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Ein großer Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts: Das Waisen- und Findelkind Oliver Twist flieht aus einem kleinstädtischen Armenhaus nach London und gerät in die Klauen einer Diebesbande. Als bei einem Diebstahl der unschuldige Oliver von der Polizei erwischt wird, hat er zunächst großes Glück und wird von dem Opfer herzlich aufgenommen. Doch bis zum ersehnten Happy End muss er noch Einiges durchleben...-
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Seitenzahl: 554
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Charles Dickens
Julius Seybt
Saga
Oliver Twist ÜbersetzerJulius Seybt Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1837, 2020 Charles Dickens und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726479812
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Wo und unter was für Umständen Oliver Twist geboren wurde.
Ausser anderen öffentlichen Gebäuden rühmt sich die Stadt Mudfog, gleich den meisten grossen und kleinen Städten, auch eines Armen- und Arbeitshauses; und in diesem wurde an einem Tage und Datum, worüber genaue Auskunft zu erhalten unwichtig für den Leser ist, Oliver Twist geboren. Noch lange nachdem der Kirchspielwundarzt ihn in diese Welt der Sorgen und Mühen gefördert, blieb es sehr ungewiss, ob er am Leben bleiben würde. Es war äusserst schwierig, ihn zum Athmen zu bringen — einem mühsamen Geschäft, das die Gewohnheit uns aber freilich zu einer nothwendigen Lebensbedingung gemacht hat — und er lag eine Zeit lang zuckend und keuchend gleichsam auf der Grenzscheide dieser und jener Welt. Wenn er während dieser Zeit von sorglichen Grossmüttern, geschäftigen Tanten, erfahrenen Wärterinnen und hochgelahrten Doctoren umgeben gewesen wäre, so würde er natürlich die Stunde nicht überlebt haben; allein es war Niemand in seiner Nähe, ausser einer alten, ein wenig bierberauschten Frau und dem Kirchspielwundarzte, der die Geburtshilfe contractmässig leistete, wovon die Folge war, dass Oliver endlich den Hausbewohnern seine Erscheinung in der Welt durch ein lautes Schreien ankündigte. Als er dieses Zeichen des Lebens gab, hob ein bleiches junges Frauenzimmer den Kopf vom Kissen empor, und rief mit matter, bebender Stimme: „Lasst mich das Kind sehen, und sterben!“
Der Wundarzt ermahnte sie, nicht vom Sterben zu reden. „Ach, Sir,“ sagte die Wärterin, „wenn die junge Person erst so alt geworden ist, als ich’s bin, und, wie ich, dreizehn Kinder gehabt hat, die alle todt sind, ausgenommen zwei, die, wie ich selbst, im Armenhause sind, so wird sie keine so traurige Gedanken mehr haben, Sir. Sei Sie ruhig, Kind, und bedenke Sie die Freude, Mutter zu sein.“
Die tröstlichen Worte schienen des gebührenden Eindrucks zu verfehlen. Die Wöchnerin schüttelte den Kopf, und streckte die Arme nach dem Kinde aus. Der Wundarzt reichte es ihr, sie küsste es, heftig erregt, mit den kalten weissen Lippen auf die Stirn, fuhr mit den Händen über ihr Gesicht, blickte wild umher, schauderte, sank zurück — und starb.
„’S ist aus mit ihr,“ sagte der Wundarzt nach einigen vergeblichen Bemühungen, sie wieder zum Leben zurückzubringen.
„Das arme Kind!“ sagte die Wärterin.
„Sie brauchen nicht zu mir zu schicken, wenn es schreit,“ fuhr der Wundarzt fort, während er kaltblütig die Handschuhe anzog. „Es wird wahrscheinlich sehr unruhig sein; geben Sie ihm dann ein wenig Hafergrütze.“
Er setzte den Hut auf, trat aber noch einmal an das Bett und sagte: „Die Mutter sah gut aus; woher kam sie?“
„Sie wurde gestern Abend gebracht,“ erwiderte die Wärterin, „auf Befehl des Directors. Man hatte sie auf der Strasse liegen gefunden, und sie muss ziemlich weit hergewandert sein, denn ihre Schuhe waren ganz zerrissen; aber woher sie kam, oder wohin sie wollte, das weiss Niemand.“
Der Wundarzt beugte sich über die Verblichene, hob die linke Hand derselben empor und bemerkte kopfschüttelnd: „Die alte Geschichte; ich sehe, kein Trauring. Hm! gute Nacht!“
Er ging zu seinem Abendessen, und die Wärterin fing an das Kind anzukleiden. Bis zu diesem Augenblick hätte man nicht sagen können, ob es das Kind eines Edelmanns oder eines Bettlers sei; das dürftige, verwaschene Kinderzeug des Armenhauses bezeichnete indess sogleich seine gegenwärtige und zukünftige Stellung in der Welt, sein ganzes Schicksal, als Kirchspielkind — Waise des Armenhauses, halb verhungert und unter Mühe und Plackerei, verachtet von Allen, bemitleidet von Niemand, durch die Welt geknufft und gestossen zu werden.
Oliver Twist’s erste Kindheit.
Oliver Twist wurde die ersten zehn Monate „aufgefüttert“, und sodann in ein drei Meilen entferntes Filialarmenhaus versetzt, wo zwanzig bis dreissig andere kleine Uebertreter der Armengesetze unter der mütterlichen Aufsicht einer ältlichen Frau, welche für jeden derselben wöchentlich sieben und einen halben Penny erhielt, aufwuchsen, ohne zu gut genährt oder zu warm gekleidet und verzärtelt zu werden. Mit sieben und einem halben Penny lässt sich viel beschaffen, und die Matrone war klug und erfahren. Sie wusste, wie leicht sich Kinder den Magen überladen können und was ihnen dient, eben so genau aber auch, was ihr selbst gut war; sie verwendete daher einen beträchtlichen Theil des für die Kinder Bestimmten in ihrem eigenen Nutzen, fand demnach in der tiefsten noch eine tiefere Tiefe, und bewies somit, dass sie es in der Experimentalphilosophie wirklich weit gebracht.
Jedermann kennt die Geschichte eines anderen Experimentalphilosophen, nach dessen ruhmwürdiger Theorie ein Pferd im Stande war, ohne Nahrung zu leben, und der jene so vortrefflich demonstrirte, dass er sein eigenes Pferd bis auf einen Strohhalm den Tag herunterbrachte, und ohne Frage ein äusserst muthiges, kräftiges und gar nicht fressendes Thier aus ihm gemacht haben würde, wenn es nicht vierundzwanzig Stunden vor seinem ersten comfortablen vollkommenen Hungertage gestorben wäre. Die mehrerwähnte Matrone wendete dasselbe System nicht selten mit gleichem Unglücke auf die Kirchspielkinder an, deren nicht wenige vor Kälte oder Hunger, oder weil sie einen Fall gethan oder sich verbrannt hatten, starben und zu ihren Vätern in jener Welt, die sie in dieser nicht gekannt, versammelt wurden, wenn sie sie eben mit vieler Mühe so weit gebracht hatte, dass sie von der möglichst geringen Quantität möglichst schwacher Nahrungsmittel leben konnten.
Stellten die Directoren unangenehme Untersuchungen an, oder thaten die Geschworenen lästige Fragen, so schützten dagegen das Zeugniss und die Aussage des Wundarztes und Kirchspieldieners. Der Erstere hatte stets die Leichen geöffnet, und nichts darin gefunden (was sehr natürlich zuging), und der Letztere beschwor stets, was dem Kirchspiel angenehm war, und gab damit einen grossen Beweis von Selbstaufopferung und Hingebung. Das Armencollegium besuchte von Zeit zu Zeit die Filialanstalt, und schickte Tags zuvor den Kirchspieldiener, um seine Ankunft zu verkünden. Und dann sahen die Kinder stets gut und reinlich aus, und was konnte man mehr verlangen?
Oliver Twist war an seinem achten Geburtstage ein blasses, schwach aussehendes, nicht gross zu nennendes Kind, gewiss aber von sehr geringem Umfange; doch wohnte in ihm ein gesunder, kräftiger Geist, der auch, Dank der strengen Diät des Hauses, hinreichenden Raum hatte, sich auszudehnen. Oliver feierte seinen Geburtstag im Kohlenkeller, welcher ihm nach einer tüchtigen Tracht Schläge angewiesen worden war, weil er sich erkühnt hätte, hungrig zu sein, als Frau Mann, die gutherzige Pflegerin, durch die Erscheinung Mr. Bumble’s, des Kirchspieldieners, der dem Gartenpförtchen zuschritt, in Schrecken gesetzt wurde.
„Du meine Güte, sind Sie das, Mr. Bumble?“ rief sie ihm aus dem Fenster, anscheinend hoch erfreut, entgegen. — „Susanne, bring’ gleich den Oliver und die andern beiden Buben herauf und wasch’ sie. Ach, Mr. Bumble, wie lange haben Sie sich nicht sehen lassen!“
Mr. Bumble zürnte aber gewaltig, dass er auf das Oeffnen der Hausthür warten müsse, er, der Kirchspielbeamte, und indem er in Kirchspielwaisenangelegenheiten erscheine; allein Frau Mann wusste ihn durch viele milde Worte und ein starkes Getränk zu besänftigen, das er nach mancher Weigerung endlich anzunehmen sich herabliess. Er ging darauf zu den Geschäften über.
„Ist nicht der Knabe Oliver Twist heute acht Jahre alt, Frau Mann?“
„Des Himmels Segen über das liebe Herzchen!“ rief Frau Mann aus, und musste die Augen mit der Schürze abtrocknen.
Mr. Bumble fuhr fort: „Trotz ausgebotener Belohnung von zehn Pfund, ja nachher von zwanzig Pfund — trotz der übernatürlichen Anstrengungen des Kirchspiels, sind wir nicht im Stande gewesen, seinen Vater ausfindig zu machen, oder seiner Mutter Wohnung, Namen oder Stand in Erfahrung zu bringen.“
„Wie geht es denn aber zu, dass er einen Namen hat?“ fragte die Waisenmutter.
Der Kirchspieldiener warf sich in die Brust und erwiderte: „Ich erfand ihn.“
„Sie, Mr. Bumble!“
„Ich, Frau Mann. Wir benennen unsere Findlinge nach dem Alphabet. Der letzte war ein S, — Swubble: ich benannte ihn. Dieser war ein T, — Twist: ich gab ihm abermals den Namen. Ich habe Namen im Vorrath von A bis Z; und wenn ich beim Z angekommen bin, fang’ ich beim A wieder an.“
„Sie sind wirklich ein Gelehrter, Mr. Bumble!“
„Mag sein, mag sein, Frau Mann. Doch genug davon. Oliver ist jetzt zu alt geworden zum Hierbleiben, das Collegium hat beschlossen, ihn zurückzunehmen, ich bin selbst gekommen, ihn abzuholen; — wo ist er?“
Frau Mann eilte hinaus, und erschien gleich darauf mit Oliver wieder, der unterdess gewaschen und bestens gekleidet war.
„Mach ’nen Diener vor dem Herrn, Oliver,“ sagte sie.
Oliver verbeugte sich tief vor dem Kirchspieldiener auf dem Stuhle und dem dreieckigen Hute auf dem Tische.
„Willst du mit mir gehen, Oliver?“ redete ihn Mr. Bumble in feierlichem Tone an.
Oliver war im Begriff, zu antworten, dass er auf das Bereitwilligste mit Jedermann fortgehen würde, hob aber zufällig die Augen zu Frau Mann empor, die hinter des Kirchspieldieners Stuhl getreten war und mit grimmigen Mienen die Faust schüttelte. Er wusste nur zu gut, was das bedeutete.
„Geht sie auch mit?“ fragte er.
„Das kann nicht sein; sie wird aber bisweilen kommen und dich besuchen,“ erwiderte Bumble.
Das war kein grosser Trost für Oliver; allein er hatte trotz seiner Jugend Verstand genug, sich anzustellen, als verliesse er das Haus nur sehr ungern; ohnehin standen ihm die Thränen in Folge des Hungers und kaum noch erfahrener harter Züchtigung nahe genug. Frau Mann umarmte ihn wiederholt, und gab ihm, was er am meisten bedurfte, ein grosses Stück Butterbrod, damit er im Armenhause nicht zu hungrig anlangte. Die Sache war natürlich abgemacht. Sein Butterbrod in der Hand, verliess er die Stätte, wo kein Strahl eines freundlichen Blickes das Dunkel seiner ersten Kinderjahre erhellt hatte. Und doch brach er in Thränen kindlichen Schmerzes aus, als das Gartenthor sich hinter ihm schloss. Verliess er doch seine Leidensgefährten, die einzigen Freunde, die er in seinem Leben gekannt hatte; und zum ersten Male, seit dem Erwachen seines Bewusstseins, empfand er ein Gefühl seiner Verlassenheit in der grossen weiten Welt.
Angelangt im Armenhause, führte ihn Bumble in ein grosses Zimmer mit weiss übertünchten Wänden, wo (denn es war Sitzungstag) acht bis zehn wohlbeleibte Herren an einem Tische sassen. Ein besonders dicker Herr mit einem runden, rothen Gesicht präsidirte, und begann das Verhör.
„Wie heisst du, Knabe?“
Oliver bebte, denn der Anblick so vieler Herren brachte ihn gänzlich ausser Fassung; Bumble suchte ihn durch eine kräftige Berührung mit dem Kirchspieldienerstabe zu beleben, und er fing an zu weinen. Er antwortete daher leise und zögernd, worauf ihm ein Herr in weisser Weste zurief, ei wäre ein dummer Junge, was ein vortreffliches Mittel war, ihm Muth einzuflössen.
„Knabe,“ sagte der Präsident, „hör’, was ich dir sage. Du weisst doch, dass du eine Waise bist?“
„Was ist denn das, Sir?“ fragte der unglückliche Oliver.
„Er ist in der That ein dummer Junge — ich sah es gleich,“ sagte der Herr mit der weissen Weste sehr bestimmt.
„Du wirst doch wissen,“ nahm der Herr wieder das Wort, der zuerst gesprochen hatte, „dass du weder Vater noch Mutter hast, und vom Kirchspiel erzogen bist?“
„Ja, Sir,“ antwortete Oliver, bitterlich weinend.
„Was heulst du?“ fragte der Herr mit der weissen Weste; und es war in der That höchst auffallend, dass Oliver weinte.“
„Ich hoffe doch, dass du jeden Abend dein Gebet hersagst,“ fiel ein anderer Herr in barschem Tone ein, „und für Diejenigen betest, die dir zu essen geben und für dich sorgen?“
„Ja, Sir,“ stotterte Oliver.
„Wir haben dich hierher bringen lassen,“ sagte der Präsident, „damit du ein nützliches Geschäft lernen sollst. Du wirst also morgen früh um sechs Uhr anfangen, Werg zu zupfen.“
Oliver wurde hierauf wieder hinausgeführt, und schluchzte so lange, bis er einschlief. Zum Glück für ihn hatte das Collegium der Armenpfleger vor einiger Zeit die Entdeckung gemacht, dass das Armenhaus von nur zu vielen Arbeits- und Erwerbsfähigen, aber Faulen, als eine Art Paradies betrachtet und gesucht werde, und daher Anordnungen getroffen, dem Zudrange entgegen zu wirken. Es fand kein Luxus in der Speisung oder sonst mehr statt. Eheleute wurden von einander, Eltern von ihren Kindern getrennt, und so fort.
Das Gemach, in welchem die Knaben gespeist wurden, war eine Art Küche, und der Speisemeister theilte ihnen aus einem kupfernen Kessel am unteren Ende ihre Haferbreiportionen zu, einen Napf voll und nicht mehr, ausgenommen an Sonn- und Feiertagen, wo sie auch noch ein nicht eben zu grosses Stück Brod bekamen. Die Näpfe brauchten nicht gewaschen zu werden, denn sie wurden mit den Löffeln der Knaben so lange polirt, bis sie wieder vollkommen blank waren; und auch an den Löffeln und Fingern blieben Speisereste niemals hängen. Kinder pflegen eine vortreffliche Esslust zu besitzen. Oliver und seine Kameraden hatten drei Monate die Hungerdiät ausgehalten, vermochten sie nun aber nicht länger mehr zu ertragen. Ein für sein Alter sehr grosser Knabe, dessen Vater ein Garkoch gewesen, erklärte den Uebrigen, dass er, wenn er nicht täglich zwei Näpfe Haferbrei bekomme, fürchten müsse, über kurz oder lang seinen Bettkameraden, einen kleinen, schwächlichen Knaben, aufzuessen. Seine Augen waren verstört und rollten wild. Die halbverhungerte Schaar glaubte ihm, hielt einen Rath, looste darum, wer nach dem Abendessen zum Speisemeister gehen und um mehr bitten solle, und das Loos traf Oliver Twist.
Der Abend kam, der Speisemeister stellte sich an den Kessel, der Haferbrei wurde ausgefüllt und ein breites Gebet über der schmalen Kost gesprochen. Die letztere war verschwunden, die Knaben flüsterten unter einander, winkten Oliver, und die zunächst Sitzenden stiessen ihn an. Der Hunger liess ihn alle Bedenklichkeiten und Rücksichten vergessen. Er stand auf, trat mit Napf und Löffel vor den Speisemeister hin, und sagte, freilich mit ziemlichem Beben: „Bitt’ um Vergebung, Sir, ich möchte noch ein wenig.“
Der wohlgenährte, rothwangige Speisemeister erblasste, starrte den kleinen Rebellen wie betäubt vor Erstaunen an, und musste sich am Kessel festhalten. Oliver wiederholte unter Furcht und Zittern seine Worte, und nunmehr ermannte sich der Speisemeister, schlug ihn mit dem Löffel, auf den Kopf und rief laut nach dem Kirchspieldiener.
Das Armencollegium war eben versammelt, und Bumble stattete in grosser Aufregung seinen Bericht ab: Oliver Twist habe mehr gefordert. — Das Collegium wär empört.
„Hören wir recht — nachdem er gehabt, was zum Abendbrod festgesetzt ist?“ fragte Mr. Limbkins.
Bumble bejahete.
„Denken Sie an mich, Gentlemen,“ sagte der Herr mit der weissen Weste, „der Knabe wird dereinst gehangen werden.“
Die Herren hielten feierlichen Rath, und das Resultat bestand darin, dass Oliver eingesperrt, und durch öffentlichen Anschlag die Summe von fünf Pfunden Demjenigen, der Oliver Twist zu sich nehmen möchte, gelobt wurde, oder mit anderen Worten, man bot Oliver Twist um fünf Pfund aus an Jedermann, der eines Lehrlings oder Laufburschen bedürfte, gleichviel wo, oder in welchem Handwerke oder Geschäfte.
Wie Oliver Twist nahe daran war, eine Anstellung zu bekommen, welche keine Sinecure gewesen sein würde.
Wenn es Oliver darum zu thun gewesen wäre, die Prophezeiungen des Herrn mit der weissen Weste selbst wahr zu machen, so hätte er zum wenigsten Zeit genug dazu gehabt; denn er blieb acht Tage lang eingesperrt. Allein um sich im Gefängniss zu erhenken, fehlte ihm erstlich ein Taschentuch — denn Taschentücher waren als Luxusartikel verpönt — und zweitens war er noch zu sehr Kind. Er weinte daher nur den langen Tag über, und schlief ein, als er erschöpft war. Es war indess dafür gesorgt, dass es ihm an Leibesbewegung, Gesellschaft und religiösem Troste nicht mangelte. Bumble geleitete ihn jeden Morgen zum Brunnen, und ausserdem veranlasste ihn die Kälte, viel auf und ab zu laufen im Gefängniss: Bumble führte ihn einen Tag um den andern in den Speisesaal, wo er alle anderen Knaben vorfand, vor deren Augen und zu deren Warnung und Beispiel er ausgepeitscht wurde; Bumble schleppte ihn jeden Abend zur Theilnahme am Gebet, das eine speciell auf ihn sich beziehende Clausel erhalten hatte: Gott möge sie (die Knaben) gut, zufrieden und folgsam machen, und — vor der Bosheit Oliver Twist’s bewahren.
Während Oliver’s Angelegenheiten noch so standen, wurde eines Morgens der Schornsteinfeger, Mr. Gamfield, durch sein Geschäft vor dem Armenhause vorübergeführt. Er plagte sein Gehirn und daneben auch seinen Esel, weil sich ihm durchaus kein Mittel entdecken wollte, eine Schuld von einigen Pfunden zu berichtigen, um welcher willen er hart bedrängt wurde. Er las den erwähnten Anschlag, und schmunzelte. Der Betrag der angebotenen Summe war eben, was er bedurfte. Er kannte die Armenhausdiät, und war daher überzeugt, dass die an sich lästige Knabenmitgabe nicht zu sehr in Anschlag kommen könne. Das Kind war ohne Zweifel zart und schmächtig genug, um nützlich in engen Schornsteinen und Ofenröhren verwendet werden zu können.
Er trat in das Haus, liess sich anmelden, erklärte den Directoren, dass er eines Lehrlings für ein respectabeles Schornsteinfegergeschäft bedürftig sei, und trug darauf an, dass man ihm den angebotenen Knaben überlassen möge. Mr. Limbkins missfiel das Geschäft, und ein anderer Herr bemerkte, man habe Beispiele, dass Knaben in den Rauchfängen erstickt wären.
„Das kam nur davon,“ sagte Gamfield, „wenn das Stroh feucht war, das angezündet wurde, um sie herunterzubringen, und also nur Rauch und keine Flamme nicht gab. Knaben sein widerspenstig und faul, meine Herren; ein gutes Feuer im Kamin macht sie munter, verhindert, dass sie oben einschlafen, oder weckt sie auf, wenn sie eingeschlafen sind.“
Dem Herrn mit der weissen Weste gefiel die Erklärung, Mr. Limbkins aber hatte desto mehr Einwendungen. Indess beriethen die Directoren leise, so dass nur die Worte „Ersparung“ und „Abrechnung“ vernommen wurden; sie erklärten dem Schornsteinfeger jedoch endlich, dass auf seinen Antrag nicht eingegangen werden könne.
Mr. Gamfield wünschte keine weitläufigen Verhandlungen. Sie hätten zu Erkundigungen führen können, wobei dann leicht wieder davon geredet werden konnte, dass bereits drei oder vier Knaben, wie man ihm schuld gab, in seinem Geschäft zu Tode gekommen waren. Er schickte sich daher an, abzutreten.
„Ich soll ihn also nicht haben, meine Herren?“ sagte er, an der Thür noch verweilend.
Man erklärte ihm, das Schornsteinfegergeschäft wäre ein schlechtes Geschäft, und er könne zum wenigsten auf den vollen Betrag der gebotenen Prämie keinen Anspruch machen. Er begann zu feilschen, verzichtete auf zehn und noch zehn Schillinge, der Handel kam endlich zu Stande, und Bumble wurde beauftragt, Oliver Twist dem Friedensrichter zur obrigkeitlichen Bestätigung des Vertrags vorzuführen.
Bumble kündigte Oliver seine Bestimmung an, und ermahnte ihn zur Dankbarkeit gegen das Kirchspiel, das so grosse Kosten aufwende, damit er, eine elende Waise, durch die Welt kommen könne. Oliver weinte blos. Bumble schalt ihn einen Narren, schärfte ihm ernstlich ein, was er auf die Fragen des Friedensrichters zu erwidern habe, und befahl, ihm zu folgen. Mr. Limbkins und der Schornsteinfeger warteten bereits. Bumble stellte Oliver gebührend vor, und Oliver verbeugte sich um so tiefer, da er noch nie Herren mit gepuderten Perrücken gesehen hatte.
„Der Knabe wünscht also Schornsteinfeger zu werden?“ sagte der Friedensrichter.
„Mit Gewalt,“ sagte Bumble, „will’s mit Gewalt werden, Ihr Edeln; würde übermorgen wieder entlaufen, wenn wir ihn morgen in ein anderes Geschäft gäben.“
Der Friedensrichter wendete sich zu dem Schornsteinfeger.
„Und Sie versprechen, ihn gut zu behandeln, ordentlich zu speisen, zu kleiden und was weiter dahin gehört?“
„Wenn ich’s einmal gesagt habe, dass ich’s will, so ist’s auch meine Meinung, dass ich’s will,“ erwiderte Gamfield barsch.
„Ihre Rede ist eben nicht fein, mein Freund; doch Sie scheinen ein ehrlicher, geradsinniger Mann zu sein,“ bemerkte der Friedensrichter, und war im Begriff, das betreffende Document zu unterzeichnen, als ihm Olivers angstvolles Zittern und entsetzte Mienen auffielen. Er legte die Feder wieder aus der Hand, sah Mr. Limbkins an, der aus Verlegenheit Schnupftabak nahm, lehnte sich über das Schreibpult, und redete Oliver so freundlich an, dass der Knabe zusammenfuhr, noch heftiger zu zittern anfing, und in Thränen ausbrach. Er sprach ihm Muth ein, und forderte ihn wiederholt auf, ohne Scheu zu sagen, wie es ihm um das Herz wäre.
Oliver fiel auf die Knie nieder, hob die gefalteten Hände empor und flehete schluchzend, man möge ihn in das finstere Gemach zurückbringen, hungern lassen, schlagen, ja todtschlagen — nur aber mit dem schrecklichen Manne nicht fortschicken.
Bumble bezeigte sein unsägliches, entrüstetes Erstaunen; der Friedensrichter gebot ihm Stillschweigen; er fragte, ob er gemeint sei; der Friedensrichter wiederholte das Gebot, und Bumble’s Erstaunen und Entrüstung kannten keine Grenzen mehr. Ihm zu gebieten, den Mund zu halten!
„Ich muss dem Vertrage die Bestätigung versagen,“ erklärte der Friedensrichter, das Pergament unwillig zur Seite schiebend.
„Ich hoffe,“ stotterte Mr. Limbkins, „Sie werden nicht geneigt sein, lediglich auf das Zeugniss eines Kindes der Meinung Raum zu geben, dass das Verfahren des Directoriums einem Tadel unterliege.“
„Ich bin als Friedensrichter nicht berufen, eine Meinung darüber auszusprechen,“ entgegnete der alte Herr. „Nehmen Sie den Knaben wieder mit sich, und behandeln Sie ihn gut. Er scheint es zu bedürfen.“
Man hatte den Anschlag herunter genommen, am folgenden Morgen wurde jedoch Oliver abermals um fünf Pfund ausgeboten.
Oliver Twist fängt ein neues Leben unter Särgen an.
Die Directoren hatten Bumble befohlen, Erkundigungen einzuziehen, ob nicht etwa ein Stromschiffer eines Knaben bedürfe, wie man denn die jüngeren Söhne, und eben so die Waisen gern zur See schickt, um sich ihrer zu entledigen. Gerade als der Kirchspieldiener zurückkehrte, trat Mr. Sowerberry aus dem Hause, der Leichenbestatter des Kirchspiels, der es trotz seinem Geschäft doch nicht wenig liebte, zu scherzen.
„Ich habe so eben das Mass zu den beiden gestern Abend gestorbenen Frauenzimmern genommen, Mr. Bumble,“ rief er ihm entgegen, und bot ihm zugleich seine Dose, ein artiges kleines Modell eines Patentsarges.
„Sie werden noch ein reicher Mann werden, Mr. Sowerberry,“ bemerkte Bumble.
„Möcht’s wünschen; aber die Directoren zahlen nur gar zu geringe Preise.“
„Ihre Särge sind auch gar zu klein, Mr. Sowerberry.“
„Grössere thun auch nicht noth, Mr. Bumble, bei der neuen Speiseordnung.“
Bumble missfiel die Wendung, welche das Gespräch genommen; er suchte es daher auf einen anderen Gegenstand zu lenken, spielte mit einem seiner grossen Rockknöpfe mit dem Kirchspielsiegelemblem — dem barmherzigen Samariter — und begann von Oliver Twist. Mr. Sowerberry bedurfte eines Knaben zu Handreichungen, wurde sofort zu den Directoren geführt, und das Geschäft war bald abgemacht. Oliver sollte noch am selbigen Abend „auf Probe“ zu ihm gehen, was so viel sagen will, als dass der Meister, dem ein Kirchspielknabe als Lehrling übergeben wird, denselben auf eine Anzahl Lehrjahre haben soll, um mit ihm zu thun, was ihm beliebt, wenn er nach kurzer Probezeit ersieht, dass ihm der Knabe genug arbeitet, ohne zu esslustig und also zu kostbar zu sein. Dem kleinen Oliver wurde gesagt, wenn er nicht gutwillig ginge, oder sich im Armenhause wieder blicken liesse, so würde man ihn nach gebührender Züchtigung zur See schicken, wo er unfehlbar ertrinken müsse. Er zeigte wenig Rührung, und wurde nunmehr für gänzlich verhärtet erklärt. Er hatte freilich in Wahrheit nicht zu wenig, sondern eher zu viel Gefühl, war aber durch die erfahrene Behandlung betäubt und für den Augenblick vollkommen abgestumpft. Auf dem Wege zu Mr. Sowerberry ermahnte ihn Bumble in seinem gewöhnlichen Tone. Oliver traten die Thränen in die Augen.
„Was weinst du, Schlingel? Hab’ ich’s nicht immer gesagt, dass du die schlechteste, undankbarste Creatur von der Welt bist? Was hast du? Sprich!“
„Ich bin so verlassen, Sir — so ganz verlassen! Jedermann ist so schlimm gegen mich. Es ist mir, als wenn ich hier blutete und mich todtbluten müsste;“ — und er presste die Hand auf das Herz, und blickte mit nassen Augen seinem Führer in das Gesicht.
Bumble hustete, sagte endlich: „Sei nur ein guter Junge,“ und ging schweigend weiter.
Mr. Sowerberry rief seine wenig einnehmende Gattin. „Das ist der Knabe, von welchem ich dir sagte,“ nahm er schüchtern das Wort.
„Mein Himmel, wie klein er ist!“ rief Mrs. Sowerberry aus.
„Er ist allerdings klein,“ sagte Bumble, Oliver sehr unwillig anblickend, als ob es des Knaben Schuld gewesen wäre, dass er nicht grösser war; „er wird aber grösser werden, Mrs. Sowerberry.“
„O ja, auf unsere Kosten,“ entgegnete sie verdriesslich. „Ich sehe keine Ersparniss mit Kirchspielkindern; sie kosten allezeit mehr, als sie werth sind. Die Männer glauben aber immer, Alles am besten zu wissen.“
Sie stiess Oliver eine Treppe hinunter in eine finstere, elende Küche, und befahl einer schlumpigen Dienstmagd, ihm zu geben, was für den nicht zu Hause gekommenen Trip zurückgestellt wäre.
O dass doch so Mancher, dessen Blut von Eis und dessen Herz von Stein ist, und der dennoch eine Stimme sich anmasst, eine Stimme hat, wo es der Beurtheilung der Lage, dem Wohl oder Wehe der Armen gilt, den Knaben hätte verschlingen sehen können, was der Haushund verschmäht! Wie sehr wäre so vielen Menschenfreunden dieselbe und keine andere Diät zu wünschen!
Frau Sowerberry hatte dem Knaben mit stummem Entsetzen zugeschaut; er hörte auf zu essen, als er nichts mehr fand.
„Bist du endlich fertig?“ sagte sie. „Nun komm, dein Bett ist unter dem Ladentische. Du wirst dich doch nicht grauen, zwischen Särgen zu schlafen? Aber wenn du auch nicht wolltest, du bekommst keine andere Schlafstelle.“
Oliver folgte schüchtern und geduldig seiner neuen Herrin.
Oliver unter neuen Umgebungen und bei einem Leichenbegängnisse.
Sobald Oliver im Laden des Leichenbestatters allein gelassen war, setzte er seine Lampe auf eine Bank, und Furcht und Grauen durchschauerte ihn. Mitten im Gemach stand ein neuer, fast fertiger Sarg; die schon zugeschnittenen, an die Wände umher gelehnten Bretter erschienen ihm beim matten Lampenlichte wie Geister. Auf dem Boden lagen grosse Nägel, Holzspähne, Stücke schwarzen Tuchs und Sargembleme, und an der Wand über dem Ladentische hing das grauenhafte Bild eines Leichenzugs. Die Luft war drückend heiss; sie däuchte Oliver wie Grabesluft, die Oeffnung zu seiner Ruhestätte unter dem Ladentische wie ein gähnendes Grab.
Er fühlte sich allein und unbefreundet in der Welt, und obwol er keinen Schmerz über Trennung von Freunden oder Angehörigen empfand, so war ihm das Herz dennoch schwer; und als er in sein enges Bett hineinkroch, wünschte er, dass es sein Sarg sein und dass er darin hinaus auf den Kirchhof getragen werden möchte, wo das hohe stille Gras über ihm wüchse und im Winde säuselte, und das Läuten der alten traurigen Thurmglocke ihm schöne Träume zuführte in seinem süssen Schlummer.
Er wurde am folgenden Morgen durch ein ungestümes Pochen an der Thür aus seinem unruhigen Schlafe geweckt, und eilte, dieselbe zu öffnen. Tobend und drohend trat ein weit grösserer Knabe, als Oliver selbst war — ein Armenknabe — herein, und befragte ihn barsch und ungestüm, ob er der neue Lehrling, wie alt er wäre, u. s. f. Oliver fragte ihn schüchtern und in aller Unschuld, ob er eines Sarges bedürfe.
„Es wird nicht lange währen, bis du selbst einen brauchst,“ war die zornige Antwort, „wenn du Scherz treibst mit Leuten, die dir zu befehlen haben. Weisst du nicht, wer ich bin? Noah Claypole, und du bist mir untergeben, Musjö Ohnevater. Oeffne die Fensterläden, Faulpelz.“
Oliver that, wie ihm geheissen war, und gleich darauf erschien Mr. und Mrs. Sowerberry. Oliver und sein neuer Tyrann wurden in die Küche geschickt, um ihr Frühstück zu erhalten. Charlotte, die Köchin, bedachte Noah gut und Oliver desto schlechter, der obenein von Jenem sehr unsanft in einen dunkeln Winkel gestossen und vielfach gehänselt wurde.
Noah war ein Freischüler, aber doch keine Waise aus dem Armenhause. Sein Stammbaun war ihm sehr wohl bekannt; seine Eltern wohnten in der Nachbarschaft. Seine Mutter war eine Waschfrau, und sein Vater ein pensionirter, täglich betrunkener Soldat. Die Ladenburschen nannten ihn verächtlich „Lederhose“ und so fort, was er schweigend duldete, dagegen aber nunmehr mit desto grösseren Uebermuth einen Schwächeren und Elternlosen behandelte, den er als solchen tief unter sich sah. — Welch’ ein köstlicher Stoff zu Betrachtungen über die liebenswürdige menschliche Natur, deren vortreffliche Eigenschaften sich beim hochstehenden Lord wie beim Armenknaben offenbaren.
Oliver hatte sich drei bis vier Wochen bei Mr. Sowerberry befunden, als derselbe einst gegen seine Hausehre die Rede auf ihn brachte. „Der Knabe sieht wirklich gut aus,“ bemerkte er.
„Kein Wunder,“ entgegnete sie, „denn er isst genug.“
„Er hat ein äusserst melancholisches Gesicht, und sieht immer so trübselig aus, dass er wirklich einen vortrefflichen Stummen 1 abgeben würde.“
Seine Gattin sah ihn verwundert an, und er fuhr fort: „Ich meine nicht bei Erwachsenen, sondern bei Kinderbegräbnissen. ’S ist etwas Neues, auch zu dergleichen kleine Stumme zu stellen, und man kann sich etwas davon versprechen.“
Mrs. Sowerberry gab dem Gedanken ihres Gatten, blos mit dem Bemerken, warum ihr einfältiger Eheherr denn nicht schon längst daran gedacht, Beifall, und Mr. Sowerberry beschloss, Oliver in die Mysterien des Leichenbestattergeschäfts einzuweihen, und sich daher von ihm zum ersten besten vorkommenden Begräbnisse begleiten zu lassen. Die Gelegenheit liess nicht lange auf sich warten, denn eine halbe Stunde darauf erschien Bumble mit dem Auftrage zu einem Kirchspielbegräbnisse.
Mr. Sowerberry ordnete die erforderlichen Vorbereitungen, und befahl Oliver, mit ihm zu gehen. Sie begaben sich nach dem bezeichneten Hause, um das Mass zum Sarge zu nehmen, wo sich ihren Blicken eine Scene des grauenvollsten Elends darbot, die auf Oliver, obgleich er an Elend so wohl gewöhnt war, den peinlichsten Eindruck machte.
Am folgenden kalten und regnichten Tage wiederholten sie ihren Besuch, die Leiche wurde in den Sarg gelegt, jede Anordnung war getroffen. Mr. Sowerberry sagte den Trägern, sie möchten sich sputen, und den Geistlichen nicht warten lassen; es wäre schon spät. Die Träger setzten sich in eine Art von Trab, und Oliver musste fast laufen, um mitkommen zu können. Der Geistliche war noch nicht angelangt, der Sarg wurde in einem entfernten Winkel des Kirchhofs neben der Gruft einstweilen niedergesetzt, und Mr. Sowerberry und Bumble setzten sich zum Küster in die Sacristei an das Feuer, und nahmen die Zeitungen zur Hand.
Nach einer halben Stunde erschien der Geistliche, Bumble verjagte die Gassenbuben, die sich damit unterhielten, herund hinüber über den Sarg zu springen, der Geistliche las eilend die Gebete, entfernte sich wieder, der Sarg wurde eingesenk, die Grube zugeworfen, und Alle begaben sich auf den Heimweg.
„Nun, Oliver, wie hat dir’s gefallen?“ fragte Mr. Sowerberry.
„Recht gut, bedanke mich, Sir,“ antwortete Oliver zögernd; „aber doch eigentlich nicht sehr gut.“
„Wirst dich schon daran gewöhnen,“ sagte der Leichenbesorger; „und ’s ist gar nichts, wenn du’s erst gewohnt bist.“
Oliver hätte gern gewusst, wie lange es gedauert, ehe Mr. Sowerberry sich daran gewöhnt, wagte jedoch nicht zu fragen, und kehrte gedankenvoll mit seinem Herrn nach Hause zurück.
In welchem Oliver kräftig auftritt.
Es fiel gerade eine sehr ungesunde Zeit ein, und Oliver sammelte daher in wenigen Wochen viel Erfahrung. Die Erfolge der scharfsinnigen Speculation Mr. Sowerberry’s übertrafen alle seine Erwartungen. Die ältesten Leute wussten sich nicht zu erinnern, dass so viele Kinder an den Masern gestorben waren, und Oliver mit schwarzen, bis an die Knie herunterreichenden Hutbändern führte einen Leichenzug nach dem andern an. Die Mütter bewunderten ihn über die Massen und waren unbeschreiblich gerührt. Da er seinen Herrn auch zu den meisten Erwachsenen-Begräbnissen begleiten musste, um sich die für einen vollkommenen Leichenbestatter so nothwendige gemessene Ruhe und Selbstbeherrschung anzueignen, so hatte er häufig Gelegenheit, die schöne Ergebung und Seelenstärke zu bemerken, welche so viele Leute bei ihren schmerzlichen Prüfungen und Verlusten beweisen.
Hatte Sowerberry zum Beispiel das Begräbniss einer reichen alten Dame, oder eines reichen alten Herrn zu besorgen, der von einer grossen Anzahl von Neffen und Nichten umgeben war, welche sich während seiner Krankheit vollkommen untröstlich gezeigt, und ihren Schmerz nicht einmal vor den Augen des grossen und grössten Publicums hatten bemeistern können, so blieb es selten aus, dass sie unter sich so heiter waren, als man es nur wünschen konnte, und so froh und zufrieden mit einander redeten oder auch lachten, als wenn sie ganz und gar keine Trübsal erlebt hätten. Ehemänner ertrugen den Verlust ihrer Frauen mit der heldenmüthigsten Ruhe, und Ehefrauen legten die Trauerkleider um ihre Männer auf eine Weise an, als wenn sie dadurch nicht etwa Schmerz andeuteten, sondern so anziehend als möglich erscheinen wollten. Viele Damen und Herren, welche bei der Beerdigung der Verzweiflung nahe zu sein schienen, beruhigten sich schon auf dem Heimwege, und waren vollkommen gefasst, bevor die Theestunde vorüber war. Dieses Alles war sehr angenehm und lehrreich anzuschauen, und Oliver sah es mit grosser Bewunderung.
Dass das Beispiel so vieler Leibtragenden ihn zur Ergebung und Geduld gestimmt hätte, kann ich mit Bestimmtheit nicht behaupten, sondern vermag nur so viel zu sagen, dass er Wochen lang mit Sanftmuth die Tyrannei und üble Behandlung ertrug, die er von Seiten Noah’s erfuhr, der um so erbitterter gegen ihn wurde, weil sein Neid gegen ihn erregt worden war. Charlotte misshandelte ihn, weil es Noah that, und Mrs. Sowerberry war seine erklärte Feindin, weil ihr Gatte sich ihm ziemlich freundlich erwies. Und so befand sich denn Oliver bei diesen Feindschaften und fortwährender Leichenbegleitungslast nicht ganz so comfortable, als das hungrige Ferklein, das aus Versehen in die Kornkammer einer Brauerei eingeschlossen war.
Es muss aber jetzt ein an sich unbedeutender Vorfall erzählt werden, der jedoch eine bedeutende Veränderung mit Oliver selbst, wie mit seinen Lebensschicksalen zur Folge hatte.
Eines Mittags befand er sich mit Noah in der Küche. Sein Peiniger trieb seine gewöhnlichen Neckereien weiter als gewöhnlich, und hatte es offenbar darauf angelegt, ihn ausser Fassung und zum Weinen zu bringen, was jedoch lange nicht gelingen wollte. Endlich sagte Noah scherzend, er werde nicht verfehlen zuzuschauen, wenn Oliver gehangen würde, und fügte hinzu: „Was wird aber deine Mutter dazu sagen — und wie geht’s ihr denn?“
„Sie ist todt,“ entgegnete Oliver, feuerroth vor Entrüstung; „untersteh’ dich aber nicht, mir Böses von ihr zu sagen.“
„Woran starb sie denn?“ fragte Noah weiter.
„An Kummer und Herzleid, wie mir eine unserer alten Wärterinnen gesagt hat,“ erwiderte Oliver, mehr wie wenn er mit sich selbst redete, als Noah’s Frage beantwortend. „Ich glaube, dass ich’s weiss, was es heisst, daran zu sterben!“
Ueber seine Wange rollte eine Thräne hinab, Noah pfiff eine muntere Weise, und sagte darauf: „was hast du zu plärren — um deine Mutter?“
„Dass du mir kein Wort mehr von ihr sagst — sonst nimm dich in Acht!“ rief Oliver.
„Ich soll mich in Acht nehmen — ich — mich in Acht nehmen vor einem solchen unverschämten Thunichtgut? Und von wem soll ich kein Wort mehr sagen? Von deiner Mutter? Die mag auch die rechte gewesen sein — ha, ha, ha!“
Oliver verbiss seine Pein und schwieg. Noah nahm den Ton spöttischen Mitleids an.
„Nun, nun, sei nur ruhig; ’s ist nichts mehr d’ran zu ändern, und ich bedaure dich, wie’s Alle thun. Indess ist das wahr, ich weiss es, deine Mutter taugte nichts; sie ist eine ganz verworfene Person gewesen, und es war nur gut, dass sie starb, denn es würde ihr jetzt schlecht genug ergehen in der Tretmühle, wenn sie anders nicht deportirt oder gehangen wäre. Hab’ ich nicht Recht, Armenhäusling?“
Oliver’s Geduld war zu Ende; er sprang auf, fasste Noah bei der Kehle, schüttelte ihn, sammelte seine ganze Kraft, und schlug ihn mit einem einzigen Schlage zu Boden. Es war, als wenn er plötzlich verwandelt, ein ganz anderes Wesen geworden wäre, als der stille, geduldige, sanftmüthige, der schüchterne Knabe, zu welchem eine harte Behandlung ihn gemacht hatte.
Noah war in Bestürzung und schrie jammervoll: „Er macht mich todt — Charlotte — Mrs. Sowerberry — Hilfe, Hilfe! — Oliver ist rasend geworden!“
Es währte nicht lange, bis sein Geschrei durch ein ähnliches beantwortet wurde. Charlotte stürzte herein, Mrs. Sowerberry zögerte noch an der Treppe, um erst die Ueberzeugung zu gewinnen, dass sie ihr Leben nicht in Gefahr setze. Endlich erschien sie gleichfalls; Charlotte packte Oliver und schlug mit derber Faust auf ihn los, Mrs. Sowerberry fasste ihn am anderen Arme und zerkratzte ihm das Gesicht, und Noah ermannte sich wieder, und begann ihm den Rücken zu bearbeiten. Als sie der Anstrengung müde geworden, zerrten sie ihn in das Kehrichtloch und schlossen ihn ein.
Mrs. Sowerberry sank erschöpft auf einen Stuhl nieder, und pries laut den Himmel, dass sie nicht sammt Charlotte und Noah ermordet wäre; Charlotte erklärte, der Herr würde nun wol ein Haar darin finden, Creaturen zu sich zu nehmen, die von der Wiege an zu Räubern und Mördern geboren wären; Noah machte aufmerksam darauf, dass Oliver die Thür des Gefängnisses einzustossen versuche. Mr. Sowerberry war nicht zu Hause, und somit wurde Noah eiligst abgeschickt, Bumble zu holen.
Oliver bleibt widerspenstig.
Noah stürzte mit einem so jammervollen Geschrei und unter Geberden in das Armenhaus hinein, dass Bumble, ohne Hut und Stab aus seinem Zimmer herausstürzend, den Beweis lieferte, wie selbst ein Kirchspieldiener unter Umständen ausser Fassung gerathen und seiner persönlichen Würde vergessen kann.
„O, Mr. Bumble — o Sir!“ schrie Noah; „Oliver, Sir — Oliver Twist!“
„Wie — was? Ist er — ist er davongelaufen?“
„Nein, Sir; er ist ganz ruchlos geworden. Er hat mich und Charlotte und Missis ermorden wollen! O Sir! o Sir — mein Nacken, mein Kopf, mein Leib, mein Leib!“
Sein Geheul zog den Herrn mit der weissen Weste herbei.
„Sir,“ rief Bumble demselben entgegen, „hier ist ein Knabe aus der Freischule, der von dem Oliver Twist beinahe ermordet worden wäre!“
„Mein Sinn hat mir’s von Anfang an zugetragen,“ bemerkte der Herr mit der weissen Weste, „dass der kleine Satan noch gehangen werden würde.“
„Er hat auch die Magd ermorden wollen,“ sagte Bumble mit bleichem Gesicht.
„Und die Frau,“ fiel Noah ein.
„Und nicht wahr, Noah, sagtest du nicht, auch seinen Herrn?“ sagte Bumble.
„Nein, der Herr war nicht zu Hause, sonst hätt’ er ihn auch gemordet,“ antwortete Noah. „Aber der Bösewicht sagte, er wollte —“
„Sagte er das — was wollte er?“ fragte der Herr mit der weissen Weste.
„Ja, Sir,“ erwiderte Noah; „und Missis wünscht zu wissen, ob Mr. Bumble wol nicht einen Augenblick Zeit hätte, um zu kommen und ihn abzupeitschen, da der Herr nicht zu Hause ist.“
Noah wurde belobt, und Bumble erhielt den Auftrag, sich sofort nach Mr. Sowerberry’s Hause zu begeben, Oliver zu züchtigen, ihn ja nicht zu schonen, und seinen Herrn zu ermahnen, ihn in der schärfsten Zucht zu halten. Bumble und Noah machten sich sogleich auf den Weg. Angelangt, forderte Bumble den Gefangenen auf, sich vor allen Dingen ruhig zu verhalten.
„Lasst mich hinaus!“ rief Oliver.
„Kennst du meine Stimme, Oliver?“
„Ja!“
„Fürchtest du dich nicht — zitterst du nicht bei meiner Nähe?“
„Nein!“
Bumble war starr vor Erstaunen.
„Er muss verrückt geworden sein,“ bemerkte Mrs. Sowerberry.
„’S ist keine Verrücktheit, Ma’am,“ sagte Bumble; „’s ist das Fleisch!“
„Das Fleisch!“
„Ja, ja, Ma’am! Sie haben ihn überfüttert, Ma’am. Hätten Sie ihm nichts als Haferbrei gegeben, so wäre er nimmermehr so geworden.“
Mrs. Sowerberry machte sich wegen ihrer Gutherzigkeit und Freigebigkeit die bittersten Vorwürfe, so unschuldig in Gedanken, Worten und Werken sie auch war.
Bumble, erklärte, dass nur Gefängniss und sodann strenge Diät den rebellischen Sinn des kleinen Galgenstricks würden bändigen können, öffnete die Thür, zog Oliver heraus, begrüsste ihn mit einigen nachdrücklichen Ohrfeigen, und rückte ihm sein entsetzliches Vergehen vor.
„Er schimpfte meine Mutter,“ sagte Oliver ohne alle Zeichen von Scheu vor dem Gewaltigen.
„Und wenn er das auch that, du undankbarer Bösewicht,“ versetzte Mrs. Sowerberry. „Sie hat’s verdient, was er von ihr gesagt hat, und noch viel mehr.“
„Nein, nein!“ rief Oliver. „’S ist eine Lüge.“
Mrs. Sowerberry brach in eine Thränenflut aus, die dem Gatten, der inzwischen zu Hause gekommen war, keine Wahl liess. Denn wenn er nicht auf der Stelle Oliver nachdrücklich gezüchtigt hätte, so würde er sich, gemäss allen Ehezänkereiregeln, als eine Nachtmütze, ein liebloser Ehemann, ein Ungeheuer gezeigt haben. So ungern er es daher auch thun mochte, er peitschte Oliver dermassen ab, dass die nachträgliche Anwendung des Rohrs Mr. Bumble’s jedenfalls sehr unnöthig war. Oliver wurde darauf bei Wasser und Brod wieder eingesperrt, und spät Abends unter Noah’s unbarmherzigem Gespött zu Bett gewiesen.
Und erst hier liess er seinen Gefühlen freien Lauf. Er hatte allen Spott und Hohn mit hartnäckiger Verachtung, die schmerzlichsten Streiche ohne Schrei ertragen, und würde nicht geweint haben, wenn man ihn lebendig geröstet hätte; ein solcher Stolz war in seiner Brust erwacht. Nun aber, da er allein und gänzlich sich selber überlassen war, fiel er auf die Knie nieder, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte solche Thränen, wie Gott sie den Betrübten und Geängsteten zur Erleichterung ihres Herzens sendet, wie nur wenige menschliche Wesen, so jung an Jahren als Oliver, sie zu vergiessen Ursachen hatten.
Es währte lange, bevor er sich wieder erhob. Das Licht war tief hinuntergebrannt, er horchte und blickte vorsichtig umher, öffnete leise die Thür und sah hinaus. Die Nacht war finster und kalt. Die Sterne schienen ihm weiter von der Erde entfernt zu sein, als er sie je gesehen; die Bäume, von keinem Winde bewegt, standen wie Geister da. Er verschloss die Thür wieder, knüpfte seine wenigen Habseligkeiten in ein Taschentuch, und setzte sich auf eine Bank, um den Anbruch des Tages zu erwarten.
Mit dem ersten durch die Ritzen der Fensterladen eindringenden Lichtstrahle stand er auf, öffnete die Thür zum zweiten Male, blickte furchtsam umher, zögerte ein paar Augenblicke, trat hinaus, und ging, ungewiss, wohin er sich wenden sollte, rasch vorwärts. Nach einiger Zeit gewahrte er, dass er sich ganz in der Nähe des ländlichen Hauses befände, in welchem er seine ersten Kinderjahre verlebt hatte. Es war Niemand zu hören oder zu sehen; er blickte in den Garten hinein. Einer seiner kleinen, weit jüngeren Spielkameraden reinigte ein Beet vom Unkraut. Sie hatten mit einander gar oft Hunger, Schläge und Einsperrung erduldet.
„Pst! Dick!“ rief Oliver.
Der Knabe lief herbei und streckte ihm die abgemagerten Hände durch die Gitterthür entgegen.
„Ist schon Jemand auf, Dick?“
„Keiner, als ich.“
„Sag’ ja nicht, dass du mich gesehen hast, Dick; ich bin fortgelaufen; konnt’s nicht mehr aushalten, und will mein Glück in der Welt versuchen. Ich muss weit fort von hier; weiss nicht wohin. Wie blass du aussiehst!“
„Ich habe den Doctor sagen hören, dass ich sterben müsste. Ach, das ist schön, dass du hier bist! Aber halt’ dich nicht auf; lauf’ fort!“
„Ja, ja, leb’ wohl! Ich weiss gewiss, wir sehen uns wieder, Dick. Du wirst noch recht glücklich werden.“
„Das hoff’ ich — wenn ich todt bin; eher nicht. Ich weiss es, Oliver, der Doctor hat Recht; denn ich träume so viel vom Himmel und von Engeln und freundlichen Gesichtern, die ich niemals sehe, wenn ich aufwache. Leb’ wohl, Oliver; geh’ mit Gott! Gottes Segen begleite dich!“
Oliver hatte noch nie des Himmels Segen auf sich herabrufen hören, und nie vergass er diese Segnung von den Lippen eines Kindes unter allen Leiden, Sorgen, Mühen, Kämpfen und Wechselschicksalen seines Lebens.
Oliver geht nach London, und trifft mit einem absonderlichen jungen Gentleman zusammen.
Oliver lief ohne Rast und Ruhe, bis er um Mittag bei einem Meilensteine stilstand, auf dem die Entfernung Londons angegeben war. Dort konnte man ihn nicht finden, er hatte oft sagen hören, dass die unermessliche Stadt zahllose Mittel zum Fortkommen darböte, sein Entschluss war gefasst; er machte sich bald wieder auf den Weg, und gedachte nun erst der Schwierigkeiten, die er zu überwinden haben würde, um an sein Ziel zu gelangen. Er hatte ein grobes Hemde, zwei Paar Strümpfe, eine Brodrinde und einen Penny in seinem Bündel — ein Geschenk Mr. Sowerberry’s nach einem Begräbnisse, bei welchem er sich dessen ungewöhnliche Zufriedenheit verdient hatte. Er sann vergeblich darüber nach, wie er mit so geringen Mitteln London erreichen solle — und trabte weiter.
Nachdem er zwanzig Meilen zurückgelegt hatte, lenkte er auf eine Wiese ein und legte sich in einem Heuhaufen zur Ruhe nieder. Er machte am zweiten Tage abermals zwölf Meilen, verwendete seinen Penny für Brod, übernachtete auf ähnliche Weise, und erhob sich am dritten Morgen fast erfroren und mit erstarrten Gliedern, so dass er sich kaum von der Stelle bewegen konnte.
Die Strasse wand sich hier einen ziemlich steilen Hügel hinauf, und er flehete die Aussenpassagiere einer Postkutsche um eine Gabe an. Nur Einer beachtete ihn, rief ihm zu, er möge warten, bis man oben angelangt wäre, und begehrte darauf, zu erfahren, wie weit er um einen halben Penny mitlaufen könne. Oliver musste nach der grössten Anstrengung doch bald zurückbleiben, und der Mildthätige steckte sein Geldstück wieder in die Tasche und erklärte ihn für einen faulen Schlingel, der keine Freigebigkeit verdiene. Dahin rollte die Postkutsche, und liess nur eine Staubwolke zurück.
In manchen Dörfern waren Pfosten mit Tafeln errichtet, auf welchen scharfe Drohungen gegen alle Bettler zu lesen waren, und Oliver eilte furchtsam weiter; in andern, wenn er etwa vor einem Gasthause mit sehnsüchtigen Blicken stillstand, hiess man ihn sich davon machen, wenn er nicht als ein Dieb eingesperrt werden wollte. Aus vielen Häusern vertrieb ihn die Drohung, dass man die Hunde loslassen werde, wenn er sich nicht sofort entferne.
Es würde ihm ohne Zweifel ergangen sein, wie seiner unglücklichen Mutter, wenn sich nicht ein menschenfreundlicher Schlagbaumwärter und eine gutherzige Frau seiner angenommen hätten. Jener erquickte ihn durch ein, wenn auch nur aus Brod und Käse bestehendes Mittagsmahl; und diese, die einen schiffbrüchigen, sie wusste nicht wo umherirrenden Grosssohn hatte, gab ihm, was ihre Armuth vermochte, und obenein, was mehr war für Oliver, und ihn alle seine Leiden auf eine Zeitlang vergessen liess, freundliche Worte und mitleidige Zähren.
Am siebenten Morgen nach Sonnenaufgang erreichte er mit wunden Füssen die kleine Stadt Barnet. Es regte sich fast noch Niemand, die Wenigen, welche sich blicken liessen, kümmerten sich nicht um ihn, er wagte es nicht, sie um eine Gabe anzusprechen, und setzte sich auf eine Bank vor einer Thür.
Nach einiger Zeit ging ein Knabe an ihm vorüber, sah sich nach ihm um, ging weiter, sah sich zum zweiten Male nach ihm um, stand still, kehrte zurück und redete ihn an.
Er mochte ungefähr so alt sein, wie Oliver selbst, der nie einen so absonderlichen Kauz gesehen. Er hatte eine Stumpfnase und eine platte Stirn, sah höchst ordinär und schmutzig aus, und seine ganze Haltung und sein Benehmen war wie das eines Mannes. Er war klein für sein Alter, hatte Dachsbeine, und kleine, scharfe, hässliche Augen. Der Hut sass ihm so lose auf dem Kopfe, als wenn er jeden Augenblick herunterfallen müsste, und er würde auch heruntergefallen sein, wenn er nicht durch häufige rasche Kopfbewegungen seines Besitzers immer wieder zurecht gerückt oder befestigt worden wäre. Die Kleidung des kleinen war gleichfalls nichts weniger als knabenhaft, und die ganze Figur stellte das vollkommene Bild eines renommirenden, prahlhaften kleinen Helden von vier Fuss Höhe dar.
„Was fehlt dir, Bursch? Was scheft dermehr? 2 redete er Oliver an.
„Ich bin sehr hungrig und müde,“ erwiderte Oliver, mit Thränen in den Augen. „Ich komme weit her, und bin seit sieben Tagen auf der Wanderung gewesen.“
„Weit her — hm! — seit sieben Tagen auf der Wanderung gewesen? — Ah — sehe schont — auf Oberschenkels Befehl — he? Doch,“ fügte er hinzu, als er Oliver’s verwunderte Miene gewahrte, „du scheinst nicht zu wissen, was ä Oberschenkel ist, mein guter Kochemer.“ 3
Oliver erwiderte schüchtern, er wisse allerdings sehr wohl, dass man unter einem Oberschenkel den oberen Theil eines Beines verstehe.
„Ha, ha, ha! Wie grün!“ rief der junge Gentleman aus. „Ae Oberschenkel ist ä Friedensrichter, wer auf ’nes Oberschenkels Befehl geht, kömmt nicht vorwärts, sondern geht immer ’nauf, ohne wieder ’nunter zu kommen. Noch nicht in der Mühle gewesen?“
„In was für einer Mühle?“ fragte Oliver.
„Ei, in der, die in ä Doves 4 Platz hat. Doch du bist butterich; 5 ich hab’ freilich auch nicht eben zu viel Massumme, 6 aber so weit’s zureicht, will ich ’rausrücken und blechen. Steh’ auf — komm!“
Der junge Gentleman half Oliver aufstehen, und nahm ihn mit sich in sein Gasthaus, wo er Brod und Schinken bringen liess, und ihn sehr aufmerksam beim Essen beobachtete. Als sich Oliver endlich gesättigt, warf er die Frage hin: „Nach London?“
„Ja.“
„Wohnung?“
„Nein.“
„Geld?“
„Nein.“
Der junge Herr senkte die Hände in die Taschen und pfiff.
Oliver fragte ihn, ob er in London wohne.
„Ja, wenn ich zu Hause bin. Aber du weisst wol nicht, wo du kommende Nacht schlafen sollst?“
„Nein,“ antwortete Oliver. „Ich habe seit sieben Nächten unter keinem Dache geschlafen.“
„Mach’ dir darum nur keine Sorgen. Ich gehe nach London und kenne da ’nen respectablen alten Herrn, der dir Wohnung umsonst geben und dir bald ’ne gute Stelle verschaffen wird — das heisst, wenn dich ä Schentleman einführt, den er kennt. Und ob er mich wohl kennt!“ fügte der junge Herr lächelnd hinzu.
Das unerwartete Anerbieten war zu lockend, als dass Oliver einen Augenblick hätte anstehen sollen, es anzunehmen. Er wurde zutraulicher, und erfuhr nun auch, dass sein neuer Freund Jack Dawkins heisse, und ein besonderer Liebling des erwähnten alten Herrn sei. — Jack’s Aeusseres schien freilich den Lieblingen des alten Herrn nicht viele Vortheile zu versprechen; allein da er ziemlich leichtfertig und grosssprecherisch redete, und auch gestand, dass er unter seinen Bekannten allgemein den Namen des „gepfefferten Baldoberers“ (d. h. ausgelernten Kundschafters) führe, so schloss Oliver, er möge nicht eben viel taugen und die guten Lehren seines Wohlthäters in den Wind schlagen. Oliver nahm sich daher in der Stille vor, sich so bald als möglich die Gunst des alten Herrn zu gewinnen, und wenn er den Baldoberer unverbesserlich fände, die Ehre der näheren Bekanntschaft desselben abzulehnen.
Da es Jack nicht genehm war, vor Abend in London einzutreffen, so wurde es fast elf Uhr, bevor sie den Schlagbaum von Islington erreichten. Die Plätze, Strassen und Gassen, über und durch welche Oliver geführt wurde, waren zuerst schlecht, und dann abscheulich und immer abscheulicher, und was er von den Begegnenden und in den offenstehenden Läden und Gasthäusern sah und hörte, erfüllte ihn mit Bangigkeit und Schauder. Es wurde ihm immer unheimlicher, und er überlegte schon, ob er nicht am besten thäte, davonzulaufen, als ihn sein Führer plötzlich beim Arme nahm, die Thür eines Hauses unweit Fieldlane öffnete, ihn hineinzog und die Thür wieder verschloss. Der Baldoberer pfiff, und erwiderte auf den Ruf: „Wer da?“ — „Grim und petacht!“ 7 Unten auf der Hausflur zeigte sich Licht, und der Kopf eines Mannes tauchte auf der zur Küche hinunterführenden Treppe empor.
„Es sind Eurer zwei — wer ist der Andre?“
„Ein neuer Chawwer,“ rief Jack, Oliver nachziehend, zurück.
„Woher kömmt er?“
„Von Grünland. Ist Fagin oben?“
„Ja. Er sortirt die Schneichen. 8 Geh’ hinauf!“
Das Licht und der Kopf verschwanden.
Jack führte Oliver eine finstere, sehr beschädigte Treppe hinauf, mit der er jedoch sehr genau bekannt zu sein schien, öffnete die Thür eines Hinterzimmers und zog Oliver nach.
Die Wände des Gemachs waren von Schmutz und Rauch geschwärzt, auf einem elenden Tische stand ein in den Hals einer Bierflasche gestecktes Licht, und am Kamine die zusammengeschrumpfte Gestalt eines alten Juden mit einem zurückstossenden, spitzbübischen, satanischen Gesicht, das durch dichte, klebrige rothe Haare verdunkelt wurde. Er steckte in einem fettigen flanellenen Schlafrocke, trug den Hals bloss, und schien seine Aufmerksamkeit zwischen dem Feuer, an welchem er Brodschnitte röstete, und dem Kleiderstocke zu theilen, auf welchem eine grosse Anzahl seidener Taschentücher hing. An dem Tische sassen vier oder fünf Knaben, keiner älter als Jack, rauchten aus langen Thonpfeifen und tranken Branntwein, ganz als wenn sie Erwachsene gewesen wären. Sie drängten sich um den Baldoberer, als er dem Juden einige Worte zuflüsterte, dreheten sich darauf nach Oliver um, und sie und der Jude grinsten ihn an.
„Fagin, das ist er, mein Freund Oliver Twist,“ sagte Jack Dawkins laut.
Der Jude greinte, machte Oliver eine tiefe Verbeugung, fasste seine Hand, und sagte, er hoffe die Ehre seiner näheren Bekanntschaft zu haben. Hierauf umringten ihn die jungen rauchenden Gentlemen, und drückten ihm eifrig die Hände — besonders die linke, in welcher er seinen kleinen Bündel trug. Der Eine von ihnen bezeigte grossen Eifer, seine Kappe aufzuhängen, und ein Anderer war so dienstfertig, in seine Tasche zu greifen, um ihn der Mühe zu überheben, wenn er sich niederlegte, sie auszuleeren; und alle diese Höflichkeiten würden kein Ende gehabt haben, wenn der Jude die Köpfe der gefälligen jungen Herren nicht mit der Röstgabel, die er in der Hand hielt, zu bearbeiten angefangen hätte, worauf sich Alle zu Tisch setzten.
Nachdem Oliver seinen Theil gegessen, mischte ihm der Jude ein Glas heissen Genevre mit Wasser, und sagte ihm, er müsse sogleich austrinken, weil noch Jemand des Glases bedürfe. Oliver that, was ihm geheissen war, sein Freund Jack hob ihn auf, legte ihn auf ein aus alten Säcken bereitetes Lager, und er versank sogleich in einen tiefen Schlummer.
Weitere Mittheilungen über den alten Herrn und seine hoffnungsvollen Zöglinge.
Es war schon spät am folgenden Morgen, als Oliver aus einem langen, festen Schlummer erwachte, doch vorerst nur zu jenem Mittelzustande zwischen Schlaf und Wachen, in welchem man sich noch nicht vollkommen ermuntern kann, und doch Alles hört und sieht, was umher vorgeht.
Der Jude war ausser Oliver allein im Zimmer. Er schlürfte seinen Kaffee, setzte das Geschirr nach einiger Zeit zur Seite, stand eine Weile am Kamin, wie wenn er nicht wüsste, was er zunächst vornehmen sollte, blickte darauf nach Oliver hin und rief ihn bei Namen. Oliver antwortete nicht und schien noch zu schlafen.
Der Jude horchte, ging zur Thür, schob den Riegel vor, und nahm darauf, wie es Oliver schien, aus einer Vertiefung des Fussbodens eine kleine Schachtel heraus, und stellte sie auf den Tisch. Seine Augen glänzten, als er sie öffnete und in die Schachtel hineinschaute. Er setzte sich, und nahm eine goldene, von Diamanten funkelnde Uhr heraus.
„Aha!“ murmelte er mit einem entsetzlichen Lächeln. „Verdammt pfiffige Bestien! Und courageux bis zum letzten Augenblick. Sagten mit keinem Sterbenswörtchen dem alten Pfarrer, wo sie wären, verkappten 9 den alten Fagin nicht. Und was hätt’s ihnen geholfen? Der Strick wäre doch geblieben fest — hätten gebaumelt keinen Augenblick später. Nein, nein! Wackre Bursche, wackre Bursche!“
Er legte die Uhr wieder in die Schachtel, nahm mehrere andere, und dann Ringe, Armbänder und manche Kostbarkeiten heraus, deren Namen oder Gebrauch Oliver nicht einmal kannte, und beäugelte sie mit gleichem Vergnügen. Hierauf legte er ein sehr kleines Geschmeide in seine flache Hand, und schien lange bemüht, zu lesen, was darin eingegraben sein mochte. Endlich liess er es, wie am Erfolge verzweifelnd, wieder in die Schachtelhineinfallen, lehnte sich zurück und murmelte:
„Was es doch ist für ’ne hübsche Sache ums Hängen! Todte bereuen nicht — bringen ans Licht keine dumme Geschichten. Selbst die Aussicht auf den Galgen macht sie keck und dreist. ’S ist sehr schön fürs Geschäft. Fünf aufgehangen in einer Reihe, und keiner übrig zu theilen mit mir oder zu lehmern.“ 10
Er blickte auf, seine schwarzen stechenden Augen begegneten Oliver’s Blicken, die in stummer Neugier auf ihn geheftet waren, und er gewahrte sogleich, dass er beobachtet worden war. Er drückte die Schachtel zu, griff nach einem auf dem Tische liegenden Messer und sprang wüthend und am ganzen Leibe zitternd auf.
„Was ist das?“ rief er. „Warum passest du mir auf? Warum bist du wach? Was hast du gesehen? Sprich, Bube — sprich, sprich, so lieb dir dein Leben ist!“
„Ich konnte nicht mehr schlafen,“ erwiderte Oliver bestürzt. „Es thut mir sehr leid, wenn ich Sie gestört habe, Sir.“
„Hast du nicht schon seit einer Stunde gewacht?“ zürnte der Jude.
„Nein, Sir — nein wahrlich nicht,“ sagte Oliver.
„Ist’s auch wahr?“ rief der Jude mit noch drohenderen Geberden.
„Auf mein Wort, Sir,“ versicherte Oliver.
„Schon gut, schon gut,“ fuhr der Jude, auf einmal sein gewöhnliches Wesen wieder annehmend, fort. „Ich weiss es wohl — wollte dich nur erschrecken — auf die Probe stellen. Du bist ein wackrer Junge, Oliver.“ Er rieb sich kichernd die Hände, blickte jedoch unruhig nach der Schachtel hin. „Hast du gesehen die hübschen Sachen? fragte er nach einigem Stillschweigen.
„Ja, Sir.“
„Ah!“ rief erblassend der Jude aus. „Sie — sind mein Eigenthum, Oliver; mein kleines Eigenthum — Alles, was ich besitze für meine alten Tage. Man schilt mich einen Geizhals — aber ich muss doch leben.“
Oliver dachte, der alte Herr müsse wirklich ein Geizhals sein, denn er würde sonst nicht, obgleich im Besitz solcher Schätze, so erbärmlich wohnen. Indess meinte er, seine Liebe zu Jack und den andern Knaben möchte ihm wol viel Geld kosten. Er fragte schüchtern, ob er aufstehen dürfe. Der Jude hiess ihn Wasser zur Waschen aus dem dastehenden Steinkruge holen, und als Oliver es geschöpft hatte und sich umdrehete, war die Schachtel verschwunden.
Er hatte sich kaum gewaschen, als der Baldoberer nebst einem der Knaben eintrat, die Oliver am vorigen Abend hatte rauchen sehen. Jack stellte ihm seinen Begleiter, Charley Bates, förmlich vor, und alle Vier setzten sich zum Frühstück, das Jack in seiner Hutkrone mitgebracht.
„Ich hoffe, dass ihr heute Morgen gearbeitet habt,“ sagte der Jude zu Jack, nach Oliver blinzelnd.
„Tüchtig,“ lautete die Antwort.
„Wie Drescher!“ setzte Charley Bates hinzu.
„Ah, ihr seid gute Jungen! Was hast du mitgebracht, Baldoberer?“
„Ein paar Brieftaschen,“ erwiderte Jack, und reichte ihm eine rothe und eine grüne.
Der Jude öffnete beide und durchsuchte sie mit bebender Begier. „Nicht so schwer, als sie sein könnten,“ bemerkte er; „aber doch artige Arbeit, recht artige Arbeit — nicht wahr, Oliver?“
„Ja wahrlich, Sir,“ antwortete Oliver, worüber Charley Bate, zur grossen Verwunderung Olivers, laut zu lachen anfing.
„Was hast du denn mitgebracht, Charley?“ fragte der Jude.
„Schneichen,“ erwiderte Master Bates, und wies vier Taschentücher vor.
Der Jude nahm sie in genauen Augenschein.
„Sie sind sehr gut,“ sagte er; „du hast sie aber nicht gezeichnet gut; die Buchstaben müssen wieder ausgelöst werden, und das soll Oliver lernen. Willst du, Oliver?“
„Wenn Sie es befehlen, gern, Sir,“ war Oliver’s Antwort.
„Möchtest du mir wol eben so leicht Taschentücher anschaffen können, wie Charley?“
„Warum nicht — wenn Sie es mir lehren wollen, Sir?“
Charley brach abermals in ein ausgelassenes Gelächter aus, und wäre dabei fast erstickt, da er eben einen Bissen zum Munde geführt hatte. „Er ist gar zu allerliebst grün!“ rief er endlich, gleichsam zur Entschuldigung seines unhöflichen Benehmens, aus.
Der Baldoberer bemerkte, Oliver würde seiner Zeit schon Alles lernen. Der Jude sah Oliver die Farbe wechseln, und lenkte das Gespräch auf einen andern Gegenstand. Er fragte, ob viele Zuschauer bei der Hinrichtung gewesen wären, und Oliver wurde noch verwunderter; denn aus den Antworten Jack’s und Charley’s ging hervor, dass sie Beide zugegen gewesen waren, und es war ihm unerklärlich, wie sie dessungeachtet so fleissig hatten arbeiten können.
Als das Frühstücken beendet war, spielten der muntere alte Herr und die beiden Knaben ein äusserst sonderbares und ungewöhnliches Spiel. Der alte Herr steckte eine Dose, eine Brieftafel und eine Uhr in seine Taschen, eine Brustnadel in sein Hemde, hing eine Uhrkette um den Hals, knöpfte den Rock dicht zu, ging auf und ab, blieb bisweilen stehen, als wenn er in einen Laden hineinsähe, blickte beständig umher, als wenn er Furcht vor Dieben hegte, befühlte seine Taschen, wie um sich zu überzeugen, ob er auch nichts verloren hätte, und machte das Alles so spasshaft und natürlich, dass Oliver lachte, bis ihm die Thränen über die Wangen hinabliefen. Die beiden Knaben verfolgten unterdess den Alten und entschwanden, wenn er sich umdrehete, seinen Blicken mit der bewunderungswürdigsten Behendigkeit. Endlich trat ihm der Baldoberer wie zufällig auf die Zehen, während Charley Bates von hinten gegen ihn anrannte, und sie entwendeten ihm dabei Taschentuch, Uhr, Brustnadel u. s. f. so geschickt, dass Oliver kaum ihren Bewegungen zu folgen vermochte. Fühlte der alte Herr eine Hand in einer seiner Taschen, so war der Dieb gefangen, und das Spiel fing von vorn wieder an.
Es war mehrere Male durchgespielt, als zwei junge Damen erschienen, um die jungen Herren zu besuchen. Die eine hiess Betsy, die andere Nancy. Ihr Haar war nicht in der genauesten Ordnung, ihre Schuhe und Strümpfe schienen nicht im besten Zustande zu sein. Sie waren vielleicht nicht eigentlich schön, hatten aber viel Farbe und ein kräftiges, munteres Aussehen. Ihre Manieren waren sehr frei und angenehm, und so meinte Oliver, dass sie sehr artige Mädchen wären, was sie auch ohne Zweifel waren.
Sie blieben lange. Es wurde geistiges Getränk gebracht, da die jungen Damen über innerliche Kälte klagten, und die munterste Unterhaltung entspann sich. Endlich erinnerte sich Charley Bates, dass es Zeit sei, auszugehen. Der gute alte Herr gab ihm und dem Baldoberer verschiedene Anweisungen und Geld zum Ausgeben, worauf sie sich nebst Betsy und Nancy entfernten.
„Ist’s nicht ein angenehmes Leben, das meine Knaben führen?“ sagte Fagin.
„Sind sie denn auf Arbeit ausgegangen?“ fragte Oliver.