One Dark Window - Die Schatten zwischen uns - Rachel Gillig - E-Book

One Dark Window - Die Schatten zwischen uns E-Book

Rachel Gillig

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Beschreibung

»Ich bin der Wind in den Bäumen, bin Schatten und Schrecken. Das Echo in den Blättern - der Nachtmahr, dich zu wecken.«

Wer von der Magie befallen ist, die im Nebel von Blunder lauert, wird von der Königsgarde vernichtet. Doch Elspeth Spindle hat überlebt, dank des düsteren Wesens, das in ihrem Geist gefangen ist und ihr enorme Kräfte verleiht. Eines Nachts begegnet sie im Wald einem geheimnisvollen Mann. Ravyn Yew, Hauptmann der königlichen Streiter, will den Fluch des Nebels brechen. Dazu benötigt er zwölf magische Karten, die nur Elspeth finden kann. Und so muss sie nicht nur dem Mann vertrauen lernen, den sie immer als ihren größten Feind sah, sondern sich auch der Anziehung zwischen Ravyn und ihr stellen. Und es gibt noch eine Wahrheit, der sie nicht entrinnen kann: Das Wesen in ihr droht alsbald ihren Geist zu verschlingen ...

»Eine Geschichte mit Zähnen und Klauen, die ganz und gar verzaubert. Gilligs Sprache wird euch in ihren Bann ziehen.« ALLISON SAFT

Band 1 der THE SHEPERD KING-Dilogie

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Seitenzahl: 577

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Anmerkung der Redaktion

Teil I

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Teil II

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Teil III

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Danksagung

Die Autorin

Die Bücher von Rachel Gillig bei LYX

Impressum

RACHEL GILLIG

One Dark Window

DIE SCHATTEN ZWISCHEN UNS

Roman

Ins Deutsche übertragen von Katrin Reichardt

Übertragung der Gedichte von Helmut W. Pesch

ZU DIESEM BUCH

Wer von der Alten Magie befallen ist, die im nebelumwogten Wald von Blunder lauert, wird von den Streitern des Königs vernichtet. Doch Elspeth Spindle hat überlebt, dank der mutigen Menschen, die ihr Geheimnis wahren und dank des Nachtmahrs, eines düsteren Wesens, das in ihrem Geist gefangen ist und ihr besondere Kräfte verleiht. Als Elspeth eines Nachts im Wald einem geheimnisvollen Mann begegnet, ist dies der Beginn einer gefährlichen Suche. Ravyn Yew, der Hauptmann der Streiter, ist in Wirklichkeit Anführer einer Gruppe von Verschwörern, die den Fluch über Blunder brechen und den tyrannischen König stürzen wollen. Dies kann nur mithilfe der zwölf Vorsehungskarten gelingen – der einzigen Quelle der Magie, die nicht verboten ist. Allein Elspeth ist in der Lage, die verborgenen Karten aufzuspüren, welche von ihren Besitzern streng gehütet werden. Und so muss sie nicht nur dem Mann vertrauen lernen, den sie als ihren größten Feind sah, sondern sich auch der unwiderstehlichen Anziehung zwischen ihr und Ravyn stellen. Doch ganz gleich, ob sie ihre Gefühle zulässt oder nicht – es gibt eine Wahrheit, der sie nicht entkommen kann: Der Nachtmahr wird stärker und droht ihren Geist zu verschlingen. Und Elspeth weiß nicht, ob sie ihn aufhalten kann …

Auf die stillen Mädchen mit Geschichten in den Köpfen.

Auf ihre Träume – und ihre Albträume.

ANMERKUNG DER REDAKTION

Liebe Leser:innen,

die Familien im Königreich Blunder tragen allesamt die Namen von Bäumen und Pflanzen.

Um den Klang der Namen der Protagonist:innen in der Geschichte zu erhalten, wurden deren Familiennamen im Erzähltext nicht ins Deutsche übertragen. Einige der Bäume haben jedoch im Roman und im Volksglauben eine besondere Bedeutung. Daher haben wir uns in Absprache mit der Autorin dafür entschieden, euch ein Glossar mit den deutschen Namen mitzugeben und die Bedeutung der Hausbäume der Hauptcharaktere im Volksglauben etwas näher zu beleuchten. Wir hoffen, dass es euch Freude macht.

Spindle – Pfaffenhütchen oder Spindelstrauch

(Euonymus europaeus)

Das Holz wurde früher u. a. für die Herstellung von Spindeln verwendet. Feurig pinkes Herbstlaub. Euonymus (»von gutem Ruf«) ist ein sogenannter Tabuname, der die Gefährlichkeit des giftigen Strauches abwehren sollte.

Yew – Eibe

(Taxus baccata)

Giftig, galt als heiliger oder magischer Baum bei den Kelten und in anderen Kulturen, da er als Verbindung zwischen der Welt der Lebenden und Toten gesehen wurde. Sein Holz wurde im Mittelalter bevorzugt für die Herstellung von Bögen verwendet.

Hawthorn – Weißdorn oder Hagedorn

(Crataegus)

Strauch mit spitzen Dornen und roten Beeren, gilt als Sitz der Elfen und Feen und taucht sehr oft in der keltischen Sagenwelt auf – so schläft zum Beispiel Merlin unter einem Weißdornbusch. Er gilt auch als Schutzpflanze und wurde gern als Grenzbepflanzung angelegt.

Rowan* – Eberesche oder Vogelbeere

(Sorbus aucuparia)

In den nordischen Kulturen ist der Baum mit den roten Beeren mit dem Gott Thor assoziiert, auf den britischen Inseln gilt die Eberesche als Schutz gegen Magie und Hexerei.

Weitere Familiennamen:

Ash - Esche

Beech - Buche

Gorse - Ginster

Juniper – Wacholder

Laburnum – Goldregen

Larch – Lärche

Linden (Tree) – Linde

Moss – Moos

Pine – Kiefer

Thistle – Distel

Whitebeam (Tree) – Mehlbeere oder Silberbaum

Willow – Weide

Yarrow – Schafgarbe

Ivy – Efeu

* In den Versen des Hirtenkönigs werden die Rowans »Escher« genannt.

TEIL I

DIE KARTEN

1. KAPITEL

Ich war neun Jahre alt, als die Ärzte zum ersten Mal in unser Haus kamen.

Mein Onkel und seine Männer waren fort. Meine Cousine Ione und ihre Brüder spielten lautstark in der Küche, weswegen meine Tante das Hämmern an der Tür erst hörte, als der erste Mann in weißem Gewand bereits in der Stube stand.

Sie hatte keine Zeit, mich zu verstecken. Ich schlief, schlummerte wie eine Katze am Fenster. Als sie mich wachrüttelte, war ihre Stimme voller Angst. »Lauf zum Wald«, flüsterte sie, entriegelte das Fenster und schob mich sanft durch die Öffnung hinaus.

Ich landete nicht auf warmem Sommergras. Mein Kopf schlug auf Stein und ich blinzelte gegen die schwarzen Flecke an, die die schwindelerregende Übelkeit vor meinen Augen tanzen ließ, mein Kopf umkränzt von roter, klebriger Wärme.

Ich hörte sie drinnen im Haus, ihre schweren Schritte, die von ihren bösen Absichten zeugten.

Steh auf, rief die Stimme in meinem Kopf. Steh auf, Elspeth.

Ich kam wankend auf die Beine, den Blick sehnsüchtig auf die Baumgrenze direkt hinter dem Garten gerichtet. Nebel umfing mich, und obwohl ich mein Amulett nicht in der Tasche hatte, rannte ich auf die Bäume zu.

Doch der Schmerz in meinem Kopf war zu stark.

Wieder stürzte ich und Blut lief meinen Hals hinunter. Sie werden mich fangen, rief ich, besinnungslos vor Angst. Sie werden mich töten.

Niemand wird dir ein Leid zufügen, Kind, knurrte er. Aber jetzt steh auf!

Ich versuchte es. Versuchte es mit aller Kraft. Doch mein Kopf war zu schlimm verletzt, und nach fünf verzweifelten Schritten – der Waldrand so nah, dass ich ihn bereits riechen konnte – stürzte ich zu Boden, umfangen von einer kalten, leblosen Ohnmacht.

Ich wusste, dass das, was als Nächstes geschah, kein Traum war. Es konnte keiner sein. Wenn ein Mensch ohnmächtig war, träumte er nicht. Ich träumte keineswegs. Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich es sonst bezeichnen sollte.

In meinem Traum sickerte der Nebel, dicht und dunkel, in mich hinein. Ich befand mich, genau wie einen Augenblick zuvor, im Garten meiner Tante. Ich konnte sehen und hören – die Luft riechen, die Erde unter meinem Kopf spüren –, doch ich war erstarrt, konnte mich nicht rühren.

Hilfe, rief ich kläglich. Hilfe.

Schritte ertönten in meinem Kopf, schwer und eilig. Tränen rannen meine Wangen hinunter. Ich erschrak, konnte jedoch nichts erkennen, sah nur verschwommen, als wäre ich von Meerwasser umgeben.

Plötzlich durchfuhr ein brennender, wilder Schmerz meine Arme und meine Adern färbten sich schwarz wie Tinte.

Ich schrie. Schrie, bis die Welt um mich herum verschwand – bis mein Sichtfeld sich so weit verengte, dass alles schwarz wurde.

Ich erwachte unter einer Erle, verborgen vom Nebel und dem dichten Grün des Waldes. Der Schmerz in meinen Adern war verschwunden. Irgendwie hatte ich es, mit aufgeschlagenem Kopf, geschafft, die Baumgrenze zu erreichen. Ich war den Ärzten entkommen.

Ich würde leben.

Meine Brust schwoll an und ich schluchzte vor Freude auf, während mein Geist noch immer gegen die abebbende Panik ankämpfte, die mich zu überwältigen gedroht hatte.

Erst als ich mich aufsetzte, spürte ich den Schmerz in meinen Händen. Ich blickte auf sie hinab. Meine Handflächen waren zerkratzt und aufgerissen, und dort, wo meine nun erdverkrusteten Nägel abgebrochen waren, waren meine Finger blutverschmiert. Um mich herum war die Erde aufgewühlt und das Gras umgeknickt. Etwas – oder jemand – hatte es platt gedrückt.

Etwas, oder jemand, hatte mir geholfen, durch den Nebel zu kriechen und mich in Sicherheit zu bringen.

Er verriet mir nie, wie er meinen Körper bewegt hatte, wie er es an jenem Tag geschafft hatte, mich zu retten. Das blieb eines seiner zahlreichen Geheimnisse, die unausgesprochen, teilnahmslos in der Dunkelheit, die wir hüteten, ruhten.

Trotzdem hörte ich damals zum ersten Mal auf, mich vor dem Nachtmahr zu fürchten – vor der Stimme in meinem Kopf, dem Wesen mit merkwürdigen, gelben Augen und einer unheimlichen, weichen Stimme. Inzwischen waren elf Jahre vergangen und ich fürchtete ihn überhaupt nicht mehr.

Obwohl ich es sollte.

An jenem Morgen ging ich den Waldweg entlang, um Ione in der Stadt zu treffen.

Graue Wolken verdunkelten den Himmel und der Pfad war rutschig – dicht mit Moos bewachsen. Der Wald hielt sein Wasser fest, schwer und nass, als wolle er sich gegen den unvermeidlichen Wechsel der Jahreszeiten auflehnen. Nur hier und da hob sich aus dem smaragdgrünen Schimmer ein Hartriegel ab, der seine rotorangefarbenen Blätter flammend und stolz im Nebel leuchten ließ.

Eine Schar Vögel flatterte unter einem Buchsbaum auf, aufgeschreckt von meinen plumpen Schritten, und stieg wirr empor, durch den Nebel, der so dicht war, dass sie ihn mit ihren Flügeln aufzuwirbeln schienen. Ich zog die Kapuze tief in die Stirn und pfiff eine Melodie. Es war eines seiner Lieder, eines der vielen, die er in den dunklen Winkeln meines Geistes zu summen pflegte. Alt, klagend und sanft tönte es durch das leise Rauschen des Waldes. Es klang angenehm in meinen Ohren, und als die letzten Töne trillernd über meine Lippen kamen und den Pfad entlangschallten, bedauerte ich, sie verklingen zu hören.

Kurz zog ich mich in meinen Hinterkopf zurück – tastete in der Dunkelheit umher. Als ich keine Antwort erhielt, trottete ich weiter den Weg entlang.

Als der Weg zu schlammig wurde, lief ich im Wald weiter, wurde jedoch von einem Gestrüpp mit Brombeeren – schwarz und saftig – aufgehalten. Bevor ich sie aß, nahm ich mein Amulett, den Fuß einer Krähe, und drehte es, während der Nebel, der am Wegesrand waberte, sich um mich legte.

Der klebrige Saft an meinen Fingern lockte Ameisen an. Ich schnippte sie weg, schmeckte die scharfe Säure derjenigen, die ich versehentlich mitgegessen hatte und die meine Zunge verbrannten. Dann wischte ich mir die Finger an meinem Kleid ab, dessen dunkle Wolle so schwarz war, dass sie die Flecke vollständig verschluckte.

Ione erwartete mich am Ende des Weges jenseits der Bäume. Wir umarmten uns. Anschließend ergriff sie meinen Arm und betrachtete prüfend mein von der Kapuze verborgenes Gesicht.

»Du hast den Weg nicht verlassen, oder, Bess?«

»Nur für einen Moment«, antwortete ich und betrachtete dabei die Straßen, die vor uns lagen.

Wir standen am Rande von Blunder. Das Netz aus kopfsteingepflasterten Straßen und Geschäften flößte mir mehr Angst ein als jeder finstere Wald. Die Leute eilten emsig umher, und nachdem der Wald so viele Wochen mein Zuhause gewesen war, dröhnten die Laute der Menschen und Tiere unangenehm in meinen Ohren. Ein Fuhrwerk sauste an uns vorbei, das Klappern der Hufe scharf auf dem uralten Straßenpflaster. Ein Mann kippte drei Stockwerke über uns schmutziges Wasser aus dem Fenster und etwas davon spritzte auf den Saum meines schwarzen Kleides. Kinder weinten. Frauen schrien und schimpften. Händler priesen lautstark ihre Waren an, irgendwo läutete eine Glocke und der Ausrufer von Blunder gab Kunde von der Verhaftung dreier Räuber.

Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich Ione die Straße entlang folgte. Wir verlangsamten immer wieder unsere Schritte, um uns die Stände der Händler anzusehen, um mit den Fingern über neue Stoffe zu streichen, die aus der Auslage geholt wurden. Ione bezahlte eine Kupfermünze für ein Knäuel rosa Band, und als sie dem Verkäufer zulächelte, sah man die kleine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen. Iones Anblick wärmte mein Herz. Ich hatte meine blonde Cousine sehr gern.

Meine Cousine und ich waren so unterschiedlich. Sie war aufrichtig – echt. Ihre Emotionen standen ihr ins Gesicht geschrieben, während meine sich hinter einer sorgfältig eingeübten Fassade der Gleichmut verbargen. Sie war in jeder Hinsicht lebendig, posaunte ihre Wünsche und Ängste und alles, was dazwischenlag, laut in die Welt hinaus wie einen Dankeszauber. Sie strahlte eine Ungezwungenheit aus, die Mensch und Tier für sie einnahm. Selbst die Bäume schienen sich im Einklang mit ihren Schritten zu wiegen. Jeder liebte sie. Und sie erwiderte diese Liebe. Selbst wenn es zu ihrem Nachteil war.

Ione spielte niemandem etwas vor. Sie war einfach, wie sie war.

Ich beneidete sie darum. Ich war ein verängstigtes Tier, kam nur selten zur Ruhe. Ich brauchte Ione – ihren Schutzschild aus Wärme und Ungezwungenheit –, insbesondere an einem Tag wie diesem, meinem Namenstag, an dem ich das Haus meines Vaters besuchte.

Weit weg, in den Tiefen meines Geistes, erscholl träge das Klicken von Zähnen. Ich biss meine eigenen fest zusammen, ballte die Fäuste, doch es war sinnlos – ich konnte sein Kommen und Gehen nicht kontrollieren. Ein Junge drängte sich an mir vorbei und sein Blick verharrte dabei ein wenig zu lange auf meinem Gesicht. Ich schenkte ihm ein falsches Lächeln, bevor ich mich abwandte und mit der Hand über die angespannten Muskeln an meiner Stirn strich, bis ich spürte, wie meine Miene ausdruckslos wurde. Das war ein Trick, an dessen Perfektionierung ich jahrelang vor dem Spiegel gearbeitet hatte – mein Gesicht zu formen wie Ton, bis es den nichtssagenden, sittsamen Ausdruck einer Person annahm, die nichts zu verbergen hatte.

Ich spürte, wie er Ione durch meine Augen beobachtete. Als er sprach, war seine Stimme geschmeidig wie Öl. Blondes Mädchen, sanft und rein. Blondes Mädchen, schlicht und klein. Blondes Mädchen, übersehn, Königin wirst du nie sein.

Still, sagte ich und wandte meiner Cousine den Rücken zu.

Ione ahnte nicht, was die Infektion bei mir angerichtet hatte. Zumindest nicht, in welchem Ausmaß. Niemand wusste es. Nicht einmal meine Tante Opal, die mich fiebernd und fantasierend bei sich aufgenommen hatte. Nachts, wenn mein Fieber brennend gewütet hatte, hatte sie Wolle in den Türrahmen gesteckt und die Fenster geschlossen gehalten, damit ich die anderen Kinder nicht mit meinen Schreien weckte. Sie hatte mir Schlaftränke verabreicht und meine brennenden Adern mit Umschlägen bedeckt. Sie hatte mir aus den Büchern vorgelesen, die einst ihr und meiner Mutter gehört hatten. Sie hatte mich geliebt, obwohl sie gewusst hatte, was es bedeutete, einem Kind, das dem Fieber anheimgefallen war, Unterschlupf zu gewähren.

Als ich mein Krankenzimmer schließlich wieder verlassen hatte, hatten mein Onkel und meine Cousins mich auf der Suche nach einem Anzeichen von Magie gemustert – nach irgendetwas, was mich verraten würde.

Doch meine Tante war eisern geblieben. Ich war tatsächlich Opfer des Fiebers geworden, das in Blunder so sehr gefürchtet wurde, doch damit hatte es sich – die Infektion hatte mir keine Magie geschenkt. Solang meine Infektion geheim blieb, konnte auch niemand den Hawthorns oder der neuen Familie meines Vaters vorwerfen, mit mir gemeinsame Sache zu machen.

Und ich würde mein Leben behalten.

So spann man die besten Lügen – indem man ihnen gerade genug Wahrheit beimengte, dass sie überzeugend klangen. Ich stellte fest, dass selbst ich diese Lüge eine Zeit lang glaubte – dass ich glaubte, keinerlei Magie zu besitzen. Immerhin zeigte ich keines der offensichtlichen magischen Symptome, die so oft mit einer Infektion einhergingen – keine neuen Fähigkeiten, keine seltsamen Empfindungen. Ich gab mich leichtfertig der Illusion hin, ich wäre das einzige Kind, das die Infektion unbeschadet von der Magie überstanden hätte.

Doch das war eine Zeit, an die ich mich nicht zu erinnern versuchte – eine Zeit der Unschuld, vor den Vorsehungskarten.

Vor dem Nachtmahr.

Seine Stimme verklang und der leise Schatten seiner Gegenwart glitt zurück in die Dunkelheit. Mein Geist gehörte wieder mir und das Getöse der Stadt schwoll erneut in meinen Ohren an, als ich Ione an den Läden vorbei zur Market Street folgte.

Als wir um die nächste Ecke bogen, schlug uns gellender Lärm entgegen. Jemand schrie. Ich riss den Kopf hoch. Ione packte mich. »Streiter«, sagte sie.

»Oder Orithe Willow und seine Ärzte«, entgegnete ich, während wir unsere Schritte beschleunigten und dabei mit Blicken die Straße nach weißen Roben absuchten.

Wieder ertönte ein Schrei, dessen schriller Klang sich an den Härchen in meinem Nacken festzukrallen schien. Ich wandte den Kopf in Richtung des dicht bevölkerten, gepflasterten Platzes, doch Ione zog mich fort. Das Einzige, was ich sah, bevor wir erneut um eine Ecke bogen, war eine Frau, deren Mund zu einem stummen Klagelaut aufgerissen war. Der Ärmel ihres Umhangs war zurückgeschlagen und entblößte ihre Adern, die so dunkel waren wie Tinte.

Einen Augenblick später verschwand sie hinter vier Männern in schwarzen Umhängen – Streiter, die Elitesoldaten des Königs. Ihre Schreie verfolgten uns weiter, während wir durch die verwinkelten Straßen von Blunder eilten. Als wir schließlich das Tor von Spindle House erreichten, waren Ione und ich beide außer Atem.

Das Haus meines Vaters war das höchste in der Straße. Während ich vor dem Tor stand, gellten die Schreie noch immer durch meinen Kopf. Ione, deren Wangen nach dem steilen Weg gerötet waren, lächelte dem Wächter zu.

Das große hölzerne Tor öffnete sich und gab den Blick auf einen weitläufigen, mit Backsteinen gepflasterten Innenhof frei.

Wir traten ein, Ione voran. Inmitten des Hofs, gesäumt von Sandsteinen, wuchs ein uralter Spindelbaum, den der Großvater meines Großvaters gepflanzt hatte. Im Gegensatz zu unserem purpurroten Spindle-Banner hatte sich der Baum im Hof sein dunkles Grün bewahrt, und seine schlanken Äste trugen schwer an seinem dichten, wächsernen Laub. Ich streckte die Hand aus, um eines der Blätter zu berühren, wobei ich mich vor dem leicht gezahnten Blattrand in Acht nahm. Es war kein großer, majestätischer Baum, aber er war alt – stattlich.

Neben dem Spindelbaum stand ein kleiner, noch nicht voll ausgewachsener Mehlbeerbaum.

An der Nordseite des Hofes lagen die Stallungen, und im Süden befand sich die Waffenkammer. Doch wir gingen in keine der beiden Richtung, sondern weiter geradeaus. Als wir die steinerne Treppe vor dem Haus erreichten, holte ich tief Luft und glättete noch einmal meine Miene, bevor ich dreimal an die hohe Tür aus Eichenholz klopfte.

Der Haushofmeister meines Vaters empfing uns. »Einen schönen Nachmittag«, sagte Balian, und seine braunen Augen verengten sich, als sein Blick über meine glitt. Genau wie die anderen Angestellten im Haus meines Vaters hatte auch er schon vor langer Zeit gelernt, sich vor dem ältesten Kind der Familie Spindle in Acht zu nehmen.

Seit meinem letzten Besuch war ein Jahr vergangen. Trotzdem wirkten die tristen Farben des Hauses vertraut und die Wandbehänge und Teppiche unverändert. Balian entzündete eine Kerze, und Ione und ich folgten ihm, vorbei an der Treppe aus dunklem Kirschholz mit ihrem langen, gewundenen Geländer. Ich dachte nicht darüber nach, wie gern ich früher als kleines Mädchen dieses Geländer hinuntergerutscht war, und auch nicht darüber, dass sich das Haus seit damals nicht verändert hatte.

Ich dachte überhaupt an nicht viel.

Balian öffnete die abgerundete Tür, die in die Stube führte. Ich roch das Feuer im Kamin schon, bevor ich es spürte, den intensiven Zedernduft, der mich in der Nase kitzelte. Drinnen erhoben sich meine Stiefmutter Nerium und meine Zwillings-Halbschwestern Nya und Dimia aus ihren gepolsterten Sesseln.

Die Zwillinge besaßen den Anstand zu lächeln, wobei sich in ihren runden Wangen identische Grübchen bildeten. Ich konnte in ihren Gesichtern meinen Vater erkennen, vor allem weil das Gesicht ihrer Mutter Nerium nicht für ein freundliches Lächeln geschaffen war. Meine Stiefmutter blickte über ihre schmale Nase auf mich herab und wand die Spitzen ihres hüftlangen weißen Haars um ihre dünnen, knotigen Finger.

Wenn sie in ihrem Lieblingssessel hockte, sah sie immer aus wie ein wunderschöner Geier. Sie nahm wieder Platz und musterte mich mit ihren wachen blauen Augen, als wöge sie ab, ob ich würdig genug wäre, um von ihr verschlungen zu werden.

Ione trat zuerst ins Zimmer und versperrte Nerium den Blick auf mich.

Ich umarmte Nya und Dimia, wobei meine Halbschwestern darauf achteten, ihre Körper nicht zu eng an mich zu schmiegen. Als Balian die Tür schloss, nahmen Ione und ich unsere Plätze auf den dick gepolsterten Sesseln beim Feuer ein, von denen meiner dem Kamin am nächsten stand.

Dieser Ablauf war so zur Routine geworden, dass er sich fast einstudiert anfühlte.

Auf dem kleinen Tisch neben meinem Sessel stand eine Vase mit dunkelvioletten Iris. Ich strich mit den Fingern über die Blütenblätter, behutsam, damit ich sie nicht zerdrückte. Es standen immer Iris in der Stube.

»Eine derart fade Blume«, bemerkte Nerium, die mich noch immer beobachtete. Als ihr Blick auf die Iris fiel, verengten sich ihre Augen. »Ich kann nicht verstehen, was dein Vater daran findet.«

Mein Magen zog sich zusammen. Wie meistens, wenn Nerium mit mir sprach, lag in ihren sanften, mit Bedacht gewählten Worten ein boshafter Unterton. Mein Vater hatte aus einem einzigen, simplen Grund Iris in seinem Haus.

Der Name meiner Mutter war Iris gewesen.

»Ich finde sie hübsch«, sagte Ione und schenkte mir ein Lächeln, bevor sie meine Stiefmutter mit einem vernichtenden Blick bedachte.

Dimia, die oft lachte, wenn sie nicht verstand, was vor sich ging, stieß ein nervöses Kichern aus. »Du siehst gut aus«, sagte sie und beugte sich dicht zu Ione. »Ist das ein neues Kleid?«

Von der anderen Seite des Kamins spürte ich Nyas Augen auf mir, als wäre ich ein Buch, das zu lesen ihr verboten worden war. Als ich herausfordernd ihrem Blick begegnete, wandte sie sich mit argwöhnischer Miene ab.

Meine Halbschwestern liebten mich nicht. Falls sie es doch taten, hatten sie zumindest längst keine Übung mehr darin, es zu zeigen. Dimia und Nya waren dreizehn Jahre alt, sieben Jahre jünger als ich, und in fast jeder Hinsicht identisch und nicht voneinander zu unterscheiden, abgesehen von dem blassen Muttermal unter Nyas linkem Ohr. Schon mein ganzes Leben beäugten sie mich mit dem identischen Ausdruck verhaltener Neugier und reservierten ihre Zuneigung einzig füreinander.

Ich wechselte leere Worte mit Dimia und spürte die Hitze des Kaminfeuers kaum. Sie erzählte mir, dass sie nach Stone, der Burg des Königs, zur Feier der Tagundnachtgleiche eingeladen worden waren.

»Ich liebe die Äquinoktiumsfeiern«, sagte Dimia, deren Stimme die ihrer Mutter und ihrer Schwester übertönte. Sie nahm sich ein gebuttertes kleines Brötchen vom Beistelltisch, während in ihre blauen Augen ein verträumter Ausdruck trat. Als sie weitersprach, flogen Krümel aus ihrem Mund. »Die Musik – die Tänze – die Spiele!«

»Nicht alle Spiele sind amüsant«, meinte Nya und wischte ihrer Zwillingsschwester einen Krümel aus dem Mundwinkel. »Erinnerst du dich noch, was letztes Jahr geschehen ist?«

Nerium blähte die Nasenflügel. Ione runzelte die Stirn. Dimia zupfte am Saum ihres Ärmels.

Meine Miene blieb ausdruckslos. Ich erinnerte mich nicht – ich war nicht dabei gewesen.

»Kronprinz Hauth spielt gern Wahrheitsspiele mit seiner Kelch-Karte«, erklärte Nerium, ohne sich die Mühe zu machen, mich anzusehen. »Dabei kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen ihm und einem der anderen Streiter – Jespyr Yew, glaube ich. Obwohl ich nicht nachvollziehen kann, weshalb der König eine Frau in seinen Diensten hat –«

Dein Vater kommt.

Die Stimme des Nachtmahrs glitt so abrupt und voller Dringlichkeit aus dem Dunkel direkt hinter meine Augen, dass ich zusammenzuckte. Kannst du sie sehen?

Ich hielt ganz still und ließ meine Augenlider zufallen. Dort, in der Finsternis, war es, ein blaues Leuchten, das immer stärker wurde: eine Vorsehungskarte – die Brunnen-Karte. Sie strahlte wie ein saphirfarbenes Leuchtfeuer, das über dem Boden schwebte, zweifellos verstaut in der Tasche meines Vaters. Wie alle Vorsehungskarten hatte der Brunnen die Maße einer gewöhnlichen Spielkarte, war kaum größer als meine geschlossene Faust. Die Karte war mit uraltem Samt umsäumt.

Dieser Samt war es, der das Licht absonderte, ein Licht, das nur ich sehen konnte. Oder vielmehr ein Licht, das nur die Kreatur in meinem Kopf sehen konnte.

Die Brunnen-Karte war die Mitgift meiner Mutter gewesen und so viel Gold wert wie ganz Spindle House. Sie war eine von zwölf unterschiedlichen Vorsehungskarten, die gemeinsam ein Deck bildeten. Unsere uralte Schrift, das AlteBuchderErlen, berichtete von diesen Karten, und sie waren nicht nur Blunders wertvollster Schatz, sondern zudem die einzige legale Möglichkeit, Magie anzuwenden. Jeder konnte sie benutzen – eine Berührung und eine Absicht waren alles, was dazu nötig war. Man musste seinen Geist leeren, die Karte in der Hand halten, sie dreimal antippen, und schon beherrschte man die Karte. Man konnte sie einstecken oder anderswo ablegen, ohne dass die Magie abriss. Erst erneutes dreimaliges Antippen oder die Berührung einer anderen Person stoppten den Fluss der Magie.

Benutzte man eine Karte allerdings zu lange, hatte das fürchterliche Konsequenzen.

Die Vorsehungskarten waren außerordentlich selten und ihre Anzahl begrenzt. Als Kind hatte ich nur ab und an einen Blick auf sie werfen dürfen.

Und nur ein einziges Mal hatte ich eine berührt.

Ich erschauerte bei der Erinnerung daran, wie sich der Samt angefühlt hatte. Das saphirblaue Licht der Brunnen-Karte meines Vaters wurde stärker. Als die Tür sich öffnete, strömte es in die Stube, ein Leuchtfeuer, das aus der Brusttasche seines Wamses strahlte.

Erik Spindle, Herr über eines der ältesten Häuser Blunders. Groß, streng, Furcht einflößend. Doch am schlimmsten war, dass er einst Hauptmann genau jener Männer gewesen war, die dazu berufen waren, auf diejenigen Jagd zu machen, die Magie in sich trugen – wie ich es tat.

Ein Streiter bis ins Mark.

Doch für mich war er mehr als ein Soldat. Er war mein Vater. Wie die Spindles vor ihm war er kein Mann vieler Worte. Wenn er sich dazu entschloss zu sprechen, klang seine Stimme tief und scharf, wie die schartigen Steine, die sich im Schatten unter einer Zugbrücke verbargen. Sein Haar war von Silber durchzogen und wurde im Nacken von einem Lederband zusammengehalten.

Genau wie Neriums Gesicht war auch seines nicht für ein herzliches Lächeln geschaffen. Doch als er in meine Richtung blickte, wurde der scharfe Zug um seine blauen Augen etwas weicher.

»Elspeth«, sagte er. Er zog seine Hand hinter dem Rücken hervor und hielt einen Strauß Wildblumen hoch, der in seiner schwieligen Faust furchtbar zart und zerbrechlich wirkte. Gelbe Schafgarbe. »Alles Gute zum Namenstag.«

Ich verspürte einen leichten Stich in der Brust. Selbst nach all den Jahren – nach dem Tod meiner Mutter, meiner Infektion – schenkte er mir jedes Mal an meinem Namenstag Schafgarbe. »Die Schönste aller Schafgarben« – so hatte er mich als Kind immer genannt.

Ich erhob mich und ging zu ihm, geblendet durch das blaue Licht aus seiner Tasche. Als er mir die Schafgarbe in die Hand legte, stieg mir flüchtig der Duft des Waldes in die Nase. Er musste sie erst am Morgen gepflückt haben.

Ich versuchte, ihm nicht zu lange in die Augen zu sehen. Das wäre für uns beide nur unangenehm gewesen. »Vielen Dank.«

»Wir gedachten eigentlich, dich im Speisesaal zu treffen«, sagte meine Stiefmutter mit einer leichten Schärfe in der Stimme zu meinem Vater. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

Die Miene meines Vaters verriet nichts. »Ich bin gekommen, um in meinem eigenen Haus meine eigene Tochter zu begrüßen, Nerium. Ist dir das genehm?«

Nerium klappte den Mund zu. Ione bedeckte die Lippen, um ihr Schmunzeln zu verbergen.

Fast hätte ich gelächelt. Zu hören wie mein Vater für mich eintrat, fühlte sich besser an, als es sollte. Doch stärker als das Ziehen in meinen Mundwinkeln war der dumpfe, alte Schmerz, der tief in meiner Brust saß und mich allgegenwärtig daran erinnerte, wie es wirklich zwischen uns stand.

Er war nicht immer für mich eingetreten.

Balian steckte seinen kahler werdenden Kopf in die Stube. »Das Abendessen ist angerichtet, Mylord. Gebratene Ente.«

Mein Vater nickte knapp. »Begeben wir uns in den Speisesaal?«

Meine Halbschwestern verließen die Stube, gefolgt von meinem Vater. Ione ging als Nächste und ich einen Schritt hinter ihr.

Nerium fing mich an der Tür ab. Ihre schmalen Finger bohrten sich in meinen Arm. »Dein Vater wünscht, dass du dieses Jahr gemeinsam mit uns die Feierlichkeiten zur Tagundnachtgleiche besuchst«, flüsterte sie, wobei jedes S wie ein Zischen klang. »Was du selbstverständlich nicht tun wirst.«

Ich senkte den Blick auf ihre Hand an meinem Arm. »Wieso ›selbstverständlich‹, Nerium?«

Ihre blauen Augen verengten sich. »Soweit ich mich erinnere, hast du dich das letzte Mal, als du teilgenommen hast, zum Narren gemacht, wegen dieses Jungen, dessen Mutter, wie du wissen solltest, mehr als einmal hier erschienen ist, in der Hoffnung, dich anzutreffen.«

Ich verzog das Gesicht. Das mit Alyx hatte ich schon fast vergessen. Es war Jahre her. »Du hättest ihr sagen können, wo ich wirklich wohne.«

»Damit die Leute anfangen, Fragen zu stellen, weshalb dein Vater dich fortgeschickt hat?« Die Falten um ihren Mund vertieften sich. »Wir haben eine glückliche Lösung gefunden, Elspeth. Du hältst dich vom Hofe fern, verhältst dich ruhig und lässt dich nicht blicken, und im Gegenzug bezahlt dein Vater die Hawthorns – großzügig, möchte ich hinzufügen –, damit sie dich behalten.«

Behalten. Als wäre ich ein Pferd im Stall meines Onkels. Ich riss meinen Arm aus ihrem Griff. Jeglicher Appetit war mir vergangen. Ich spähte über die Schulter meiner Schwiegermutter hinweg suchend nach Ione, doch sie war bereits in den großen Saal gegangen.

»Mir ist plötzlich nicht mehr nach Ente«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Ich wich vor meiner Schwiegermutter zurück und knallte auf dem Weg nach draußen die Tür zur Stube hinter mir zu. »Aber du wirst dir sicher eine Ausrede für mich einfallen lassen.«

Ich konnte das Lächeln in Neriums weicher, boshafter Stimme praktisch hören. »Das tue ich doch immer.«

Ich riss mich zusammen, bis ich wieder aus Spindle House hinaus war. Erst als die großen Türen sich hinter mir geschlossen hatten, gestattete ich mir zu weinen.

Ich hielt den Kopf gesenkt, die Augen heiß vor Tränen, und eilte davon, den ganzen Weg bis zur Kirche am Stadtrand. Erst als ich in den leeren Straßen allein war, gönnte ich meiner kränklichen Lunge eine Ruhepause.

Vornüber gebeugt hustete ich, während in meiner Brust Zorn und Schmerz wild und misstönend wüteten.

Der Nachtmahr regte sich in der Dunkelheit, wie ein Wolf, der das Gras niedertrampelte, bevor er sich hinlegte. Schade, dass wir gehen mussten, sagte er. Ich habe die anregende Unterhaltung mit unserer lieben Nerium so sehr genossen.

Ich lief weiter, trat mit der Stiefelspitze gegen einen Stein, bis er im hohen Gras verschwand, das auf dem Erdwulst zwischen der Straße und dem Fluss wuchs. Du wirst sie schon früh genug wiedersehen.

Und wirst du dann wieder mit eingezogenem Schwanz die Flucht ergreifen?

Hättest du etwa gewollt, dass ich nach so etwas noch bleibe?, gab ich scharf zurück.

Ja. Weil fortlaufen, meine Liebe, genau das ist, was sie von dir will.

So ist es eben einfacher – ihnen aus dem Weg zu gehen. Ich holte Luft. Fortzulaufen. Das liegt in meiner Natur. Außerdem, fügte ich mit hohler Stimme hinzu, wenn mein Vater sich tatsächlich meine Gesellschaft wünschen würde, hätte er mich vor elf Jahren nicht im Stich gelassen.Das weißt du genauso gut wie ich – weshalb verhöhnst du mich auch noch?

Sein Gelächter perlte wie Wasser, das die Wände einer Höhle hinabrann, hallte nach, bevor es schließlich zu hohler Stille verklang. Weil das, meine Liebe, in meiner Natur liegt.

Ich setzte mich am Fluss nieder, genoss das gleichmäßige Rauschen des strömenden Wassers. Dann begann ich, an der Schafgarbe zu zupfen, die winzigen gelben Blütenblätter eines nach dem anderen abzuzwicken. Ich kaufte einem Krämer einen Apfel und eine Ecke scharfen Käse ab und blieb am Wasser, bis das Licht jenseits des Nebels tief am Himmel stand. Insgeheim hoffte ich, dass Ione das Haus meines Vaters früher verlassen würde, um mir zu folgen – dass wir den Waldweg gemeinsam beschreiten könnten –, doch irgendwann schlug die Glocke sieben Mal und sie war immer noch nicht gekommen.

Ich flocht mir das Haar zu einem dicken Zopf, wischte mir die Erde vom Po und warf noch einen letzten Blick die Straße zur Stadt hinunter, bevor ich die Hand fest um den Krähenfuß in meiner Tasche schloss und den Wald betrat.

2. KAPITEL

Es begann in der Nacht des großen Unwetters. Der Wind blies den Laden an meinem Fenster auf und grelle Blitze warfen groteske Schatten auf den Boden meines Zimmers. Die Treppenstufen knarrten, als mein Vater auf Zehenspitzen heraufkam, während die Schreie meiner fliehenden Zofe noch durch die Korridore hallten. Als er zu meiner Tür kam, lag ich reglos im Delirium und meine Adern waren dunkel wie Baumwurzeln. Er zog mich aus meinem schmalen Kinderbett und verfrachtete mich in eine Kutsche.

Zwei Tage später erwachte ich im Wald in der Obhut meiner Tante Opal.

Als das Fieber wieder sank, stand ich jeden Tag in der Morgendämmerung auf, um meinen Körper nach neuen Anzeichen von Magie zu untersuchen. Doch die Magie kam nicht. Jeden Abend, wenn ich schlafen ging, betete ich, dass das alles nur ein schwerwiegender Fehler gewesen war und dass mein Vater bald kommen würde, um mich nach Hause zu holen.

Ich spürte ihre Blicke auf mir, merkte, wie die Angestellten rasch vor mir davoneilten, wie mein Onkel mich mit zusammengekniffenen Augen musterte, wartete. Selbst die Pferde scheuten vor mir, schienen meine Infektion spüren zu können – wie die Magie langsam in meinem jungen Blut zu sprießen begann.

In meinem vierten Monat im Wald kam eines Tages mein Onkel mit sechs seiner Männer durchs Tor geritten, die Pferde schweißüberströmt, das Schwert meines Onkels blutverschmiert. Rasch verbarg ich meinen schlaksigen Körper im Schatten des Stalls und beobachtete sie neugierig, sah das triumphierende Lächeln auf den Lippen meines Onkels. Er ließ Jedha, den Waffenmeister, rufen, und die beiden sprachen hektisch und leise miteinander, bevor sie sich zum Haus wandten.

Ich hielt mich im Schatten und folgte ihnen durch den Saal zu der mit Mahagoni vertäfelten Bibliothek, deren Türen sie nicht ganz geschlossen hatten. Ich konnte mich später nicht mehr erinnern, was sie miteinander sprachen – wie mein Onkel es geschafft hatte, den Räubern die Vorsehungskarte abzunehmen –, sondern nur noch, dass sie in heller Aufregung waren.

Ich wartete, bis sie gingen. Mein Onkel war so töricht gewesen, die Karte nicht wegzuschließen, und so stahl ich mich in die Mitte des Raums.

Am oberen Rand der Karte standen zwei Worte geschrieben: Der Nachtmahr. Mein Mund klappte auf und meine kindlichen Augen wurden groß. Ich kannte das Alte Buch der Erlen gut genug, um zu wissen, dass es sich bei dieser Vorsehungskarte um eines von nur zwei Exemplaren seiner Art handelte und dass ihre Magie schrecklich und furchterregend war. Benutzte man sie, verlieh sie einem die Fähigkeit, in den Köpfen anderer Menschen zu sprechen. Verwendete man sie zu lange, offenbarte die Karte einem seine tiefsten, dunkelsten Ängste.

Doch nicht der Ruf, der dieser Karte vorauseilte, nahm mich gefangen – sondern das Ungeheuer. Ich stand über den Tisch gebeugt und schaffte es nicht, den Blick von dem scheußlichen Wesen zu lösen, das auf der Karte abgebildet war. Struppiges Fell überzog seine Glieder und seinen gekrümmten Rücken bis hinunter zum Ansatz seines gesträubten Schwanzes. Seine Finger waren gespenstisch lang, haarlos und grau und endeten in großen, scheußlichen Krallen. Sein Gesicht war weder menschlich noch tierisch, sondern irgendetwas dazwischen. Ich beugte mich tiefer über die Karte, fasziniert von dem zähnefletschenden Wesen, dessen spitze Zähne unter seinen zurückgezogenen Lippen hervortraten.

Seine Augen schlugen mich in ihren Bann. Sie waren gelb, leuchtend wie eine Fackel, durchschnitten von langen, katzenartigen Pupillen. Die Kreatur blickte zu mir auf, reglos, mit starrem Blick, und obwohl sie aus Farbe und Pergament bestand, wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie mich ebenso aufmerksam betrachtete wie ich sie.

Verstehen zu wollen, was als Nächstes geschah, glich dem Versuch, einen zerbrochenen Spiegel wieder zusammenzusetzen. Auch wenn ich es schaffte, die Bruchstücke wieder zusammenzufügen, blieben Risse in meinen Erinnerungen bestehen. Das Einzige, woran ich mich genau erinnern konnte, war, wie sich der weinrote Samt anfühlte – wie unglaublich weich die Ränder der Nachtmahr-Karte waren, als meine Finger über sie glitten.

Ich erinnerte mich auch an den Geruch von Salz und den weiß glühenden Schmerz, der ihm folgte. Ich musste gestürzt oder ohnmächtig geworden sein, denn als ich wieder auf dem Boden der Bibliothek erwachte, war es draußen dunkel. Die Härchen in meinem Nacken richteten sich auf, und aus irgendeinem Grund wusste ich, dass ich nicht mehr allein in der Bibliothek war.

Das war der Augenblick, in dem ich es zum ersten Mal hörte. Das Geräusch der langen, spitzen Krallen, die gegeneinanderstießen.

Klick. Klick. Klick.

Ich sprang auf und suchte die Bibliothek nach einem Eindringling ab. Doch ich war allein. Erst als es wieder geschah – klick, klick, klick –, begriff ich, dass die Bibliothek leer war.

Der Eindringling befand sich in meinem Kopf.

»Hallo?«, rief ich mit brechender Stimme.

Seine Stimme klang männlich, ein Fauchen und Säuseln – Galle und Öl – teuflisch und freundlich, und hallte durch meinen Kopf. Hallo.

Ich schrie auf und floh aus der Bibliothek. Doch vor dem, was ich getan hatte, gab es kein Entkommen.

Plötzlich dämmerte mir die bittere Erkenntnis: Die Infektion hatte mich nicht verschont. Ich besaß Magie. Absonderliche, grauenvolle Magie. Eine einzige Berührung hatte genügt. Mein Finger hatte den Samt berührt und ich hatte etwas aus der Nachtmahr-Karte meines Onkels in mich aufgenommen. Nur eine einzige Berührung, und nun kauerte ihre Macht gefangen in den Winkeln meines Geistes.

Zuerst dachte ich, ich hätte die Karte selbst – ihre Magie – in mich aufgenommen. Doch so sehr ich mich auch bemühte, ich schaffte es nicht, in den Köpfen anderer zu sprechen. Ich konnte lediglich mit der Stimme sprechen – mit dem Ungeheuer, dem Nachtmahr. Auf der Suche nach Antworten wälzte ich das Alte Buch der Erlen, bis ich es auswendig konnte. In seiner Beschreibung der Nachtmahr-Karte berichtete der Hirtenkönig davon, dass die schlimmsten Ängste eines Menschen ans Licht gebracht würden – berichtete von Heimsuchung und Schrecken. Ich wartete auf die Angst, auf Träume, auf Albträume. Doch sie kamen nicht. Jedes Mal, wenn ich einen dunklen Raum betrat, biss ich die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien, weil ich mir sicher war, dass er die Stille mit seinem grauenerregenden Kreischen zerschmettern würde, doch er blieb still. Er suchte mich nicht heim.

Er sagte kein Wort, bis zu jenem Tag, als die Ärzte kamen und er mein Leben rettete.

Danach wurden die Geräusche seines Kommens und Gehens zu etwas Vertrautem. Er war ein Rätsel und seine Geheimnisse waren zahllos. Doch noch merkwürdiger war, dass der Nachtmahr über seine eigene Magie verfügte. Für seine Augen strahlten die Vorsehungskarten hell wie Fackeln und jede in ihrer spezifischen Farbe, die zum Samt passte, der sie umsäumte. Da er in meinem Geist gefangen war, sah ich ebenfalls die Karten. Und wenn ich ihn um Hilfe bat, wurde ich stärker – konnte ich schneller, länger laufen und meine Sinne schärften sich.

Manchmal verhielt er sich vollkommen ruhig, als würde er schlafen. Zu anderen Gelegenheiten schien er von meinen Gedanken gänzlich Besitz zu ergreifen. Wenn er redete, sprach seine weiche, gespenstische Stimme in rhythmischen Rätseln, manchmal in Form von Zitaten aus dem Alten Buch der Erlen, manchmal lediglich, um mich zu verhöhnen.

Doch egal, wie oft ich ihn fragte, verriet er mir nicht, wer er war oder wie es dazu gekommen war, dass er in der Nachtmahr-Karte existiert hatte.

Elf Jahre waren wir nun schon beisammen.

Elf Jahre, und ich hatte keiner Seele davon erzählt.

Ich benutzte den Waldweg nur selten nachts und schon gar nicht allein. Noch einmal warf ich einen Blick über die Schulter, in der Hoffnung, Ione zu mir aufschließen zu sehen, damit wir gemeinsam, Arm in Arm, der Dunkelheit trotzen könnten.

Doch das Einzige, was sich am Waldrand regte, war eine weiße Eule. Ich sah, wie sie aus dem Dickicht aufstieg, und verfolgte erstaunt ihren steilen Flug. Die Nacht legte sich über die Bäume und mit ihr kamen die Laute der Tiere – Wesen, die die Dunkelheit kühn werden ließ. Der Nachtmahr regte sich in den Tiefen meines Bewusstseins und jagte mir trotz der lauen Luft einen Schauer über den Rücken.

Ich verschränkte die Arme über der Brust und beschleunigte meinen Schritt. Nur noch ein paar Windungen des Weges, dann könnte ich schon die Fackeln am Tor meines Onkels sehen, die mich nach Hause riefen.

Doch ich schaffte es nicht einmal bis zur zweiten Biegung, bevor ich auf die Räuber traf.

Sie kamen wie Raubtiere aus dem Nebel – sie waren zu zweit, in lange dunkle Mäntel gehüllt, mit Masken, die nur ihre Augen frei ließen. Der Erste hielt mich an der Kapuze fest und legte mir seine andere Hand über den Mund, um den Schrei zu ersticken, der meinen Lippen entwich. Der Zweite zog einen Dolch mit einem hellen Heft aus Elfenbein aus dem Gürtel und hielt die Spitze an meine Brust.

»Verhalte dich ruhig und ich werde ihn nicht benutzen«, sagte er mit tiefer Stimme. »Verstanden?«

Ich erwiderte nichts. Angst schnürte mir die Kehle zu. Schon mein halbes Leben durchschritt ich diesen Wald, doch bislang hatte sich mir nicht einmal ein Hund in den Weg gestellt – geschweige denn Räuber, und das auch noch so nahe am Anwesen meines Onkels. Sie waren entweder unverschämt oder verzweifelt.

Ich drang in die Dunkelheit meines Geistes, tastete nach dem Nachtmahr. Er kam mit einem Zischen herbeigeglitten, geweckt von meiner Angst, hellwach und präsent hinter meinen Augen.

Ich nickte dem Räuber zu, wobei ich darauf achtete, dass sein Dolch sich dabei nicht bewegte.

Er trat einen Schritt zurück. »Wie heißt du?«

Lüge, flüsterte der Nachtmahr.

Ich atmete stockend ein, meine Kapuze noch immer gefangen im Griff des ersten Räubers. »J-J-Jayne. Jayne Yarrow.«

»Wo willst du hin, Jayne?«

Sag ihm, dass du nichts von Wert bei dir trägst.

Damit sie sich stattdessen an meinem Körper bedienen? Nein, lieber nicht.

Zorn begann unter meiner Angst zu brodeln, die Wut des Nachtmahrs ein metallischer Geschmack auf meiner Zunge. »Ich – ich stehe in den Diensten von Sir Hawthorn«, presste ich hervor, in der Hoffnung, dass das Gewicht des Namens meines Onkels sie einschüchtern würde.

Doch als der Räuber hinter mir kurz auflachte, wusste ich, dass ich das Falsche gesagt hatte.

»Dann weißt du von seinen Karten«, sagte er. »Sag uns, wo er sie aufbewahrt, und wir lassen dich gehen.«

Mein Rückgrat richtete sich auf und meine Hände ballten sich zu Fäusten. Die Strafe für den Diebstahl von Vorsehungskarten war ein langsamer, grausiger und öffentlicher Tod.

Was bedeutete, dass diese beiden Räuber nicht nur einfache Taschendiebe waren.

»Ich bin nur eine Magd«, log ich. »Ich weiß nichts.«

»Und ob du etwas weißt«, sagte er und zerrte an der Kapuze, bis ihre Schließe sich gegen meine Kehle drückte. »Sag es uns.«

Lass mich heraus, hörte ich wieder die Stimme des Nachtmahrs, die hinter seinen scharfen Zähnen hervorglitt.

Sei still und lass mich nachdenken, entgegnete ich scharf, ohne den Dolch dabei aus den Augen zu lassen.

»Hallo?«, sagte der Räuber hinter meinem Rücken und zog wieder an meiner Kapuze. »Kannst du mich hören? Bist du taub?«

»Warte«, warnte derjenige mit dem Dolch. Ich konnte sein Gesicht hinter der Maske nicht sehen, doch sein Blick war fest auf mich gerichtet. Als er näher kam, zuckte ich zusammen. In seinem Mantel hing der Geruch von Zedernrauch und Nelken.

»Durchsuch ihre Taschen«, befahl er.

Aufdringliche Finger glitten über meine Seiten abwärts, meine Taille entlang und meinen Rock hinunter. Ich biss die Zähne zusammen und hielt die Nase hocherhoben. Der Nachtmahr hielt still, doch seine Krallen klopften einen scharfen Rhythmus.

Klick. Klick. Klick.

»Nichts«, sagte der Räuber.

Doch der andere war nicht überzeugt. Was immer er in meinen Augen sah – welchen Verdacht er auch immer hegte –, genügte ihm, um den Dolch an die Stelle direkt über meinem Herzen zu drücken. »Sieh in ihren Ärmeln nach«, sagte er.

Hilf mir, rief ich in meinen Geist hinein. Jetzt!

Der Nachtmahr lachte – ein grausames, schlangenartiges Zischeln.

Weiß glühende Hitze schoss durch meine Arme. Meine Adern brannten und ich krümmte mich und unterdrückte einen Schrei, als die Kraft des Nachtmahrs durch mein Blut strömte.

Der Mann hinter mir wich einen Schritt zurück. »Was ist los mit ihr?«

Der Räuber mit dem Dolch sah mich mit weit aufgerissenen Augen an und senkte seine Klinge. Er senkte sie nur einen kurzen Moment – doch ein Moment genügte mir.

In meinen Muskeln brannte die Stärke des Nachtmahrs. Mit brutaler Kraft stieß ich den Räuber vor die Brust. Der Dolch fiel ihm aus der Hand und er wurde rücklings auf die Straße geschleudert. Sein Kopf schlug in dem Augenblick auf dem Boden auf, in dem der Räuber hinter mir nach seinem Schwert griff.

Doch die Reflexe des Nachtmahrs waren schneller. Ehe der Mann seine Klinge aus der Scheide ziehen konnte, packte ich bereits sein Handgelenk, mit so festem Griff, dass sich meine Fingernägel in seine Haut gruben. »Kommt nicht noch einmal hierher«, sagte ich mit einer Stimme, die nicht gänzlich die meine war.

Dann stieß ich ihn mit der ganzen Kraft des Nachtmahrs von der Straße in die Nebelschleier hinein.

Als er auf dem Waldboden auftraf, brachen Zweige und ein Fluch hallte durch die feuchte Sommerluft. Ich wartete nicht ab, bis er wieder aufstand. Ich rannte – rannte mit Höchstgeschwindigkeit zum Haus meines Onkels.

Schneller, rief ich über das Trommeln meines eigenen Herzens hinweg.

Meine Beine bewegten sich kraftvoll und meine Schritte waren so schnell und sicher, dass meine Fersen kaum den Boden berührten. Als ich schließlich das gelbe Licht der Fackeln erreichte, warf ich mich gegen die Backsteinmauer beim Tor meines Onkels und zwang mich zu tiefen, brennenden Atemzügen.

Ich spähte über meine Schulter hinweg zur Straße und rechnete fast damit zu sehen, dass sie mich verfolgten. Doch die Dunkelheit wurde einzig von Bäumen und Nebel durchdrungen.

Der Nachtmahr und ich waren wieder allein.

Selbst als meine Lunge sich langsam wieder beruhigte, brannten meine Arme weiter. Ich krempelte die Ärmel hoch und betrachtete den tintenschwarzen Strom aus Magie, der von der Ellenbeuge abwärts bis zum Handgelenk durch meine Adern schoss. Es sah genauso aus wie damals in jener Nacht vor elf Jahren, als das Fieber mich befallen hatte.

Es sah jedes Mal so aus, wenn ich den Nachtmahr um Hilfe bat.

Ich wartete darauf, dass die Schwärze ausbrannte, biss gegen den brennenden Schmerz die Zähne zusammen. Glaubst du, sie haben gemerkt, dass ich infiziert bin?

Sie sind Kartendiebe. Melden sie dich, liefern sie sich selbst gleich mit aus.

Kurz darauf war das Brennen verschwunden, hinterließ nur noch ein leichtes Prickeln in meinen Armen. Ich lehnte mich seufzend gegen die Backsteinmauer. Warum brennt es jedes Mal?, fragte ich.

Doch der Nachtmahr war bereits wieder im Begriff, im finsteren Abgrund meines Geistes zu verschwinden. Mein Zauber bewegt, sagte er. Mein Zauber beißt. Mein Zauber besänftigt. Mein Zauber zerreißt. Du bist jung und du bist bang. Ich lebe schon fünfhundert Jahre lang.

3. KAPITEL

Der Bote traf ein, als wir gerade am Frühstückstisch saßen. Meine jüngeren Cousins stritten sich um heiße Brötchen, während Ione und ich unseren Tee tranken. Als der Haushofmeister in die Stube kam, sprang Ione vom Tisch auf. Ihre haselnussbraunen Augen strahlten, während sie den Umschlag aufriss.

»Ja«, freute sie sich.

Meine Tante wedelte auffordernd mit ihrem Buttermesser, woraufhin Ione ihr fröhlich hopsend und mit geröteten Apfelbäckchen den Brief brachte. Meine Tante musterte die hübsche Schrift der Mitteilung einen Moment lang, bevor mein Onkel sich ungeduldig vom anderen Ende des Tisches meldete: »Nun?«

»Wir wurden nach Stone zur Feier der Tagundnachtgleiche eingeladen«, sagte sie naserümpfend.

Ione kreischte triumphierend. Der graue Bart meines Onkels zuckte und sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. Ich faltete die Hände im Schoß und begann bereits, mir eine Entschuldigung zu überlegen, um an der Feier des Königs nicht teilnehmen zu müssen.

»Mach nicht so ein zufriedenes Gesicht«, sagte meine Tante und gab ihrem Mann den Brief. »Wir sind noch immer mit den Steuern vom letzten Jahr im Rückstand, und König Rowan ist hinter jedem Penny her, der ihm zusteht.« Sie rang die Hände in ihrem Rock. »In der Stadt erzählt man sich, dass diese Ernte die schlechteste seit Jahren im Königreich ist.«

Auf der anderen Seite des Tischs kämpften meine Cousins um die letzte Wurst, wobei sie ihr metallenes Besteck als Waffen einsetzten. »Weshalb war die Ernte nicht gut?«, fragte Lyn. »Wegen des Nebels?«

»Wen interessiert die Ernte«, meinte Ione. »Es ist Tagundnachtgleiche!« Sie wandte sich begeistert zu ihrem Vater um. »Gehen wir hin, Vater? Bitte sag, dass wir gehen.«

Mein Onkel bestrich sein Brot mit Erdbeermarmelade und murmelte in sein Essen: »Ja, Ione, wir gehen hin.«

Ione stieß einen Freudenschrei aus, der jedoch von meiner Tante unterbrochen wurde, die in ihren Tee hüstelte. »Wir gehen?«

Mein Onkel biss noch einmal vom Brot ab und stand vom Tisch auf. Als er gleich darauf zurückkehrte, strahlte ein weinrotes Licht in seiner Tasche. Er griff in seine Jacke und holte eine Vorsehungskarte hervor. Kurz strichen seine Finger über ihre dunkelrote Bordüre, bevor er sie auf den Tisch warf und damit meine morgendliche Gelassenheit zunichtemachte.

Mir wurde eiskalt. Ich starrte die Nachtmahr-Karte an – genau jene, die ich vor elf Jahren berührt hatte.

»Hier hast du deine Steuern«, sagte mein Onkel. »Sie ist weitaus mehr wert, als wir ihm schulden.«

Das einzige Geräusch im Zimmer war das Ächzen der Stühle, als meine Tante und meine Cousins sich über den Tisch beugten, um besser sehen zu können. »Ist das …?«, flüsterte Ione.

»Die Nachtmahr-Karte«, sagte meine Tante. Sie sah wieder zu meinem Onkel auf und alle Farbe war aus ihren Wangen gewichen. »Die Könige von Blunder suchen diese Karte schon länger, als ich am Leben bin, Tyrn. Wo um alles in der Welt hast du sie her?«

»Ich habe sie vor einigen Jahren auf dem Waldweg einem Räuber abgenommen.«

»Und dir ist nicht in den Sinn gekommen, mir etwas davon zu sagen?«

Mein Onkel bedachte seine Frau mit einem müden Blick. »Ich habe sie aufgehoben.« Sein Blick zuckte zu Ione. »Für schlechte Zeiten.«

Mein Onkel setzte sich wieder auf seinen Platz am Kopf des Tisches, rund und grau, wie er es immer tat. Doch da lag etwas Merkwürdiges in seinen Augen und in seinem Lächeln, was ich noch nie zuvor gesehen hatte. Etwas Falsches.

Trotz der Nachfragen meiner Tante gab mein Onkel keine weiteren Informationen darüber preis, wie er in den Besitz der Nachtmahr-Karte gelangt war – erwähnte mit keinem Wort das Blut, das ich an jenem Tag, als er sie nach Hause gebracht hatte, an seinem Schwert gesehen hatte. Ich presste den Rücken gegen meinen Stuhl und beobachtete ihn. Bei dem Gedanken, dass ich weit weniger über diesen Mann am Kopf des Tischs wusste, als ich gedacht hatte, wurde mir eiskalt.

»Was ist das für ein Ding?«, fragte mein Cousin Aldrich, beugte sich weiter vor und verzog beim Betrachten der Kreatur auf der Karte das Gesicht.

»Das ist ein Ungeheuer«, flüsterte Lyn und streckte die Hand aus, um die Karte zu berühren.

»Nicht!«, schrie Aldrich und zog die Hand seines Bruders zurück. »Sie ist zu alt. Du wirst sie zerreißen.«

Mein Onkel lachte schnaubend. »Hat eure Mutter euch das Alte Buch etwa nicht oft genug vorgelesen?« Als meine Cousins schwiegen, griff mein Onkel nach der Karte und hielt sie mit Daumen und Zeigefingern fest. Als er ruckartig die Hände bewegte, um sie entzweizureißen, hörte ich mich selbst nach Luft schnappen.

Doch die Karte zerriss nicht.

Mein Onkel legte sie zurück auf den Tisch. Das Pergament, aus der sie bestand, war zwar alt, hatte jedoch keine einzige Knitterfalte. »Vorsehungskarten können nicht zerstört werden«, erklärte er seinen Söhnen. »Sie wurden mit alter Magie erschaffen.«

Lyn beugte sich vor, um seinen Bruder zu belehren. Obwohl er nur ein Jahr älter war, spielte Lyn gern den Lehrmeister, während Aldrich widerstrebend seinen Schüler mimen musste. »Er meint die Magie des Hirtenkönigs.«

Aldrich verscheuchte ihn mit der Hand.

Die Stimme meiner Tante rumpelte, als würde sie oft benutzt. »Magie, die ihm von der Herrin des Waldes geschenkt wurde und die er daraufhin einsetzte, um die Vorsehungskarten zu erschaffen.«

»Geschenkt«, murmelte mein Onkel. »Mit der er von ihr infiziert wurde, trifft es wohl besser.«

Das Klicken der Zähne des Nachtmahrs hallte durch meinen Kopf, als er seine Kiefer aufeinanderpresste und wieder löste. Auch ein goldenes Herz wird manchmal verdorben. Was er schrieb, was er tat, ist alles gestorben. Sein Reich ist nun grausam, seine Karten sind Waffen. Hirte der Torheit, König der Affen.

Ione strich über den weinroten Samt am Rand der Nachtmahr-Karte. Ich zuckte zusammen, da mir wieder in den Sinn kam, wie sich just dieser Samt an meiner Haut angefühlt hatte. »Sie muss sehr wertvoll für König Rowan sein«, meinte sie.

Mein Onkel sah seine Tochter an. »So ist es, mein Kind«, sagte er. Sein Lächeln war zwar nicht mehr falsch, jedoch nicht minder beunruhigend. »Darauf baue ich.«

Das Alte Buch der Erlen meiner Tante, das früher auch meiner Mutter gehört hatte, lag auf einem Bücherstapel auf dem Boden der Wohnstube. Der verblichene Einband fühlte sich vertraut an, als ich es mit beiden Händen nahm. Das Buch roch nach altem Leder und sein Einband war vom Gebrauch und der Zeit abgewetzt. Auf der Innenseite des Einbanddeckels stand der Name meiner Tante, mit dem Nachnamen, den sie einst mit meiner Mutter geteilt hatte – dem Nachnamen, den sie getragen hatte, bevor ihr Vater einen Ehevertrag mit Tyrn Hawthorn unterschrieben hatte.

Opal Whitebeam. Und daneben, in der charakteristischen geschwungenen Handschrift, der Name meiner Mutter. Iris Whitebeam.

Ich blätterte die vergilbten Seiten durch. Genau wie meine Cousins hatte auch ich mich schon als Kind für die Vorsehungskarten interessiert – für ihre Magie. Meine Mutter hatte mich früher auf den Schoß genommen und mir aus ihrem Alten Buch der Erlen vorgelesen. An den Rändern der Buchseiten hatte sie mit grüner Tinte kleine Bilder gemalt, verschnörkelte Zeichnungen von Bäumen, Jungfrauen und Ungeheuern. Wenn sie mir vorgelesen hatte, war ihr das schwarze Haar über die Schulter gefallen, und ich hatte mir die Enden der Strähnen um meinen kleinen Finger gewickelt, vollkommen verloren in der einlullenden, seltsam unheimlichen Sprache des Buchs.

Einmal hatten meine Mutter und ich am Tag der Frühlingstagundnachtgleiche meine Tante Opal besucht. Ione und ich hatten uns wie Kätzchen auf einem Schaffell aneinandergeschmiegt und staunend gelauscht, während meine Mutter und meine Tante uns unsere Fragen über das merkwürdige Buch des Hirtenkönigs beantwortet hatten.

»Warum hat der Hirtenkönig die Vorsehungskarten erschaffen?«, hatte ich gefragt. »Wie hat er sie angefertigt?«

Meine Tante hatte ihre Lesebrille ein Stück heruntergeschoben und mich so ernst angesehen, wie sie es nur selten tat. »Um diese Frage zu beantworten«, hatte sie gesagt, »müssen wir zuerst einmal über den Geist des Waldes sprechen.«

Ich war trotz des knisternden Feuers erschauert. Die Worte des Hirtenkönigs, mit denen er die Herrin, den Geist des Waldes, beschrieb, erfüllten meine kindliche Fantasie mit unbändigem Grauen – eine alterslose Gottheit, die nach Magie – nach Salz – roch und unsichtbar im Nebel lauerte.

»Vor langer Zeit«, hatte meine Tante erzählt, »noch vor den Vorsehungskarten, war die Herrin des Waldes unsere Göttin. Die Leute aus Blunder suchten sie auf, durchkämmten den Wald nach dem Geruch von Salz. Sie baten die Herrin um ihren Segen oder Gaben. Sie ehrten ihre Wälder und nahmen die Namen der Bäume als ihre eigenen an. Das war die alte Magie – die alte Religion.« Ihre Miene hatte sich verfinstert. »Als Dank für seine Ehrerbietung schenkte die Herrin des Waldes dem Hirtenkönig wundersame, mächtige Magie. Er wollte diese Magie mit dem Rest des Königreichs teilen und erschuf zu diesem Zweck die zwölf Vorsehungskarten.« Ihr Tonfall war ernst geworden. »Doch alles hat seinen Preis. Für jede Karte gab der Hirtenkönig etwas an die Herrin des Waldes.«

»Seine Seele?«, hatte Ione gefragt und dabei an den Fingernägeln geknabbert.

Meine Tante hatte genickt. »Doch am Ende war es der Geist des Waldes, der den Preis zahlte. Dank der Vorsehungskarten des Hirtenkönigs hielt das Volk die Magie nun in seinen eigenen Händen. Die Menschen mussten nicht mehr in den Wald gehen und sie um ihre Segnungen bitten. Die Herrin, die nun keine Verehrung mehr erfuhr, verfiel in Rachedurst und Heimtücke.« Sie hatte kurz innegehalten und die Lippen geschürzt. »Sie erschuf den Nebel, um die Menschen zurück in den Wald zu locken.«

Ich war noch klein gewesen. Aber selbst damals hatte ich schon gewusst, dass man sich vor dem Nebel in Acht nehmen musste. »Diejenigen, die in ihn hineingerieten, verloren ihren Weg und oft auch den Verstand«, hatte meine Mutter gesagt. »Der Nebel breitete sich immer weiter aus, schnitt uns von den benachbarten Königreichen ab. Doch noch schlimmer: Kinder, die zu lange in ihm verweilten, erkrankten an einem Fieber und ihre Adern verdunkelten sich. Diejenigen, die das Fieber überlebten, trugen von da an oft magische Gaben in sich, von der Sorte, wie die Herrin sie einst zu gewähren pflegte, jedoch unbeherrschbarer – und gefährlicher.« Als ihre Stimme zu beben begonnen hatte, hatte sie eine Hand an ihre Kehle gedrückt. »Mit der Zeit degenerierten diese Kinder. Bei einigen verfiel der Körper, bei anderen der Verstand. Nur wenige von ihnen erreichten das Erwachsenenalter.«

Ione und ich waren still geworden, gefesselt von der Erzählung, zu jung, um völlig zu erfassen, welche Gefahren in dieser Welt, in der wir uns so unschuldig bewegten, auf uns lauerten. »Um den Nebel aufzulösen«, war meine Tante fortgefahren, »ging der Hirtenkönig noch einmal tief in die Wälder, um ein weiteres Mal mit der Herrin zu handeln. Nach seiner Rückkehr verfasste er dies hier«, hatte sie gesagt und auf das Alte Buch der Erlen in ihrem Schoß getippt. »Er schrieb über die Gefahren der Magie und wie man sich im Nebel mit einem Amulett schützen kann.« Meine Tante hatte eine effektvolle Pause eingelegt. »Auf der letzten Seite schildert der Hirtenkönig, wie man den Nebel vernichten kann.«

»Lies sie vor!«, hatten Ione und ich einstimmig ausgerufen.

Meine Tante hatte sich geräuspert und die Brille wieder vor die Augen geschoben.

Wenn dasJahr vergeht und die Tage sich neigen,

Ist die Herrin stark, wenn die Schatten sich zeigen.

Dann rufen die Zwölf, zueinander sie singen:

Verein uns, auf dass wir das Dunkel bezwingen.

Mit dem schwarzen Salzblut am Königsbaum

Halten vereint sie die Krankheit im Zaum.

Vom Berg bis zum Meer hebt den Nebel ihr Licht.

Es beginnt und es endet –

Doch umsonst ist es nicht.

Ich hatte vergnügt aufgeschrien, der unheimliche, geschmeidige Rhythmus der Reime wie Musik in meinen Ohren. Ione und ich hatten uns verstohlen angesehen und uns genüsslich an den herrlich schaurigen, finsteren Worten des Hirtenkönigs gelabt.

»Die Karten. Der Nebel. Das Blut«, hatte meine Mutter aufgezählt, mit so leiser Stimme, dass sie nur noch ein Wispern gewesen war. »Alles ist miteinander verwoben, in zerbrechlichem Gleichgewicht, so zart wie Spinnenseide. Vereine alle zwölf Vorsehungskarten mit dem schwarzen Salzblut, und die Infektion ist geheilt. Blunder ist vom Nebel befreit.«

»Doch der Hirtenkönig hob weder den Nebel, noch heilte er die Infektion«, hatte meine Tante gewichtig gesagt. »Die Herrin überlistete ihn, verriet ihm erst, wie er den Nebel heben könnte, nachdem er im Tausch seine Zwei-Erlen-Karte hergegeben hatte. Ohne seine letzte Karte konnte der Hirtenkönig das Deck nicht mehr vereinen. Und deswegen hat er auch nie den Nebel gehoben. Kein König hat das jemals fertiggebracht.«

»Und es wird auch keinem König je gelingen«, hatte meine Mutter nachdenklich hinzugefügt. »Nicht, ehe jemand die Zwei-Erlen-Karte findet und das Deck wieder vollständig ist. Bis dahin …«

Ione und ich hatten uns betreten angesehen. »Bis dahin wird sich der Nebel weiter ausbreiten.«

Ich traf meine Tante im Garten an, wo sie leise vor sich hin summte. Ihr Ehemann ließ sich dort nur selten blicken, sie dagegen hielt sich zwischen all dem Grün am liebsten auf – abseits vom Trubel des Hauses. Ihr drahtiges goldblondes Haar fiel ihr in wilden Locken über den Rücken. Mit ihren schmutzigen Fingernägeln und den Krähenfüßen in den Augenwinkeln wirkte Opal Whitebeam längst nicht so kultiviert und grazil wie die anderen Damen von Blunder. Sie und mein Onkel – ein Mann weniger Skrupel, der derart nach einer gewichtigen Stellung in Blunder gierte, dass er mehr Geld ausgab, als er einnahm – gaben ein ungleiches Paar ab.

Ich liebte die wilde Schönheit meiner Tante. Ich sah sie ebenfalls in Ione. An manchen Tagen konnte ich in ihren Gesichtszügen sogar schattenhaft das Gesicht meiner Mutter erahnen.

Ich pflückte mir ein Blättchen Minze und zerkaute es zwischen den Backenzähnen. Die Vögel im Garten, die mein Eintreffen bemerkt hatten, verstummten. Meine Tante drehte sich um, lächelte mir zu und winkte mich an ihr Kräuterbeet heran. »Ich bereite eine Tinktur zu«, sagte sie.

Ich betrachtete die moosartigen grünen Pflanzen, die sie zusammen mit einer kreidigen Substanz in ihrem Mörser vermahlen hatte. Als ich mich darüberbeugte, stieg mir der Geruch von Fieberkraut in die Nase. »Was ist das andere?«

»Rinde von einer Silberweide«, antwortete sie. »Gegen Kopfschmerzen.«

Ich hockte mich neben ihr ins Gras. »Was die Feierlichkeiten zur Tagundnachtgleiche angeht, Tante«, setzte ich an, »so glaube ich, dass ich lieber nicht teilnehmen sollte.«

Sie schnaubte und machte sich wieder an die Arbeit. Der Stößel schabte über Kräuter und Samen und Stein. »So?«