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»WO NEBEL TIEF SCHNEIDET, BEI URALTEN BÄUMEN, SCHLÄFT DIE LETZTE DER KARTEN, WARTEND IN TRÄUMEN.«
Elspeth und Ravyn haben fast alle der magischen Vorsehungskarten zusammengetragen - doch die eine, wichtigste bleibt verborgen: »Die Zwei Erlen«, der Schlüssel zur Rettung von Blunder. Bis zur Nacht der Sonnenwende müssen sie die Karte finden, denn nur dann kann der Fluch des Nebels gebrochen werden, der das Reich verschlingt. Sie müssen tief ins Herz des magischen Waldes vordringen, und der Einzige, der weiß, wo sich die Zwei-Erlen-Karte befindet, ist der Nachtmahr, der seit Jahren in Elspeths Geist lebt. Und der ist nicht länger bereit, nur zuzuschauen ...
»Ein Meisterwerk, das die Geschichte von ONE DARK WINDOW weitererzählt und einen unmittelbar wieder in die dunkle magische Welt von Blunder zieht.« THE ART OF READING
Abschlussband der SHEPHERD-KING-Dilogie
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Seitenzahl: 578
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Anmerkung der Redaktion
Prolog
Teil I
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
Teil II
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
Teil III
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Bücher von Rachel Gillig bei LYX
Impressum
RACHEL GILLIG
Two Twisted Crowns
DIE MAGIE ZWISCHEN UNS
Roman
Ins Deutsche übertragen von Sabrina Železný
Übertragung der Gedichte von Helmut W. Pesch
Elspeth und Ravyn haben fast alle der magischen Vorsehungskarten zusammengetragen – doch die eine, wichtigste, fehlt noch immer: »Die Zwei Erlen«, der Schlüssel zur Rettung von Blunder. Bis zur Nacht der Sonnenwende muss die Karte in ihrem Besitz sein, denn nur mit ihr kann der Fluch des Nebels gebrochen werden, der das Reich verschlingt. Um die Karte zu finden, müssen sie tief ins düstere Herz des magischen Waldes vordringen. Doch der Nachtmahr, der Einzige, der weiß, wo die Karte verborgen liegt, hat Besitz von Elspeths Körper und Geist ergriffen, und nun muss Ravyn ein Bündnis mit der uralten Kreatur eingehen, die das Gesicht seiner Geliebten trägt – ohne zu wissen, ob Elspeth noch zu retten ist. Aber das Schicksal Blunders hängt nicht allein an ihnen. Ravyns Cousin Prinz Elm führt seinen eigenen Kampf gegen den tyrannischen König Rowan, der ebenfalls fest entschlossen ist, die Zwei-Erlen-Karte an sich zu reißen und alle von Magie Berührten zu vernichten. Und Elspeth, tief versunken im Geist des Nachtmahrs, taucht immer weiter in die Geschichte des Hirtenkönigs ein, die sie alle dorthin gebracht hat, wo sie jetzt sind, und sie kämpft mit aller Kraft darum, die Macht über ihren Körper zurückzuerlangen und mit ihrem Geliebten wiedervereint zu sein.
An alle, die sich jemals in einem Wald verloren gefühlt haben. Das Verlieren birgt eine eigentümliche Art des Findens.
Liebe Leser:innen,
die Familien im Königreich Blunder tragen allesamt die Namen von Bäumen und Pflanzen.
Um den Klang der Namen der Protagonisten in der Geschichte zu erhalten, wurden deren Familiennamen im Erzähltext nicht ins Deutsche übertragen. Einige der der Bäume haben jedoch im Roman und im Volksglauben eine besondere Bedeutung. Daher haben wir uns in Absprache mit der Autorin dafür entschieden, euch ein Glossar mit den deutschen Namen mitzugeben und die Bedeutung der Hausbäume der Hauptcharaktere im Volksglauben etwas näher zu beleuchten. Wir hoffen, dass es euch Freude macht.
Spindle – Pfaffenhütchen oder Spindelstrauch
(Euonymus europaeus)
Das Holz wurde früher u. a. für die Herstellung für Spindeln verwendet. Feurig pinkes Herbstlaub. Euonymus (»von gutem Ruf«) ist ein sogenannter Tabuname, der die Gefährlichkeit des giftigen Strauches abwehren sollte.
Yew – Eibe
(Taxus baccata)
Giftig, galt als heiliger oder magischer Baum bei den Kelten und in anderen Kulturen, da er als Verbindung zwischen der Welt der Lebenden und Toten gesehen wurde. Sein Holz wurde im Mittelalter bevorzugt für die Herstellung von Bögen verwendet.
Hawthorn – Weißdorn oder Hagedorn
(Crataegus)
Strauch mit spitzen Dornen und roten Beeren, gilt als Sitz der Elfen und Feen und taucht sehr oft in der keltischen Sagenwelt auf – so schläft z. B. Merlin unter einem Weißdornbusch. Er gilt auch als Schutzpflanze und wurde gern als Grenzbepflanzung angelegt.
Rowan* – Eberesche oder Vogelbeere
(Sorbus aucuparia)
In den nordischen Kulturen ist der Baum mit den roten Beeren mit dem Gott Thor assoziiert, auf den britischen Inseln gilt die Eberesche als Schutz gegen Magie und Hexerei.
Elm Tree – Ulme
(Ulmus)
Ähnlich wie die Eibe wird die Ulme mit der Feenwelt und der Welt der Toten in Verbindung gebracht. In der griechischen Sagenwelt spielt die Ulme eine ähnliche Rolle. Als Orpheus die Harfe spielte, während er seine Geliebte Eurydike aus der Unterwelt führte, wuchs ein Ulmenhain an seinem Weg. Aus dem Holz der Ulmen, das sehr biegsam und wasserbeständig ist, wurden in früheren Zeiten Wasserrohre, Särge und auch Bögen hergestellt. So waren die Kriegsbögen der Waliser meist aus Ulmenholz gefertigt (im Gegensatz zu denen der Engländer, welche die Eibe bevorzugten).
Weitere Familiennamen:
Chestnut – Kastanie
Juniper – Wacholder
Laburnum – Goldregen
Larch – Lärche
Linden (Tree) – Linde
Moss – Moos
Oak – Eiche
Pine – Kiefer
Thistle – Distel
Viburnum – Schneeball
Whitebeam (Tree) – Mehlbeere oder Silberbaum
Willow – Weide
Yarrow – Schafgarbe
Yvy – Efeu
* In den Versen des Hirtenkönigs werden die Rowans »Escher« genannt.
Zwei Erlen, verborgen am Ort ohne Zeit.
Wo Blut ward vergossen, voll Kummer und Leid.
Wo Nebel tief schneidet, bei uralten Bäumen,
schläft die Letzte der Karten, wartend in Träumen.
Verwunschen der Wald – ein wegloser Ort.
Nur ich kann sie finden …
denn ich ließ sie einst dort.
Die Dunkelheit zerfloss in sich selbst – ohne Anfang und Ende.
Ich trieb dahin auf einer Woge von Salzwasser. Über mir hatte der Nachthimmel sich schwarz gefärbt: Mond und Sterne verschwanden hinter schweren Regenwolken, die sich niemals lichteten.
Ich strampelteohne Schmerz, meine Muskeln entspannt, mein Geist friedlich. Ich wusste nicht, wo mein Körper aufhörte und das Wasser begann. Ich gab mich einfach der Finsternis hin, verlor mich im Wiegen der Wellen, im Klang des Wassers, das über mich hinwegspülte.
Zeit verging ohne Anhaltspunkte. Falls es eine Sonne gab, so erreichte sie mich im Morgengrauen nicht. Über Minuten und Stunden und Tage schwebte ich im Strom des Nichts, mein Geist leer bis auf einen Gedanken.
Lass mich raus.
Mehr Zeit verstrich, aber der Gedanke blieb. Lass mich raus.
Ich war vollständig und verschlungen vom Trost des Wassers. Kein Schmerz, keine Erinnerung, keine Furcht, keine Hoffnung. Ich war die Dunkelheit, und die Dunkelheit war ich, und zusammen wogten wir mit den Gezeiten, wurden in Richtung einer Küste gewiegt, die ich weder sah noch hörte. Alles war Wasser – alles war Salz.
Doch der Gedanke nagte weiter an mir. Lass mich raus.
Ich versuchte die Worte auszusprechen. Meine Stimme klang wie reißendes Papier. »Lass mich raus.« Ich sagte es wieder und wieder, Salzwasser füllte meinen Mund. »Lass mich raus.«
Minuten. Stunden. Tage. Lass. Mich. Raus.
Dann schälte sich ein langer schwarzer Strand aus dem Nichts. Etwas bewegte sich auf ihm. Ich blinzelte, meine Sicht unscharf durch einen Salzfilm über meinen Augen.
Ein Mann in goldener Rüstung stand unmittelbar hinter der Wasserlinie am dunklen Ufer und beobachtete mich.
Die Strömung trug mich näher und näher heran.
Der Mann war alt. Er trugdas Gewicht seiner Rüstung, ohne zu schwanken, seine Kraft tief verwurzelt – wie bei einem uralten Baum.
Ich versuchte, nach ihm zu rufen, aber ich kannte nur drei Worte.
»Lass mich raus!«, schrie ich. Ich wurde mir meines Wollkleids bewusst, und seines Gewichts. Es zog mich nach unten, und ich glitt unter die Wasseroberfläche, meine Worte unterbrochen. »Lass mich –«
Seine Hände waren kalt, als er mich aus dem Wasser zog.
Er trug mich auf schwarzen Sand. Als er mich auf meine Füße stellen wollte, gaben meine Beine nach wie die eines neugeborenen Rehkitzes.
Ich kannte sein Gesicht nicht. Aber er kannte meines.
»Elspeth Spindle«, sagte er leise, und sein Blick – seine Augen so eigenartig und gelb – nahm mich gefangen. »Ich habe auf dich gewartet.«
Ravyns Hände bluteten.
Er hatte es erst bemerkt, als er das Blut zu Boden tropfen sah.Dreimal hatte er auf den Samtrand des Spiegels – der violetten Vorsehungskarte – getippt und sich damit verschwinden lassen: Ravyn war vollkommen unsichtbar.
Mit Fingern, Knöcheln, Handballen grub er in der gehärteten Erde der alten Kammer am Wiesenrand.
Es war nicht weiter wichtig. Was machte schon ein weiterer Schnitt, eine weitere Narbe?
Ravyns Hände waren nichts als stumpfe Werkzeuge. Nicht die eines Edelmannes, sondern die eines Kriegers: Hauptmann der Streiter.
Räuber.
Verräter.
Nebel sickerte durch das Fenster in den Raum. Schlüpfte durch die Risse im verrotteten Dach, krallte salzig nach Ravyns Augen. Eine Warnung vielleicht, dass das, wonach er da am Fuße des hohen, breiten Steins grub, nicht gefunden werden wollte.
Ravyn beachtete den Nebel nicht weiter. Auch er war aus Salz. Schweiß, Blut und Magie. Und selbst so hatten seine schwieligen Hände dem Boden der Kammer nichts entgegenzusetzen. Dieser war unversöhnlich, verhärtet von der Zeit, brach Ravyns Fingernägel ab und riss die Schrunden an seinen Händen auf. Dennoch grub er weiter, gehüllt in die Kühle der Spiegel-Karte. Vor seinen Augen verschwamm das Zimmer, in dem er als Kind so häufig gespielt hatte, zu etwas Groteskem – zu einem Ort alter Überlieferungen, zu einem des Todes.
Zu einem der Monster.
Er war vor Stunden aufgewacht, sein Schlaf unterbrochen von Krampfanfällen und der Erinnerung an einen durchdringenden, gelben Blick. Elspeth Spindles Stimme hallte als Missklang in seinen Gedanken wider.
Es war seine Burg – die, die nur noch eine Ruine ist, hatte sie ihm erzählt, ihre kohlschwarzen Augen tränennass, als sie vom Hirtenkönigsprach, der Stimme in ihrem Kopf. Er ist unter dem Stein in der Kammer bei Castle Yew begraben.
Ravyn hatte sich aus dem Bett gezwungenund war von Stoneherübergeritten, ein Geist im Wind auf dem Weg zum Zimmer. Er war rastlos, verzweifelt auf der Suche nach der Wahrheit. Denn nichts schien echt zu sein: der Hirtenkönig mit den gelben Augen und einer glatten, unheilvollen Stimme, gefangen im Geist eines Mädchens.Der Hirtenkönig, der ihnen versprochen hatte, bei der Suche nach der verlorenen Zwei-Erlen-Karte zu helfen.
Der Hirtenkönig, der seit fünfhundert Jahren tot war.
Ravyn kannte den Tod, war schon selbst sein Vollstrecker gewesen. Er hatte das Licht in Augen erlöschen sehen. Hatte letzte keuchende Atemzüge gehört. Nur Geister warteten auf der anderen Seite des Schleiers, kein Leben nach dem Tod. Für niemanden, weder Taschendiebin noch Wegelagerer – noch nicht einmal für den Hirtenkönig.
Und dennoch.
Der Boden am Fuß des Steins war nicht durchgängig hart. Teilweise war das Erdreich lose und aufgewühlt. Jemand war vor ihm hier gewesen – vor Kurzem. Elspeth vielleicht, ebenso auf der Suche nach Antworten wie er jetzt. Dort, am Fuß des Steins, eine Handbreit unter der verhärteten Schicht versteckt, war etwas eingraviert. Ein einzelnes Wort, im Lauf der Zeit unlesbar geworden. Ein Grabmal.
Ravyn grub weiter. Als sein Nagel einriss und seine ungeschützteFingerspitze auf etwas Scharfes traf, fluchte er und bäumte sich auf. Sein Körper mochte unsichtbar sein, aber nicht sein Blut. Es tropfte purpurrot, wurde sichtbar, sobald es seine Hand verließ und in das Loch fiel, das er gegraben hatte; der Boden dürstete danach.
Etwas war in der Erde verborgen, wartete. Als Ravyn es berührte, war es schärfer als Stein – kälter als der Grund.
Stahl.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er weiter grub, bis er ein Schwert freilegte. Es lag schief und war mit Schmutz bedeckt. Doch seine Machart war eindeutig: geschmiedeter Stahl, der Griff kunstvoll gestaltet, zu schmuckvoll für eine Soldatenklinge.
Er griff danach, und das Salz in der Luft stach bei jedem kurzen, fiebrigen Atemzug in seiner Lunge. Doch noch ehe Ravyn das Schwert herausziehen konnte, erhaschte er einen Blick darauf, was darunter vergraben war: in perfekter Ruhe, seit Jahrhunderten ungestört. Ein bleiches, knorriges Objekt.
Menschlich. Skelettartig.
Eine Wirbelsäule.
Ravyns Muskeln spannten sich an. Sein Mund wurde trocken, Übelkeit wogte von seinem Magen in seine Kehle. Blut tropfte immer noch von seiner Hand. Und mit jedem Tropfen, den er aufgab, gewann er eine zersplitterte, beißende Gewissheit: Blunder war voll von Magie.
Wundervolle, schreckliche Magie.
Dies war der Körper des Hirtenkönigs. Er war wirklich tot.
Doch seine Seele lebte fort, tief vergraben in Elspeth Spindle, der einzigen Frau, die Ravyn jemals geliebt hatte.
Er riss sich von der Kammer los und nahm das Schwert mit.
Vornübergebeugt unter der Eibe draußen hustete Ravyn und kämpfte gegen den Brechreiz an. Der Baum war alt, seine Äste verwildert, das Blätterdach ausladend genug, um Ravyn gegen den morgendlichen Regen abzuschirmen. Ravyn blieb eine Weile so stehen, und sein Herzschlag beruhigte sich nur widerwillig.
»Was hast du da zu graben, Rabenvogel?«
Ravyn fuhr herum, den Elfenbeingriff seines Dolchs schon in der Hand. Doch er war allein, die Wiese leer bis auf sterbendes Gras, der Pfad zurück nach Castle Yew menschenleer.
Die Stimme erklang erneut, jetzt lauter als zuvor. »Hast du mich gehört, Vogel?«
In der Eibe über Ravyn, die Beine über den Rand eines alten Asts baumelnd, saß ein Mädchen. Sie war jung – jünger als sein Bruder Emory –, ein Kind von höchstens zwölf Jahren, schätzte er. Ihr Haar fiel ihr in dunklen Zöpfen über die Schultern, einige Strähnen hatten sich gelöst und umrahmten ihr Gesicht. Ihr Mantel war aus ungefärbter grauer Wolle mit einem kunstvoll gesäumten Kragen. Ravyn suchte nach Familieninsignien,aber da waren keine.
Er kannte sie nicht. An ein so markantes Gesicht hätte er sich erinnert – eine so ausgeprägte Nase, so lebhafte gelbe Augen.
Gelb.
»Wer bist du?«, fragte Ravyn, seine Stimme kratzte in der Kehle.
Sie betrachtete ihn aus ihren gelben Augen und legte den Kopf schief. »Ich bin Tilly.«
»Und was machst du hier, Tilly?«
»Was ich immer getan habe.« Für einen sehr kurzen Moment erinnerte sie ihn an Jespyr als junges Mädchen. »Ich warte.«
Windböen peitschten strömenden Regen vor sich her. Kleine Tropfen prasselten seitlich auf Ravyns Gesicht, und der Wind zerrte ihm die Kapuze vom Kopf. Er hob eine Hand, um seine Augen gegen das Stechen abzuschirmen.
Aber das Mädchen im Baum verharrte reglos, obwohl der Ast unter ihm zitterte und die Blätter der Eibe im Wind rauschten. Weder bewegte sich ihr Mantel noch eine einzige lose Haarsträhne. Wasser und Wind schienen geradewegs durch sie hindurchzufegen, als sei sie aus Nebel, aus Rauch.
Aus nichts.
Erst jetzt fiel Ravyn wieder ein, dass er noch immer den Spiegel benutzte.
Das war der Grund, warum er dem Schlaf entsagt hatte und zur Kammergekommen war. Er hatte mit stumpfen Fingern gegraben, war Knochen mit Blut begegnet und hatte den Körper des Hirtenkönigs gefunden. Aber die Spiegel-Karte barg die Antworten, die er wirklich suchte.
Er hatte den Spiegel schon Tausende Male zuvor eingesetzt, um sich unsichtbar zu machen. Doch stets hatte Ravyn darauf geachtet, ihn nicht zu lange zu nutzen. Er hatte nie das Bedürfnis verspürt, sich den negativen Effekten der Karte auszusetzen und hinter den Schleier in eine Welt der Geister zu blicken. Er hatte nie mit einem Geist sprechen wollen.
Bis jetzt.
Ravyn räusperte sich. Er wusste nichts über Geister oder ihre Launen. Waren sie wie zu Lebzeiten? Oder hatte das Nachleben sie … neu geschaffen?
Er erhob seine Stimme gegen den Wind. »Auf wen wartest du, Tilly?«
Der Blick des Mädchens huschte zu dem Schwert in seiner Hand, dann zurück zur Kammer.
»Kennst du den Mann, der dort begraben liegt?«, fragte Ravyn.
Sie lachte scharf. »So gut, wie ich dieses Tal kenne, Vogel. So gut, wie ich diesen Baum kenne und die Gesichter all jener, die unter ihm verweilt haben.« Sie wickelte das Ende ihres Zopfes um einen Finger. »Du hast von ihm gehört, schätze ich.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Er ist ein seltsamer Mann, mein Vater. Vorsichtig. Klug. Anständig.«
Ravyn stockte der Atem. »Der Hirtenkönig ist dein Vater?«
Ihr Lächeln verblasste, ihre gelben Augen starrten ins Leere. »Sie haben ihm kein königliches Begräbnis gewährt. Vielleicht ist er deshalb nicht …« Ihr Blick fand Ravyns wieder. »Du hast ihn nicht mit deiner Spiegel-Karte gesehen, oder? Er hat versprochen, dass er zu uns kommen würde, sobald er den Schleier durchschreitet. Aber er ist nicht gekommen.«
»Zu uns?«
Das Mädchen wandte sich um, sein Blick glitt über den Wald am anderen Ende der Wiese. »Mutter ist irgendwo da drüben. Sie kommt nicht mehr so oft wie früher. Ilyc und Afton verweilen beim Skulpturengarten. Fenly und Lenor bleiben in deiner Burg.« Sie runzelte die Stirn. »Bennett ist oft woanders. Er ist nicht hier gestorben. Nicht wie wir anderen.«
Gestorben. Ravyn wurde die Kehle eng. »Das ist … deine Familie? Die Familie des Hirtenkönigs?«
»Wir warten«, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Auf Vater.«
»Warum kommt er nicht zurück?«
Das Mädchen antwortete nicht. Ihr Blick huschte über die Wiese zu den Ruinen. »Ich dachte, ich hätte seine Stimme gehört«, murmelte sie. »Als es Nacht wurde. Ich war allein, hier in meinem Lieblingsbaum.« Jetzt richtete ihr Blick sich auf Ravyn. »Ich habe dich gesehen, Rabenvogel. Du kamst wie immer in deinem schwarzen Mantel, deine grauen Augen schlau, deine Miene eingeübt. Nur dass du diesmal nicht allein warst. Eine Frau war bei dir. Eine seltsame Frau. Ihre Augen leuchteten goldgelb wie meine. Wie Vaters.«
Ravyns Innerstes krampfte.
»Ich sah euch beide weggehen, aber das Mädchen ist wiedergekommen.« Tilly wies mit einem Finger auf das Fenster der Kammer. »Sie ist reingegangen. Und da habe ich sie gehört … die Lieder, die mein Vater immer summte, während er an seinem Buch schrieb. Aber als ich hineinging, war er nicht da. Es war die Frau, die summte, während sie mit den Händen durch das Erdreich über Vaters Grab pflügte.«
»Elspeth«, flüsterte Ravyn, und der Name stahl ihm etwas. »Ihr Name ist Elspeth.«
Tilly schien ihn nicht zu hören. »Zweimal kam das Mädchen und grub an seinem Grabstein. Sie wanderte über die Wiese und durch die Ruinen.« Sie presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. »Aber als der Morgen dämmerte, wurden ihre gelben Augen kohlrabenschwarz. Und so kam ich hierher zurück, zu seinem Grab. Um zu beobachten. Um zu warten.«
Ravyn sagte nichts; sein Verstand wühlte nach Antworten, die er nicht hatte. Er erinnerte sich an die Nacht, in der er Elspeth zur steinernen Kammergebracht hatte. Noch immer roch er ihr Haar, fühlte ihre Wange an seiner Handfläche. Er hatte sie innig geküsst, und sie hatte den Kuss erwidert. Jeder Teil von ihm hatte jeden Teil von ihr gewollt.
Aber sie hatte sich losgerissen, mit geweiteten Augen und zitternder Stimme. Etwas in der Kammerhatte ihr Angst gemacht. In jenem Moment war Ravyn davon überzeugt gewesen, dass er das war. Doch jetzt wusste er, dass es etwas anderes gewesen war, etwas weit Größeres als er, etwas, das sie stets mit sich trug.
Er blickte zurück zum Mädchen auf der Eibe. »Was ist mit deinem Vater passiert?«
Tilly antwortete nicht.
Ravyn versuchte es erneut: »Wie ist er gestorben?«
Sie wandte den Blick ab, ihre Finger tanzten zu einem stummen Rhythmus auf dem Ast der Eibe. »Ich weiß es nicht. Sie haben mich als Erste erwischt.« Ihre Stimme wurde leiser. »Ich bin vor meinem Vater und meinen Brüdern durch den Schleier getreten.«
Es war nicht die Kühle der Spiegel-Karte, die in Ravyn hineinsickerte – es war etwas anderes. Eine Frage, deren Antwort er in einem finsteren Winkel seines Denkens bereits kannte. »Wer hat dich getötet?«
Es flackerte in den gelben Augen, sie heftete den Blick auf Ravyn. »Du kennst seinen Namen.« Sie senkte die Stimme zu einem tiefen, rauen Wispern. »Rowan.«
Vor Ravyns innerem Auge leuchteten die Insignien des Königs auf. Die Flagge seines Onkels – die unnachgiebige Eberesche. Rote Sensen-Karte, grüne Augen. Jäger, Rohlinge.
Familie.
Seine blutenden Hände zitterten.
»Wir haben lange auf Vater gewartet«, sagte Tilly, richtete ihren Blick nach oben, als spreche sie jetzt nur noch mit der Eibe. Ihre Stimme wurde fester, ihre Finger krümmten sich krallengleich auf ihrem Schoß. »Und wir werden warten, bis sein Werk vollbracht ist.«
Ein Schauer lief Ravyn über den Rücken. Er dachte an das Wesen in Elspeth Spindles Körper: mit gelben Augen und den verdrehten, seidigen Worten, die es im Kerker gesprochen hatte. Ein Versprechen, beim Auffinden der verschollenen Zwei Erlen zu helfen.
Aber Ravyn wusste es besser. Kein Versprechen kam ohne Preis aus. Blunder war ein Ort der Magie – des Handelns und Feilschens. Nichts war umsonst. »Was will der Hirtenkönig?«, fragte er das Geistermädchen. »Was ist sein Ziel?«
»Gleichgewicht«, erwiderte sie und legte den Kopf schief wie ein Raubvogel. »Furchtbares Unrecht wiedergutzumachen. Blunder von den Rowans zu befreien.« Ihre gelben Augen wurden schmal, die Bosheit darin vollkommen. »Sein Recht einzufordern.«
Der Prinz ritt schneller als die anderen beiden Streiter. Als er beim alten Backsteinhaus abstieg, war Elm Rowan erstaunt, wie still die Welt schien, wenn er nicht auf dem Rücken seines Pferds saß. Es verunsicherte ihn.
Eine Trauertaube gurrte. Elm zog einen Handschuh aus und schob die Hand in die Tasche seiner Tunika. Der Samtrand seiner Sensen-Karte spendete vertrauten Trost.
Er erreichte die Haustür; sein Handschuh spannte an den Knöcheln, als er die Finger zur Faust ballte. Die Tür war alt, Flechtenspuren saßen in den Ritzen. Die Nordseite des Anwesens war gänzlich mit Moos und Efeu bedeckt, als zerre der Wald Hawthorn House tiefer in sich hinein; armdicke Ranken schlängelten sich um den Schornstein.
Im Haus war niemand – die Warnung war schon vor Tagen angekommen. Dennoch presste Elm das Ohr gegen die Tür und lauschte.
Nichts.
Weder Kinderrufe noch das Klappern gusseiserner Küchentöpfe. Nicht einmal Hundegebell. Das Haus war still, wie erstickt von den grünen Ranken, die aus dem Nebel ragten.
Hinter ihm trafen die Streiterein und sprangen aus dem Sattel.
»Sire?«, fragte Wicker.
Elm öffnete die Augen und stieß die Luft aus. Er hatte keine Lust, der Befehlshaber zu sein. Aber Ravyn machte sich rar, und Jespyr war auf Stone zurückgeblieben, um ein Auge auf Emory zu haben. Damit blieb nur Elm – widerwillig bis auf die Knochen –, um dem königlichen Befehl Folge zu leisten und nach Elspeth Spindles verschwundenen Verwandten zu suchen.
»Es ist leer«, murmelte er durch zusammengebissene Zähne. »Opal Hawthorn ist keine Närrin. Sie und ihre Kinder wären wohl kaum hierher zurückgekehrt.«
»Ihr Mann dachte aber wohl, dass sie hier sein würden«, brummte der zweite Streiter,Gorse.
Elm drückte die Messingklinke hinunter und zog die Tür zu Hawthorn House auf. Die rostigen Angeln quietschten. »Tyrn Hawthorn würde alles sagen, um aus dem Kerker freizukommen.«
»Er hat Karten«, bemerkte Wicker spitz. »Wenn man ihn so reden hört, könnte man meinen, der alte Tyrn hätte das ganze Deckselbst eingesammelt.«
»Dann ist es wohl das Mindeste, wenn wir ihn um seine größten Schätze erleichtern. Durchsucht das Haus.« Elm warf einen Blick über die Schulter gen Himmel. »Beeilt euch. Ich wäre gern schneller als diese Wolken.«
Sie fingen in der Bibliothek an, räumten Regale leer und schüttelten alte Folianten, bis das Haus nach Leder und Staub roch.
»Ich habe einen Propheten gefunden!«, rief Gorse durch eine Reihe von Mahagoniregalen.
Elm fuhr mit dem Finger über den unebenen Kaminsims. Der Stein war rissig, aber der Mörtel hielt stand – kein verborgener Hohlraum, in dem eine Karte versteckt war.
Er verließ die Bibliothek und ging die Treppe empor. In ovalen Nischen standen heruntergebrannte Kerzen, Schatten hausten auf jedem Stein in der Wand.
Der erste Raum jenseits der Treppe war völlig auf den Kopf gestellt: Kleidung, Decken und eine einsame Socke lagen verstreut. Zwei enge Betten, zwei Holzschwerter. Das Zimmer von Elspeths kleinen Cousins, schätzte Elm.
Das nächste Zimmer wirkte deutlich femininer. Elm blieb auf der Türschwelle stehen und atmete kalte Luft ein: der Geruch von Wolle und Lavendel. Eine Steppdecke lag auf dem Bett, die Wäsche warfaltenfrei und sauber zusammengelegt. Auf einem kleinen Tisch von abblätterndem Grün stand eine Kerze, daneben ein ovaler Spiegel. Direkt darunter lag ein Kamm mit feinen Zinken. Lange schwarze Haarsträhnen hatten sich in den Holzzinken verfangen.
»Hier ist nichts mehr von ihr«, sagte eine Stimme hinter Elm. »Was Elspeth von hier mitgenommen hat, trägt sie bei sich.«
Elm fuhr zusammen, seine Hand zuckte zu seinem Gürtel. Das Geräusch von Stahl schnitt durch den Gang, und er fuhr herum, stieß mit dem Messer in Richtung der Stimme.
Er stoppte die Klinge, kurz bevor sie Ione Hawthorns Kehle streifte.
Ione stand vor ihm, weiß gekleidet wie eine Braut. Ihr langes, fließendes Kleid fiel bis zum Boden, ihr blondes Haar fing den Luftzug im Korridor ein. Als sie Elm anstarrte, schürzte sie die rosigen Lippen, formte sie zu einer Frage, die sie nicht laut aussprach. Ihr Blick fiel auf sein Messer. »Prinz Renelm.«
Seine Gedanken rasten, ein rhythmischer Missklang gegen das Beben seiner Brust. »Was zur Hölle tun Sie hier?«
»Das ist mein Zuhause. Warum sollte ich nicht hier sein?«
Elms Kiefermuskeln spannten sich an. Er riss das Messer fort, schob es zurück an seinen Platz am Gürtel. »Bei den Bäumen, Hawthorn. Ich hätte Sie umbringen können.«
Ihre Stimme war spitz wie die feinste Nadel. »Das bezweifle ich.«
Elm grub in seiner Tasche nach dem vertrauten Trost der Sense. Seit vier Tagen hatte er seine rote Karte nicht benutzt – seit jener Nacht in Spindle House.
Nachdem die Streiter herbeigerufen worden waren und man Hauth – gebrochen und blutig – weggeschafft hatte, hatte Ravyn Erik Spindle und Tyrn Hawthorn in Ketten gelegt. Jespyr war nach Hawthorn House geritten, um Elspeths Tante Opal Hawthorn zu warnen, dass die Streiter auf dem Weg waren. Und Elm … Elm hatte seine Sense dreimal angetippt und den Rest von Elspeths Familie zur Flucht gezwungen. Ihre Stiefmutter, Nerium, ihre Halbschwestern Nya und Dimia …
Und ihre Cousine Ione Hawthorn.
Sie alle waren in der Nacht verschwunden, ohne Spuren zu hinterlassen.
Bis jetzt.
Ione stand vor Elm und sah ihn aus scharfsinnigen, haselnussbraunen Augen an. Sie erinnerte ihn an frisches Pergament: makellos und verheißungsvoll. Das kam von der Jungfrauen-Karte, die ihre Trägerin unerträglich neu aussehen ließ. Elm fand es seltsam, dass Ione selbst hier noch die rosafarbene Karte der Schönheit benutzte – allein in Hawthorne House, so weit weg von den prüfenden Blicken bei Hofe in Stone.
Er beugte sich vor, sein Schatten verschluckte sie völlig. »Es ist hier nicht sicher für Sie.«
Iones Augen weiteten sich. Doch bevor sie etwas sagen konnte, ertönten hinter ihr Schritte.
Gorse blieb wie angewurzelt am oberen Treppenabsatz stehen, sein Blick auf Ione gerichtet.
»Wenn ihr nach meinem Vater sucht, fürchte ich, dass ihr enttäuscht werdet«, sagte sie und betrachtete ihn desinteressiert. »Ich bin allein. Meine Familie ist woanders, sie haben mir nicht einmal eine Nachricht hinterlassen.«
Gorse runzelte die Stirn. Er wandte sich an Elm. »Sire?«
Weitere Schritte ertönten auf der Treppe. »Heilige Scheiße.« Wicker blieb direkt hinter Gorse stehen, die Finger schon am Griff seines Schwerts.
Ione presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. »Ich scheine etwas zu übersehen. Warum seid ihr hier?« Ihr Blick verfinsterte sich. »Ist Hauth bei euch?«
»Der Kronprinzist auf Stone und kämpft ums Überleben«, schnappte Gorse. »Er wurde angegriffen – von Ihrer Cousine. All das nur, weil Ihre Familie nicht den Mumm hatte, sie zu verbrennen, als sie gekonnt hätte.«
Ione blickte auf Wickers Hand, mit der er das Heft seines Schwerts fest umklammerte. »Meine Cousine«, flüsterte sie, zog die Worte in die Länge. Die Nadel kehrte in ihre Stimme zurück. »Was hat Hauth mit ihr gemacht?«
»Nur das, was sie verdient hat«, erwiderte Gorse.
Ione hatte nur wenige Gesichtsausdrücke, aber ihre Augen verrieten sie. Elm hätte ihr Gesicht noch genauer betrachtet, hätte Wicker nicht so sein Schwert umklammert. »Halt dich zurück, Streiter«, sagte er.
Nun zuckte auch Gorses Hand zu seinem Schwert. »Der König wird sie sofort haben wollen.«
»Bei den Bäumen.« Erneut tastete Elm in seiner Tasche nach der Sense. Als seine Finger auf Samt stießen, tippte er darauf.»Ignoriert sie«, befahl er den Streitern. »Sucht weiter nach Karten.«
Ihre Hände erschlafften an den Schwertgriffen, ein glasiger Schimmer überzog ihre Augen.
Elm ruckte vorwärts und schloss eine Hand um Iones Arm. »Kein Wort mehr«, warnte er sie und zerrte sie mit sich, vorbei an den Streiternund die Treppe hinunter. Das Geräusch ihrer bloßen Füße auf dem Steinboden hallte durchs Haus.
Als sie das Wohnzimmer erreichten, riss sie ihren Arm los. »Was geht hier vor?«
Elm wurde die Kehle eng, seine Stimme war rau. »Ihre Cousine Elspeth …« Nein, nicht mehr Elspeth. Er spannte die Kiefermuskeln an. »Sie hat Hauth in Spindle Housein Stücke gerissen. Ihm das Rückgrat gebrochen. Er ist halb tot. Mein Vater will Blut sehen. Das Verhör …« Er ließ seinen Blick über Ione gleiten, und ein Schauer überlief ihn. »Ich muss Sie nach Stonebringen.«
Ione zuckte nicht zusammen. Sie blinzelte nicht einmal. »Dann tun Sie das.«
»Sie …« Er atmete einmal tief durch. »Sie verstehen eindeutig nicht.«
»Oh doch, das tue ich, Prinz. Wären Sie nicht gekommen und hätten sich als Eskorte angeboten, hätte ich mich allein auf den Weg zurück nach Stone gemacht.«
»Ich bin nicht Ihre verdammte Eskorte«, gab Elm zurück. »Ich verhafte Sie.«
Ione wandte sich ihm zu, aber ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert – vollkommen leer.
Sie hätte weinen sollen. Oder schreien. Das taten die meisten Leute im Angesicht eines Verhörs. Aber sie war einfach nur … ruhig. Auf unheimliche Weise.
Elm musterte sie von oben bis unten, einen sauren Geschmack im Mund. »Sie haben die Jungfrauen-Karte zu lange benutzt, nicht wahr? Wo ist sie?«
»Warum? Wollen Sie sie sich ausleihen, Prinz?« Ione betrachtete sein Gesicht. »Sie würde gegen die dunklen Ringe unter Ihren Augen helfen.«
Sie wartete nicht ab, bis er eine Antwort zusammengerafft hatte, sondern öffnete die Eingangstür. Regen trommelte laut auf das strohgedeckte Dach. Elms Ausatmen traf auf kalte Luft; schon an einfacheren Tagen hatte er wenig Geduld übrig für anstrengendes Wetter – oder anstrengende Frauen.
»Dann vergessen Sie die Jungfrauen-Karte.« Er schob sich an ihr vorbei, streifte ihr weißes Kleid in der Bewegung. »Haben Sie wenigstens Ihr Amulett?«
Ione zog eine Goldkette aus ihrem Ausschnitt, an der ihr Amuletthing – ein Pferdezahn, wie es aussah. Ein Schutz, der Geist und Körper vor dem Nebel abschirmen würde. Sie warf einen Blick zurück auf Hawthorn House. »Was ist mit meiner Familie?«
»Ihr Vater ist auf Stone, zusammen mit Erik Spindle. Ihre Mutter und Ihre Brüder sind fort – verschwunden. Nerium und ihre Töchter ebenfalls.« Er sah zur Seite. »Ihre Cousine ist tief unter dem Schloss eingekerkert.«
Ione trat ins Freie. Sie pflückte ein nasses Blatt von einem Weißdorn und ließ es durch ihre Finger gleiten. Tropfen fielen vom Ast auf ihre Nasenspitze und über ihre Lippen.
Als sie den Namen ihrer Cousine aussprach, war es ein Flüstern, zart wie das Geheimnis eines Kindes. »Elspeth.« Sie blickte zu Elm auf. »Sie hielt so viele Dinge geheim, selbst vor mir. Nachts hörte ich ihre Schritte auf dem Flur, wenn wir schon alle ins Bett gegangen waren. Ich lauschte auf die Lieder, die sie summte. Sie redete, als führe sie ein Gespräch mit jemandem, obwohl sie so oft allein war. Und ihre Augen«, murmelte sie. »Schwarz. Und dann schlagartig gelb wie Drachengold.«
Die Lüge entschlüpfte Elm, bevor er nachdenken konnte: »Davon weiß ich nichts.«
»Nein?« Ione strich sich das feuchte Haar hinters Ohr. »Ich dachte, Sie täten das vielleicht, da Sie ja nach dem ÄquinoktiumZeit mit ihr auf Castle Yew verbracht haben. Sie, Jespyr und natürlich der Hauptmann der Streiter.«
Tausend Sorgen stachen auf Elm ein. Der König wusste, dass Elspeth Spindle Vorsehungskarten sehen konnte. Er wusste aber nicht, dass Ravyn sie aus genau diesem Grund rekrutiert hatte. Dass Ravyn, Jespyr und Elm – auserwählte Wachen des Königs – eine infizierte Frau in ihre Reihen geholt hatten, um Vorsehungskarten zu stehlen. Um das Deck zu vervollständigen. Um den Nebel zu lüften und die Infektion zu heilen.
Um Ravyns Bruder Emory zu retten.
Um Hochverrat zu begehen.
Glas schnitt durch seinen Geist. Die Sense. Er hatte vergessen, dass er Gorse und Wicker noch immer kontrollierte. Elm griff in seine Tunika, tippte dreimal auf den Samt, und der Schmerz ließ nach.
Ione blickte auf die Hand in seiner Tasche.
Es donnerte. Elm sah zum Himmel und erschauerte. »Ein Sturm kommt.« Er führte Ione zu seinem Pferd. »Das wird kein angenehmer Ritt.«
Sie sagte nichts. Als Elm sie aufs Pferd hob, zog sie ihr Kleid über die Knie und schwang ein Bein rittlings über den Pferderücken. Elm stieg hinter ihr auf, seine Kiefermuskeln spannten sich an, als sie im Sattel zurechtrückte und ihren Rücken an ihn schmiegte. Ihr Haar roch süß.
Er trieb sein Pferd an. Hawthorn House verschwand im Wald, seine letzte Bewohnerin in einem Schwall aus Regenwasser und Schlamm von der Türschwelle geschwemmt.
Ione lehnte sich gegen seine Brust, ihr Blick fest auf die Straße gerichtet. Elm sah auf sie hinab und fragte sich, ob sie verstand, welches Schicksal sie auf Stoneerwartete. Ob sie wusste, dass dies vermutlich das letzte Mal war, dass sie ihr Elternhaus verließ und über die Waldstraße reiste. Ob sie zurückblicken würde.
Sie tat es nicht.
Die goldene Rüstung glänzte und ächzte, als der Mann, der mich aus dem Wasser gezogen hatte, sich neben mich in den schwarzen Sand setzte. Zusammen sahen wir zu, wie die Wellen um unsere Knöchel spielten, bevor sie zurückwichen – die Gezeiten beständig, das endlose Spiel der Wellen unveränderlich.
»Taxus«, sagte er endlich, erhob die Stimme über den Klang der Wellen.
Salzwasser trocknete auf meinen Lippen. Ich leckte über sie, meine Stimme brüchig. »Was?«
»Aemmory Percyval Taxus.« Er zog seine Handschuhe durch den Sand. »Das ist mein Name.«
Ich blinzelte, Sand in meinen Wimpern. »Du … du bist …«
Als er mich ansah, zerrte der Blick seiner gelben Augen an meinen verlorenen Erinnerungen. »Du wirst dich schon bald daran erinnern.« Er wandte sich wieder dem Horizont zu. »Hier gibt es wenig anderes zu tun, als sich zu erinnern.«
Mein Name war Elspeth Spindle, und das wusste ich nur, weil Taxus mich so genannt hatte. Ich versuchte, ihn laut auszusprechen; das Ergebnis war ein schlängelndes Zischen: »Elspeth Spindle.«
Taxus war fort, obwohl ich ihn nicht hatte weggehen sehen. Ich wandte den Kopf in beide Richtungen, suchte nach ihm, aber er hatte keine Fußspuren im Sand hinterlassen.
Ich blickte aufs Wasser hinaus und fuhr mit den Händen durch den Sand, bis meine Haut rau war. Mein langes Haar war strähnig vom Salzwasser. Ich zog an einer Strähne und wickelte sie so fest um meinen Finger, dass meine Fingerspitze sich lila färbte.
Ich aß nicht – schlief nicht.
Die Zeit fand mich nicht. Nichts fand mich. Gähnendes Nichts. Als Taxus zurückkehrte und auf mich herabblickte, als kenne er mich, runzelte ich die Stirn. »Du hattest unrecht. Ich erinnere mich nicht daran, wer du bist. Ich kann …« Wieder sah ich aufs Wasser hinaus. »Ich kann mich an nichts erinnern.«
»Soll ich dir die Geschichte erzählen?«
»Was für eine Geschichte?«
»Unsere, Liebes.«
Ich straffte mich.
»Es war einst ein Mädchen«, sagte er, seine Stimme ölig, »das klug war und gut. Es verweilte im Schatten in des Waldes Hut. Da war auch ein König – mit einem Hirtenstab, er beherrschte Magie, ein Buch er uns gab. Es wurden die beiden zu einem heuer: Das Mädchen, der König – zum Ungeheuer.«
Ravyn spürte nicht länger die Kälte der Spiegel-Karte auf der Haut.
Er war zurück auf Stone, aber warm war ihm dennoch nicht. Die Kälte des Kerkers krallte sich dunkle, vereiste Treppenstufen empor, versuchte sich in seine Brust zu graben.
Er hielt zwei Schlüssel in der Hand und packte sie fester, als er am oberen Treppenabsatz innehielt. Er hörte seine Schwester nicht kommen – aber was wäre sie auch für eine Streiterin,hätte sie sich vernehmen lassen?
»Ravyn.«
Er drehte sich um, verbarg sein Zusammenschrecken hinter einem finsteren Blick. »Jes.«
Jespyr lehnte an der Wand, verschmolz gründlich genug mit den Schatten, dass eine Spiegel-Karte unnötig war. Sie senkte den Blick auf die beiden Schlüssel, die Ravyn umklammert hielt. »Du wirst noch ein Paar Hände brauchen, um diese Tür zu öffnen.«
»Ich wollte eine Wache fragen.«
Etwas glommin ihren braunen Augen auf. »Ich bin fähig genug.«
Irgendwo in der Entschlossenheit ihrer Stimme schwang auch etwas Anklagendes mit. Ravyn ignorierte es. »Der König will Els–« Er zuckte zusammen. »Er will mehr über die Zwei-Erlen-Karte wissen. Unter vier Augen.«
Jespyr verschränkte die Finger.»Ist das klug?«
»Wahrscheinlich nicht.«
Der Klang des Gongs hallte durch die Burg. Er verkündete den frühen Nachmittag. Mittag, Mitternacht – die Uhrzeit bedeutete Ravyn wenig. Über Zeit wusste er nur, dass sie ihm stets zu entrinnen schien.
Jespyr fuhr mit dem Stiefel über eine Falte im Teppich. »Geht es dir gut genug, um das zu machen? Du hast kaum darüber geredet, was passiert ist. Über Elspeth.«
Seine Kiefermuskeln spannten sich an. »Mir geht es gut.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich merke immer, wenn du lügst. Du hast dann diesen leeren Ausdruck in den Augen.«
»Vielleicht liegt das daran, dass sie wirklich leer sind.«
»Du hättest wohl gern, dass alle das denken, nicht wahr?« Jespyr kam näher und entwand ihm den zweiten Schlüssel. »Du kannst mit mir reden, weißt du. Ich bin immer hier, Ravyn.« Ihre Mundwinkel zuckten. »Ich bin immer direkt hinter dir.«
Sie erreichten den unteren Treppenabsatz, ohne auf dem Eis auszurutschen. Im Vorzimmer wartete die Kerkertür, doppelt so breit wie Ravyn mit ausgebreiteten Armen. Sie war aus Ebereschenholz gefertigt und mit Eisen verstärkt, und man brauchte beide Schlüssel,um sie zu öffnen.
Ravyn und Jespyr stellten sich vor die jeweiligen Schlösser zu beiden Seiten der Tür und steckten die Schlüssel ein. Ravyn achtete darauf, seiner Schwester den Rücken zuzukehren, damit sie seine zitternden Finger nicht sah.
Die in die Steinwand eingelassenen Mechanismen lösten die Verriegelungen. Ravyn schloss seine Finger um die Griffeund stieß die Tür gerade weit genug auf, um durch den Spalt schlüpfen zu können; das uralte Holz wog schwer.
»Lass sie offen«, sagte er und nahm beide Schlüssel an sich. »Es werden bald Streiterkommen, um Erik Spindle und Tyrn Hawthorn für ihr Verhörabzuholen.« Er trat durch die Tür.
»Willst du, dass ich mitkomme?«
»Nein. Hol eine Kelch-Karte aus der Waffenkammer. Wir treffen uns bei den königlichen Gemächern.«
»Bist du sicher, dass es dir gut genug hierfür geht?«, fragte Jespyr noch einmal.
Ravyn war stets ein Lügner aus Notwendigkeit gewesen, nicht weil er das Handwerk dahinter so sehr bewundert hätte. Es war eine seiner vielen Masken. Und diese trug er schon so lange, dass er nicht immer wusste, wie er sie abnehmen sollte, selbst wenn es das Richtige gewesen wäre.
Er schlüpfte in die Dunkelheit. »Mir geht es gut.«
Die Luft wurde immer dünner, je weiter er nach Norden schritt. Der Weg durch den Kerker war abschüssig, führte tiefer unter die Erde. Ravyn wickelte sich in seinen Mantel und hielt den Blick geradeaus gerichtet. Er fürchtete, die Geister all der infizierten Kinder, die dort gestorben waren, würden aus den Schatten treten und sich auf ihn stürzen, wenn er zu genau in die leeren Zellen zu beiden Seiten spähte.
Der Weg war übersät mit geschwärzten Fackeln. In diesen Teil des Kerkers kamen nur selten Patrouillen. Ravyn ging weiter, bis er ganz am Ende war: an der letzten Zelle.
Das Monster wartete.
Flach auf dem Boden, den Blick zur Decke gerichtet wie ein Sterngucker, lag reglos das, was einst Elspeth Spindles Körper gewesen war. Ihr Atem strömte wie Drachenrauch aus ihrem Mund, der jetzt der des Hirtenkönigs war. Als Ravyn vor der Zelle stehen blieb, wandte der Hirtenkönig nicht den Kopf. Das Geräusch seiner aufeinanderklickenden Zähne war der einzige Gruß, den er Ravyn entbot.
In Ravyns Kehle schwoll ein Kloß an. Bevor er sich daran hindern konnte, glitt sein Blick schon der Länge nach über Elspeths Körper.
Was einst ihr Körper gewesen war.
»Bist du wach?«
Keine Antwort.
Ravyn trat vor, die Eisenstäbe der Zelle wie Eiszapfen unter seinen Händen. »Ich weiß, dass du mich hörst.«
Lachen hallte in der Dunkelheit wider. Die Gestalt in der Zelle setzte sich langsam auf und wandte sich um. Es kostete Ravyn alles, nicht zurückzuschrecken.
Elspeths schwarze Augen waren verschwunden. An ihrer Stelle saßen jetzt katzenartige Iriden, lebhaft und gelb, beseelt von einem Mann, der seit fünfhundert Jahren tot war.
Der Hirtenkönig bewegte sich nicht – mit Ausnahme seiner Augen. »Du bist allein, Hauptmann«, sagte er. Es war immer noch Elspeths Stimme, nur dass sie jetzt glitschig und ölig klang. Falsch. »Ist das klug?«
Ravyn versteifte sich. »Würdest du mir etwas antun?«
Zur Antwort bekam er ein verzerrtesLächeln. »Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht mit dem Gedanken gespielt habe.«
Niemand konnte sie belauschen. Dennoch zog Ravyn seine Nachtmahr-Karte aus der Tasche und tippte sie dreimal an. Salz brannte in seiner Kehle, in seiner Nase. Er schloss die Augen und ließ zu, dass das Salz ihn verschluckte – dann stieß er es nach außen und drang in den Geist des Hirtenkönigs ein. Er kämmte durch Finsternis, suchte nach einem Hinweis auf Elspeth.
Er fand sie nicht.
Als Ravyn die Augen wieder öffnete, beobachtete ihn der Hirtenkönig. Eine Stimme, männlich, glatt, giftig,sprach in seinen Gedanken.
Was willst du, Ravyn Yew?
Ravyn fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen und verbarg so sein Zusammenzucken. Er blickte auf Elspeths Körper. Es waren ihre Haut, ihre Lippen, ihre Hände. Ihr zerzaustesHaar, lang und schwarz, das ihr über die Schulter fiel. Ihre Brust, die sich mit jedem Einatmen hob.
Aber ebenso wie bei ihrer Stimme war auch an Elspeths Körper etwas unwiderlegbar falsch. Ihre Finger waren starr, gekrümmt wie Krallen, und ihre Körperhaltung verdreht – die Schultern zu weit hochgezogen, der Rücken zu stark gekrümmt.
»Der König will dich sehen«, sagte Ravyn. »Aber bevor ich dich zu ihm bringe, will ich zwei Dinge.«
Der Hirtenkönig erhob sich und trat in die Mitte der Zelle, bevor er – viel zu schnell – zur Tür glitt. »Ich höre.«
Ravyn umfasste die Eisenstäbe fester. »Ich will die Wahrheit. Keine Rätsel, keine Spielchen. Bist du wirklich der Hirtenkönig?«
Der Blick gelber Augen glitt über seine Hände – seine abgebrochenen Fingernägel, den Dreck, der immer noch in den trockenen Schrunden seiner Haut saß. Elspeths Körper krümmte sich geierhaft. »So wurde ich einst genannt.«
»Wie hat sie dich genannt?«
Einen Augenblick lang war da nichts. Keine Bewegung. Noch nicht einmal zu Dampf gewordene Luft aus den Nasenlöchern des Hirtenkönigs. Dann, als er komplett eingefroren schien, begannen seine bleichen Finger zu zucken, als zupften sie die Saiten einer unsichtbaren Harfe an. »Sie sah mich als das, was ich wirklich bin.« Er sprach das Wort aus, flüsterte es in Ravyns Kopf: Nachtmahr.
»Und du weißt, wo die Zwei-Erlen-Karte ist, Nachtmahr?«
»Das weiß ich.«
»Wirst du mich dorthin bringen?«
Seine Stimme war nah und fern zugleich. »Das werde ich.«
»Wie weit ist es?«
Der Nachtmahr senkte den Kopf und lächelte. »Nicht weit. Und doch weiter, als du je zuvor gegangen bist.«
Ravyn schlug gegen die Gitterstäbe. »Ich sagte, keine verdammten Spielchen!«
»Du wolltest die Wahrheit. Wahrheit beugt sich, Ravyn Yew. Wir alle müssen uns mit ihr beugen. Denn andernfalls, nun ja …« Seine gelben Augen flackerten. »Andernfalls werden wir brechen.«
Wieder sprach er mit seiner Stimme in Ravyns Gedanken. Lange vor deiner Zeit,sagte er, vor der Geschichte von dem Mädchen, dem König und dem Monster, erzählte ich eine ältere Geschichte. Eine von Magie, Nebel und Vorsehungskarten. Von Infektion und Degeneration. Sein Lächeln erlosch. Von abgeschlossenen Tauschhandeln.
»Ich bin vertraut mit dem Alten Buch der Erlen.«
»Gut. Denn du wirst hineintreten.«
Ravyn atmete ein, das Eis in der Luft nistete in seiner Lunge.
»Die Zwei-Erlen-Karte ist die einzige ihrer Art«, fuhr der Nachtmahr fort. »Wer sie anwendet, erhält die Macht, zu unserer Gottheit zu sprechen: der Herrin des Waldes. Und diese wiederum hütet die Karte, die letzte des Decks. Sie wird einen Preis dafür verlangen. Nichts ist umsonst.«
»Ich bin bereit, jeden Preis zu zahlen, den sie verlangt.« Ravyn drückte sich gegen die Stäbe, senkte die Stimme. »Und wenn ich bezahle, Nachtmahr, wird die Zwei-Erlen-Karte mir gehören. Nicht dem König, nicht dir. Mir.«
Etwas regte sich in den gelben Augen. »Was ist die zweite Sache, die du von mir willst, Ravyn Yew?«, murmelte der Nachtmahr.
Selbst mit all dem Frost um sie herum konnte Ravyn Blut auf Elspeths Kleid riechen. Er machte einen Schritt rückwärts, doch es war schon zu spät: Ein leichtes Zittern hatte seine Hand erfasst. Ravyn ballte sie zur Faust.
»Wenn ich dich in die königlichen Gemächer bringe, wirst du ihm nichts antun. Du darfst nichts tun, was gefährden könnte, dass ich dich aus Stone fortbringen darf, um die Zwei-Erlen-Karte zu suchen.«
»Rowan hat meinem Angebot also zugestimmt? Dass ich mein Leben gegen das des jungen Emory eintausche?«
»Noch nicht ganz. Weshalb du dich von deiner besten Seite zeigen musst.«
Der Nachtmahr lachte. Der Klang wehte wie auf dunklen Schwingen durch den Kerker. »Meine beste Seite.« Er krümmte die Finger. »Auf jeden Fall. Bring mich zu deinem Rowan-König.«
Entlang der Kerkerwände waren Haken mit verschiedenen Waffen und Kettenangebracht. Ravyn griff nach an einer Kette befestigten Handschellen und öffnete die Zellentür. Der Nachtmahr hielt ihm die Handgelenke hin. Bleiche, zerschundene Haut lugte unter zerfetzten Ärmeln hervor.
Ravyn biss die Zähne zusammen.»Zieh die Ärmel runter, damit das Eisen nicht direkt auf deinen Handgelenken aufliegt. Ich will Elspeth nicht noch mehr blaue Flecke verpassen.«
»Sie kann sie jetzt nicht spüren.«
Ravyns Kiefermuskeln spannten sich an, und er achtete darauf, die Haut des Nachtmahrs nicht zu berühren, während er ihm die Handschellen anlegte. »Gehen wir.«
Selbst in Ketten waren die Bewegungen des Nachtmahrs unheimlich lautlos. Ravyn musste sich sehr beherrschen, um nicht über die Schulter zu spähen. Er war sich einzig deshalb sicher, dass das Monster hinter ihm war, weil er es wie ein Gespenst spürte, während sie langsam Stones gefrorenen Tiefen entstiegen.
Sie schritten die Treppen empor. Ravyn schüttelte seine Hände, bis die eisige Taubheit des Kerkers zu einem Kribbeln an seinen Fingerspitzen wurde. Noch immer führte er die Nachtmahr-Karte und benutzte sie, um Elm zu rufen. Sein Cousin antwortete nicht.
Doch eine andere Stimme tat es.
Sie ist tot, du Narr, kam ein so vertrauter wie verächtlicher Tonfall aus den Tiefen seines Geists. Warum klammerst du dich an die Hoffnung? Selbst wenn du das Deck vereinst und den Nebel hebst und die Infektion heilst, wird sie nicht zurückkommen. Sie ist vor vier Nächten in ihrem Zimmer in Spindle House gestorben. Ein tiefes, grollendes Lachen. Und alles nur, weil du zehn Minuten zu spät von deiner Patrouille zurück warst.
Ravyn riss die dunkelrote Karte aus seiner Tasche und tippte dreimal darauf, unterbrach die Magie. Sein Puls dröhnte ihm in den Ohren. Das war nicht die Stimme des Nachtmahrs gewesen, sondern eine andere – eine, die ihn verhöhnte und ihm seine schlimmsten Ängste zuflüsterte, wann immer er die Nachtmahr-Karte zu lange verwendete.
Seine eigene.
Das Klicken von Zähnen hallte von den Steinwänden wider.
»Deine Nachtmahr-Karte war unnötig, Ravyn Yew. Ich bin der Einzige in einhundert Zellen.« Der Nachtmahr hielt inne. »Es sei denn, du hast darauf gehofft, eine andere Stimme zu hören, als du in meinen Geist eingedrungen bist.«
Ravyn blieb wie angewurzelt stehen. »Warst du da«, fragte er, hielt den Blick geradeaus gerichtet und zwang Eis in seine dünne Stimme, »als Elspeth und ich miteinander allein waren?«
»Was ist los, Räuber? Beginnen deine rosigen Erinnerungen zu verrotten?«
Ravyn fuhr herum, stieß den Nachtmahr gegen die Wand und schloss eine Hand um die bleiche Kehle des Monsters.
Doch sie fühlte sich zu sehr nach ihrer Kehle an. Es war ihre Kehle.
Er riss seine Hand zurück. »Alles war eine Lüge.« Bis jetzt hatte er sich nicht gestattet, das zu denken. Und jetzt, da er es dachte … Er hatte Messerwunden erlebt, die weniger geschmerzt hatten. »Jeder Blick. Jedes Wort. Du hast elf Jahre in Elspeths Geist gelebt. Unmöglich zu sagen, wo sie aufhörte und du anfingst.«
Ein Lächeln huschte über die Lippen des Nachtmahrs. »Absolut unmöglich zu sagen.«
Ravyn wurde übel.
»Wenn es dich tröstet: Ihre Bewunderung für dich war absolut einseitig. Ich finde deine steinerne Fassade entsetzlich langweilig.«
Mit geschlossenen Augen wandte Ravyn sich ab. »Und dennoch warst du da. Als wir zusammen waren.«
Eine lange Pause. Dann sprach der Nachtmahr, leiser als zuvor. »In der Dunkelheit gibt es einen Ort, den sie und ich teilen. Stell ihn dir vor wie einen einsamen Strand an düsteren Gewässern. Es ist ein Ort, den ich schuf, um Dinge zu verbergen, die ich vergessen wollte. In unseren elf gemeinsamen Jahren ging ich ab und zu dorthin, um Elspeth eine Atempause zu verschaffen. Und in der letzten Zeit«, setzte er hinzu und trommeltemit den Fingernägeln gegen die Mauer, »um mir die Einzelheiten ihrer recht unverständlichen Zuneigung zu dir zu ersparen.«
Ravyn öffnete die Augen. »Dieser Ort existiert in deinem Geist?«
Stille. Dann: »Fünfhundert Jahre lang zerbrach ich in der Dunkelheit. Ein Mann, der sich langsam in etwas Furchtbares verwandelte. Ich sah keine Sonne, keinen Mond. Ich konnte mich lediglich an die schrecklichen Dinge zu erinnern, die geschehen waren. Also schuf ich einen Ort, an dem ich den König wegsperren konnte, der einst gelebt hatte. All seinen Schmerz. All seine Erinnerungen. Einen Ort der Ruhe.«
Ravyn wandte sich um. Als er dem gelben Blick des Nachtmahrs begegnete, verstand er. »Sie ist dort. Darum kann ich sie mit der Nachtmahr-Karte nicht hören. Du hast Elspeth versteckt.« Seine Kehle brannte. »Allein in der Dunkelheit.«
Der Nachtmahr legte den Kopf schief. »Ich bin kein Drache, der Gold hortet. Von jenem Moment an, in dem Elspeth die Nachtmahr-Karte berührte und ich in ihren Geist schlüpfte, waren ihre Tage gezählt. Ich war ihre Degeneration.«
Nein. Ravyn würde das nicht hinnehmen. »Sag mir, wie ich sie erreiche.«
»Warum sollte ich das tun, wenn es so vergnüglich ist, dir beim Rätseln zuzusehen?«
Ravyns Hand fiel auf seinen Gürtel und den Elfenbeingriffdaran. »Du wirst es tun. Wenn wir diese elende Burg verlassen, wirst du mir sagen, wie ich Elspeth erreiche.«
Das Lächeln des Nachtmahrs war eine kaum verhohlene Drohung. »Ich weiß, was ich weiß, und das bleibt geheim. Lang hab ich’s bewahrt, und so soll es stets sein.«
König Rowan war nicht in seinen Gemächern.
Ravyn fluchte unterdrückt. »Warte hier«, sagte er zum Nachtmahr. Er ließ das Monster zurück – in Ketten und blutbefleckt, mitten auf den Fellteppichen des Königs, und schritt den Flur entlang zu Hauths Zimmer. Als er eintrat, verhinderten nur äußerste Beherrschung und das schiere Glück, wenig zu Mittag gegessen zu haben, dass er sich angesichts des Gestanks übergab.
Das Zimmer des Kronprinzenwar überheizt, was den Gestank nach Blut und faulem Körpergeruch noch verstärkte. Filick Willow stand in einer Reihe mit drei anderen Ärztenneben Hauths Bett. Auch der König war da; er stand mit Jespyr am Kamin. Er war betrunken. Er saß seit drei Tagen betrunken an Hauths Bett, tippte immer wieder auf seine eigene Nachtmahr-Karte und versuchte, den Geist seines Sohns zu erreichen.
Doch wo auch immer Hauth verweilte – wenn er überhaupt irgendwo verweilte –, der König konnte ihn nicht erreichen. Auch die Sensen-Karte konnte das Leben nicht zurück in die leeren grünen Augen zwingen. Die Haut, die unter Verbänden und Decken hervorlugte, war zerschnitten und verschorft. Und unter den Verbänden …
Hauth war zerstört worden. Auf eine Weise, die Ravyn in seinen sechsundzwanzig Lebensjahren noch nicht gesehen hatte. Nicht einmal Wölfe zerrissen ihre Beute auf diese Weise. Tiere töteten selten zum Vergnügen. Und das hier – was Hauth angetan worden war, Reißen und Brechen und Häuten – ging weit über Vergnügen hinaus.
Plötzlich schien es eine sehr schlechte Idee, den König Angesicht zu Angesicht mit dem Monster zu bringen, das seinen Sohn gebrochen hatte.
Jespyr fand Ravyns Blick. Ihr Kiefer spannte sich an, und sie flüsterte ihrem Onkel etwas ins Ohr. Der König brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Als sein Blick schließlich Ravyn fand, überschattete sein Stirnrunzeln seine Augen.
»Nun?«, bellte er, sobald sie auf dem Flur waren. »Ist sie hier?«
Ravyn atmete frische Luft ein. »In Ihren Gemächern, Sire.«
Die grobe Faust des Königs ballte sich um den Hals einer Glaskaraffe. »Ein Kelch?«
»Ich habe hier einen«, sagte Jespyr, eine meergrüne Vorsehungskarte in der Hand.
»Dann sehen wir doch mal, ob die Schlampe es jetzt mit Lügen über die Zwei Erlen versucht.«
Als der König die Tür zu seinen Gemächern aufriss, kauerte der Nachtmahr wie ein Wasserspeier auf einem verzierten Stuhl mit hoher Lehne. Sie starrten einander an, zwei Könige, beide mit Mordlust im Blick. Rowans Augen grün, die des Nachtmahrs gelb – und ein Ungleichgewicht von fünfhundert Jahren zwischen ihnen.
Der Nachtmahr öffnete seine klauengleiche Hand zum Gruß. In der anderen hielt er einen bereits mit Wein gefüllten Silberkelch. »Also dann«, sagte er. »Beginnen wir mit dem Verhör.«
Jespyr warf einen skeptischen Blick auf seine Handschellen. Sie stieß die Luft aus und tippte dreimal auf die Kelch-Karte.
König Rowan hielt genug Abstand zum Stuhl des Nachtmahrs, dass eine Kutsche zwischen ihnen hätte hindurchfahren können. Er mochte betrunken sein, aber nicht töricht. Er hatte in den schrecklichsten Einzelheiten gesehen, wozu dieses Monster fähig war, wenn man es provozierte. »Sag mir, Elspeth Spindle, wie kommt es, dass du weißt, wo die Zwei-Erlen-Karte verborgen ist?«
Der Nachtmahr wickelte sich eine von Elspeths schwarzen Haarspitzen um den Finger. Ravyn sah es, und die Erinnerung versengte ihn. Er hatte selbst seine Hände in diesen Haaren vergraben. War mit den Fingern hindurchgefahren, hatte hineingeseufzt.
Er wandte den Blick zur Wand.
»Ganz einfach«, murmelte der Nachtmahr. »Ich war dabei, als die Karte verschwand.«
Der Blick des Königs glitt zur Kelch-Karte in Jespyrs Händen, dann zurück zum Nachtmahr, als wisse er nicht recht, ob er seinen Augen oder seinen Ohren weniger traute. »Das ist unmöglich.«
Der Nachtmahr grinste. »Ist es das? Magie ist eine merkwürdige, launische Angelegenheit.«
»Es ist also Magie, die dir dieses … dieses …« Der König verhaspelte sich. »Dieses alte Wissen über die Zwei Erlen verschafft?«
Die Mundwinkel des Nachtmahrs verzogen sich. »So könnte man das sagen.«
»Wo genau ist die Karte versteckt?«, mischte sich Jespyr ein, straffte die Schultern.
Der Nachtmahr warf ihr einen gleichgültigen Blick zu. »Tief im Wald. Einem Wald ohne Wege. Doch jene, die das Salz riechen …« Er bleckte die Zähne. »Die ruft sie zu sich.«
Mit einem tiefen, zittrigen Atemzug sammelte sich der König, und sein Blick huschte zu Ravyn. »Wusste mein Neffe von deiner Infektion?«
Ravyn erstarrte, tausend Alarmglocken schrillten in seinen Ohren.
Die ölige Stimme des Nachtmahrs schnitt hindurch. »Dein Hauptmann ist nicht der allwissende Vogel, für den du ihn hältst. Er wusste nichts von meiner Magie, bis es zu spät für ihn war.«
Es war die Wahrheit – nur leicht verdreht.
Ein Stirnrunzeln brach Ravyns versteinerten Ausdruck. Der Nachtmahr bemerkte es und lächelte, als wisse er, was Ravyn gerade erst begriffen hatte.
Vorsehungskarten hatten keine Auswirkungen auf den Hirtenkönig. So stand es im Alten Buch der Erlen geschrieben.
Ihr Preis ist beglichen, den Handel zu beenden. Zwölf Karten erstand ich – doch kann keine verwenden.
Doch auf Elspeth hatten die Karten sehr wohl Einfluss. Hauth hatte einen Kelch gegen sie eingesetzt. Ravyn hatte mit der Nachtmahr-Karte in ihre Gedanken hineingesprochen.
Und das Monster vor ihm war zugleich Elspeth und der Hirtenkönig. Der Nachtmahr konnte den Karten nachgeben … und zugleich ihre Magie wirkungslos machen.
Das war Ravyns eigener Magie nicht unähnlich: Er selbst konnte nur den Spiegel, den Nachtmahr und vermutlich die Zwei-Erlen-Karte benutzen. Die übrigen neun konnte er nicht nutzen – aber sie konnten auch nicht gegen ihn eingesetzt werden. Er konnte sich dem Zwang der Sense widersetzen und gegen den Kelch anlügen.
Ebenso, wie es der Nachtmahr gerade tat.
»Wer wusste von deiner Infektion?«, schnappte der König, als die Stille zu lang wurde.
»Meine Magie war stets ein Geheimnis.«
»Selbst vor deinem Vater?«
Der Nachtmahr mahlte mit dem Kiefer. »Das ist eine Frage für ihn. Ich trage für nichts die Verantwortung, was Erik Spindle mit seiner hartherzigen Gleichgültigkeit angerichtet hat.«
»Kannst du mit deiner Magie wirklich Vorsehungskarten sehen?«
»Ja.«
»Und das wirst du nutzen, um die letzte Karte für mich zu finden?«
Die Miene des Nachtmahrs blieb undurchdringlich. »Das werde ich. Solange du deinen Teil unserer Abmachung einhältst, Rowan. Hast du Emory Yew seinen Eltern übergeben?«
Der König ballte an seinen Seiten die Hände zu Fäusten. »Sag mir, wo die Zwei-Erlen-Karte ist, und ich werde ihn heute Nacht freilassen.«
Der Nachtmahr zog eine Augenbraue hoch. »Nun gut.« Er holte Atem. »Hör gut zu. Drei Händel braucht’s, die zwölfte Karte zu finden. Den ersten am Wasser – in Spiegelsees Gründen. Der zweite beginnt an des Waldes Saum, wo du umkehren solltest, doch kannst du es kaum.«
Sein Blick glitt zu Ravyn, und er sprach seine Worte mit einer Schärfe aus, als wolle er Blut vergießen. »Der letzte Händel wartet an einem Ort ohne Zeit. Einem Ort des Verbrechens, von Blut und von Leid. Dort rettet kein Schwert dich, verbirgt nichts dein Gesicht. Du kehrst heim mit Zwei Erlen – doch entkommst du ihm nicht.«
Der Pfad war dunkel, der Wald von Wasser aufgequollen. Als Blitze über den Himmel zuckten, zog Elm sich die Kapuze über den Kopf und verengte die Augen gegen das Stechen des Regens.
Ione trug keinen Mantel. Oder Schuhe. Ihre Füße und Knöchel lugten unter ihrem weißen Kleid hervor, der feine Stoff schlammbespritzt. Sie musste frieren, doch sie beklagte sich nicht.
Ihre Stimme ließ ihren Rücken vibrieren, ein feines Summen gegen Elms Brust. Über die Geräusche seines Pferdes konnte er ihre Worte nicht verstehen. »Was?«
»Geht es ihr gut?«, fragte Ione, lauter diesmal. »Elspeth.«
Selbst die Behauptung, dass Elspeth Spindle am Leben war, fühlte sich wie eine Lüge an. »Ich weiß es nicht.« Elm biss die Zähne zusammen. »Stört es Sie, dass sie Ihren Verlobten in Stücke gerissen hat?«
Ione hielt ihren Blick geradeaus gerichtet. »Ebenso sehr, wie es Sie stört, schätze ich.«
Hauth. Blut auf dem Fußboden, Blut auf seiner Kleidung, Blut auf seinem Gesicht. Ja, es störte Elm. Aus lauter falschen Gründen. »Seien Sie froh, dass Sie nicht gesehen haben, was von ihm noch übrig war, als sie fertig war.«
Sie erreichten die Kreuzung, an der sich der Waldweg gabelte. Elm lenkte sein Pferd nach Osten, zu jenem Ort, den er am meisten auf der Welt hasste.
Stone.
»Wann beginnt das Verhör?«, fragte Ione.
»Angst vor dem Kelch, hm?«
»Ich habe keine Angst vor der Wahrheit.«
Elm beugte sich vor, sodass sein Mund nah an ihr Ohr kam. »Das sollten Sie aber.«
»Ja. Ich schätze, das sollte ich.«
Er blickte nach unten. Er hatte nie viel mit Ione Hawthorn gesprochen. Das meiste, was er von ihr wusste, hatte er sich in Blicken zusammengesucht – viele davon verstohlen.
Ihre Miene war stets leicht zu lesen gewesen, selbst quer durch den großen Saal auf Stone. Ihr Ausdruck war ehrlich gewesen, ihr Lächeln so unbeherrscht, dass Elm sie beinahe dafür bedauert hatte. Diese Art unverhüllter Echtheit hatte keinen Platz am königlichen Hof.
Er hatte sie immer schön gefunden. Aber die Jungfrau –diese nutzlose rosafarbene Karte – hatte ihre Schönheit bis zur überirdischen Perfektion herausgearbeitet. Ihre Haare und Haut waren makellos, die Lücke zwischen ihren Vorderzähnen verschwunden. Ihre Nase war kleiner. Die Jungfrauhatte sie nicht größer gemacht, hatte ebenso wenig – den verdammten Bäumen sei Dank – ihre bemerkenswerten Kurven abgeschwächt. Aber sie war dennoch anders als das blonde Mädchen, das er auf Stonehatte lächeln sehen. Kontrollierter.
Kälter.
Sein Blick glitt über sie. Hätte Elm nicht auf die Kuhle an ihrer Kehle geachtet, das Anschwellenihrer Brust, wenn sie atmete, die Konturen ihrer Oberschenkel unter ihrem Kleid – er hätte den Blick auf die Straße gerichtet gelassen. Und hätte er den Blick auf die Straße gerichtet gelassen …
Vielleicht hätte er die Räuber gesehen.
Sie trugen Mäntel und Masken und standen in einer Reihe, versperrten den Weg. Elm riss an den Zügeln und brachte sein Pferd zum Stehen. Das Tier wieherte leise, dann bäumte es sich auf. Ione prallte hart gegen Elms Brust, und er schlang einen Arm um ihre Taille, hielt sie fest an sich gedrückt.
Der erste Räuber war mit einem Rapier und mehreren Messern an einem abgenutzten Ledergürtel bewaffnet. Der nächste hielt einen Kurzbogen, der Pfeil zielte auf Iones Kopf. Der dritte, größer und breitschultriger als die anderen, hatte ein Schwert.
»Hände hoch, Prinz Renelm«, rief der Mann mit dem Kurzbogen. »Wenn Sie nach Ihrer Sense greifen, schieße ich auf Sie beide.«
Elms Nasenflügel bebten. Langsam zog er seinen Arm von Ione zurück und hob beide Hände. »Mutig von euch«, sagte er und begutachtete die drei. »Drei Leute sind herzlich wenig, um sich mit einem Prinzen und einer Gruppe von Streitern anzulegen.«
»Ich sehe keine Gruppe.