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Jetzt packt die coolste Oma auf dem Spielplatz aus: Hildi von Henn spricht allen geplagten Eltern und Großeltern aus der Seele. Hildi ist gerade auf dem Weg zum wohlverdienten Yoga-Retreat, als ihr Handy klingelt. Die verzweifelte Tochter fleht sie an, sie möge doch bitte daheim bleiben und bei der Kinderbetreuung einspringen. Kein Kita-Platz weit und breit, und der Vater der Kinder muss mal wieder sein Craftbeer-Start-up aus den roten Zahlen führen. Und weil Hildegard zwar ihre Selbstverwirklichung liebt, aber eben auch ihre Tochter und ihre Enkel, gibt sie nach. Oma Hildegard rettet das Familienleben – und wer rettet Oma Hildegard? Statt Yogis bei Osho trifft sie jetzt Omis im Tchibo. Hildi nimmt es mit Humor, denn auf Spielplätzen gibt es mehr zu erleben, als man ahnt. Und als Fritz-Ferdinand dann endlich seinen Kita-Platz bekommt, fühlt Hildi sich schon etwas allein ... denn Oma sein hält nicht nur jung, sondern ist ein echtes Lebensgefühl. Ein lustiges Buch für jede Oma und für alle, die über die Tücken der Kinderbetreuung lachen wollen »Ich zwinkere. Gott, wie kann man so verliebt sein. Man liebt ja seine Kinder schon bis zum Mond und zurück, aber was daraus für eine Affenliebe wird, wenn die Enkel kommen – und auch wieder gehen. Das ist ein Spaß. Only the good times, kann ich Ihnen sagen. Meistens jedenfalls.« Oma Hildegard
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Seitenzahl: 286
Hildi von Henn
Deutschlands coolste Oma übernimmt die Kinderbetreuung
Knaur eBooks
Hildi von Henn ist gerade auf dem Weg zum wohlverdienten Yoga-Retreat, als ihr Handy klingelt. Die verzweifelte Tochter fleht, Hildi möge doch bitte hierbleiben und bei der Kinderbetreuung einspringen. Kein Kitaplatz weit und breit, und der Vater der Kinder versucht mal wieder, sein Craftbeer-Start-up aus den roten Zahlen zu führen. Und weil Hildegard zwar ihre Selbstverwirklichung liebt, aber eben auch ihre Tochter, gibt sie nach. Statt Yogis bei Osho trifft sie jetzt Omis in Tchibo. Macht aber nichts, denn auf Spielplätzen gibt es mehr zu erleben, als man ahnt.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
Prolog
Tatis Brüste
Altern
Planänderung
Stuhlkreis der Hölle
Mottentempel
Kinderfeindlichkeit
Verbrennerliebe
Zirkus-Sexismus
Waldbaden
Verhandlungssache
Eleganz
Lastenräder
Frauen
Hadertage
Männer
Kita-Besorgungen
Feminismus
Totentanz
Shooting Day
Kirchgang
Eingewöhnung
Feng-Shui
Lasten
Bilderwelten
Apfelkuchentag
Beige-Bekanntschaften
Loslassen
Spielplatzflirt
Harzausflug
Glück
Brotdosen-Terror
Kindergeburtstag
Sehnsucht
Vergangenheitsduselei
Löwen
Aqua-Yoga
Omi-Enkel-Wellness
Kaltsaftbinder
Lethargie
Handymütter
Bierträume
Human Design
Bankgeflüster
Bügelliebe
Altsein
Invitations
Vorbereitungen
Vorlesung
Cinderella
Dank geht an
Für Sascha, der ganz sicher neben Roger Willemsen und Helmut Berger sitzt und sich köstlich amüsiert. Und nebenbei ein paar Leben von oben choreografiert.
»Es geht im Leben um nichts als um die Liebe.« (Sascha Hans-Gert Henn)
Das Ding mit dem Feminismus ist ja: Jeder kann für ihn sein, nur mit der Umsetzung ist es schwierig. Spätestens wenn die Familienplanung an die Tür klopft, denke ich, während ich auf meiner Bank sitze und Fritz-Ferdinand und Sophia beobachte und neben mir eine Apfelschnitz-Mutti ihr Meal-Prep ausbreitet. Machen Mütter jetzt so. Ich nicht. Bin ja keine.
Gestatten: Hildegard von Henn, ja, verarmter Adel, heißt aber nichts, 74, BH-Verbrennerin und Feministin der ersten Stunde, keine Ringellöckchen. Diese Bus-Omis gibt es ja auch, aber die sitzen einen Mikrokosmos weiter. Ich fahre Porsche und Defender. Damit Sie voll im Bilde sind: Ich bin das fleischgewordene Klischee eines Best Agers, wie meine Tochter Tini immer sagt. Topfit, keine Knieschmerzen, keine Zipperlein. »You can look and feel great at any age!«, ist mein Motto. Dicht gefolgt von: »Age is an illusion.« Okay, das ist Quark, aber mögen so Silversurfer wie ich ganz gern.
Eigentlich müsste ich reisen, mir Jeff-Koons-Ausstellungen ansehen, Food- und Wine-Tastings machen und mir einen neuen Lebensabschnittsgefährten für die gute erste Hälfte des letzten Drittels suchen, denn mein Mann ist mir irgendwie beim Auszug unserer Tochter abhandengekommen. Ich nehm’s ihm nicht übel, geht vielen so. Er wusste halt nicht mehr, wer er ist, und musste sein Ich bei einer Jüngeren mit vielen Gebrechen suchen. Jetzt sitzt er mit ihr in den Wartezimmern und wartet auf eine neue Identität, der Gute. Und was mache ich?
Verrückterweise auf Spielplätzen neben Apfelschnitz-Muttis auf meine Enkel aufpassen. Damit meine Tochter Feministin sein kann, genug Rentenpunkte für den Fall der Fälle sammelt, sich selbst verwirklichen und eventuell auch trennen kann. Dass sie das möchte, finde ich auch völlig in Ordnung, ist ja meine gute Erziehung. Nur die Infrastruktur haben wir dafür leider nicht in diesem Land. Die bin jetzt ich!
Lebensabend auf dem Spielplatz. Ja, das hatte ich mir anders vorgestellt. Und so sitze ich da, während die Apfelschnitze oxidieren, denn die will auch keiner, und frage mich, was hier falschgelaufen ist. Führen wir den Feminismus gerade ad absurdum? Hätten wir weniger demonstrieren und mehr für die Kinderbetreuung trommeln sollen? Warum wird es Familien so schwer gemacht, ihr Lebensmodell in die Tat umzusetzen?
Ambitioniert waren wir ja, aber konkrete Konzepte braucht’s – das erkenne ich jetzt ganz deutlich. Keiner gibt dir, was du willst, wenn du es nicht formulierst. Logisch. Wenn Leif-Lucas zu Hause sagt: »Bitte nimm etwas zu essen mit, Mama«, gibt es Apfelschnitze. Würde er sagen: »Aber bitte keine Apfelschnitze. Die hasse ich wie die Pest, bitte nur glutenfreie Brezen und ein kariesförderndes Quetschi!«, hätte es eventuell andere Verpflegung gegeben. Oder eine pädagogisch wertvolle Diskussion. Aber was ich von Pädagogik halte, erzähle ich Ihnen in den nächsten Kapiteln.
Meine Enkel sind völlig absorbiert von ihrem Sand-Management. Sophia backt kleine Kuchen mit Steinchendeko und Fritz-Ferdinand entwickelt ein Tunnelsystem für seine Autos mit der Erfolgsquote des BER in Berlin. No judgement. Ich muss schmunzeln. Spielen, bis der Geschlechterkampf kommt. Es ist ein lauer Frühlingstag, die Bäume säuseln über unseren Köpfen. Das blaue Band flattert wieder durch die Lüfte, hätte Mörike gesagt, als hätte man neun Monate mit dem zerknüllten Ding in der Winterjackentasche dagesessen. Endlich flattert’s wieder. Im Alter ist die Kälte kein Spaß, kann ich Ihnen sagen. Ich friere mit jeder Pore. Eigentlich wollte ich Yoga machen, aber darf ich ja nicht. Stattdessen gibt es kurz etwas Zwerchfellatmung auf der Spielplatzbank.
»Omi, meine Hände sind schmutzig.« Sophia hält mir ihre kleinen Hände hin.
»Kein Problem. Reib sie einfach aneinander. Der Sand ist doch trocken. Der rieselt dann wieder runter.«
Sie strahlt mich an. Omas wissen alles.
Das Verrückte ist ja: Die Mutter, die in Berlin-Prenzlberg auf ihrem Lastenrad das Kind mit der plastikfreien Brotdose in die zuckerfreie Kita fährt, ist gar nicht so emanzipiert, wie sie denkt. Sie geht ja in den meisten Fällen nicht arbeiten, weil sie es will, sondern weil sie es muss. Da krankt eigentlich das System. Früher konnte ein Mann allein eine Familie ernähren. Problemlos. Dann wäre der wahre Feminismus die Diskussion: Wer von beiden möchte denn jetzt gehen? Nur: Heute reicht ein Einkommen nicht mehr. Und dann ist da noch die ganze »Care-Arbeit« und der »Mental Load«, was früher Haushalt, Besorgungen und Freundschaften hieß. Da steht doch eine Systemkorrektur an. Da ist es mir wurscht, wer untenrum Stütz- oder Bügel-BH oder Igelschnauze trägt. Muss ich auch noch in die Politik – nur wer betreut dann meine Enkel?
»Omi, ich hab Durst!«
»Kein Problem, mein Hase, wir gehen gleich, und Omi hat den ganzen Kühlschrank voll.«
»Okay.«
Apfelschnitz-Mutti stellt kommentarlos ihre Trinkflaschen in einer Reihe auf. Ja, guck mal, so geht das, wenn man keinen Kaufmannsladen dabeihat. Ich zwinkere.
Gott, wie kann man so verliebt sein. Man liebt ja seine Kinder schon bis zum Mond und zurück, aber was daraus für eine Affenliebe wird, wenn die Enkel kommen – und auch wieder gehen. Das ist ein Spaß. Only the good times, kann ich Ihnen sagen. Meistens jedenfalls. Immerhin darf ich noch ganz profan »Oma« sein, während sich meine Tochter in der Tagesschau als »gebärende Person« betiteln lassen muss, weil Mütter nicht mehr »Mütter« genannt werden sollen. Könnte sich ja jemand diskriminiert fühlen. Fragt sich nur: Wer? Ja, ja, ich weiß schon, Tini hat mir das ganze Konstrukt erklärt. Aber irgendwie will es trotzdem nicht so richtig in meinen Kopf diffundieren. Warum machen sich die Menschen heutzutage so viele Gedanken darüber, ob sie Mann, Frau, irgendwas dazwischen oder gar beides gleichzeitig sind? Verstehe ich nicht. Ich habe ja schon mit Dragqueens Tee getrunken, als keiner damit etwas anfangen konnte. Einfach tolerant sein würde doch völlig ausreichen. Wir wollten gleichwertig, nicht gleichartig, als wir auf die Straße gegangen sind. Bei der Diskussion kommt mir echt jeglicher herabschauende Hund abhanden.
Im Sandkasten vor mir ist die Welt jedenfalls noch in Ordnung. Da wird einfach zum Prinzessinnen- oder Fußballförmchen gegriffen und gut.
In diesem Moment geschieht es: Leif-Lucas entreißt Sophia ihr pinkes Schäufelchen. Folge: das große Heulen. Oma ist gefragt. Auch Wonder Woman wird älter, kann ich Ihnen sagen. Leif-Lucas kann gar nicht so schnell gucken, da umkrallt sein Patschehändchen nur noch ein Nichts. Ich möchte wieder meinen Gedanken nachhängen, aber daraus wird leider nichts. Der kleine Mann gibt nicht auf. Sophia heult wieder.
Oma ist gefragt: »Sophia, lass dir niemals die Butter von der Brezen nehmen und schon gar nicht die Schaufel aus der Hand. Zur Not hau ihm eins mit dem Eimer über.« Man kann ja gar nicht früh genug mit der feministischen Erziehung anfangen.
Sophia nimmt ein blaues Schäufelchen. Ich bin gespannt, was sie jetzt damit vorhat. Man muss die Kinder ja auch mal ein Stück weit sich selbst überlassen. Und Mädels können auch ruhig mal eine Breitseite verpassen, finde ich. Sie legt es neben ihren Gegner. Was wird das denn? Leif-Lucas lächelt. Sie … tauschen! Ich bin entzückt. Mit Klischees aufs Kreuz gelegt. Ja, da kann sogar Omi noch etwas lernen. Aber wir wollen das Pferd mal nicht von hinten aufzäumen. Beginnen wir am Anfang.
Kapitel 1
Es fängt eigentlich alles mit einem Anruf meiner engen Freundin Hedwig von Treiden, 76, genannt Tati, an. Ja, Sie merken es schon, Spitznamen sind sehr beliebt in Adelskreisen. Es ist ein wunderbarer Junitag, der Sonnenschirm kräuselt sich unter einer norddeutschen Brise, und als es klingelt, sitze ich gerade mit einem Kaffee inmitten eines neuen Blumenarrangements auf meinem Eppendorfer Balkon, Look »Laura Ashley auf Koks«, wie Tati immer sagt.
»Hildchen, wir müssen dringend Yoga machen. Wenn ich mich bücke, fallen meine Brüste runter wie zwei Murmeln in Säckchen. Das muss sich ändern.«
Tati klingt wild entschlossen, und ich sehe sie regelrecht mit ihren roten Nägeln gestikulieren, während sie wie immer Kreise um ihren riesigen Marmor-Küchenblock läuft.
»Ich weiß gar nicht, wen du mit deinen Brüsten noch beeindrucken willst, Tati. Die haben ihren Job gemacht, drei Kinder lang. Mal davon abgesehen: Yoga wird die auch nicht praller machen, oder?«
»Das mag sein. Aber wenn wir alle Muskeln stärken, stärken wir doch auch den Brustmuskel. Also bist du nun dabei?«
»Klar. Fliegen wir in unseren Lieblings-Ashram. Wann geht es los?«
»Morgen um elf Uhr. Ich schicke dir einen Wagen. Wir nehmen den Vogel von Mickey. Den habe ich beim Poker auf Ibiza abgezogen, weißt du noch? Lasse ihn gerade volltanken.«
Habe ich erwähnt, dass Tati sich im Leben keine Sorgen mehr um Geld machen muss und die meisten unserer Freunde ebenso wenig? Zum Glück spielt das bei uns überhaupt keine Rolle, denn wir wären auch befreundet, wenn wir als zwei Clochards unter der Pont Neuf auf Platte leben würden. Ist aber nicht so. Und Geld wie Heu ist was Nettes. Macht das Leben einfacher. Und da alle wissen, dass mein Bankkonto nicht ganz so sehr explodiert wie das von Tati, werde ich immer eingeladen. Sehr praktisch.
»Dann gehe ich jetzt Yoga-Leggins shoppen, und wir sehen uns morgen«, erkläre ich.
Wir legen auf, und ich atme einmal tief ein und aus und trinke meinen Kaffee. Das Schöne am Ehemann-Verlieren ist ja: Du hast keinen Ehemann mehr. Du kannst machen, was du willst und wann du willst, denn besprechen musst du dich ja mit niemandem mehr. Auch spontan zum Yoga fliegen. Klar war es schlimm, meiner Ehe dabei zuzusehen, wie sie den Bach runterging. Immerhin waren Hans-Gert und ich viele Jahre glücklich, haben zwei wunderbare Kinder und fünf französische Bulldoggen großgezogen, sind durch die Welt gependelt, haben ein gigantisches Haus im Leinpfad gebaut und jahrelang ein bisschen über unsere Verhältnisse residiert, aber man lebt ja nur einmal.
Das Verrückte an der Liebe ist, dass sie ein bisschen ist wie Mimikry: ändert sich einfach permanent und in den Farben des Hintergrundes. Mal kommt sie sanft-romantisch daher, dann warnleuchtend wie ein Autounfall. Und manchmal ist sie nur eine gut getarnte temporäre Illusion. Und das meine ich nicht verbittert, ich finde das völlig okay. Im Leben geht es um nichts als die Liebe, wenn Sie mich fragen. Aber wenn die Gefühle verwelken, bringt es auch nichts, sie gefriergetrocknet in die Vitrine zu stellen. Dann muss man weiterziehen. Sich neu erfinden.
Hans hat das jetzt mit seiner zehn Jahre jüngeren Puschi gemacht. Liebe auf den ersten Rentnerblick. Ich habe für mich beschlossen, ihn einfach gehen zu lassen. Reisende soll man nicht aufhalten – das gilt auch für Ehemänner. Jetzt ist einfach Zeit für mich. Fürs Atmen, für Selbstliebe, fürs Ankommen in meinem neuen Lebensabschnitt. Ich genieße die Einsamkeit. Bin ohnehin schwer kompatibel, und mein neu gebastelter Mikrokosmos ist für mich hochfunktionabel. Ich habe beschlossen, nicht müde zu werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinzuhalten, um es mal in die Worte von Hilde Domin zu gießen. Ja, ich liebe Gedichte und Sätze, die man sich übers Bett hängen möchte. Schon immer. Mein Geist ist in dieser Hinsicht unersättlich, das werden Sie noch merken, ich entschuldige mich bereits vorab, falls Ihnen das zu viel sein sollte. Zur Not legen Sie mich beiseite und verschnaufen kurz, wenn ich Sie überfordere. Manchmal halten die Menschen mich für arrogant, aber das ist nur mein Humor. Und den braucht man im Alter, kann ich Ihnen sagen. Und noch mehr, wenn man mit 74 noch einmal das ganze Leben auf links dreht. Ich werde jetzt die Puppen tanzen lassen und mein eigener Bonvivant-Diktator.
Und sollte mich all das Neue doch langweilen oder gar ängstigen – kein Problem: Dann ziehe ich in mein kleines Landhaus im Harz, kaufe mir einen letzten Hund und streife mit ihm durch den Wald. Denn im Wald gibt es keine Neurotik. Das Dolce Vita des Eremiten kann ich. Ich habe so viel erlebt, ich kann mir bis über mein Lebensende hinaus selbst Geschichten erzählen, die ich noch nicht kenne. Aber das ist nur Plan B. Jetzt steht erst mal Yoga mit Tati an.
Kapitel 2
Älterwerden ist nicht wie Fahrradfahren, kann ich Ihnen sagen. Sie finden, Sie haben das super hinbekommen im Abschnitt 30 bis 40? Glückwunsch! Das heißt aber nicht, dass Sie Profi in der Kategorie 50 bis 60+ sind. Diese Gewissheit können Sie gleich in den Restmüll tauchen, oder Sie traben irgendwann wie ein Zirkusgaul, dem alle Sicherungen durchgebrannt sind, durch die Arena des Alltags. Habe da etwas Erfahrung: Es ändert sich nämlich ständig etwas. Und gern auch ohne Vorwarnung über Nacht. Altern ist nichts Gemächliches, Gemütliches, als wäre man über der Stricknadel eingeschlafen. Es ist eher wie ein Raubüberfall in nächtlicher U-Bahn-Romantik, während man mit dem Leben flirtet. Man ahnte es, aber hat es doch nicht kommen sehen – und dann ist es da. Es wäre schon hilfreich, wenn die Epidermis einen Newsletter schicken würde: »Sehr geehrte Trägerin, ab morgen ziehen wir 45 Prozent der Spannkraft Ihrer Augenlider ein, und wir vertiefen die Nasolabialfalte. Im Austausch gibt es etwas Kreislauf und senile Bettflucht.« Leider ist dieser Service vom Universum noch nicht eingerichtet worden. Stattdessen wacht man auf und sieht aus wie seine eigene Bulldogge.
Tati sagt immer: »Hildi, es ist egal. Altern ist wie Dosentomaten. Passiert einfach.« Ich gehe dann gern mal für kleine, minimalinvasive Korrekturen zu Tina, meinem Schönheits-Doc. Man muss sich ja im Spiegel anschauen können, ohne wie der Schrei von Munch auszusehen. Botox ist eine feine Sache und macht wohldosiert das Antlitz doch überzeugender, ausgeschlafener. Und nein, ich mache das nicht für andere, sondern für mich. Ansonsten vertraue ich auf gesunde Ernährung – und neuerdings auch Sport. Neuerdings war so ab Ende vierzig, als ich merkte, dass meine Faszien ab jetzt Uhu spielen, mein Rücken langfristig mit einem Hexenbuckel liebäugelt und meine Hormone Samba tanzen, wenn ich so weiterlebe wie bisher. Das Problem: Haben Sie schon mal Adelige in Turnhosen gesehen? Genau. Also musste etwas her, in das ich erst mal hineingleiten konnte, das beim Üben weniger lächerlich aussieht als ein Radoutfit mit Beinklemme und Helm – und das die Hormone auf die stille Treppe setzt. Und so wurde ich zu meinem eigenen Yoga-Guru – denn ab 60+ gilt: Turn oder stirb. Dazu gesellte sich Spaß, und irgendwann konnte ich Kopfstand. Und so teste ich grundsätzlich neue Yoga-Leggins. Auch im spießigen Hamburg-Eppendorf. In meiner Lieblingsboutique kennt man das schon.
»Und? Dehnbarkeit okay, Hildegard?«, fragt die kleine Verkäuferin, die so süß ist, dass man sie am liebsten mit der Hand füttern möchte. Nanni heißt sie und ist rehäugige 23, während sie wie ein Bärenjunges immer noch mehr neue Outfits anschleppt. Wir mögen uns, und ich würde allein ihretwegen den halben Laden leerkaufen, denke ich, während ich wieder auf den Füßen zum Stehen komme.
»Wunderbar. Ich nehme gleich drei davon. Python, Tiger und Löwe, bitte.«
»Gern. Als Geschenk verpackt wie immer?«
»Wie immer!«, nicke ich. So viel Zeit muss sein. Ich kaufe doch nicht, ich beschenke mich. »Henn-Attitüdheit«, nennen Tati und ich das heimlich. Denn schließlich bedeutet diese Yoga-Leggins mehr Lebenszeit. Altwerden muss man maßschneidern, dann ist es die Lizenz zum Töten. Dann killen Sie alle mit Ihrer Effizienz, Ihrer Stil- und Selbstsicherheit. Sie werden der Mensch, der Sie schon immer hätten sein sollen, wie mein Freund David Bowie immer sagte, nur ohne Ängste und ohne Scham. (Diese Gefühle kann man sowieso nicht gebrauchen, die bringen einen nirgendwohin im Leben.) Dazu kommen ein fein gereifter Verstand und die Seele. Die können und wollen wir nicht glattbügeln, denn beide werden schöner. Selbst mit Narben, Schrammen und Schrecken gespickt. Deswegen denke ich auch nicht in Lebensjahren, ich denke in Leveln.
Neulich fragte mich tatsächlich so ein Jungspund: »Wie alt sind Sie eigentlich, Hildegard, wenn ich das fragen darf?«
Meine Antwort kam ohne Umschweife: »Ich habe Level 74 erreicht.«
Der einzige schräge Moment ist der, in dem Sie aus der Dusche kommen, Ihr Arm winkt schlaff dem Spiegel entgegen, und Sie denken: What the hell happened? Yoga kann viel, aber nicht alles! Meine Geheimwaffe ist dann grundsätzlich: Humor. Tati sagt immer: »Das Leben ist kurz – lächele, solange du Zähne hast.« Habe ich mir gleich als Post-it an meinen Kühlschrank geklebt.
Fröhlich laufe ich mit meiner schnieken pinken Papiertüte über den Baum. Man sagt nicht mehr Eppendorfer Baum, sondern nur noch Baum. Fragen Sie meinen Friseur, der weiß das und hält mich immer auf dem Laufenden. Die Sonne zwinkert durch das Sommerblattwerk, und mein junger Geist und ich sind voller Vorfreude, denn wir sind verliebt: in die Hoffnung, Wunder aller Arten und die Möglichkeiten, die beide für uns bereithalten.
Kapitel 3
Der Wagen quält sich durch den Hamburger Stadtverkehr Richtung Geschäftsfliegerzentrum. Es liegt westlich vom Terminal 2, »wo der Pöbel einsteigt«, wie Tati immer scherzhaft sagt, denn normalerweise gehören wir ja auch dazu. Nur ein glückliches Pokerhändchen rollt uns gerade den roten Teppich aus. Das GAT – kurz für General Aviation Terminal – trägt die Gebäudenummer 345, als gäbe es noch 344 andere Privatjet-Terminals mit eigener Zufahrt und Parkplatz vor der Haustür. Ich muss schmunzeln. So reist es sich doch gleich ganz anders.
Kurze Zeit später öffnet mir der nette Fahrer die Tür, hilft mir mit dem Gepäck und wünscht einen angenehmen Flug. Gute Manieren sind einfach wie Rizinusöl auf der Leber – immer eine gute Idee.
Ich bin gerade durchgescannt und beginne langsam zu realisieren, was für wunderbare Wochen vor mir liegen, als sich die Situation schlagartig ändert. Mein Handy brummt in meiner Tasche, und meine Tochter Tini leuchtet auf dem Display auf. Noch denke ich mir nichts dabei und freue mich schon, ihr zu erzählen, was ich gleich vorhabe, als das Telefon ein Geräusch von sich gibt und mir vor Schreck fast mein Lounge-Kaffee aus der Hand fällt. Ist das ein Schluchzen?
»Mamaaa, wo bist duuu?«, weint mein großes Kind in den Hörer.
»Auf dem Weg mit Tati in unseren Lieblings-Ashram. Ich warte gerade am Gate auf sie. Wieso?«
»Waaas?«, brüllt Tini mir ins Ohr. »Bitte nicht. Das geht nicht. Du kannst jetzt nicht wegfliegen. Mama, ich brauche dich. Ich bin total verzweifelt.«
Sie schnäuzt sich die Nase, als bekäme sie es bezahlt, und redet so hastig, dass ich nur Wortfetzen verstehe.
»Tini-Schätzchen, jetzt beruhige dich. Atme. Und noch mal von vorn. Was ist passiert?«
»Nichts ist passiert. Das ist es ja gerade. Wir bekommen doch keinen Kita-Platz für Fritz-Ferdinand und Sophia. Eine Gruppe wird wegen Personalmangel gestrichen und die andere halbiert, einfach so, und wir haben halt Pech. Christians Start-up läuft auch nicht, gar nicht. Er ertrinkt in Schulden, und ich habe gerade die Chance bekommen, Head of Sales bei uns in der Firma zu werden. Ich habe gar keine Wahl, wenn ich uns über Wasser halten will, aber ohne Kinderbetreuung wird das nichts.«
Erwähnte ich, dass mein Schwiegersohn leider eine Flasche ist? Jetzt hat er auch noch beschlossen, Bierbrauer zu werden, und panscht im Keller ein dunkles, ungenießbares Gesöff, das er an Bars verhökern will. Und sieht dabei so spießig aus, als würde er in einer Versicherung arbeiten und ein Reihenendhaus mit Kiesauffahrt und Wärmepumpe bewohnen. Ein Alibi-Ausbruch aus der Angepasstheit, wenn Sie mich fragen. Aber ich bin ja klug und behalte so etwas für mich. Tini ist dagegen sehr zielstrebig und ein Marketing-Talent. Konnte sich schon immer gut verkaufen, das Mädchen. Sitzt seit Jahren in der großen Versandhausfirma About Me, die Frauen und das Internet rechtzeitig als Einnahmequelle entdeckt hat.
»Und Christian? Der kann seine Kinder nicht betreuen?«
»Nein. Der soll sich um sein verdammtes Craftbeer kümmern und endlich schwarze Zahlen zapfen. Und wenn ich jetzt nicht Gas gebe, dann kriegt eine von den jüngeren kinderlosen Mädels hier den Job. Dann können wir uns aber auch ein neues, billigeres Leben suchen, denn das jetzige können wir uns dann nicht mehr leisten.«
»Ab wann brauchst du mich denn? Dann komme ich gleich nach unseren Yoga-Wochen …«
»Neiiin, du kannst jetzt nicht zum Yoga fliegen! Ich brauche dich jetzt, ich habe gleich einen Videocall. Beim letzten hat Fritz-Ferdinand mir sein Müsli in den Schoß gekippt und Sophia ›Du dumme Kuh‹ zum Vorstand gesagt und die Zunge rausgestreckt. Die kleinen Monster kriegen jede Tür auf! Und sie haben immer Hunger, selbst wenn sie gefrühstückt haben und ich Getränke und Snacks hinstelle. Ständig will einer von beiden was! Und morgen muss ich nach Paris, das Marketing für die nächste Frühjahrskollektion mit abstimmen. Mama, ich vermassle unser Leben, wenn du jetzt nicht kommst.« Tini weint schon wieder und schnappt nach Luft, bevor sie hinterherschiebt: »… und mein zukünftiges Leben, falls ich mich trenne, was ich dann gar nicht mehr kann …«
Meine Stimmung hellt sich schlagartig auf. Die Flasche Christian loswerden klingt nach einer guten Idee. Kann ja nicht sein, dass meine clevere Tochter in der klassischen Feministinnenfalle hockt. Das muss geändert werden. Und meine Enkel sind natürlich Zucker. Und hey – irgendwann winkt ja auch der nächste Kindergartenplatz. Bis dahin machen wir einfach Kinderyoga, gehen auf den Spielplatz und spucken Kirschkerne aus dem offenen Porsche.
»Tini, beruhige dich. Okay. Ich sage jetzt Tati ab und komme. Wir kriegen das hin.«
»Oh, Mama. Ich bin sooo froh, ich weiß gar nicht, was ich ohne dich machen würde.« Tini heult inzwischen so laut, dass ich befürchte, mein Telefon wird nass.
»Gar kein Problem. Bis gleich.«
Kurz lasse ich mich noch einmal in einen der Lounge-Sessel in dem luxuriösen Terminal sinken. Es war ein zu schöner Plan gewesen.
Was Tati wohl sagen wird? Aber jetzt habe ich eine neue, wichtigere Mission: Tini den Rücken freihalten, damit sie frei und unabhängig Karriere machen kann – und Christian bald Geschichte ist.
Kapitel 4
Wie schnell sich das Leben ändern kann. Ein Wimpernschlag, und man ist nicht mehr im Begriff, in einen durchklimatisierten Privatjet zu steigen, sondern sitzt in einem ungesaugten Taxi. Aus dem Terminal winkt mir einsam eine entsetzte Tati hinterher, die mich natürlich versteht, aber erst mal die Situation verdauen muss. Habe ihr gleich ein paar Bittertropfen gegeben, weil ich weiß, dass sie in ein paar Minuten Frustkuchen in der Lounge isst. 2024 tragen wir Best Ager nämlich keinen Kräuterlikör in der Tasche mit uns herum, nein, wir haben Bitterstoffe dabei, um Magensäure wie Aasgeier zu entwickeln, wenn es drauf ankommt. Na ja, ich zumindest.
Ich tue mir immer noch etwas selbst leid, als wir in Tinis Straße einbiegen. Bitte nicht falsch verstehen: Ich liebe meine Enkel über alles, aber mich und meine neu entdeckte Selbstverwirklichung eben auch. Und die wollte ich jetzt eigentlich gerade mal leben. Haltlos egoistisch sein, die Zügel lockerlassen, keine Pflichten, keine To-dos, nur ich. Das muss ich dann wohl noch mal schieben.
Das Absurde ist, dass es gleich noch absurder wird. Tini steht verheult in ihrer Haustür und sagt: »Mami, du musst jetzt gleich in die Kita Bi-Ba-Butzemann fahren. Da ist Elternabend, und wir haben die Chance, auf der Warteliste eingetragen zu werden. Aber nur, wenn jemand von uns da erscheint. Und ich muss packen, und Christian ist beim Bier-Tasting. Ich habe schon alles eingereicht für das Nachrückverfahren, die Bewerbung, unsere Lebensläufe, den Stammbaum, Fotos für einen ersten Eindruck, Bastelarbeiten und einen Brief, dass wir bei jedem Aktionstag die Planung übernehmen, backen und helfen werden. Jetzt müssen wir nur noch einmal da erscheinen und etwas demütig atmen. Kannst du …?« Sie seufzt. »Ich schreibe dir jetzt Listen, damit du alles weißt, und morgen um fünf Uhr muss ich los. Ich bin aber noch die ganze Nacht erreichbar, wenn du Fragen hast. Wäre das okay?«
Und so sitze ich eine halbe Stunde später tatsächlich in orthopädisch bedenklicher Haltung im Stuhlkreis der Hölle. L’enfer, c’est les autres, kann ich Ihnen sagen. Wobei ich nicht glaube, dass Sartre je zu einem Elternabend musste. Es ist absurd, wie schnell man sich unter Gleichgesinnten als Außenseiter fühlen kann. Gleiches Gefühl wie mit dreißig. Ich bin nicht wie ihr – denken doch alle. Kollektiv starren Mütter, Väter und Omas konzentriert weg, denn man kennt sich ja nicht, und die Kita-Chefin, die man problemlos ohne Alibi hätte angucken können, ist noch nicht da.
Die Einzige, die meinen Blick erwidert, ist eine ebenfalls ältere Frau schräg gegenüber, die allerdings etwas seltsam anmutet. Sie trägt eine Art Baumwollkleid, das kaum eine Form aufweist, und dazu Birkenstocks mit Socken. Gut, die Frau neben ihr ist Anfang dreißigund fast identisch gekleidet, aber in dem Alter sieht das noch wie ein Mode-Fauxpas aus. Kann man verzeihen. Im fortgeschrittenen Alter hat es ein Geschmäckle, kurz vor DDR-Schrebergarten-Look meets Sanitätsfachhandel. Ich taufe sie in Gedanken Erna.
Neben Erna sitzt, wie gesagt, ihr junges Ich, daneben eine durchtätowierte Dauergebräunte in Begleitung eines genauso durchgegarten, durchstochenen Mannes und noch weiter rechts drei Frauen mittleren Alters, die alle die Beine in die gleiche Richtung übereinandergeschlagen haben, Jeans, Turnschuhe, Ringelshirt, Blazer, lackierte Fingernägel von Rot bis Pink – tragen jetzt alle Fashionistas von Malibu bis Meppen, las ich neulich –, dazu Notizblock oder Handy zum Mitschreiben gezückt. Als kleine Mädchen haben sie sich im Unterricht vermutlich mit flehendem Blick und schnipsendem Finger gemeldet, ihre Stempel im Fleißheft gezählt und bekamen von den Jungs Papierwurfgeschosse an den Kopf geworfen. Neben den Strebern sitzen zwei Frauen, die unverkennbar Mutter und Tochter sind. Sie tragen beide zarte Blumenkleider über üppigen Schenkeln, dazu eine Hochsteckfrisur, lächeln gütig wie Mutter Teresa und sehen aus, als würden sie täglich Zuckerkringel backen. Letzte im Kreis sind noch zwei Mütter, die wirken, als hätten sie ihre eigene Existenz vergessen. Blass und fad, mit dünnen Haaren und verwaschenen Einteilern hängen sie auf ihren Stühlen, als erwarteten sie Nackenschläge. Das ist also die Elternwelt von heute? Kann ja witzig werden. Wenn jetzt noch die Langeweile mit dem Sauerstoffmangel eine Kooperation eingeht: gute Nacht. Erna lächelt allwissend in meine Richtung. Ob sie das Gleiche denkt wie ich?
»So, herzlich willkommen in der Kita Bi-Ba-Butzemann!«, begrüßt uns die Chefin, Wickie-und-die-starken-Männer-Frisur, gewinnendes Lächeln, Latzhose, ein Stoffball unter dem Arm. »Da wir uns ja alle gar nicht kennen, dachte ich, wir machen ein kleines Kennenlernspiel. Jeder, der den Ball fängt, stellt sich einmal vor.«
Sie wirft den Ball schwungvoll zu unserer Tattoo-Freundin, die gleich in breitem Mecklenburgisch antwortet: »Ich bin die Anja, meine Tochddär heißt Lilly-Rooose und daaas« – sie zeigt auf den Mann neben sich – »ist nicht ihr Vaddär, sondern moin neuer Lebensgefährdeee.«
»Und Sie holen dann beide das Kind ab?«, lächelt die Wickie-und-die-starken-Männer-Frisur voller Verständnis. Sie ist absolut sympathisch dabei, aber über die Latzhose komme ich nur schwer hinweg.
»Nee, oh Gott, nein, auf koinen Fall«, sagt die Anja.
»Was? Wieso nich?«, fragt das enttäuschte Gesicht neben ihr. Seinen Arm ziert ein Clown mit einer Träne auf der Wange. Der arme Junge.
»Ach sooo. Doch. Eer schon. ’tschuldigung«, stammelt die Anja, die jetzt auch verstanden hat, dass sich die Frage nicht auf den Kindsvater bezogen hat. Sie tätschelt ihrem traurigen Clown den Arm, als wäre er ein Dackel, und lacht nervös. Gut, dann wissen jetzt alle Bescheid. Ex-Mann ist durch, neuer noch nicht ganz etabliert, aber fast. Alles in Butter. Kennt man.
Die Jeans-Blazer-Truppe macht ganz unorthodox weiter: Name, Name Kind, Alter, Gruppe, Terminwunsch wegen Berufseinstieg, ultrawichtig, brennt überall, denn ohne sie geht nichts. Sie wirken alle wahnsinnig integer, unbeirrbar und angekommen. Wenn sie wüssten, dass dieser Zustand nicht ewig anhält. Danach stellen sich die Blumenkleider vor, tatsächlich Mutter und Tochter, die sich dabei wie eineiige Zwillinge synchron am Rockzipfel zupfen. Christa und Cornelia. Klingt ein bisschen nach Musikantenstadl, wie Marianne und Michael, nur als Mutter-Tochter-Duo. Aber singen ist vermutlich nicht so ihr Ding. Ich mag sie, sie wirken tolerant und unkompliziert.
Der Ball fliegt weiter und ist dabei so beliebt wie eine volle Windel. Eigentlich hat man das Gefühl, alle möchten ihn schnell weiterreichen. Jetzt ist jemand aus der Blass-und-fad-Ecke dran: »Ich bin die Ariane, mein Sohn ist der Jedi, und uns ist eine möglichst klimaneutrale Erziehung wichtig.«
Stille.
Plötzlich fragt jemand: »Wie geht denn das im Detail?« Huch, das war ich.
Erna sekundiert: »Atmen tut der Junge doch noch? Vielleicht zuckerfrei ernähren, damit er weniger pupst?«
Die Mutter ist entsetzt, der Rest sitzt es aus und tut so, als wäre dieser Dialog ein Gespräch übers Wetter, völlig normal.
»Die Fragerunde ist noch gar nicht dran«, beschwichtigt Wickie in Latzhose. »Fehlt noch jemand? Wer hat noch nicht den Ball gefangen?«
Die Letzte der Blazer-Mütter hebt die Hand, fängt den Ball und beginnt ihren Satz mit: »Ich bin Isabell, mein Sohn ist Maxi, er ist zwei, und ich hoffe auf einen baldigen Platz, denn mein Chef kennt keinen Feierabend und …« Ihr Handy klingelt. Es ist so laut und vibriert so heftig, dass ihre Tasche runterfällt und sie dabei fast vom Stuhl. Sie stürzt mit einem »Entschuldigung, ich muss da rangehen, sonst kann ich mir den Kindergarten bald nicht mehr leisten« aus dem Raum, während sie Erna den Ball zuwirft.
»Ich bin Hannelore, habe heute Ausgang und freue mich sehr, hier zu sein.« Sie macht eine Geste, bei der jedem der Anwesenden sofort klar ist, dass sie zu der Frau gehören muss, die gerade mit dem Handy rausgestürmt ist. Vermutlich die Schwiegermutter, denn so nah wie die Blumenkinder wirken die beiden nicht. Tja, es scheint wohl an der Tagesordnung, dass die Omis einspringen müssen. Da haben wir ja echt viel erreicht mit unseren Feminismus-Demos in den Sechzigern.
Latz-Wickie erklärt uns ein bisschen was über Datenschutz, Hausregeln, wann ein krankes Kind krank ist, falls wir das nicht wissen, und was wir den Kindern alles mitgeben müssen. Wechselkleidung, Matschhosen, Hausschuhe, Zahnputzbecher, Mitbringsel zum Geburtstag, aber nur bestimmte – die Liste ist endlos, bitte alles beschriftet, bis auf die Mitbringsel, versteht sich. Und falls wir die Krätze, Typhus, Shigellenruhr oder die Pest haben, sollten wir bitte, bitte nicht kommen und die Mitteilungspflicht unbedingt einhalten. Da würde uns auch das Gesundheitsamt weiterhelfen, wenn wir mehr Informationen bräuchten. Wow. Ich warte noch auf den Tipp, unser Kind ins Krankenhaus zu bringen, falls es sich aus Neugier eine Axt ins Bein hauen sollte. Danach gibt es Hausaufgaben für uns. Wann ist es eigentlich ein Vollzeitjob geworden, sein Kind für die Betreuung auszustaffieren, das Equipment zu managen und immer auf dem aktuellen Stand zu halten? Dann bekommen wir zehn Seiten zum Lesen und Ausfüllen, außerdem eine Seite für den Kinderarzt und noch ein paar Ankreuzseiten für den Datenschutz. Eine der Blazer-Mütter heftet gleich alles in einem Ordner ab. Wow. Es ist also tatsächlich ein Job.
Als die Fragerunde eingeläutet wird, steht einer der Väter todesmutig auf und murmelt: »Sorry, nein, beim besten Willen, aber ich muss jetzt los, hab Nachtschicht.« Einige schauen ihm sehnsüchtig hinterher, als hätten sie auch gern Nachtschicht. In der ungläubigen Stille hört man draußen kurz die Blätter rauschen, als eine Brise aufkommt. Vor meinem inneren Ohr tut sich ein künstlich hinzugefügtes Vinyl-Knistern auf, als wäre die Platte zu Ende, aber niemand hat’s gemerkt.
Es geht aber natürlich weiter: »Gibt es noch Fragen?« Unsere Wickie wird einfach nicht müde, und damit ist sie nicht die Einzige. Einige Eltern beten, das sieht man an ihren Augenschlitzen. Aber es gibt ja immer einen, der noch eine Frage aus dem Hut zieht. Während ich die Bilder an der Wand mustere, meldet sich eine von den Faden-Blassen:
»Verwenden Sie auch geschlechtsneutrale Pronomen? Ich bin mir bei unserem Kind noch nicht ganz sicher, womit es sich identifiziert und ob ich es prophylaktisch als divers anmelde. Würden Sie dann auch einen neutralen Sprachgebrauch pflegen?«
Latzhosen-Wickie sieht etwas irritiert aus. »Können Sie das konkretisieren?«
»Na ja, würden Sie dann auch statt ›er‹ oder ›sie‹ ein anderes Pronomen benutzen? Wenn mein Kind ein Bild gemalt hat, würde ich ungern hören, wie Sie sagen, dass ›er‹ oder ›sie‹ ein Bild gemalt hat, sondern: ›Das Bild hat dey gemalt.‹ Ist das bei Ihnen allgemeiner Sprachgebrauch, oder drücken Sie sich eher cis-normativ aus?«
Die Stille, die nun folgt, ist so laut, dass sie die davor toppt. Die Blumenkinder zupfen an ihren Röcken, die Jeansfraktion wechselt synchron das überschlagene Bein. Erna und ihr Junges machen Uhu-Augen, und die Tätowierten gucken, als hätte ihnen jemand erklärt, dass das Sonnenstudio ab sofort dauerhaft geschlossen hat. Die Kindergarten-Chefin ringt nach Worten: »Ja, also, wir sind ein sehr offener und toleranter Kindergarten, und wir wären bemüht. Ob jetzt jede einzelne Erzieherin verbal so fit ist, kann ich leider nicht garantieren, aber es wird sicher LGBTQ-Fortbildungen dazu geben. Noch jemand Fragen?«
Erna steht auf und zieht das Fazit des Abends: »Sorry, aber ihr jungen Leute habt echt einen an der Waffel. Das hält man ja im Kopf nicht aus.«
Die dritte Stille wird unterbrochen von allgemeiner Aufbruchstimmung.
»Also, dann drück ich Ihnen allen die Daumen. Die Warteliste ist lang, aber es gibt ja auch immer Fluktuation, Zu- und Wegzug. Wir melden uns bei Ihnen, wenn Sie die ausgefüllten Unterlagen bis morgen Abend eingereicht haben. Viel Glück.«
Ich lasse mich mit dem Elternstrom nach draußen spülen, als plötzlich die panische Handymutter wieder vor mir steht. »Ihre Schwiegermutter hat einen Punkt, auch wenn ihr Ausdruck für junge Eltern etwas radikal anmuten mag«, sage ich, während ich mit meinem Blazerärmel kämpfe.
Sie hilft mir hineinzuschlüpfen und murmelt nur irritiert zurück: »Meine Schwiegermutter?« Dann sprintet sie davon, denn ihr Handy klingelt schon wieder ihre Handtasche kaputt.