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Wie weit durchdringt die Marktwirtschaft uns? Sind sogar unsere intimsten Beziehungen hiervon betroffen? Importieren wir Denkarten und Handlungsweisen aus der Welt der Wirtschaft in unsere Freundschaften und Liebesbeziehungen? Falls ja, was bedeutet das? Wie kommt es dazu? Ist dies schlecht? Und vor allem: Wie können wir uns dagegen wehren? Der Essay gibt Antworten und entwickelt einen eigenen Lösungsansatz.
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Seitenzahl: 99
Jonas Zorn
Reclam
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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962286
2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2024
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962286-6
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-14592-0
www.reclam.de
Einleitung: Was hat der Kapitalismus mit uns zu tun?
Was ist die Ökonomisierung persönlicher Beziehungen?
Ökonomisch und persönlich – eine Unterscheidung
Wirtschaftliche Beziehungen
Persönliche Beziehungen
Ökonomisierte persönliche Beziehungen
Was ist die Ursache der Ökonomisierung persönlicher Beziehungen?
Das Abfärbungsmodell
Das Modell kultureller Einbettung
Die Verbreitung neoliberaler Ideen
Wieso ist die Ökonomisierung von persönlichen Beziehungen schlecht?
Verlust von Verbundenheit
Leid und Sprachlosigkeit
Das neoliberale Menschenbild als fremdbestimmtes Selbstverständnis
Wie können wir uns von einer Ökonomisierung persönlicher Beziehungen befreien?
Wie kann Widerstand gelingen?
Das Persönliche ist politisch: Die Breitenwirkung einer De-Ökonomisierung persönlicher Beziehungen
Ausblick: Wie können wir unsere persönlichen Beziehungen de-ökonomisieren? 12 Thesen
Anmerkungen
Literatur
Zum Autor
Was hat Kapitalismus mit uns zu tun? Keine Frage: Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft. Deutschland ist eine Marktwirtschaft. Wir sind Konsument:innen. Wir shoppen online, wir kaufen vor Ort. Anders kämen wir in der Regel auch gar nicht an unser Essen oder unsere Kleidung. Auch arbeiten wir in mehr oder weniger kapitalistischen Strukturen: Wir verkaufen unsere Arbeitskraft für Lohn. Wir arbeiten möglicherweise sogar für Unternehmen oder Banken.
Kann es aber sein, dass der Kapitalismus noch viel mehr mit uns zu tun hat? Ist die Markwirtschaft möglicherweise nicht nur unsere Umwelt, sondern durchdringt auch unser Wesen? Sind möglicherweise sogar unsere intimsten Beziehungen hiervon betroffen? Kann es sein, dass wir Denkarten und Handlungsweisen aus der Welt der Wirtschaft in unsere Freundschaften und Liebesbeziehungen importieren? Und falls ja: Was bedeutet das? Wie kommt es dazu? Ist dies schlecht? Und wie können wir uns dagegen wehren?
Dieser Essay soll Antworten auf diese Fragen geben.
Ich werde zunächst genauer auf die Vermutung eingehen, die ich gerade in den Raum gestellt habe. Ich werde hierfür den Eindruck gründlicher beschreiben, dass wir unsere persönlichen Beziehungen – unsere Freundschaften und Liebesbeziehungen – zunehmend wie ökonomische Beziehungen führen.
Werfen wir einen Blick auf die Art, wie wir über unsere persönlichen Beziehungen reden. Hier lässt sich eine bemerkenswerte Überlappung mit dem Sprachgebrauch aus Wirtschaft und Finanzwesen feststellen. Wir sprechen davon, in Freundschaften oder Liebesbeziehungen zu investieren. Wir beziehen uns auf diese Investments, um unsere Ansprüche zu begründen. »Ich habe schon so viel in diese Beziehung investiert, jetzt bist du mal an der Reihe.« Oder wenn wir darüber nachdenken, uns zu trennen: »Ich kann mir nicht vorstellen, jetzt einfach alles hinzuschmeißen. Ich habe schon so viel in diese Beziehung investiert.«
Ähnlich sieht es aus, wenn wir betonen, wie wichtig Beziehungen für uns sind. Dann sprechen wir davon, von diesen zu profitieren. Marktwirtschaftliche Sprache benutzen wir auch dann, wenn wir nach neuer Liebe suchen. Der hierfür einschlägige Ort ist schließlich der Datingmarkt.
Eine solche Nähe zwischen Ökonomie und persönlichen Beziehungen lässt sich aber nicht nur an unseren Redeweisen erkennen. Sie zeigt sich auch in unseren Handlungsmustern. Um uns in einer sich anbahnenden Beziehung attraktiver zu machen, nutzen wir ökonomische Strategien: Wir machen uns rar. Wir stellen auf diese Weise künstliche Knappheit her und wirken preistreibend.
Nicht viel anders sieht es aus, wenn wir darüber nachdenken, eine Beziehung zu beenden: Hier wägen wir oftmals Vorteile und Nachteile der Partnerschaft gegeneinander ab. Wir machen also eine Kosten-Nutzen-Rechnung. Diese hat deutliche Ähnlichkeit mit dem Kalkül eines Unternehmens.
Auch die Art und Weise, wie wir Beziehungen beenden, erinnert an das Verhalten von Konsument:innen, etwa beim Ghosting. Hier ignorieren wir einfach die Nachrichten der anderen Person und brechen den Kontakt ab ohne jegliche Erklärung. Dies ähnelt dem selbstverständlichen und bequemen Kündigen von Dienstleistung ohne die Angabe von Gründen.
Auch auf der Suche nach neuer Liebe handeln wir häufig ähnlich strategisch wie Unternehmer:innen. Wir legen uns nicht sofort auf eine Person fest. Wir gehen stattdessen mit mehreren anderen Personen aus. Auf diese Weise diversifizieren wir unsere Investments. Wir verhindern, dass wir unsere ganze Energie auf nur eine Karte setzen. Wir nutzen die Energie, die wir eigentlich bräuchten, um die andere Person in ihren Eigenarten zu verstehen oder etwa ihre Eltern kennenzulernen.
In Zeitschriften, Magazinen und den sozialen Medien raten uns Expert:innen, wie wir uns in Liebesbeziehungen und Freundschaften verhalten sollen. Ihre Empfehlungen weisen starke Ähnlichkeit mit denjenigen von Unternehmensberater:innen auf. Ein paar Beispiele:
Im Focus rät der Coach Attila Albert1 seinen Leserinnen: »Nicht einseitig investieren«. In seinem Artikel bietet er auf dieser Basis »5 Tipps, mit denen sich Frauen die Enttäuschung sparen«.
In der Frauenzeitschrift Cosmopolitan rät die Redakteurin für Sex and Relationships Julia Pugachevsky ihren Leserinnen: »Höre nie auf, neue Freund:innen zu finden, auch wenn Du eigentlich schon genug hast«.2 Ihre Begründung klingt wie ein Echo aus der Welt der Wirtschaft: Nur so könne Wachstum sichergestellt werden – »Denying yourself new friends is denying yourself growth.«
In einem viralen TikTok-Video liefert die New Yorker Psychotherapeutin Arianna Brandolini3 ein Skript dafür, wie man Freundschaften beenden kann. Übersetzt lautet dies: »Ich habe unsere Zeit der Freundschaft hochgeschätzt. Wir bewegen uns jedoch in unterschiedliche Lebensrichtungen. Ich habe keine Kapazität mehr, in unsere Freundschaft zu investieren.«
Auch empirische Studien liefern Hinweise auf eine zunehmende Ökonomisierung unserer persönlichen Beziehungen. Besonders bekannt sind die Untersuchungen der französisch-israelischen Soziologin Eva Illouz:4 In Gesprächen über One-Night-Stands schildern ihre Interviewpartner:innen diese Begegnungen als gegenseitige Dienstleistungen. Sie beschreiben ihre Liebhaber:innen wie Produkte, die sie bewerten, konsumieren und ersetzen. Die von Illouz dokumentierten Berichte über die Beendigung von Beziehungen gleichen Erzählungen über das Entsorgen und Ersetzen defekter Waren.
Die Marktförmigkeit von romantischen Beziehungen zeigt sich auch in Untersuchungen von Dating-Plattformen. In einer Studie der britischen Soziologinnen Alicia Denby und Jenny van Hooff5 berichten junge Erwachsene, wie sexuelle Erfahrenheit als Kapital unter Gleichaltrigen gehandelt wird. Sie berichten zudem, wie sie den Zeitpunkt genau kalkulieren, an dem sie Interesse an der anderen Person zeigen. Sie wollen vermeiden, zu früh Zuneigung zu signalisieren. Auf diese Weise steigen sie in ihren Chats in einen Unterbietungswettbewerb ein: Diejenige Person verliert, die emotional mehr investiert und sich auf diese Weise verletzlicher macht.
In einer Studie des Kommunikationswissenschaftlers Lik Sam Chan6 zur Nutzung von Dating-Apps durch homosexuelle Männer in den USA beschreiben die Teilnehmer, wie genau sie ihre Dating-Profile gestalten. Ihr erklärtes Ziel besteht dabei darin, dass diese möglichst viele Alleinstellungsmerkmale aufweisen, um sich so im Wettbewerb abzuheben. Auch berichten 80 % der Teilnehmer, bei ihrer Suche nach einem Partner spezielle Filter zu nutzen – etwa für Größe, Ethnizität oder Alter. Sie tun dies, um die große Menge an Angeboten beherrschbarer zu machen. Diese Strategie ähnelt dem Online-Einkauf, bei dem wir Parameter eingrenzen, um eine passende Auswahl von Produkten zu erhalten.
In einer Interviewstudie der britischen Soziologin Lauren Palmer zum Gebrauch der Dating-App Tinder7 berichten die Teilnehmenden, wie sie mit jeweils wechselnden Personen immer wieder dieselben Nachrichten austauschen. Diese Nachrichten nehmen die Form von Arbeit sparenden, standardisierten Verkaufsskripten an. Die Teilnehmenden berichten zudem darüber, dass sie Unterhaltungen mit Interessent:innen abrupt abbrechen, wenn diese herausfordernd oder langweilig werden oder wenn sich attraktivere Optionen ergeben. Ihr Verhalten gleicht dabei dem von Konsument:innen.
Auch psychologische Studien geben uns Hinweise darauf, dass sich die Verinnerlichung kapitalistisch dominanter Werte wie Eigeninteresse und Wettbewerb in persönlichen Beziehungen niederschlägt. In einer Studie der amerikanischen Forscher Tim Kasser und Richard Ryan8 berichteten Teilnehmende, die besonders auf finanziellen Erfolg, ihre Außenwirkung und sozialen Status konzentriert sind, über mehr Konflikte in ihren romantischen und freundschaftlichen Beziehungen als die anderen Teilnehmenden. In einer Studie von Emily Solberg und Kollegen9 war eine materialistische Haltung mit geringerer Beziehungsqualität verbunden. Eine Untersuchung von Brent Roberts und Richard Robins10 zeigt darüber hinaus, dass Personen, die besonderen Wert auf finanziellen Erfolg legen, egozentrischer sind als solche mit anderen Lebenszielen. All dies macht den Eindruck, dass der Kapitalismus auch vor unseren persönlichen Beziehungen keinen Halt macht.
Um genauer verstehen zu können, was es bedeutet, seine persönlichen Beziehungen nach marktwirtschaftlichen Regeln zu führen und zu denken, möchte ich jedoch zuerst einen Schritt zurückgehen. Es geht mir darum, genauer zu beschreiben, wie wirtschaftliche Beziehungen in der Regel funktionieren und wie sie sich eigentlich von persönlichen Beziehungen unterscheiden. Dies soll uns im Anschluss ermöglichen, besser zu verstehen, was es überhaupt bedeutet, wenn wir Freundschaften und Liebesbeziehungen wie ökonomische Beziehungen leben.
In der wirtschaftlichen und der persönlichen Sphäre herrschen eigentlich jeweils unterschiedliche Handlungslogiken vor. Das heißt: ob ich zum Beispiel mit meiner Geschäftspartnerin oder mit meiner Freundin umgehe, hat einen entscheidenden Einfluss darauf, welche Handlungsabsichten ich verfolge, was ich von meinem Gegenüber erwarte und welches Verhalten ich als gut oder schlecht bewerte. Es hat einen Einfluss darauf, was ich für gelungen, natürlich oder erstrebenswert halte.
Die Unterscheidungen, die ich im Folgenden vornehme, sind dabei als idealtypisch zu verstehen: In der Realität wird es immer Mischformen von wirtschaftlichen und persönlichen Interaktionen geben, etwa dann, wenn ich ein freundschaftliches Verhältnis zu einem Dienstleister habe oder umgekehrt mit einer Freundin Geschäfte mache. Die Unterschiede zwischen persönlichen und ökonomischen Beziehungen sind dann eher graduell als kategorisch. Im Folgenden möchte ich die dennoch vorhandenen Unterschiede durch eine Kontrastierung hervorheben. Ich lehne mich dabei an Arbeiten der amerikanischen Philosophin Elizabeth Anderson11 an. Schauen wir zunächst auf die wirtschaftliche Sphäre.
Wirtschaftliche Beziehungen sind instrumentell motiviert: Sie sind immer an einen Zweck gebunden. Dieser Zweck ist der eigene Vorteil, der aus dieser Beziehung entsteht. Ökonomisch gesprochen würde man sagen: Ziel von wirtschaftlichen Beziehungen ist die Maximierung des eigenen Nutzens. Wirtschaftliche Beziehungen sind, vereinfacht gesagt, letztendlich immer durch Egoismus bestimmt. Wenn ich bei der Bäckerin Brötchen kaufe, dann interessiere ich mich nicht für die Bäckerin, sondern nur dafür, dass ich etwas zum Frühstück habe. Die Bäckerin interessiert sich ihrerseits nicht für mich, sondern letztendlich nur für mein Geld. Mit diesem kann sie wiederum für ihre eigenen Zwecke sorgen. Genau das meint der schottische Philosoph Adam Smith (1723–1790) mit seiner berühmten Formulierung:
Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.12
Grundlage für jede wirtschaftliche Interaktion ist also das Erreichen eines eigenen Vorteils. Genauer müsste man sagen: das gegenseitige Erreichen von eigenem Vorteil – schließlich ist es sowohl für mich als auch für die Bäckerin gut, wenn ich Brötchen kaufe. Marktwirtschaftliche Beziehungen sind transaktional. Sie sind Tauschbeziehungen. Eine wichtige Voraussetzung für eine Tauschbeziehung besteht darin, dass die getauschten Güter vergleichbar sind. In dem Tauschakt mit der Bäckerin gehen wir davon aus, dass die Brötchen einem bestimmten Geldwert entsprechen. Für das erwirtschaftete Geld kann die Bäckerin wiederum etwas Vergleichbares kaufen. Der ökonomische Begriff für diese Form von Vergleichbarkeit lautet Kommensurabilität. Marktwirtschaft funktioniert durch den Tausch mit vergleichbaren Gütern. Oder mit anderen Worten: Marktwirtschaft funktioniert durch Äquivalenztausche. Der Tausch von vergleichbaren Gütern ermöglicht es, jeweils einen Vorteil zu erzielen.
Wirtschaftliche Beziehungen enden, wenn die vergleichbaren Güter ausgetauscht sind. Sie folgen dem Prinzip quid pro quo