichen wir jenen Einstieg in den Ökofeminismus, den wir uns selbst gewünscht hätten. Beim Lesen wünschen wir euch Reflexionsprozesse, Emotionen, Konflikte und geteiltes Interesse, sodass ökofeministisches Wissen weitergetragen wird. In unserer Arbeit versuchen wir, den Körper mitzudenken, lassen Raum zum Fühlen, Strecken, Zappeln – beim Schreiben wie beim Denken. Beim Lesen lieben wir Atmen, Pausen, Denken, Austauschen, Spazierengehen, Eselsohren, Stippvisiten, Neuanfangen, VerLernen, schnell Lesen, Stifte und Langsamkeit. Alles auf einmal und nichts davon perfekt. Mit diesem Garten an Wissen möchten wir Hoffnung aus Vergangenem_Gegenwart schaffen, ökofeministische Potenziale nähren, kompostieren und wachsen sehen.

EINSÖkofeminismus in Bewegung(en): Eine (un)vollständige Geschichte

Beim Schreiben dieses Kapitels fragten wir uns: Wer bestimmt und definiert eigentlich, was ökofeministische Kämpfe sind? Welche Autor*innen und Kämpfer*innen zählen zum gängigen Kanon und welche nicht? Die hier vorgestellten Bewegungen und Beispiele sind überwiegend jene, die meistens erzählt werden, wenn von der Entstehung des Ökofeminismus die Rede ist. Die Soziologin Ariel Salleh sagt, dass alle feministischen Kämpfe oder alle Bewegungen von Frauen, die zu Umweltfragen arbeiten, ökofeministisch seien, auch wenn diese sich nicht selbst als solche bezeichnen. Es gibt und gab also bis heute Bewegungen, die sich explizit ökofeministisch nennen, aber auch solche, die es nicht tun, aber dennoch in diese Tradition gestellt werden können. Dieses »in die Tradition Stellen« mancher und das »aus dem Raster fallen Lassen« weiterer können wir in diesem Einführungsbuch nicht vollends durchbrechen, möchten aber einige Geschichtsstränge hervorheben und ergänzen, die unserer Meinung nach weniger erzählt werden (etwa die Bewegungen für Environmental Justice oder die Kampagne »Wages for Housework«).[8]

»Der Ökofeminismus wurde nicht an den Universitäten geboren, sondern in der Hitze der sozialen Bewegungen.« (Maristella Svampa 2018, eigene Übersetzung)

Wir möchten diese (un)vollständige Geschichte mit einer Erzählung beginnen, die uns – als Aktive in der Klimagerechtigkeitsbewegung und in feministischen Kämpfen – besonders berührt hat, als wir sie zum ersten Mal in Noël Sturgeons Buch Ecofeminist Natures (2016) entdeckt haben.[9] Sie hat uns besonders mitgerissen, da diejenigen, deren theoretische Texte wir lesen und deren Bücher heute in vielen feministischen Regalen stehen, zu ihrer Zeit nichts anderes taten als wir heutzutage: gemeinsam plenieren und politische Aktionen machen. Diese Erzählung der Ökofeministin Noël Sturgeon (mehr zu ihr findet ihr auf Seite 135) handelt von einer der gemeinsamen Aktionen mit Donna Haraway (vgl. S. 201), mit der sie neben weiteren zeitweise eine Bezugsgruppe bildete.

»Surrogate Others ist eine Bezugsgruppe, die bereits einen gewissen Legendenstatus erreicht hat; vielleicht sollten wir mit ihrer Geschichte beginnen. […] Surrogate Others war eine in Santa Cruz ansässige Bezugsgruppe, die sich den Tausenden von Menschen anschloss, die am ›Mothers and Others‹-Aktionstag gegen die laufenden US-Atomtests auf dem Atomtestgelände in Nevada im Mai 1987 protestierten. […] Die Gruppe, die zu den Surrogate Others wurde, war vielen anderen Gruppen bei dieser Aktion ähnlich, insofern, als dass darin Frauen einer breiten Altersspanne, aus verschiedenen Klassenlagen, mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und politischen Zielen zusammenkamen. Dennoch, wie bei anderen Bezugsgruppen auch, hatten wir einige Gemeinsamkeiten, die uns zusammenhielten. […] Wir waren alle Feministinnen. Wir waren alle misstrauisch gegenüber Argumenten, die Frauen als natürliche Pazifistinnen darstellten. Wir waren alle zutiefst besorgt über den Militarismus. […] Wir verbrachten mehrere Treffen damit, die Logistik für die Fahrt von Santa Cruz zum Testgelände in Nevada durchzugehen sowie die rechtlichen Folgen des zivilen Ungehorsams und dessen, was wir als Gruppe tun wollten, zu besprechen. Wir beschlossen, einen Wurm zu schaffen, und zwar aus Gründen, die sich am besten auf Donna Haraways einzigartige Weise erklären lassen: ›In Solidarität mit den Kreaturen, die gezwungen sind, mit der Bombe im selben Boden zu graben, haben sie (die Mitglieder der Surrogate Others) eine cyborgische Emergenz aus dem konstruierten Körper eines großen, nicht-heterosexuellen Wüstenwurms erschaffen.‹ Sharon und Elizabeth nähten den Wurm zusammen, wie ich mich erinnere, und es war ein farbenfrohes, flammendes Objekt, das ziemlich schwer zu heben und zu tragen war, aber sich zu einer anmutigen, wellenförmigen Masse voller Farben öffnete. Wir brachten den Wurm zur Baustelle und hievten ihn zum richtigen Zeitpunkt über den Zaun und breiteten ihn dann auf dem Wüstenboden innerhalb des Zauns aus. Jede von uns bewegte sich durch ihn hindurch, ein symbolisches Moment der Sexualität, der Geburt, der Verdauung kreierend – ein komplett konstruiertes, transgressives Moment politischer Leidenschaft, gemischt mit viel nervösem Gelächter. Wir wurden von den in Wüstencamouflage getarnten Ordnungskräften verhaftet, als wir am anderen Ende unseres Wurms herauskamen.« (Sturgeon 2016: 2, eigene Übersetzung)

Von Würmern und Kettenbriefen über Klagen von Müttern gegen große Firmen, von von Frauen angeführten Demonstrationen bis hin zu direkten Aktionen des zivilen Ungehorsams: Das Repertoire an Aktionsformen von Ökofeminist*innen ist breit und vielfältig. Ökofeministische Kämpfe sind vielstimmig und sie decken querschnittsartig mehrere Themen ab. So überschneiden sich in der oben geschilderten Aktion Antimilitarismus (gegen das Testgelände in Nevada), Ökologie (Solidarität mit anderen Lebewesen, hier den Würmern) und Feminismus (Selbstorganisation ohne Männer). Ökofeministische Bewegungen haben globale Verhältnisse über Ländergrenzen hinweg im Blick, sie denken die Betroffenheiten verschiedener Personengruppen bis hin zu nicht-menschlichen Entitäten über Differenzen hinweg mit. Der Wurm, der letztlich den Boden mit den Bomben teilen muss, und die Frauen, die mit ihrer symbolischen Aktion veranschaulichen wollen, dass Aufrüstung eine Bedrohung für Menschen und Mehr-als-Menschen ist, bilden ein humoristisches Beispiel ökofeministischen Verständnisses in Aktion. Im Vergleich zu vorausgegangenen feministischen oder ökologischen Bewegungen zeichneten sich damalige ökofeministische Aktionen und Kämpfe durch den Anspruch der Akteur*innen aus, verschiedene soziale Positionen mitzudenken und die Aktionen diverser zu gestalten. Insbesondere die Umweltbewegung sowie autonome linke Gruppen in den USA oder in Deutschland waren in den 1970er-Jahren vornehmlich männlich dominierte Zusammenhänge. Dass die Frauengruppe sich überwiegend aus weißen Personen zusammensetzte, reflektiert Noël Sturgeon in ihrer Erinnerung an die Anti-Atomtest-Aktion kritisch. Eine Auseinandersetzung mit antirassistischen Belangen – und zwar nicht nur identitätspolitisch, sondern auch durch konkrete Nähe und praktische Solidarität z.B. zur Bürger*innenrechts- oder der Umweltgerechtigkeitsbewegung – begleitet ökofeministische Bewegungen.

Es lässt sich festhalten, dass der Ökofeminismus das aufkommende Umweltbewusstsein und feministische Anliegen zusammendachte und -denkt, sowohl in Bewegung(en) als auch theoretisch. Genauer gesagt wird eine Verbindung zwischen den sozialen Ungerechtigkeiten, z.B. aufgrund von Geschlecht, race und sozialer Herkunft, und der ökologischen Ausbeutung und Zerstörung der Naturen hergestellt. Auf die theoretischen Grundbausteine und eine weitere Ausdifferenzierung dieser stark verkürzten Definition wird im folgenden Kapitel eingegangen. Zunächst sei dieser kleinen Bewegungsgeschichte vorangestellt: Hier fand ab den frühen 1970er-Jahren ein Zusammendenken statt, welches sich sowohl praktisch in den damaligen Protesten niederschlug, als auch ab den 1980er-Jahren theoretisch in Form von zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen institutionalisiert wurde. Selbstverständlich hatte dieses Zusammenbringen seine Vorläufer, und die Geschichte des Ökofeminismus an jenem Punkt der Proteste der 1970er-Jahre beginnen zu lassen, setzt eine gewisse Willkürlichkeit voraus. Jede (Bewegungs-)Geschichtsschreibung – insbesondere aber die feministische – ist durchzogen von Lückenhaftigkeit, Auslassungen und Ausschlüssen. Insbesondere sei hier an die wenig zitierten Widerstandskämpfe von versklavten Menschen im Zuge der Plantagenwirtschaft und Kolonisierung im 15. und 16. Jahrhundert (und bis heute) zu denken, bei denen das Verhältnis zu Ökologien wie Land und Boden eine zentrale Rolle spielten – weshalb sie auch als abolition ecology