Oliver Twist oder Der Weg eines Fürsorgezöglings - Charles Dickens - E-Book

Oliver Twist oder Der Weg eines Fürsorgezöglings E-Book

Charles Dickens.

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Beschreibung

Mit 24 Original Zeichnungen von George Cruikshank Dies ist die Geschichte des Findelkindes und Waisenjungen Oliver Twist, der ohne Kenntnisse über seine Herkunft im Armenhaus einer englischen Kleinstadt aufwächst. Als dem Jungen eine Anstellung beim ansässigen Sargtischler vermittelt wird, kann er den katastrophalen Zuständen im Waisenhaus entfliehen. Bald darauf flieht er nach einer Prügelei mit einem anderen Lehrling nach London. In London angekommen gerät er in die Fänge des Hehlers Fagin, der ihn vor dem sicheren Tod auf der Straße bewahrt, indem er ihn verköstigt und gleichzeitig mit dem Diebeshandwerk vertraut machen möchte. Dessen Schützlinge bilden eine Diebesbande, deren Anführer Fagin ist und die hauptsächlich aus Straßenjungen besteht. Auf seinem ersten richtigen Beutezug wird Oliver verhaftet und gelangt in die Hände eines gutmütigen Geschäftsmannes, der sich seiner annimmt. Es vergeht jedoch nur kurze Zeit, bis die Vergangenheit den ehemaligen Waisenjungen einholt... Null Papier Verlag

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Charles Dickens

Oliver Twist

Oder Der Weg eines Fürsorgezöglings

Charles Dickens

Oliver Twist

Oder Der Weg eines Fürsorgezöglings

(Oliver Twist; or, The Parish Boy’s Progress)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Gustav MeyrinkIllustrationen: George Cruikshank EV: Langen, München, 1914 4. Auflage, ISBN 978-3-943466-70-6

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Inhaltsverzeichnis

Au­tor und Werk

1 – Schil­dert den Ort, wo Oli­ver auf die Welt kam, so­wie die sei­ne Ge­burt be­glei­ten­den Um­stän­de.

2 – Wie Oli­ver Twist auf­wuchs, er­zo­gen und ver­pflegt wur­de.

3 – Be­rich­tet, wie Oli­ver Twist bei­na­he eine An­stel­lung be­kom­men hät­te, die nichts we­ni­ger als eine Si­ne­ku­re ge­we­sen wäre.

4 – Oli­ver er­hält eine Stel­le und tritt ins öf­fent­li­che Le­ben ein.

5 – Oli­ver be­kommt einen neu­en Ho­ri­zont und wohnt zum ers­ten Mal ei­nem Lei­chen­be­gäng­nis bei.

6 – Oli­ver rafft sich, durch Noah ge­reizt, zu tat­kräf­ti­gem Han­deln auf.

7 – Oli­ver bleibt ver­stockt.

8 – Oli­ver wan­dert nach Lon­don und trifft mit ei­nem sehr selt­sa­men jun­gen Gent­le­man zu­sam­men.

9 – Ent­hält wei­te­re Ein­zel­hei­ten über den lie­bens­wür­di­gen al­ten Herrn und sei­ne hoff­nungs­vol­len Zög­lin­ge.

10 – Oli­ver ge­winnt Ein­blick in die Cha­rak­terei­gen­schaf­ten sei­ner neu­en Kol­le­gen, be­zahlt aber sei­ne Er­fah­rung sehr teu­er.

11 – Der Po­li­zei­kom­mis­sär Mr. Fang zeigt sich als au­ßer­or­dent­lich tüch­ti­ger Jus­tiz­be­am­ter.

12 – Oli­ver fin­det eine bes­se­re Pfle­ge als je zu­vor, und un­se­re Ge­schich­te kehrt wie­der zu dem men­schen­freund­li­chen Mr. Fa­gin und sei­nen jun­gen Schütz­lin­gen zu­rück.

13 – Ei­ni­ge neue Per­so­nen wer­den vor­ge­stellt.

14 – Eine be­mer­kens­wer­te Pro­phe­zei­ung ei­nes ge­wis­sen Mr. Grim­wick über Oli­ver Twist.

15 – Zeigt, wie über­aus lieb der alte Jude und Miss Nan­cy Oli­ver Twist hat­ten.

16 – Was aus Oli­ver wur­de, nach­dem ihn Nan­cy mit Be­schlag be­legt hat­te.

17 – Zu Oli­vers Un­glück kommt ein großer Mann nach Lon­don.

18 – Wie Oli­ver sei­ne Zeit in Ge­sell­schaft sei­ner hoch­acht­ba­ren Freun­de ver­brach­te.

19 – Es wird ein höchst be­mer­kens­wer­ter Plan ge­fasst.

20 – Oli­ver wird Mr. Wil­liam Sikes über­ge­ben.

21 – Un­ter­wegs.

22 – Der Ein­bruch.

23 – Ent­hält den we­sent­lichs­ten Teil ei­ner an­mu­ti­gen Un­ter­re­dung zwi­schen Mr. Bum­ble und ei­ner Dame und er­bringt gleich­zei­tig den Be­weis da­für, dass auch ein Kirch­spiel­die­ner in man­chen Punk­ten äu­ßerst emp­find­lich sein kann.

24 – Han­delt von ei­ner sehr ar­men Per­son.

25 – Han­delt aber­mals von Mr. Fa­gin und Kon­sor­ten.

26 – Eine höchst ge­heim­nis­vol­le Per­son er­scheint.

27 – Eine frü­he­re Un­höf­lich­keit, mit der wir eine Dame im Sti­che ge­las­sen, wird wie­der gut ge­macht.

28 – Oli­vers wei­te­re Aben­teu­er.

29 – Han­delt von den Be­woh­nern des Hau­ses.

30 – Was die Da­men und Dok­tor Los­ber­ne von Oli­ver hiel­ten.

31 – Eine kri­ti­sche Si­tua­ti­on.

32 – Han­delt von dem glück­li­chen Le­ben, das Oli­ver bei sei­nen gü­ti­gen Freun­den zu füh­ren be­gann.

33 – Das Glück Oli­vers und das sei­ner Freun­de er­lei­det einen plötz­li­chen Stoß.

34 – Ein jun­ger Herr be­tritt den Schau­platz, und Oli­ver er­lebt ein neu­es Aben­teu­er.

35 – Das Re­sul­tat von Oli­vers Aben­teu­er und eine Un­ter­re­dung von ziem­li­cher Wich­tig­keit zwi­schen Har­ry und Rose.

36 – Ein kur­z­es Ka­pi­tel, aber im­mer­hin nicht un­wich­tig, da es das Vor­her­ge­hen­de er­ör­tert und zum Nach­fol­gen­den einen Schlüs­sel bie­tet.

37 – Ein Kon­trast, der im Ehe­stan­de nicht un­ge­wöhn­lich ist.

38 – Was sich zwi­schen Mr. und Mrs. Bum­ble und Mr. Monks bei ih­rer nächt­li­chen Zu­sam­men­kunft be­gab.

39 – Ei­ni­ge alte Be­kann­te tre­ten auf, und Fa­gin und Monks ste­cken die Köp­fe zu­sam­men.

40 – Eine selt­sa­me Un­ter­re­dung.

41 – Neu­er­li­che Ent­hül­lun­gen, die den Be­weis er­brin­gen, dass Über­ra­schun­gen wie Un­glücks­fäl­le sel­ten al­lein kom­men.

42 – Ein al­ter Be­kann­ter Oli­vers reift zu ei­nem öf­fent­li­chen Cha­rak­ter her­an.

43 – Der Bal­do­we­rer in der Pat­sche.

44 – Nan­cy wird ver­hin­dert, ihr Ver­spre­chen ein­zu­lö­sen.

45 – Noah Clay­po­le wird von Fa­gin als Spi­on ver­wen­det.

46 – Nan­cy er­füllt ihr Ver­spre­chen.

47 – Ver­häng­nis­vol­le Fol­gen.

48 – Sikes’ Flucht.

49 – Monks und Mr. Brow­n­low tref­fen zu­sam­men.

50 – Ver­geb­li­che Ver­fol­gung.

51 – Mehr als ein Ge­heim­nis wird auf­ge­deckt und ein Hei­rats­an­trag wird ge­macht, bei dem von Mit­gift nicht die Rede ist.

52 – Fag­ins letz­te Nacht.

53 – Was wei­ter noch zu be­rich­ten ist.

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und wei­te­re …

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Autor und Werk

Charles John Huf­fam Di­ckens (als Pseud­onym auch Boz; ✳ 7. Fe­bru­ar 1812 in Land­port bei Ports­mouth, Eng­land; † 9. Juni 1870 auf Ga­d’s Hill Place bei Ro­che­s­ter, Eng­land) war ein eng­li­scher Schrift­stel­ler und Jour­na­list. Er gilt als ei­ner der her­aus­ra­gends­ten Au­to­ren sei­ner Zeit und als ei­ner der ers­ten, die in rea­lis­ti­schen Schil­de­run­gen das Leid ei­ner un­ter­pri­vi­le­gier­ten Be­völ­ke­rung auf­zeich­ne­ten.

»Oli­ver Twist oder der Weg des Für­sor­ge­zög­lings« ist Di­ckens’ zwei­ter Ro­man und wahr­schein­lich sein heu­te be­kann­tes­tes Werk. Der Ro­man wur­de zu­nächst, wie die meis­ten von Di­ckens’ Wer­ken, als mo­nat­li­che Fort­set­zungs­ge­schich­te für einen Schil­ling kon­zi­piert und spä­ter über­ar­bei­tet.

Der Ro­man er­zählt die Ge­schich­te des Fin­del­kin­des und Wai­sen­jun­gen Oli­ver Twist, der im Ar­men­haus auf­wächst, ohne et­was über sei­ne Her­kunft zu wis­sen.

Er ge­rät in die Fän­ge des jü­di­schen Heh­lers Fa­gin, der ihn vor dem si­che­ren Tod auf der Stra­ße be­wahrt, aber für einen ho­hen Preis. Fag­ins Schütz­lin­ge bil­den eine Die­bes­ban­de. Der bru­ta­le Sikes und die ihm na­he­ste­hen­de Die­bin Nan­cy tre­ten eben­falls in Oli­vers Le­ben. In sol­cher Ge­sell­schaft le­bend und ler­nend wird Oli­ver ei­nes Ta­ges auf eine Die­bes­tour mit­ge­nom­men, die fa­ta­le Fol­gen für ihn hat. Nach­dem ein Op­fer be­merkt, dass es be­stoh­len wur­de, wird Oli­ver fälsch­li­cher­wei­se für den Dieb ge­hal­ten.

Oli­vers Schick­sal ist ein stän­di­ges Pen­deln zwi­schen Mo­men­ten des Glücks un­ter gu­ten Men­schen und den schlim­men Ge­scheh­nis­sen rund um Fag­ins Ver­bre­chen.

Der Ro­man war ein großer Er­folg. Vor al­lem durch sei­ne zum Teil dras­ti­sche Schil­de­rung von Kin­der­ar­beit, Ver­bre­chen und Mas­sen­ar­mut zur­zeit der eng­li­schen Früh­in­dus­tria­li­sie­rung. Er wur­de mehr­fach für Thea­ter, Kino, Fern­se­hen und Co­mic ad­ap­tiert.

Die­se nur leicht über­ar­bei­te­te Fas­sung ent­hält meh­re sehr schö­ne Ori­gi­nal­zeich­nun­gen von Ge­or­ge Cruiks­hank.

1 – Schildert den Ort, wo Oliver auf die Welt kam, sowie die seine Geburt begleitenden Umstände.

Un­ter an­de­ren öf­fent­li­chen Ge­bäu­den in ei­ner ge­wis­sen Stadt, die ich nicht nen­nen, der ich aber auch and­rer­seits kei­nen er­dich­te­ten Na­men bei­le­gen möch­te, be­fand sich ei­nes, wie es wohl die meis­ten Städ­te, ob groß oder klein, be­sit­zen, näm­lich ein Ar­beits­haus; und in die­sem wur­de ei­nes Ta­ges der klei­ne Welt­bür­ger ge­bo­ren, des­sen Name die­ses Buch trägt.

Lan­ge Zeit, nach­dem der Arzt des Kirch­spiels ihm zum Ein­tritt in die­se Welt der Mü­hen und Sor­gen ge­hol­fen, schi­en es recht zwei­fel­haft, ob er lan­ge ge­nug wür­de am Le­ben blei­ben, um über­haupt einen Na­men nö­tig zu ha­ben.

Ob­wohl ich nicht be­haup­ten möch­te, dass es viel­leicht ein glück­li­cher oder be­nei­dens­wer­ter Um­stand wäre, der ei­nem mensch­li­chen We­sen zu­sto­ßen könn­te, in ei­nem Ar­beits­haus ge­bo­ren zu wer­den, so schi­en es doch in die­sem be­son­dern Fall für Oli­ver Twist das Bes­te, was sich au­gen­blick­lich für ihn er­eig­nen konn­te. Im­mer­hin war es mit er­heb­li­chen Schwie­rig­kei­ten ver­bun­den, ihn so weit zu brin­gen, dass er sich der Auf­ga­be des At­mens selbst un­ter­zog, und eine Wei­le lang lag er als klei­ner Welt­bür­ger nach Luft schnap­pend auf ei­ner Woll­ma­trat­ze, be­denk­lich hin und her schwan­kend, ob er sich für die­se oder jene Welt ent­schei­den soll­te, wo­bei sich die Wage be­trächt­lich mehr für das Jen­seits als für das Dies­seits neig­te. Wäre Oli­ver in die­sem kri­ti­schen Zeit­ab­schnitt von be­sorg­ten Groß­müt­tern, ängst­li­chen Tan­ten, er­fah­re­nen Am­men und Ärz­ten voll tiefer Weis­heit um­ge­ben ge­we­sen, er hät­te selbst­ver­ständ­lich die Stun­de nicht über­lebt. Da je­doch nie­mand zu­ge­gen war als ein ar­mes al­tes Weib, das über­dies in­fol­ge des un­ge­wohn­ten Ge­nus­ses von Bier sich in ziem­lich an­ge­hei­ter­ter Stim­mung be­fand, und da auch der Kirch­spie­l­arzt die Sa­che ganz ge­wohn­heits­mä­ßig be­han­del­te, so focht Oli­ver sei­nen Kampf mit der Na­tur auf ei­ge­ne Faust aus. Und die Fol­ge da­von war, dass er nach kur­z­em Kamp­fe at­me­te, nies­te und end­lich den Be­woh­nern des Ar­beits­hau­ses die Tat­sa­che kund und zu wis­sen gab, dass er der Ge­mein­de eine neue Last auf­ge­bür­det habe – das heißt, ent­schlos­sen sei am Le­ben zu blei­ben. Er er­hob zu die­sem Zweck ein so lau­tes Ge­schrei, wie man es von ei­nem Kind männ­li­chen Ge­schlech­tes füg­lich nur er­war­ten durf­te.

Als Oli­ver die­sen ers­ten Be­weis selbst­stän­di­ger Tä­tig­keit gab, be­weg­te sich eine Fli­cken­de­cke, die nach­läs­sig über eine ei­ser­ne Bett­stel­le ge­wor­fen war, und das blei­che Ge­sicht ei­ner jun­gen Frau er­hob sich matt von dem har­ten Kis­sen, und eine schwa­che Stim­me hauch­te müh­sam die Wor­te: »Las­sen Sie mich das Kind se­hen; dann will ich gern ster­ben.«

Der Arzt, der, das Ge­sicht dem Feu­er zu­ge­wandt, am Ka­min saß und sich die Hän­de wärm­te, trat bei die­sen Wor­ten der jun­gen Frau an das Kop­fen­de des Bet­tes und sag­te mit mehr Freund­lich­keit im Ton, als man von ihm wohl er­war­tet hät­te: »Sie ha­ben durch­aus kei­nen Grund, ans Ster­ben zu den­ken.«

»I Gott be­wah­re«, misch­te sich die Wär­te­rin ein und ver­senk­te in ih­rer Ta­sche eine grü­ne Fla­sche, von de­ren In­halt sie sich bis­her in ei­ner ver­schwie­ge­nen Ecke mit sicht­li­chem Be­ha­gen ge­stärkt hat­te. »I Gott be­wahr, wenn sie erst amal so alt g’wor­den is wie ich, Herr Dok­tor, und drei­zehn Kin­der g’habt hat und ihr erst alle ge­stor­ben sein wer­den wie mir bis auf zwei, die jetzt mit mir zu­samm im Ar­beits­haus sin, dann wird sie schon auf ver­nünf­ti­ge­re Ge­dan­ken kom­men. Gott o Gott, den­ken Sie sich doch nur was es heißt, Mut­ter sein von so an hüb­schen klei­nen Bu­berl; ver­ges­sens dös net.«

Ihre tröst­li­chen Wor­te schie­nen in­des ihre Wir­kung zu ver­feh­len, denn die Wöch­ne­rin schüt­tel­te den Kopf und streck­te nur stumm ihre Arme nach dem Kin­de aus. Der Arzt reich­te es ihr, sie press­te ihre kal­ten blut­lee­ren Lip­pen hef­tig auf die Stirn des Kin­des, fuhr sich mit der Hand über das Ge­sicht, blick­te wild um­her, schau­der­te zu­sam­men, sank zu­rück – und starb. Sie rie­ben ihr Brust, Hän­de und Schlä­fen, aber das Herz hat­te für im­mer zu schla­gen auf­ge­hört. Sie spra­chen auf sie ein von Hoff­nung und Zu­kunft, aber Hoff­nung und Zu­ver­sicht wa­ren der Ar­men seit lan­gem fremd ge­wor­den.

»Es ist vor­bei mit ihr, Mrs. Thing­um­my«, sag­te der Arzt schließ­lich.

»Ja, ja die Arme«, sag­te die Wär­te­rin und bück­te sich nach dem Pfrop­fen der grü­nen Fla­sche, der auf das Kis­sen ge­fal­len war, als sie sich nie­der­ge­beugt, um das Kind auf­zu­neh­men. »Das arme Klei­ne.«

»Sie brau­chen nicht nach mir zu schi­cken, wenn das Kind schrei­en soll­te«, sag­te der Arzt und zog sich mit großer Sorg­falt sei­ne Hand­schu­he an. »Es wird wahr­schein­lich un­ru­hig wer­den, dann ge­ben Sie ihm et­was Ha­fer­schleim.« Da­mit setz­te er sei­nen Hut auf und frag­te, als er auf sei­nem Weg zur Tür an dem Bett vor­über­kam. »Es war eine recht hüb­sche Per­son, wo ist sie denn her­ge­kom­men?«

»Man hat sie ges­tern Nacht her­ge­schafft«, er­wi­der­te die alte Frau, »auf Be­fehl des Herrn Vor­stands. Man hat sie auf der Gas­se lie­gend ge­fun­den. Sie muss hübsch weit her­ge­kom­men sein, denn ihre Schu­he wa­ren zer­ris­sen; aber wo sie her­kom­men ist oder wo­hin sie hat ge­hen wol­len, weiß nie­mand.«

Der Arzt beug­te sich über die Tote und er­griff ihre lin­ke Hand. »Die alte Ge­schich­te«, mur­mel­te er kopf­schüt­telnd, »kein Ehe­ring, wie ich sehe. Also gute Nacht.«

Da­mit ging er zu sei­nem Abendes­sen, und die Wär­te­rin setz­te sich, nach­dem sie noch ein­mal der grü­nen Fla­sche zu­ge­spro­chen, auf einen Stuhl in der Nähe des Ka­mins und be­gann das Kind in Win­deln zu wi­ckeln.

Da sah man wie­der, wie wahr das Wort ist, dass Klei­der Leu­te ma­chen: bis­her in ein Tuch gehüllt und in sonst nichts, hät­te Oli­ver eben­so gut das Kind ei­nes Ade­li­gen wie das ei­nes Bett­lers sein kön­nen, aber jetzt, wo er in dem al­ten Kat­tun­steck­kis­sen un­ter­ge­bracht war, des­sen Far­be in lang­jäh­ri­gem Dienst zu ei­nem häss­li­chen Gelb ver­schos­sen war, sah man ihm so­fort das Wai­sen­kind des Ar­beits­hau­ses an, das nur dazu da war, durch die Welt ge­k­nufft zu wer­den, ver­spot­tet und ver­ach­tet von je­der­mann und von nie­mand be­mit­lei­det. Oli­ver schrie aus vol­lem Hal­se. Hät­te er ge­wusst, dass er eine Wai­se war und nur der Barm­her­zig­keit von Kir­chen­vor­ste­hern aus­ge­lie­fert, hät­te er wahr­schein­lich noch viel lau­ter ge­schri­en.

2 – Wie Oliver Twist aufwuchs, erzogen und verpflegt wurde.

Die nächs­ten acht bis zehn Mo­na­te war Oli­ver das Op­fer sys­te­ma­ti­scher Säug­lings­für­sor­ge. Er wur­de mit der Fla­sche auf­ge­zo­gen. Von der elen­den Lage des klei­nen Wai­sen­jun­gen mach­te man sei­tens der Vor­stän­de des Ar­beits­hau­ses pflicht­ge­mäß de­nen des Kirch­spiels Mel­dung, wor­auf von letz­te­ren in al­ler Form die An­fra­ge ein­lief, ob sich denn nicht im »Hau­se« eine Frau­ens­per­son be­fän­de, die in der Lage sei, Oli­ver sei­ne na­tür­li­che Nah­rung rei­chen zu kön­nen. Der Vor­stand des Ar­men­ar­beits­hau­ses er­wi­der­te dar­auf un­ter­tä­nigst, dass dies lei­der nicht der Fall sei, wor­auf die Kirch­spiel­be­hör­de den hoch­her­zi­gen Ent­schluss fass­te, Oli­ver in ein etwa drei Mei­len ent­fern­tes Zweig­ar­men­haus brin­gen zu las­sen, wo etwa zwan­zig an­de­re klei­ne Über­tre­ter des Zu­stän­dig­keits­ge­set­zes un­ter der müt­ter­li­chen Auf­sicht und ohne all­zu sehr mit Nah­rung oder Klei­dung be­hel­ligt zu wer­den auf dem Stu­ben­fuß­bo­den um­her­kol­ler­ten, was mit acht­ein­halb Pence pro Kopf und Wo­che in Rech­nung ge­stellt wur­de. Mit acht­ein­halb Pence lässt sich nicht viel be­strei­ten, aber die wür­di­ge Haus­da­me war eine klu­ge und er­fah­re­ne Frau und wuss­te, wie leicht sich Kin­der über­fres­sen kön­nen und was ih­nen zu­träg­lich ist; and­rer­seits aber auch, was ihr selbst zu­träg­lich war. Sie ver­wen­de­te da­her den grö­ße­ren Teil des Kost­gel­des zu ih­rem ei­ge­nen Wohl und ver­stand es auf die­se Wei­se, die ge­setz­li­che Grau­sam­keit noch um ein Be­trächt­li­ches zu ver­tie­fen; sie be­wies da­mit, wie weit sie es in der Ex­pe­ri­men­tal­phi­lo­so­phie auf ei­ge­ne Faust ge­bracht hat­te.

Wohl je­der kennt die Ge­schich­te des be­kann­ten Ex­pe­ri­men­tal­phi­lo­so­phen, der sich vor­ge­nom­men hat­te, ei­nem Pfer­de das Fres­sen ab­zu­ge­wöh­nen, und die­se Theo­rie so vor­züg­lich in die Pra­xis um­setz­te, dass er sein Pferd bis auf einen Stroh­halm pro Tag her­un­ter­trä­nier­te und zwei­felsoh­ne ein au­ßer­or­dent­li­ches, kräf­ti­ges, je­dem Fut­ter ab­hol­des Tier aus ihm ge­macht ha­ben wür­de, wäre es nicht lei­der vier­und­zwan­zig Stun­den vor dem ers­ten kom­plet­ten Fast­tag ge­stor­ben. Lei­der wa­ren die Er­fol­ge der er­wähn­ten treff­li­chen Kost­frau nicht sel­ten, was die Kirch­spiel­kin­der an­be­lang­te, von glei­chem Mis­ser­folg ge­krönt, in­dem die Klei­nen ent­we­der vor Käl­te oder Hun­ger, oder weil sie sich töd­lich ver­letz­ten oder ver­brann­ten, früh­zei­tig star­ben und zu ih­ren Vä­tern, die sie nie ge­kannt, ver­sam­melt wur­den.

Stell­ten wirk­lich ein­mal die Vor­stän­de schär­fe­re Nach­for­schun­gen als sonst nach dem Ver­bleib ir­gend ei­nes Wai­sen­kin­des an, oder misch­te sich das Ge­richt hin­ein und be­schwer­te sich den Kopf mit über­flüs­si­gen Fra­gen, so schütz­te das Zeug­nis und die Aus­sa­ge des Arz­tes und des Kirch­spiel­die­ners die Treff­li­che je­des Mal ge­gen Un­ge­mach. Je­des Mal hat­te der ers­te­re dann die Lei­chen ge­öff­net und be­greif­li­cher­wei­se nichts dar­in ge­fun­den, oder letz­te­rer be­schwor rast­los, was dem Kirch­spiel pass­te, und lie­fer­te da­mit einen Be­weis sei­ner Hin­ge­bung und Selb­st­auf­op­fe­rung. Be­such­te das Vor­stands­kol­le­gi­um von Zeit zu Zeit ein­mal die Zwei­g­an­stalt des Ar­beits­hau­ses, so ver­säum­te es nie, je­des Mal tags zu­vor den Kirch­spiel­die­ner vor­aus­zu­sen­den, da­mit auch al­les in Ord­nung sei. Und je­des Mal sa­hen dann die Klei­nen rein­lich und gut ge­nährt aus -! Was konn­te man mehr ver­lan­gen.

Dass die­ses Pfle­ge- und Er­näh­rungs­sys­tem ein all­zu kräf­ti­ges Ge­dei­hen der Kin­der zur Fol­ge ge­habt hät­te, ließ sich nicht er­war­ten, und so zeig­te sich denn auch Oli­ver Twist von sei­nem neun­ten Ge­burts­ta­ge an als ein schwa­ches, bläss­li­ches, im Wachs­tum zu­rück­ge­blie­be­nes Kind. Den­noch leb­te, ob von Na­tur oder als Erb­schaft sei­ner Vor­fah­ren, in Oli­vers Brust ein kräf­ti­ger ener­gi­scher Geist, der dank der stren­gen Diät des Hau­ses Raum ge­nug hat­te, sich noch wei­ter zu ent­fal­ten.

Es war an Oli­vers neun­tem Ge­burts­ta­ge. Wäh­rend er die­se Fei­er im Koh­len­kel­ler zu­sam­men mit zwei an­de­ren jun­gen Herrn be­ging, die sich gleich ihm von ei­ner or­dent­li­chen Tracht Prü­gel er­hol­ten, die ih­nen zu­teil ge­wor­den, weil sie sich er­frecht hat­ten hung­rig ge­we­sen zu sein, wur­de Mrs. Mann, die treff­li­che Pfle­ge­frau, durch das plötz­li­che Er­schei­nen Mr. Bum­bles, des Kirch­spiel­die­ners, der sei­ne Schrit­te dem Gar­ten­p­fört­chen zu­lenk­te, in Schre­cken ge­setzt.

»Du mein Gott, Mr. Bum­bles, sind Sie’s wirk­lich?« rief Mrs. Mann und steck­te den Kopf an­schei­nend hoch­er­freut aus dem Fens­ter. »Su­san­na! Ho­len Sie gleich den klei­nen Oli­ver her­auf und die bei­den an­de­ren Laus­bu­ben und wa­schen Sie sie – ach, Mr. Bum­bles, wie ich mich freue, Sie wie­der ein­mal zu se­hen!«

Mr. Bum­ble war nun aber ein wohl­be­leib­ter und eben­so heiß­blü­ti­ger Herr, und da­her rüt­tel­te er an­statt auf die­se freund­li­che Be­will­komm­nung in höf­li­cher­wei­se zu ant­wor­ten, wü­tend an der Gar­ten­pfor­te und stieß mit dem Fuß in ei­ner Wei­se da­ge­gen, wie sie eben nur ein Kirch­spiel­die­ner be­herrscht.

»Gott im Him­mel«, rief Mrs. Mann aus dem Zim­mer stür­zend – die drei Jun­gen hat­te man in­zwi­schen weg­ge­bracht -, »ich habe ganz ver­ges­sen, dass ich der lie­ben Klei­nen we­gen das Gat­ter­tor von in­nen ver­rie­gelt habe. So spa­zie­ren Sie doch wei­ter, Sir. Bit­te, tre­ten Sie ein, Mr. Bum­ble.«

Ihre Ein­la­dung war von ei­nem so freund­li­chen Lä­cheln be­glei­tet, dass es si­cher­lich so­gar das Herz ei­nes Kir­chen­pres­by­ters er­weicht ha­ben wür­de; den­noch be­sänf­tig­te es den Kirch­spiel­die­ner nicht im min­des­ten.

»Nen­nen Sie das einen re­spekt­vol­len Empfang, Mrs. Mann?« frag­te Mr. Bum­ble und fass­te sei­nen Amts­stab noch fes­ter, »dass Sie die Kirch­spiel­be­am­ten an Ih­rer Türe war­ten las­sen, wenn sie in Par­ochi­al­an­ge­le­gen­hei­ten und in be­treff der Par­ochi­al­kin­der hier­her kom­men? Sie wis­sen doch, Mrs. Mann, dass Sie von der Par­ochi­al­be­hör­de an­ge­stellt sind und von der Par­ochi­al­be­hör­de be­zahlt wer­den!«

»Ich er­zähl­te ge­ra­de ei­nem paar der lie­ben Klei­nen, Mr. Bum­ble, de­rent­we­gen Sie so freund­lich sind sich her­zu­be­mü­hen, dass Sie kom­men wür­den«, wen­de­te Mrs. Mann mit großer Un­ter­wür­fig­keit ein.

Mr. Bum­ble hat­te eine sehr hohe Mei­nung von sei­ner Red­ner­ga­be und sei­ner amt­li­chen Wich­tig­keit. Er hat­te so­eben die eine ent­fal­tet und die an­de­re ge­wahrt. Er schlug da­her einen mil­de­ren Ton an.

»Nun, nun, Mrs. Mann«, sag­te er, »ich be­zweifle das ja gar nicht. Las­sen Sie mich aber jetzt hin­ein, Mrs. Mann. Ich kom­me in Ge­schäf­ten und habe Ih­nen et­was mit­zu­tei­len.«

Mrs. Mann führ­te den Kirch­spiel­die­ner in ein klei­nes Sprech­zim­mer, bot ihm einen Ses­sel an und leg­te dienst­be­flis­sen sei­nen drei­e­cki­gen Hut und sei­nen Amts­stab auf den Tisch. Mr. Bum­ble wisch­te sich den Schweiß von der Stirn, blick­te wohl­ge­fäl­lig auf sei­nen Drei­spitz und lä­chel­te. Wirk­lich und wahr­haf­tig, er lä­chel­te! Aber Kirch­spiel­die­ner sind eben auch nur Men­schen, da­her lä­chel­te Mr. Bum­ble.

»Sie dür­fen jetzt nicht be­lei­digt sein we­gen dem, was ich Ih­nen sa­gen will«, be­gann Mrs. Mann mit be­stri­cken­der Lie­bens­wür­dig­keit. »Sie ha­ben einen wei­ten Weg hin­ter sich, sonst wür­de ich gar nicht da­von an­fan­gen, aber sa­gen Sie, wol­len Sie nicht ein Gläs­chen neh­men?«

»Nicht einen Trop­fen, nicht einen Trop­fen«, wehr­te Mr. Bum­ble ab und schwenk­te sei­ne Rech­te in wür­de­vol­ler, aber freund­li­cher­wei­se.

»Sie wer­den mir ge­wiss den Ge­fal­len tun«, be­harr­te Mrs. Mann auf ih­rer Bit­te, den Ton, in dem die Wei­ge­rung ge­spro­chen wor­den, aber auch die be­glei­ten­de Ge­bär­de wohl er­fas­send. »Nur ein ganz klei­nes Gläs­chen mit ei­nem bis­sel kal­tem Was­ser und ei­nem Stück­chen Zu­cker?«

Mr. Bum­ble hüs­tel­te.

»Nur ein ganz klei­nes Gläs­chen«, wie­der­hol­te Mrs. Mann ihre Bit­te in drin­gen­dem Ton.

»Was ist es denn?« frag­te der Kirch­spiel­die­ner.

»Ach Gott, ich muss im­mer ein bis­serl da­von hier ha­ben, dass ich den lie­ben Klei­nen eine klei­ne Herz­stär­kung ge­ben kann, wenn ih­nen nicht recht gut ist, Mr. Bum­ble«, er­wi­der­te Mrs. Mann, öff­ne­te ein Schränk­chen und hol­te eine Fla­sche und ein Glas her vor. »Es ist Ge­ne­vre, ich will Ih­nen nichts vor­ma­chen, Mr. Bum­ble, es ist nur Ge­ne­vre.«

»Ge­ben Sie denn den Kin­dern Schnaps, Mrs. Mann?« frag­te der Kirch­spiel­die­ner und ver­folg­te mit den Bli­cken den in­ter­essan­ten Pro­zess der Mi­schung.

»O mein, ich tu­e’s halt, so teu­er es auch kom­men mag«, ver­setz­te die Pfle­ge­frau. »Sie wis­sen doch, ich könnt die ar­men Klei­nen nie­mals nicht lei­den se­hen.«

»Nein, nein«, sag­te Mr. Bum­ble zu­stim­mend, »Sie kön­nen es nicht. Sie sind über­haupt eine sehr hu­ma­ne Frau« – da­bei setz­te sie das Glas vor ihn hin – »ich wer­de nicht ver­säu­men, bei der nächs­ten bes­ten Ge­le­gen­heit es den Vor­stän­den ge­gen­über zur Spra­che zu brin­gen, Mrs. Mann«, (da­bei zog er das Glas nä­her zu sich) »Sie füh­len wie eine Mut­ter«, (da­bei er­griff er das Glas) »ich trin­ke hier­mit auf Ihre Ge­sund­heit, Mrs. Mann« (da­bei goss er das Glas zur Hälf­te hin­un­ter). »So und jetzt wol­len wir vom Ge­schäft re­den«, sag­te er und hol­te ein le­der­nes Ta­schen­buch her­vor. »Der Kna­be, der in der Wai­sen­tau­fe den Na­men Oli­ver Twist be­kom­men hat, wird heu­te neun Jah­re alt.«

»Got­tes Se­gen über ihn«, warf Mrs. Mann da­zwi­schen und konn­te nicht um­hin, sich die Au­gen mit der Schür­ze zu trock­nen.

»Trotz der aus­ge­schrie­be­nen Be­loh­nung von zehn Pfund, und spä­ter so­gar von zwan­zig Pfund, und trotz der ge­ra­de­zu über­na­tür­li­chen An­stren­gun­gen des Kirch­spiels«, fuhr Mr. Bum­ble fort, »sind wir nicht im­stan­de ge­we­sen, sei­nen Va­ter zu eru­ie­ren oder in Er­fah­rung zu brin­gen, wie sei­ne Mut­ter hieß, was sie war und wo­her sie stamm­te.«

Mrs. Mann hob er­staunt die Hän­de gen Him­mel, dach­te einen Au­gen­blick nach und frag­te: »Wie kommt es denn dann, dass er über­haupt einen Na­men hat?«

Der Kirch­spiel­die­ner warf sich in die Brust und ant­wor­te­te: »Den hab ich er­fun­den.«

»Sie, Mr. Bum­ble?«

»Ja­wohl, ich, Mrs. Mann. Wir be­nen­nen uns­re Zög­lin­ge im­mer nach dem Al­pha­bet. Zu­letzt hiel­ten wir bei S – Swub­ble, so nann­te ich das vor­letz­te Wai­sen­kind, und der nächs­te war ein T – Twist; ich habe eben­falls den Na­men er­fun­den. Wenn wie­der ei­ner kommt, wird er Un­win hei­ßen, und der Nächst­fol­gen­de Vil­kins. Ich habe mir schon eine gan­ze Rei­he von Na­men aus­ge­dacht, durchs gan­ze Al­pha­bet hin­durch; und wenn ich bei Z an­ge­kom­men bin, fan­ge ich beim A wie­der an.«

»Ja, ja, Sie sind halt fast ein Dich­ter«, sag­te Mrs. Mann.

»Nun, nun, mag sein«, gab der Kirch­spiel­die­ner zu, durch die­ses Kom­pli­ment sicht­lich ge­schmei­chelt; »mag sein, Mrs. Mann.« Da­mit trank er sein Glas aus und setz­te hin­zu: »Oli­ver ist jetzt schon viel zu alt, um noch län­ger hier blei­ben zu dür­fen. Des­halb hat die Be­hör­de be­schlos­sen, ihn wie­der zu­rück ins Ar­beits­haus zu neh­men. Ich bin sel­ber her­ge­kom­men, um ihn ab­zu­ho­len. Wo steckt er?«

»Ich wer­de ihn so­gleich ho­len«, sag­te Mrs. Mann und ging zur Türe.

Gleich dar­auf er­schi­en sie wie­der mit Oli­ver, der in­zwi­schen ge­wa­schen, ge­strie­gelt und an­ge­klei­det wor­den war.

»Mach ein Buckerl vor dem Herrn, Oli­ver«, sag­te sie.

Oli­ver mach­te einen Kratz­fuß, der zur Hälf­te dem Kirch­spiel­die­ner und zur an­de­ren Hälf­te dem Drei­spitz auf dem Ti­sche galt.

»Willst du mit mir ge­hen, Oli­ver?« frag­te Mr. Bum­ble fei­er­lichst.

Oli­ver woll­te schon ant­wor­ten, dass er je­der­zeit aufs be­reit­wil­ligs­te mit wem im­mer fort­zu­ge­hen wil­lens sei, blick­te aber zu­fäl­lig da­bei Mrs. Mann an, die hin­ter den Stuhl des Kirch­spiel­die­ners ge­tre­ten war und Oli­ver mit fürch­ter­li­cher Mie­ne mit der Faust droh­te. Er be­griff so­fort, denn er wuss­te nur zu gut, was die­se Faust al­les ver­moch­te.

»Kommt sie auch mit?« frag­te er schüch­tern.

»Nein, sie kann nicht mit­kom­men«, sag­te Mr. Bum­ble, »aber sie wird dich schon zu­wei­len be­su­chen dür­fen.«

Das war ge­wiss kein be­son­de­rer Trost für Oli­ver, aber trotz sei­ner Ju­gend hat­te er Grüt­ze ge­nug, sich zu stel­len, als ver­lie­ße er das Haus nur un­gern, und über­dies wa­ren ihm die Trä­nen in­fol­ge des ewi­gen Hun­ger­lei­dens und der erst vor kur­z­em er­fah­re­nen Züch­ti­gung nä­her als das La­chen. Wie­der­holt um­arm­te ihn Mrs. Mann und gab ihm, was er am meis­ten brauch­te, näm­lich ein großes Stück But­ter­brot, da­mit er im Ar­beits­haus nicht all­zu hung­rig an­käme. Da­mit war die Sa­che ab­ge­macht. Mit dem Stück Brot in der Hand und sei­ner klei­nen Wai­sen­jun­gen­kap­pe aus brau­nem Tuch auf dem Kopf, wur­de er so­gleich von Mr. Bum­ble aus dem fürch­ter­li­chen Heim ge­führt, wo nie­mals der Strahl ei­nes freund­li­chen Blickes die Fins­ter­nis sei­ner ers­ten Kin­der­jah­re er­hellt hat­te. Den­noch konn­te er Trä­nen kind­li­chen Schmer­zes nicht zu­rück­drän­gen, als sich das Gar­ten­tor hin­ter ihm schloss; ver­ließ er doch sei­ne Lei­dens­ge­fähr­ten, die ein­zi­gen Ka­me­ra­den, die er je ge­kannt, und jetzt zum ers­ten Mal, seit er wuss­te, was Erin­ne­rung ist, wur­de ihm das Ge­fühl gänz­li­cher Ver­las­sen­heit in der großen wei­ten Welt be­wusst.

Mit schnel­len Schrit­ten eil­te Mr. Bum­ble vor­wärts, und der klei­ne Oli­ver klam­mer­te sich an sei­ne mit Gold­b­or­ten be­setz­ten Schö­ße, trot­te­te ne­ben ihm her und frag­te, als sie kaum eine Vier­tel­mei­le hin­ter sich hat­ten, ob sie bald am Zie­le wä­ren. Auf die­se öf­ters wie­der­hol­ten Fra­gen gab Mr. Bum­ble je­des Mal nur sehr kur­ze und brum­mi­ge Ant­wor­ten, denn die Mil­de, die der Ge­ne­vre mit heißem Was­ser ge­mischt in sei­nem Ge­müt viel­leicht er­zeugt ha­ben müss­te, war längst ver­flo­gen, und er fühl­te sich wie­der Kirch­spiel­die­ner vom Schei­tel bis zur Soh­le.

Oli­ver war noch nicht eine Vier­tel­stun­de in­ner­halb der Mau­ern des Ar­beits­hau­ses und hat­te kaum ein zwei­tes Stück­chen Brot ver­schlun­gen, als Mr. Bum­ble, der ihn der Ob­hut ei­ner al­ten Frau in­zwi­schen an­ver­traut, zu­rück­kehr­te und ihm er­klär­te, die Her­ren Vor­stän­de hät­ten be­foh­len, er sol­le un­ver­züg­lich vor ih­nen er­schei­nen.

Oli­ver, der kei­ne be­son­ders kla­re Vor­stel­lung von dem hat­te, was ein Vor­stand al­les sein kann, war von die­ser über­ra­schen­den Mit­tei­lung förm­lich be­täubt und wuss­te nicht, ob er la­chen oder wei­nen soll­te. Es blieb ihm je­doch kei­ne Zeit über die­sen Punkt ins rei­ne zu kom­men, denn Mr. Bum­ble ver­setz­te ihm eins mit dem Stock über den Kopf, um sei­ne Geis­tes­kräf­te zu er­we­cken, und eins über den Rücken, um ihn zur Eile an­zu­spor­nen. Dann be­fahl er, ihm zu fol­gen, und führ­te ihn in ein großes weiß­ge­tünch­tes Zim­mer, in dem acht oder zehn wohl­be­leib­te Her­ren um einen Tisch her­umsa­ßen. Zu oberst in ei­nem Arm­stuhl, der ein biss­chen hö­her war als die üb­ri­gen, ein ganz be­son­ders wohl­be­leib­ter Herr mit ei­nem ku­gel­run­den ro­ten Kopf.

»Mach’ den Herrn Vor­stän­den dei­ne Ver­beu­gung«, be­fahl Mr. Bum­ble.

Oli­ver wisch­te sich die Trä­nen aus den Au­gen und, da er nicht recht be­griff, wer von den An­we­sen­den die Her­ren Vor­stän­de sein könn­ten, mach­te er in­stink­tiv und aufs Ge­ra­te­wohl einen Kratz­fuß.

»Wie heißt du, Jun­ge?« frag­te der Herr auf dem ho­hen Stuhl.

Oli­ver zit­ter­te am gan­zen Leib, denn der An­blick so vie­ler Gent­le­men brach­te ihn gänz­lich au­ßer Fas­sung. Mr. Bum­ble ver­such­te ihn durch eine kräf­ti­ge Berüh­rung mit sei­nem Kirch­spiel­diener­stab zu be­leh­ren, und das hat­te zur Fol­ge, dass er wie­der­um an­fing zu wei­nen. Er ant­wor­te­te da­her mit lei­ser und zag­haf­ter Stim­me, und das ver­an­lass­te einen Herrn in ei­ner wei­ßen Wes­te aus­zu­ru­fen, er wäre ein dum­mer Jun­ge – das bes­te Mit­tel, ihm Mut ein­zu­flö­ßen.

»Jun­ge«, be­gann der Herr in dem ho­hen Stuhl aber­mals, »höre jetzt, was ich dir zu sa­gen habe. Du weißt doch, dass du ein Wai­sen­kind bist?«

»Was ist das, Sir?« frag­te der un­glück­li­che Oli­ver.

»Er ist wirk­lich ein dum­mer Jun­ge, ich hab’ mir’s gleich ge­dacht«, sag­te der Herr mit der wei­ßen Wes­te.

»Du weißt doch«, nahm der ers­te Herr wie­der das Wort, »dass du we­der Va­ter noch Mut­ter hast und vom Kirch­spiel er­zo­gen wirst?«

»Ja«, ant­wor­te­te Oli­ver un­ter Trä­nen.

»Wa­rum heulst du?« frag­te der Herr mit der wei­ßen Wes­te, denn es war doch höchst auf­fal­lend, dass Oli­ver wein­te. Wel­chen Grund konn­te er nur ha­ben?

»Ich hof­fe, du be­test doch je­den Abend«, frag­te ein an­de­rer Gent­le­man in bar­schem Ton, »und be­test für die, die dir zu es­sen ge­ben und für dich sor­gen, so wie es ei­nem Chris­ten­menschen ge­ziemt.«

»Ja, Sir«, hauch­te Oli­ver. In Wirk­lich­keit hat­te er je­doch nie ge­be­tet, weil es ihn nie­mand ge­lehrt hat­te.

»Man hat dich hier­her­ge­ru­fen«, fuhr der Prä­si­dent fort, »um dich er­zie­hen zu las­sen, und da­mit du ein nütz­li­ches Hand­werk lernst.« – »Du wirst also mor­gen früh um sechs Uhr an­fan­gen Werg zu zup­fen«, setz­te der mür­ri­sche Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te hin­zu.

Zum Dank für die An­kün­di­gung die­ser bei­den Wohl­ta­ten mach­te Oli­ver un­ter Nach­hil­fe des Kirch­spiel­die­ners einen tie­fen Kratz­fuß vor den »Her­ren Vor­stän­den« und wur­de dann in einen großen Saal ge­steckt, wo er sich auf ei­nem har­ten rau­en Bett in den Schlaf wei­nen durf­te.

Der arme Oli­ver ahn­te nicht, wie er so dalag und schlief, dass die Her­ren Vor­stän­de noch am sel­ben Tage zu ei­nem Ent­schluss ge­lang­ten, der von größ­tem Ein­fluss auf sein künf­ti­ges Ge­schick sein soll­te.

Die Her­ren Vor­stands­mit­glie­der wa­ren äu­ßerst klu­ge Män­ner von tiefer phi­lo­so­phi­scher Ein­sicht, und kaum hat­ten sie ihre Tä­tig­keit dem Ar­beits­hau­se und was da­mit zu­sam­men­hing zu­ge­wen­det, so fan­den sie auch so­fort her­aus, was ein ge­wöhn­li­cher Sterb­li­cher kaum je­mals ent­deckt hät­te, näm­lich: dass es dar­in den Ar­men ganz über Ge­bühr gut gehe. Als wäre das Ar­beits­haus nichts als ein öf­fent­li­ches Ver­gnü­gungs­lo­kal für die är­me­ren Klas­sen, eine Knei­pe, in der man nichts zu be­zah­len brau­che, ein Ort, an dem man auf Kos­ten der Ge­mein­de Früh­stück, Mit­ta­ges­sen, Tee und Abend­brot ein­neh­men kön­ne – ein Ely­si­um aus Zie­gel­stei­nen und Mör­tel, in dem ge­scherzt und ge­spielt, in Wirk­lich­keit aber nicht ge­ar­bei­tet wür­de. Wir sind die rich­ti­gen Män­ner, um hier Ord­nung zu schaf­fen, sag­te sich die Vor­stand­schaft. Und so ord­ne­ten sie denn an, dass alle ar­men Leu­te die Wahl ha­ben soll­ten – von Zwang kön­ne na­tür­lich kei­ne Rede sein -, ent­we­der lang­sam und nach und nach im Ar­beits­haus zu ver­hun­gern, oder schnell und plötz­lich au­ßer­halb. Von die­sem Ge­sichts­punk­te aus schlos­sen sie mit den Was­ser­wer­ken einen Ver­trag über Lie­fe­rung ei­ner un­be­grenz­ten Men­ge Trink­was­sers und mit ei­nem Ge­trei­de­händ­ler einen eben­sol­chen, was die je­wei­li­ge Lie­fe­rung von klei­nen Quan­ti­tä­ten Ha­fer­mehl an­be­lang­te, und ga­ben täg­lich drei Por­tio­nen Ha­fer­schleim aus und au­ßer­dem zwei­mal wö­chent­lich eine Zwie­bel dazu pro Mahl­zeit und Sonn­tags eine hal­be Sem­mel.

Im ers­ten Halb­jahr nach Oli­vers An­kunft war das Sys­tem be­reits in vol­lem Gan­ge. Der Raum, in dem die Kna­ben ihr Es­sen be­ka­men, war eine Art Kü­che, und der Koch, von ein paar Frau­en­zim­mern un­ter­stützt, teil­te ih­nen aus ei­nem Kup­fer­kes­sel ihre drei Por­tio­nen Ha­fer zu – einen Napf voll und nicht mehr, aus­ge­nom­men, wie ge­sagt, die Sonn- und Fei­er­ta­ge, wo ein nicht all­zu großes Stück­chen Brot da­zu­kam. Die Näp­fe aus­zu­wa­schen war über­flüs­sig, da die Jun­gen mit ih­ren Löf­feln so­wie­so so lan­ge dar­in her­um­kratz­ten, bis al­les wie­der glän­zend war. Und wenn sie mit ih­rer Tä­tig­keit fer­tig wa­ren, was nie all­zu lan­ge Zeit in An­spruch nahm, da die Löf­fel bei­na­he so groß wa­ren wie die Näp­fe sel­ber, – sa­ßen sie da und starr­ten auf den Kup­fer­kes­sel mit so gie­ri­gen Au­gen, als ob sie am liebs­ten so­gar die Zie­gel­stei­ne, aus de­nen der Herd auf­ge­baut war, ver­schlun­gen hät­ten, und saug­ten da­bei an ih­ren Fin­gern in der Hoff­nung, dort viel­leicht noch ir­gend­wo ein ver­irr­tes Tröpf­chen Ha­fer­schleim auf­zu­le­cken. Kin­der pfle­gen näm­lich einen vor­treff­li­chen Ap­pe­tit zu ha­ben.

Drei Mo­na­te lang hat­ten Oli­ver und sei­ne Ka­me­ra­den die Qua­len lang­sa­men Hun­ger­to­des durch­ge­macht und wa­ren kaum mehr im­stan­de, die­sen Zu­stand län­ger zu er­tra­gen. Ein für sein Al­ter sehr großer Jun­ge, des­sen Va­ter Koch ge­we­sen war, gab ei­nes Ta­ges sei­nen Ge­fähr­ten zu ver­ste­hen, wenn er nicht bald eine Schüs­sel Ha­fer­schleim pro Tag mehr be­kom­me, so wür­de er sich nicht hel­fen kön­nen und müs­se höchst wahr­schein­lich ei­nes Nachts sei­nen Schlaf­nach­bar auf­fres­sen. Die­ser Viel­fraß hat­te ein wil­des hung­ri­ges Auge, und sei­ne Re­den rie­fen große Angst un­ter sei­nen Ka­me­ra­den her­vor. So be­rat­schlag­ten sie un­ter­ein­an­der, und es wur­de ge­lost, wer von ih­nen nach dem Abendes­sen zum Spei­se­meis­ter ge­hen und noch um einen Napf bit­ten sol­le. Das Los fiel auf Oli­ver.

Der Abend kam, und die Jun­gen nah­men ihre Plät­ze ein. Der Spei­se­meis­ter stell­te sich in sei­ner wei­ßen Koch­schür­ze an den Kes­sel, der Ha­fer­brei wur­de aus­ge­teilt und ein lan­ges Tisch­ge­bet ge­spro­chen. Als die Mahl­zeit vor­über war, flüs­ter­ten die Jun­gen un­ter­ein­an­der, ga­ben Oli­ver Win­ke, und die ihm Zu­nächst­sit­zen­den stie­ßen ihn mit den Ell­bo­gen an. Der Hun­ger mach­te ihn alle Rück­sich­ten ver­ges­sen. Er stand auf, trat mit Napf und Löf­fel vor den Koch hin und sag­te mit be­ben­der Stim­me:

»Ich bit­te um Ver­zei­hung, Sir, ich möch­te noch um ein we­nig bit­ten.«

Der Koch, ein feis­ter rot­ba­cki­ger Mann, wur­de blass wie der Kalk an der Wand. In maß­lo­sem Stau­nen starr­te er ei­ni­ge Se­kun­den den klei­nen Re­bel­len an und muss­te sich am Kes­sel fest­hal­ten, um nicht um­zu­fal­len. Die bei­den Frau­en­zim­mer wa­ren ge­ra­de­zu ge­lähmt vor Ent­set­zen, und auch die Jun­gen konn­ten vor Furcht kein Wort her­vor­brin­gen.

»Was?« frag­te der Koch end­lich mit schwa­cher Stim­me.

»Ich bit­te, Herr«, wie­der­hol­te Oli­ver, »ich möch­te noch et­was ha­ben.«

Der Koch gab ihm eins mit dem Löf­fel über den Kopf, fass­te ihn dann am Arm und schrie laut nach dem Kirch­spiel­die­ner.

Die Her­ren Vor­stän­de sa­ßen ge­ra­de zu­sam­men bei ei­ner Be­ra­tung, als Mr. Bum­ble in höchs­ter Er­re­gung ins Zim­mer stürz­te und dem Her­ren auf dem ho­hen Stuhl mel­de­te:

»Mr. Limbkins, ich bit­te um Ver­zei­hung, Sir, Oli­ver Twist hat mehr zu es­sen ver­langt.«

Al­les fuhr auf. Ent­set­zen mal­te sich auf al­len Ge­sich­tern.

»Mehr?« rief Mr. Limbkins. »Kom­men Sie zu sich, Bum­ble! Ant­wor­ten Sie mir klar und deut­lich. Ver­ste­he ich recht? Er hat mehr ge­for­dert als die ihm von der Vor­stand­schaft fest­ge­setz­te Ra­ti­on?«

»Ja­wohl, Sir.«

»Der Bur­sche kommt noch an den Gal­gen«, ächz­te der Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te. »Den­ken Sie an mich, der Bur­sche kommt noch an den Gal­gen.«

Nie­mand wi­der­sprach, und es ent­spann sich eine leb­haf­te Dis­kus­si­on. Auf Be­fehl der Vor­stand­schaft wur­de Oli­ver au­gen­blick­lich ein­ge­sperrt, und am nächs­ten Mor­gen hing ein An­schlag­zet­tel an der Au­ßen­sei­te des To­res des Ar­beits­hau­ses, auf dem eine Be­loh­nung von fünf Pfund aus­ge­setzt war für je­den, der die Ge­mein­de der wei­te­ren Für­sor­ge für Oli­ver Twist ent­hö­be; mit an­de­ren Wor­ten: es wur­den fünf Pfund je­der­mann an­ge­bo­ten, der Oli­ver Twist als Lehr­ling oder Lauf­bur­schen zu sich näh­me.

»In mei­nem gan­zen Le­ben war ich noch von nichts so fest über­zeugt«, sag­te der Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te, als er am nächs­ten Mor­gen an das Tor klopf­te und den Zet­tel las, »wie ich jetzt da­von über­zeugt bin, dass der Bur­sche noch ein­mal an den Gal­gen kom­men wird.«

3 – Berichtet, wie Oliver Twist beinahe eine Anstellung bekommen hätte, die nichts weniger als eine Sinekure1 gewesen wäre.

Eine Wo­che lang blieb Oli­ver nach sei­ner Mis­se­tat in dem fins­tern Raum, in den ihn die Her­ren Vor­stän­de hat­ten sper­ren las­sen, in Haft. Hät­te er den ge­hö­ri­gen Re­spekt vor der Pro­phe­zei­ung des Gent­le­mans mit der wei­ßen Wes­te ge­habt, wür­de er sich zwei­fel­los ver­mit­tels ei­nes Ta­schen­tu­ches an ei­nem Ha­ken in der Mau­er auf­ge­hängt ha­ben. Aber dazu fehl­te ihm vor al­lem ein Ta­schen­tuch – ein sol­cher Lu­xus war stren­ge ver­pönt -, und zwei­tens war er noch zu sehr Kind. Er wein­te da­her nur Tag und Nacht und be­deck­te sich mit sei­nen klei­nen Hän­den die Au­gen, um nicht in die Fins­ter­nis star­ren zu müs­sen, oder er kroch in einen Win­kel und ver­such­te zu schla­fen. Aber je­des Mal fuhr er wie­der vor Angst und Ent­set­zen aus sei­nem un­ru­hi­gen Schlum­mer auf und drück­te sich noch dich­ter an die Mau­er, als böte ihm selbst ihre har­te kal­te Flä­che noch ein we­nig Schutz ge­gen die Fins­ter­nis und Ein­sam­keit, die ihn rings um­gab.

Um ge­recht zu sein, dür­fen wir nicht ver­schwei­gen, dass es ihm an­de­rer­seits an Be­we­gung und geist­li­chem Zu­spruch nicht fehl­te. Was die Lei­bes­übun­gen be­traf, wur­de ihm an­ge­sichts des kal­ten Wet­ters, das ge­ra­de herrsch­te, die Ver­güns­ti­gung zu­teil, sich je­den Mor­gen un­ter der Pum­pe in ei­nem ge­pflas­ter­ten Hof wa­schen zu dür­fen, und zwar in Ge­gen­wart Mr. Bum­bles, der durch wie­der­hol­te An­wen­dung sei­nes Amt­sta­bes even­tu­el­len Er­käl­tun­gen vor­beug­te und be­wirk­te, dass von Zeit zu Zeit ein pri­ckeln­des Ge­fühl Oli­vers Kör­per durch­drang. Was die An­re­gung an­be­lang­te, wur­de er je­den zwei­ten Tag in den Saal ge­führt, wo die Zög­lin­ge ihr Mit­ta­ges­sen ver­zehr­ten, und vor ih­ren Au­gen als war­nen­des Bei­spiel öf­fent­lich aus­ge­peitscht. Hin­sicht­lich re­li­gi­ösen Zu­spruchs wur­de er Abend für Abend zur Ge­bet­stun­de mit Fuß­trit­ten in den­sel­ben Raum be­för­dert und durf­te dort zu­hö­ren, wie die an­de­ren be­te­ten, dass Gott sie be­wah­ren möge, so sünd­haft zu wer­den wie ein ge­wis­ser Oli­ver Twist. So stan­den die Sa­chen.

Da be­gab es sich ei­nes Mor­gens, dass der Schorn­stein­fe­ger­meis­ter Mr. Gam­field auf der Land­stra­ße lang­sam sei­nes We­ges zog. Tief in Ge­dan­ken, wo­her er sich sei­ne Haus­mie­te, de­rent­we­gen er be­reits wie­der­hol­te Male ge­mahnt wor­den, sich be­schaf­fen sol­le. So sehr sich Mr. Gam­field auch den Kopf zer­brach, im­mer wie­der war das Re­sul­tat, dass ihm fünf Pfund fehl­ten, um die drin­gen­de Schuld be­glei­chen zu kön­nen. In die­sem Au­gen­blick be­merk­te er den Zet­tel, der am Tor des Ar­beits­hau­ses hing.

»Höh­hh – brrr« – rief Mr. Gam­field sei­nem Esel zu.

Der Esel war je­doch eben­so wie sein Herr tief in Ge­dan­ken ver­sun­ken und wahr­schein­lich mit der Be­rech­nung be­schäf­tigt, ob er einen oder zwei Kohl­strün­ke be­kom­men wür­de, wenn er die bei­den Sä­cke Ruß, mit de­nen der Kar­ren be­la­den war, an Ort und Stel­le ge­bracht ha­ben wür­de, und so trot­te­te er da­her, den Zu­ruf sei­nes Herrn miss­ach­tend, wei­ter.

Mr. Gam­field wid­me­te ihm einen schwe­ren Fluch, rann­te hin­ter ihm her und gab ihm einen Schlag auf den Schä­del, wie ihn eben nur ein Esels­kopf aus­zu­hal­ten ver­mag, führ­te ihn dann durch einen hef­ti­gen Riss am Zü­gel, der ihm fast den Un­ter­kie­fer aus­renk­te, zu Ge­müt, dass hier nie­mand andres zu be­feh­len habe als Mr. Gam­field, und gab ihm schließ­lich einen zwei­ten Hieb auf den Kopf zum Zweck, um ihn bis zu sei­ner Rück­kehr in der nö­ti­gen Be­täu­bung zu er­hal­ten. Nach­dem er die­se Vor­sichts­maß­re­geln ge­trof­fen, schritt er auf das Tor zu, um den An­schlag­zet­tel zu le­sen. Der Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te stand ge­ra­de, die Hän­de auf dem Rücken, vor dem Tor. Er hat­te das Zer­würf­nis und sei­ne Fol­gen zwi­schen Mr. Gam­field und dem Esel be­ob­ach­tet und lä­chel­te höchst ver­gnügt, als der Mann nä­her­trat, um den Zet­tel zu le­sen. Auf den ers­ten Blick er­kann­te er, dass Mr. Gam­field der rich­ti­ge Ge­bie­ter für Oli­ver Twist war. Auch Mr. Gam­field lä­chel­te, als er den An­schlag las, denn fünf Pfund wa­ren ge­ra­de die Sum­me, die er brauch­te. Was den Lehr­bur­schen an­be­traf, so war Mr. Gam­field hin­sicht­lich der Be­kö­s­ti­gung im Ar­beits­haus zu ge­nau un­ter­rich­tet, um nicht so­fort ein­zu­se­hen, dass ein Wai­sen­zög­ling die ent­spre­chend schmäch­ti­ge Sta­tur ha­ben müs­se, die ein Schorn­stein­fe­ger­jun­ge braucht. Er buch­sta­bier­te den Zet­tel noch ein­mal von A bis Z durch, be­rühr­te den Rand sei­ner Pelz­müt­ze und wand­te sich an den Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te.

»Ist da der Lehr­bub he­rin­nen, den wo das Ar­beits­haus ab­zu­ge­ben hat?« be­gann er.

»Wün­schen Sie et­was von ihm?« forsch­te der Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te.

»Wenn’s der Ge­mein­de recht wär, dass er a leichts an­ge­nehms Hand­werk lernt, dös Schorn­stein­fe­ger­hand­werk näm­lich, so brau­chet i’ ge­rad an Lehr­ling und könnt ihn glei’ mit­neh­men.«

»Tre­ten Sie nä­her«, rief der Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te.

Mr. Gam­field lief zu­vör­derst noch ein­mal zu­rück, um dem Esel einen drit­ten Schlag auf den Kopf zu ge­ben und ihn am Zü­gel zu rei­ßen, auf dass er es sich nicht bei­fal­len lie­ße, in der Ab­we­sen­heit sei­nes Herrn durch­zu­ge­hen. Dann folg­te er dem Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te in das Zim­mer, das Oli­ver zum ers­ten Mal be­tre­ten hat­te.

»Es ist ein et­was schmut­zi­ges Hand­werk«, sag­te Mr. Limbkins, als Mr. Gam­field sei­nen Wunsch noch ein­mal wie­der­holt hat­te.

»Es soll schon hie und da ein Jun­ge im Schorn­stein er­stickt sein«, wen­de­te ein an­de­rer Gent­le­man ein.

»Jetzt dös kummt bloß da­der­her«, er­klär­te Mr. Gam­field, »weil ’s a so üb­lich is, nas­ses Stroh im Ka­min an­zu­zün­den, da­mit die Bu­abn run­ter­kom­men. Dös gibt mehr Rauch als wie a Flamm. Aber i halt nix von der Method; der Rauch macht nur, dass die Bu­abn al­le­weil ein­schla­fen. I zünd lie­ber glei a frischs Feu­er an; dös is des bes­te Mit­tel, um ihna auf die Bein zu hel­fen. Da müas­sens ar­bei­ten aus Lei­bes­kräf­ten, sunst ver­bren­nens iah­na die Ha­xen.«

Dem Gent­le­man in der wei­ßen Wes­te schi­en die­se Schil­de­rung großes Ver­gnü­gen zu be­rei­ten, aber sei­ne Hei­ter­keit wur­de durch den stra­fen­den Blick, den ihm Mr. Limbkins zu­warf, im Keim er­stickt. Ein paar Mi­nu­ten be­rie­ten die Her­ren Vor­stän­de mit­ein­an­der, je­doch in so lei­sem Ton, dass nur hin und wie­der ein paar Wor­te wie: »Er­spar­nis« oder »gu­ter Ein­druck bei der Abrech­nung« hör­bar wur­den. End­lich stock­te die im Flüs­ter­ton ge­führ­te Un­ter­hal­tung und Mr. Limbkins be­gann, nach­dem die Her­ren mit fei­er­li­cher Mie­ne ihre Plät­ze wie­der ein­ge­nom­men hat­ten:

»Wir ha­ben Ihren Vor­schlag in Er­wä­gung ge­zo­gen, kön­nen aber nicht dar­auf ein­ge­hen.«

»Un­ter kei­nen Um­stän­den«, be­kräf­tig­te der Herr in der wei­ßen Wes­te.

»Nein, un­ter kei­nen Um­stän­den«, er­klär­ten die üb­ri­gen Her­ren Vor­stän­de.

Mr. Gam­field war sich be­wusst, dass er bei Ge­richt in Ver­dacht stand, drei oder vier Lehr­jun­gen im Ka­min fahr­läs­si­ger­wei­se ha­ben er­sti­cken las­sen, und kam da­her auf die Ver­mu­tung, das Vor­stands­kol­le­gi­um kön­ne mög­li­cher­wei­se in ganz un­be­greif­li­cher Lau­ne ein Haar in der Sup­pe ge­fun­den ha­ben. Da er das al­ber­ne Gerücht nicht wei­ter breit­ge­tre­ten zu se­hen wünsch­te, dreh­te er nur wort­los sei­ne Müt­ze in den Hän­den und ging lang­sam zur Türe.

»Sie wolln ihn also net bei mir ein­tre­ten las­sen?« frag­te er, die Hand auf der Klin­ke.

»Nein«, er­wi­der­te Mr. Limbkins fest. »Zum min­des­ten müss­ten Sie mit ei­ner ge­rin­ge­ren als der aus­ge­setz­ten Sum­me zu­frie­den sein, da das Schorn­stein­fe­ger­ge­wer­be denn doch ein biss­chen schmut­zig ist.«

Mr. Gam­fields Ge­sicht hell­te sich auf. Schnell trat er wie­der an den Tisch her­an und frag­te:

»Also, was wol­lens denn ge­ben, mei­ne Herrn? Seins doch net so hart ge­gen an ar­men Ge­werb­trei­ben­den.«

»Ich soll­te mei­nen, drei Pfund zehn Schil­ling wä­ren mehr als ge­nug«, gab Mr. Limbkins zur Ant­wort.

»Da sind noch zehn Schil­lin­ge zu viel«, warf der Gent­le­man in der wei­ßen Wes­te hin.

»Na also«, ver­setz­te Mr. Gam­field, »sa­gen mer also vier Pfund, mei­ne Her­ren, und Sie sin ihm los und die Sach is in Ord­nung.«

»Drei Pfund zehn Schil­lin­ge«, wie­der­hol­te Mr. Limbkins fest.

»Kom­men S’, teiln mer die Dif­fe­renz, mei­ne Herrn«, dräng­te Mr. Gam­field. »Drei Pfund fünf­zehn Schil­lin­ge.«

»Nicht einen Pen­ny mehr«, war die Ant­wort.

»Sie sin ver­dammt hart zu mir, mei­ne Herrn«, sag­te Gam­field nie­der­ge­schla­gen.

»Ach was, Un­sinn«, er­wi­der­te der Herr in der wei­ßen Wes­te. »Sie ma­chen noch ein gu­tes Ge­schäft, auch wenn Sie gar kein Geld für ihn be­kämen. Sei­en Sie nicht dumm und neh­men Sie ihn, er ist ge­ra­de der Jun­ge, den Sie brau­chen. Ge­ben Sie ihm hie und da den Stock zu kos­ten, das wird ihm nur gut tun; und die Er­hal­tung wird sich auch nicht sehr teu­er stel­len. Er ist hier nicht be­son­ders ver­wöhnt wor­den – ha­ha­ha!«

Mr. Gam­field warf einen schar­fen Blick auf die Her­ren rings­um, und da er sie alle lä­cheln sah, hell­ten sich lang­sam sei­ne Züge auf. Der Han­del wur­de ge­schlos­sen und Mr. Bum­ble so­gleich an­ge­wie­sen, noch am sel­ben Nach­mit­tag Oli­ver Twist be­hufs amt­li­cher Be­stä­ti­gung des Lehr­ver­trags vor­zu­füh­ren.

Dem­ge­mäß wur­de Oli­ver zu sei­nem größ­ten Er­stau­nen plötz­lich aus der Haft ent­las­sen und be­kam den Be­fehl, ein fri­sches Hemd an­zu­zie­hen. Kaum hat­te er die­se sel­te­ne gym­nas­ti­sche Übung hin­ter sich, als Mr. Bum­ble ihm ei­gen­hän­dig einen Napf Ha­fer­grüt­ze nebst dem sonn­täg­li­chen Stück Brot brach­te. Bei die­sem fürch­ter­li­chen An­blick brach Oli­ver so­fort in ein schreck­li­ches Ge­heul aus, denn er dach­te, die Her­ren Vor­stän­de hät­ten den Be­schluss ge­fasst, ihn zu ir­gend­ei­nem ge­mein­nüt­zi­gen Zweck schlach­ten zu las­sen. Denn wes­halb hät­ten sie sonst plötz­lich an­ge­fan­gen, ihm eine Mast­kur an­ge­dei­hen zu las­sen.

»Heul dir nicht die Au­gen rot, Oli­ver, son­dern iss dei­ne Sup­pe und sei dank­bar«, er­mahn­te Mr. Bum­ble in wür­de­vol­lem Ton. »Du kommst jetzt in die Leh­re.«

»In die Leh­re?« frag­te der Klei­ne zit­ternd.

»Ja­wohl, Oli­ver. Die gü­ti­gen Herrn, von de­nen dir je­der ein­zel­ne dei­ne El­tern er­setzt, da du kei­ne hast, wol­len dich in die Leh­re ge­ben, da­mit du einst im Le­ben auf ei­ge­nen Fü­ßen ste­hen kannst; und sie wol­len einen Mann aus dir ma­chen, ob­gleich es der Ge­mein­de drei Pfund und zehn Schil­lin­ge kos­tet. – Oli­ver! Drei Pfund und zehn Schil­lin­ge! – Sieb­zig Schil­lin­ge hun­dert­vier­zig Six­pence! Und das al­les für einen nichts­nut­zi­gen Wai­sen­bu­ben, den kein Mensch lei­den kann.«

Mr. Bum­ble hielt einen Au­gen­blick in sei­ner Rede inne, um Atem zu ho­len. Dem ar­mem Oli­ver roll­ten die Trä­nen über die Wan­gen, und er schluchz­te bit­ter­lich.

»Ist schon gut, lass nur«, sag­te Mr. Bum­ble, ein biss­chen we­ni­ger wür­de­voll, denn die Wir­kung, die sei­ne Rede her­vor­ge­bracht, be­frie­dig­te ihn. »Komm, Oli­ver, wisch dir die Trä­ne mit dem Är­mel ab und heul dir nicht in die Sup­pe; das ist eine große Dumm­heit.« Und das stimm­te, denn Was­ser war so­wie­so ge­nug in der Ha­fer­grüt­ze.

Auf dem Weg zum Frie­dens­rich­ter schärf­te Mr. Bum­ble Oli­ver aufs dring­lichs­te ein, er müs­se sich vor al­len Din­gen be­mü­hen, recht glück­lich aus­zu­se­hen, und wenn der alte Herr ihn fra­ge, ob er in die Leh­re ge­hen wol­le, habe er zu ant­wor­ten, er freue sich un­ge­mein dar­auf. Oli­ver ver­sprach sein Bes­tes zu tun, umso mehr, als Bum­ble ihm an­droh­te, dass es ihm sonst schlecht er­ge­hen wür­de.

Auf dem Amt an­ge­langt, wur­de Oli­ver in ein klei­nes Zim­mer ein­ge­sperrt, und Mr. Bum­ble sag­te ihm, er sol­le hier blei­ben, bis er wie­der­käme und ihn ab­hol­te. Eine gan­ze hal­be Stun­de blieb das arme Wai­sen­kind mit klop­fen­dem Her­zen al­lein. Dann steck­te Mr. Bum­ble sei­nen Kopf her­ein und sag­te laut: »Nun, Oli­ver, mein Kind, komm jetzt zu dem Herrn.«

Da­bei warf er Oli­ver einen dro­hen­den Blick zu und füg­te lei­se hin­zu: »Ver­giss nicht, was ich dir ge­sagt hab, in­fa­mer Laus­bub.«

Oli­ver mach­te bei die­ser wi­der­spruchs­vol­len An­re­de ein ziem­lich dum­mes Ge­sicht. Aber Mr. Bum­ble kam je­der Fra­ge zu­vor und schlepp­te ihn ohne wei­te­re Um­stän­de ins Amts­zim­mer. Es war ein ziem­lich ge­räu­mi­ges Zim­mer mit ei­nem großen Fens­ter. Hin­ter ei­nem Pult sa­ßen zwei alte Her­ren mit ge­pu­der­ten Perücken, und der eine von ih­nen las in der Zei­tung, wäh­rend der an­de­re mit Hil­fe ei­ner Schild­patt­bril­le ein klei­nes Per­ga­ment­schrift­stück durch­stu­dier­te. Mr. Limbkins stand ne­ben dem Pult und Mr. Gam­field, des­sen Ge­sicht stel­len­wei­se rein­ge­wa­schen war, in ei­ni­ger Ent­fer­nung ne­ben ihm, wäh­rend zwei bis drei roh aus­se­hen­de Män­ner in Stul­pens­tie­feln im Hin­ter­grund war­te­ten.

Der alte Herr mit der Bril­le nick­te lang­sam über dem Schrift­stück ein, und es ver­strich eine ziem­li­che Wei­le, nach­dem Oli­ver von Mr. Bum­ble vor das Pult ge­führt wor­den war.

»Dies ist der Jun­ge, Euer Gna­den«, sag­te Mr. Bum­ble.

Der alte Herr, der die Zei­tung las, hob eine Se­kun­de den Kopf und zupf­te den an­de­ren al­ten Herrn am Rock­är­mel, wor­auf die­ser er­wach­te.

»So, so, das ist der Jun­ge«, mur­mel­te der alte Herr.

»Ja­wohl, zu die­nen, Euer Gna­den«, er­wi­der­te Mr. Bum­ble. »Mach dem Herrn Frie­dens­rich­ter eine Ver­beu­gung, mein Kind.«

Oli­ver ge­horch­te und mach­te sei­nen schöns­ten Kratz­fuß, da ihm die Her­ren mit den ge­pu­der­ten Perücken mäch­tig im­po­nier­ten.

»Der Jun­ge wünscht also Schorn­stein­fe­ger zu wer­den«, frag­te der alte Herr.

»Ja, es ist sein Her­zens­wunsch«, er­klär­te Mr. Bum­ble. »Er wür­de be­stimmt mor­gen wie­der da­von­lau­fen, wenn wir ihn heu­te in ein andres Ge­schäft gä­ben.«

Der Frie­dens­rich­ter wen­de­te sich an den Schorn­stein­fe­ger­meis­ter: »Und Sie ver­spre­chen, ihn gut zu be­han­deln, or­dent­lich zu näh­ren und zu klei­den usw. usw.«

»Was i amal sag, dös halt i a«, er­wi­der­te Gam­field mür­risch.

»Sie ha­ben eine et­was un­ge­schlif­fe­ne Re­de­wei­se, lie­ber Freund, schei­nen aber sonst ein ehr­li­cher gut­her­zi­ger Mann zu sein«, sag­te der alte Herr und rich­te­te sei­ne Bril­le auf den Schorn­stein­fe­ger­meis­ter, auf des­sen schur­ki­schem Ge­sicht die Bru­ta­li­tät deut­lich zu le­sen war. Der alte Herr war halb blind und schon ganz kin­disch, und man konn­te von ihm da­her nicht er­war­ten, dass er er­ken­ne, was an­de­ren auf den ers­ten Blick auf­fal­len muss­te.

»Dös will i hof­fen, Herr von Vor­stand«, sag­te Gam­field grin­send.

»Ich set­ze nicht den min­des­ten Zwei­fel in Ihre Wor­te, mein Freund«, er­wi­der­te der alte Herr, drück­te sich die Bril­le fes­ter auf die Nase und fahn­de­te nach dem Tin­ten­fass.

Es war ein kri­ti­scher Au­gen­blick in Oli­vers Schick­sal: hät­te das Tin­ten­fass dort ge­stan­den, wo es der alte Herr ver­mu­te­te, so wür­de die­ser sei­ne Fe­der ein­ge­taucht und den Ver­trag un­ter­fer­tigt ha­ben, und Oli­ver wäre ein für al­le­mal »ver­sorgt« ge­we­sen. Da sich das Tin­ten­fass je­doch dicht vor der Nase des al­ten Herrn be­fand, über­sah es die­ser na­tür­lich, such­te über­all auf dem Pult her­um, ohne es zu fin­den, und da­bei fiel sein Blick auf das blei­che ver­stör­te Ge­sicht Oli­ver Twist’s, der trotz al­ler Er­mah­nun­gen und Püf­fe Mr. Bum­bles das Äu­ße­re sei­nes zu­künf­ti­gen Lehr­her­ren mit ei­nem aus Grau­en und Furcht ge­misch­ten Aus­druck be­trach­te­te.

Der alte Herr hielt so­fort inne, leg­te die Fe­der aus der Hand und blick­te von Oli­ver zu Mr. Limbkins, der mit un­be­fan­ge­ner hei­te­rer Mie­ne eine Prie­se Schnupf­ta­bak zu neh­men ver­such­te.

»Lie­bes Kind!« sag­te der alte Herr und lehn­te sich über das Pult. Oli­ver fuhr beim Klang sei­ner Stim­me zu­sam­men, denn die Wor­te wa­ren in so freund­li­chem Tone ge­spro­chen, dass sie ihn be­frem­den muss­ten. Er zit­ter­te hef­tig und brach in Trä­nen aus.

»Aber Kind«, rief der alte Herr. »Du siehst ja ganz bleich und ver­stört aus? Was ist dir denn?«

»Tre­ten Sie ein we­nig von ihm weg«, sag­te der an­de­re alte Herr, leg­te sein Schrift­stück aus der Hand und beug­te sich mit ei­nem Aus­druck tiefer Teil­nah­me vor.

»Also, mein Kind, sag uns, was dir fehlt. Hab kei­ne Furcht.«

Oli­ver fiel auf die Knie, er­hob sei­ne ge­fal­te­ten Hän­de und fleh­te schluch­zend, man möge ihn lie­ber wie­der in das dunkle Zim­mer zu­rück­brin­gen und ihn ver­hun­gern las­sen, ihn schla­gen, ihn tot­schla­gen, al­les, nur ihn nicht je­nem schreck­li­chen Mann über­ge­ben.

»Ha«, rief Mr. Bum­ble, hob fei­er­lich die Hän­de em­por und blick­te zur De­cke auf. »Von al­len ver­stock­ten nie­der­träch­ti­gen Wai­sen­jun­gen, die mir je un­ter­ge­kom­men sind, ist die­ser der ver­wor­fens­te von al­len.«

»Hal­ten Sie den Mund, Kirch­spiel­die­ner«, rief der zwei­te alte Herr, als Mr. Bum­ble in sei­ner Rede in­ne­hielt.

»Ich bit­te Euer Gna­den um Ent­schul­di­gung«, stot­ter­te Bum­ble, der sei­nen Ohren nicht trau­te. »Ha­ben Euer Gna­den zu mir ge­spro­chen?«

»Ja­wohl! Hal­ten Sie den Mund!«

Mr. Bum­ble war sprach­los vor Ent­set­zen. Ei­nem Kirch­spiel­die­ner zu be­feh­len, den Mund zu hal­ten! Das hieß ja al­ler mensch­li­chen Moral ins Ge­sicht schla­gen!

Der alte Herr mit der Schild­patt­bril­le blick­te sei­nen Kol­le­gen an und nick­te be­zeich­nend.

»Wir ver­wei­gern, die­sen Kon­trakt zu be­stä­ti­gen«, sag­te er dann und schob das Pa­pier zur Sei­te.

»Ich will doch nicht hof­fen«, stam­mel­te Mr. Limbkins, »ich will doch nicht hof­fen, dass der hohe Ge­richts­hof der Mei­nung ist, der löb­li­che Ar­beits­vor­stand kön­ne auf das Zeug­nis die­ses Kin­des hin ir­gend­ei­ner ta­delns­wer­ten Hand­lung be­zich­tigt wer­den?«

»Ich sehe mich als Frie­dens­rich­ter nicht be­ru­fen, dar­über ir­gend­ei­ne Mei­nung ab­zu­ge­ben«, er­wi­der­te der alte Herr. »Neh­men Sie den Kna­ben wie­der mit heim und be­han­deln Sie ihn gut. Er scheint es sehr nö­tig zu ha­ben.«

Am sel­ben Abend noch gab der Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te nicht nur die po­si­ti­ve Ver­si­che­rung ab, Oli­ver wür­de be­stimmt noch ein­mal an den Gal­gen kom­men, son­dern er füg­te so­gar die Pro­phe­zei­ung hin­zu, man wer­de ihn vor­her noch schin­den und vier­tei­len. Auch Mr. Bum­ble schüt­tel­te ge­heim­nis­voll den Kopf und äu­ßer­te den Wunsch, Oli­ver wer­de sich der­einst im Le­ben noch bes­sern, wäh­rend Mr. Gam­field be­dau­er­te, ihn nicht in sei­ne Klau­en be­kom­men zu ha­ben. Am nächs­ten Mor­gen wur­de aber­mals durch einen An­schlag­zet­tel kund­ge­ge­ben, dass Oli­ver Twist »zu ha­ben sei«, und dass je­der, der ihn neh­men wol­le, da­für fünf Pfund be­käme.

Si­ne­ku­re (ver­kürzt zu la­tei­nisch sine cura ani­ma­rum »ohne Sor­ge für die See­len«, d. h. ohne Ver­pflich­tung zur Seel­sor­ge) be­zeich­net ein Amt, mit dem Ein­künf­te, aber kei­ne Amts­pflich­ten ver­bun­den sind.  <<<

4 – Oliver erhält eine Stelle und tritt ins öffentliche Leben ein.

Die Her­ren Vor­stän­de hat­ten Mr. Bum­ble be­auf­tragt, sich zu er­kun­di­gen, ob nicht viel­leicht ein Strom­schif­fer einen Lehr­jun­gen brau­che. Es war im All­ge­mei­nen üb­lich, Wai­sen­kin­der oder sol­che, die man gern los­wer­den woll­te, zur See zu schi­cken. Als der Kirch­spiel­die­ner zu­rück­kehr­te, traf er vor dem Tore zu­fäl­lig Mr. So­wer­ber­ry, den Lei­chen­be­stat­ter des Kirch­spiels. Mr. So­wer­ber­ry war ein großer ha­ge­rer kno­chi­ger Mann in ei­nem schwar­zen fa­den­schei­ni­gen An­zug, mit schä­bi­gen Baum­woll­st­rümp­fen glei­cher Far­be und dement­spre­chen­dem Schuh­zeug an­ge­tan. Schon von Na­tur aus tru­gen sei­ne Züge nicht ge­ra­de einen lä­cheln­den Aus­druck, aber zu­fäl­lig be­fand er sich heu­te in der hei­tern Lau­ne, die sein Ge­wer­be mit sich brach­te. Sein Schritt war elas­tisch, und sein Ant­litz zeug­te von in­ne­rem Froh­sinn, wie er so auf Mr. Bum­ble zu­schritt und ihm herz­lich die Hand schüt­tel­te.

»Ich habe den bei­den Frau­en Maß ge­nom­men, die wo ges­tern Nacht ge­stor­ben sin, Mr. Bum­ble«, sag­te er.

»Sie wer­den noch mal ein rei­cher Mann wer­den, Mr. So­wer­ber­ry«, be­merk­te Mr. Bum­ble und steck­te Dau­men und Zei­ge­fin­ger in die hin­ge­reich­te Schnupf­ta­baks­do­se des Lei­chen­be­stat­ters, die sin­nig ein klei­nes Mo­dell ei­nes Sar­ges dar­stell­te. »Ich sags im­mer, Sie wer­den noch ein­mal ein rei­cher Mann, Mr. So­wer­ber­ry«, wie­der­hol­te Mr. Bum­ble und klopf­te dem Lei­chen­be­stat­ter ver­trau­lich auf die Schul­ter.

»Glau­ben Sie?« frag­te der Lei­chen­be­stat­ter in ei­nem Ton, halb zu­stim­mend, halb ab­leh­nend. »Die Kos­ten, die wo mir die Her­ren Vor­stän­de be­wil­li­chen, sin sehr nied­rich.«

»Ihre Sär­ge aber auch«, er­wi­der­te der Kirch­spiel­die­ner und ver­zog sein Ge­sicht zu ei­nem Lä­cheln, das sei­ner ho­hen Stel­lung an­ge­mes­sen war.

Mr. So­wer­ber­ry fühl­te sich durch die­se Herab­las­sung nicht we­nig ge­schmei­chelt und lach­te eine Wei­le ge­zie­mend.

»Nun ja, Mr. Bum­ble«, sag­te er schließ­lich. »Zu leuch­nen ist frei­lich nich, dass seit Ein­füh­rung des neu­en Sys­tems die Sär­ge nied­ri­cher und kür­zer ge­wor­den sind, als sie sonst wa­ren, aber schließ­lich muss man sie doch ha­ben, Mr. Bum­ble. Gu­tes trock­nes Holz ist nich bil­lich und die Be­schlä­ge be­zie­he ich di­rekt aus den Ei­sen­fa­bri­ken in Bur­ming­ham.«

»Ja­wohl, ja­wohl, ich weiß, ich weiß«, sag­te Mr. Bum­ble. »Je­des Ge­schäft hat so sei­ne klei­nen Knif­fe, und das nimmt man auch nicht übel.«

»Na­tür­lich nich, na­tür­lich nich«, stimm­te der Lei­chen­be­stat­ter ein. »Wenn auch bei mei­nem Ar­ti­kel nich viel zu ver­die­nen is, so muss ich eben schau­en, es an­ders­wo wie­der her­ein­zu­brin­gen – hi­hi­hi.«

»Sehr rich­tig«, sag­te Mr. Bum­ble. »Üb­ri­gens so ne­ben­bei: wis­sen Sie nicht je­man­den, der einen Lehr­jun­gen brau­chen könn­te; einen Jun­gen aus dem Ar­beits­haus, einen, der uns nicht vom Hals geht, und den wir am Bein ha­ben wie eine Ket­te. Fei­ne Be­din­gun­gen, Mr. So­wer­ber­ry! Sehr fei­ne Be­din­gun­gen!« da­bei deu­te­te Mr. Bum­ble mit sei­nem Stock auf den Zet­tel, der auf dem Tor kleb­te, und führ­te drei nach­drück­li­che Schlä­ge ge­gen die Wor­te »fünf Pfund«, die dort mit großen Let­tern zu le­sen wa­ren.

»Sa­per­ment, Sa­per­ment«, rief der Lei­chen­be­stat­ter und fass­te Mr. Bum­ble an ei­nem sei­ner gold­nen Knöp­fe. »Dar­über woll­te ich ge­ra­de mit Ih­nen spre­chen. Üb­ri­gens alle Ach­tung, was für ein ele­gan­ter Knopf ist das, Mr. Bum­ble. Den habe ich ja noch nie an Ih­nen ge­se­hen.«

»Ja, ja, er ist ganz hübsch«, sag­te der Kirch­spiel­die­ner und blick­te mit Stolz auf sei­ne großen Me­tall­knöp­fe. »Und das Wap­pen des Kirch­spiels ist drauf. Sie se­hen: der barm­her­zi­ge Sa­ma­ri­ter, wie er sich des Kran­ken an­nimmt. Die Her­ren Vor­stän­de ver­lie­hen mir das Wap­pen an je­nem Mor­gen, Mr. So­wer­ber­ry, als ein Ar­bei­ter da­mals in­fol­ge Über­nach­tens in ei­nem Tor­we­ge er­fro­ren war.«

»Ja, ja, ich er­in­ne­re mich«, sag­te der Lei­chen­be­stat­ter. »Die Lei­chen­be­schau­kom­mis­si­on fäll­te da­mals den Spruch: ge­stor­ben in­fol­ge Er­frie­rens und aus Man­gel an den ge­wöhn­lichs­ten Le­bens­be­dürf­nis­sen. Wars nich so?«

Mr. Bum­ble nick­te. »Ja, ja, die Lei­chen­be­schau­er«, sag­te er und fass­te sei­nen Stock fes­ter, – was er im­mer tat, wenn er är­ger­lich wur­de. »Uns­re Lei­chen­be­schau­er sind ein ganz un­ge­bil­de­tes dum­mes Pack.«

»Ja, das stimmt«, er­wi­der­te So­wer­ber­ry.

Mr. Bum­ble nahm sei­nen Drei­spitz ab, nahm das dar­in be­find­li­che Ta­schen­tuch und wisch­te sich den Schweiß von der Stirn, den der Är­ger sei­nem Haup­te ent­lockt, und setz­te den Hut wie­der auf. Dann wand­te er sich mit ver­än­der­tem Ton an den Lei­chen­be­stat­ter.

»Na also, wie ist’s, was solls mit dem Jun­gen?«

»Nun, Sie wis­sen«, er­wi­der­te der Lei­chen­be­stat­ter. »Sie wis­sen, Mr. Bum­ble, ich tra­che eine hüb­sche Sum­me mit zu den Ar­men­steu­ern bei.«

»Hem«, hüs­tel­te Mr. Bum­ble. »Na und?«

»Na und da dach­te ich«, fuhr So­wer­ber­ry fort, »wenn ich schon so viel zah­le, habe ich viel­leicht auch ein Recht, es an­der­weits ir­chend­wo wie­der her­ein­zu­brin­gen, Mr. Bum­ble. Na und da dach­te ich, ich könn­te den Jun­gen viel­leicht neh­men.«

Mr. Bum­ble er­griff ihn am Arm und führ­te ihn so­fort ins Haus. Dann schloss er sich fünf Mi­nu­ten mit ihm ein, und es wur­de zwi­schen ih­nen ver­ein­bart, dass Oli­ver noch heu­te Abend zu Mr. So­wer­ber­ry kom­men soll­te – vor­der­hand nur zur Pro­be – eine Phra­se, die, auf einen Kirch­spiel­wai­sen­kna­ben an­ge­wen­det, wei­ter nichts zu be­deu­ten hat­te, als dass der Lehr­meis­ter be­rech­tigt war, wenn er nach ei­ner kur­z­en Pro­be­zeit be­merk­te, dass der Jun­ge mehr zu ar­bei­ten im­stan­de war, als er Es­sen brauch­te, mit die­sem eine be­stimm­te Zahl von Jah­ren ver­fah­ren konn­te, wie es ihm be­lieb­te.

Als der klei­ne Oli­ver noch am sel­ben Abend den Her­ren Vor­stän­den vor­ge­führt wur­de und er­fuhr, er sol­le so­gleich zu ei­nem Sarg­tisch­ler als Lauf­bur­sche in die Leh­re ge­ge­ben oder zur See ge­schickt wer­den, falls er sich un­ter­fan­gen soll­te auf­zu­mu­cken, da leg­te Oli­ver so we­nig Er­re­gung an den Tag und blieb so stumpf al­lem ge­gen­über, was er an­hö­ren muss­te, dass man ihn ein­stim­mig als einen der ver­stock­tes­ten jun­gen Gal­gen­vö­gel er­klär­te; Mr. Bum­ble be­deu­te­te ihm, so­fort mit­zu­kom­men.

Wenn es auch wei­ter nicht zu ver­wun­dern war, dass die Her­ren Ge­mein­de­vor­stän­de dar­über in Ent­rüs­tung ge­rie­ten, dass sich ein jun­ger Mensch, der ih­rer Für­sor­ge an­ver­traut war, in ei­nem sol­chen Fal­le gänz­lich emp­fin­dungs­los zeig­te, so be­ur­teil­ten sie den­noch den Fall ganz falsch. Die Sa­che lag ein­fach so, dass Oli­ver nicht nur nicht emp­fin­dungs­los war, son­dern viel­mehr in­fol­ge der schlech­ten Be­hand­lung, die er er­fah­ren, sich auf dem bes­ten Wege be­fand, für sein gan­zes Le­ben in einen Zu­stand tie­ri­scher Stumpf­heit und geis­ti­ger Um­nach­tung zu ver­sin­ken. Un­be­weg­lich und stumm hör­te er die an ihn ge­rich­te­ten Wor­te an, schein­bar voll­stän­dig gleich­gül­tig ge­gen­über sei­nem wei­te­ren Schick­sal. Nach­dem man ihm sein Bün­del, be­ste­hend aus ei­nem klei­nen Pa­ket, in die Hand ge­drückt, zog er sei­ne Müt­ze über die Au­gen und ließ sich wi­der­stands­los von Mr. Bum­ble hin­aus­füh­ren. Eine Zeit lang schleif­te ihn der Kirch­spiel­die­ner hin­ter sich her, ohne ihn ei­nes Blickes oder Wor­tes zu wür­di­gen. Es war ein win­di­ger Tag, und wenn der Luft­zug Mr. Bum­bles Rock­schö­ße auf­weh­te, wo­bei die lang­zipf­li­ge Kirch­spiel­die­ner­wes­te und die Knie­ho­sen aus gel­bem Samt sich den Bli­cken ent­hüll­ten, ver­schwand der klei­ne Oli­ver fast ganz hin­ter den flat­tern­den Klei­dungs­stücken. Als sie sich knapp vor ih­rem Ziel be­fan­den, hielt es Mr. Bum­ble für an der Zeit, sei­nen Blick zu sen­ken und sich zu über­zeu­gen, ob der Jun­ge so­weit prä­sen­ta­bel sei, um das Wohl­ge­fal­len sei­nes neu­en Meis­ters und Herrn er­we­cken zu kön­nen.

»Oli­ver!« sag­te er.

»Ja, Sir?« er­wi­der­te Oli­ver mit be­ben­der Stim­me.

»Schieb dir die Müt­ze aus der Stirn, Jun­ge, und hal­te dich ge­ra­de.«

Trotz­dem Oli­ver au­gen­blick­lich ge­horch­te und sich mit dem Han­drücken über die feuch­ten Au­gen fuhr, schim­mer­te doch noch eine Trä­ne dar­in, und wie Mr. Bum­ble mit Stren­ge auf ihn her­nie­der­blick­te, roll­te ihm die Trä­ne die Wan­ge hin­un­ter. Eine zwei­te Trä­ne folg­te und noch eine drit­te. Der Klei­ne gab sich alle Mühe, aber es half nichts. Er zog die an­de­re Hand aus Mr. Bum­bles Hand, be­deck­te sein Ge­sicht und wein­te, bis ihm die Trä­nen über das Kinn her­ab­tropf­ten und zwi­schen den ma­gern Fin­gern her­vor­quol­len.

»Da hört sich doch al­les auf«, rief Mr. Bum­ble, blieb ste­hen und run­zel­te wü­tend die Au­gen­brau­en. »Von all den un­dank­bars­ten ver­dor­bens­ten Wai­sen­bu­ben, Oli­ver, die mir je un­ter­ge­kom­men sind, bist du doch der schlimms­te.«

»Nein, nein, Sir«, schluchz­te Oli­ver und klam­mer­te sich wie­der an die Hand, die den wohl­be­kann­ten Stock hielt. »Nein, nein, Sir, ich will ja brav sein, wirk­lich, ich will es. Ich bin ja noch so klein, Sir, und so – so -«

»Was denn – so?« forsch­te Mr. Bum­ble er­staunt.

»So ein­sam und ver­las­sen, Sir, so schreck­lich ein­sam«, schluchz­te der Klei­ne. »Nie­mand kann mich lei­den. Bit­te, sei­en Sie nicht auch noch böse auf mich.«

Da­bei drück­te er die Hand aufs Herz und blick­te sei­nem Beglei­ter ins Ge­sicht, wäh­rend Trä­nen tiefs­ten Schmer­zes sei­ne Au­gen füll­ten.

Ein paar Se­kun­den lang be­trach­te­te Mr. Bum­ble Oli­vers hil­fe­fle­hen­des Ge­sicht voll Er­stau­nen, dann hüs­tel­te er ein paar­mal ver­le­gen, mur­mel­te ein paar Wor­te über das dum­me Wet­ter und er­mahn­te ihn, ein gu­ter Jun­ge zu sein. Dann fass­te er ihn wie­der bei der Hand und ging schwei­gend mit ihm wei­ter.

Der Lei­chen­be­stat­ter hat­te eben sei­nen La­den ge­schlos­sen und mach­te ge­ra­de beim Schim­mer ei­ner Talg­ker­ze ein paar Ein­tra­gun­gen in sein Kon­to­buch, als Mr. Bum­ble ein­trat.

»Aha«, rief er und blick­te von dem Bu­che auf. »Sie sind es, Bum­ble.«

»Ja­wohl, ich bins«, er­wi­der­te der Kirch­spiel­die­ner. »Hier ist er. Ich habe Ih­nen den Jun­gen mit­ge­bracht.«

Oli­ver mach­te einen Kratz­fuß.

»Also das ist der Jun­ge, was?« frag­te der Lei­chen­be­stat­ter und hielt die Ker­ze in die Höhe, um den Klei­nen bes­ser be­sich­ti­gen zu kön­nen. »Lie­be Frau, sei ein­mal so gut und komm einen Au­gen­blick her.«

Mrs. So­wer­ber­ry tauch­te aus ei­nem klei­nen Zim­mer hin­ter dem La­den auf, und auf den ers­ten Blick konn­te man er­ken­nen, dass sie eine klei­ne ha­ge­re Per­son mit zän­ki­schem Ge­sichts­aus­druck war.

»Lie­be Frau«, be­gann Mr. So­wer­ber­ry be­tre­ten, »das ist der Jun­ge aus dem Ar­men­haus, von dem ich dir er­zählt habe.« – Oli­ver mach­te aber­mals einen Kratz­fuß.

»Gott im Him­mel«, rief die Frau, »ist der aber klein!«

»Frei­lich, ein we­nig klein ist er«, gab Mr. Bum­ble zu und sah Oli­ver mit ei­nem stra­fen­den Blick an, als ob die­ser die Schuld dar­an tra­ge, dass er nicht grö­ßer ge­wor­den sei. – »Klein ist er, das lässt sich nicht be­strei­ten. Aber er wird schon noch wach­sen, Mrs. So­wer­ber­ry.«

»Ja, ja, auf uns­re Kos­ten!« zank­te die Frau ver­drieß­lich. »Und bei dem, was bei uns auf den Tisch kommt. Ich ken­ne schon die Ar­men­haus­kin­der, die fres­sen im­mer mehr, als sie wert sind. Aber die Män­ner wis­sen na­tür­lich im­mer al­les am bes­ten. Marsch, die Trep­pe hin­un­ter, du Häuf­chen Un­glück!« Mit die­sen Wor­ten öff­ne­te Mrs. So­wer­ber­ry eine klei­ne Tür und dräng­te Oli­ver eine stei­le Trep­pe hin­ab in einen feuch­ten fins­tern Kel­ler, der den Vor­raum zum Koh­len­kel­ler bil­de­te und die Be­zeich­nung Kü­che trug. Dort saß ein schlum­pi­ges Dienst­mäd­chen mit Schu­hen mit schie­fen Ab­sät­zen und blau­en St­rümp­fen voll großer Lö­cher, die of­fen­bar schon seit lan­gem auf Re­pa­ra­tur war­te­ten.

»Hier, Char­lot­te«, sag­te Mrs. So­wer­ber­ry, »gib dem Jun­gen ein paar von den Res­ten, die für Trip auf­ge­ho­ben wor­den sind. Seit mor­gens streunt das Biest auf der Gas­se her­um, da soll es sich mal hung­rig zu Bett le­gen. Hof­fent­lich ist der Bur­sche da nicht zu hei­kel. He, Jun­ge, was sagst du dazu?«

Oli­ver, des­sen Au­gen, als von Es­sen die Rede war, auf­ge­leuch­tet hat­ten, zit­ter­te förm­lich vor Gier und be­teu­er­te, dass er durch­aus nicht hei­kel sei; und dar­auf­hin wur­de ihm eine Schüs­sel Spei­sen­ab­fäl­le vor­ge­setzt.